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Ian McEwan

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Beschreibung

Henry Perowne, 48, ist ein zufriedener Mann: erfolgreich als Neurochirurg, glücklich verheiratet, zwei begabte Kinder. Das einzige, was ihn leicht beunruhigt, ist der Zustand der Welt. Es ist Samstag, und er freut sich auf sein Squashspiel. Doch an diesem speziellen Samstag, dem 15. Februar 2003, ist nicht nur die größte Friedensdemonstration aller Zeiten in London. Perowne hat unversehens eine Begegnung, die ihm jeden Frieden raubt

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Seitenzahl: 434

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Ian McEwan

Saturday

Roman

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

Titel der 2005 bei Jonathan Cape, London, erschienenen Originalausgabe: ›Saturday‹ Copyright ©2005 by Ian McEwan Die deutsche Erstausgabe erschien 2005 im Diogenes Verlag Covermotiv: Foto von Damir Frkovic (Ausschnitt) Copyright ©Damir Frkovic/masterfile/ zefa/blueplanet images

Für Will und Greg McEwan

Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright ©2020

[5] Zum Beispiel? Nun zum Beispiel, was es heißt, ein Mann zu sein. In einer Stadt. In einem Jahrhundert. Im Übergang. In einer Masse. Von der Wissenschaft umgemodelt. Unter organisierter Macht. Gewaltigen Kontrollen unterworfen. In einem durch die Mechanisierung verursachten Zustand. Nach der jüngsten Enttäuschung radikaler Hoffnungen. In einer Gesellschaft, die keine Gemeinschaft war und die Persönlichkeit entwertete. Auf Grund der multiplizierten Kraft von Zahlen, die das Ich zur Unerheblichkeit verurteilte. Die Rüstungsmilliarden gegen auswärtige Feinde ausgab, aber für die Ordnung im Lande nicht bezahlen wollte. Was der Brutalität und Barbarei in den eigenen großen Städten Tür und Tor öffnete. Zur gleichen Zeit der Druck von Millionen Menschen, die entdeckt haben, was gemeinsame Anstrengungen und Gedanken erreichen können. Wie Megatonnen von Wasser auf dem Grund des Ozeans die Organismen gestalten. Wie die Gezeiten Steine glätten. Wie die Winde Klippen höhlen. Die schöne Supermaschinerie öffnet ein neues Leben für unzählige Menschen. Möchtest du ihnen das Recht zum Leben absprechen? Möchtest du sie auffordern, zu arbeiten und zu hungern, während du köstliche altmodische Werte genießt? Du – du selbst bist ein Kind dieser Masse und ein Bruder aller anderen. Oder aber ein Undankbarer, ein Dilettant, ein Idiot. Da, Herzog, dachte Herzog, weil du nach dem Beispiel fragst, da siehst du, wie die Dinge laufen.

Saul Bellow:Herzog

[7] Eins

Henry Perowne, ein Neurochirurg, wacht einige Stunden vor Tagesanbruch auf und merkt, daß er in Bewegung ist, daß er im Sitzen die Decke zurückschlägt und aufsteht. Wann genau ihm das bewußt wird, weiß er nicht, doch scheint es auch nicht von Bedeutung zu sein. Und obwohl ihm derlei noch nie passiert ist, macht es ihm keine Angst, es überrascht ihn nicht einmal, denn seine Glieder sind entspannt, die Bewegungen angenehm, Rücken und Beine fühlen sich ungewöhnlich kräftig an. Er steht am Bett, nackt – er schläft immer nackt –, und richtet sich zu ganzer Länge auf; er nimmt den ruhigen Atem seiner Frau wahr, die winterlich kühle Schlafzimmerluft auf der Haut. Auch das ist ein angenehmes Gefühl. Der Wecker zeigt zwanzig vor vier. Er hat keine Ahnung, warum er nicht mehr im Bett liegt: Er muß sich nicht erleichtern, weder ein Traum noch ein unerledigtes Problem vom Vortag noch der Zustand der Welt plagen ihn. Es ist, als sei er, so wie er da im Dunkeln steht, gänzlich entwickelt und ohne jeden Ballast Stoff geworden aus dem Nichts. Trotz der frühen Stunde und der vielen Arbeit in letzter Zeit ist er nicht müde, auch macht ihm kein neuer Fall zu schaffen. Genaugenommen fühlt er sich sogar hellwach, klar im Kopf und unvermutet hochgestimmt. Wie von allein und ohne einen festen Vorsatz geht er zum nächstgelegenen der drei Schlafzimmerfenster, wobei er [8] sich so leicht und gelöst bewegt, daß er zu schlafwandeln oder zu träumen glaubt. Sollte das der Fall sein, wäre er enttäuscht. Träume interessieren ihn nicht, da findet er die Möglichkeit schon ergiebiger, daß dies real sein könnte. Er ist ganz er selbst, kein Zweifel, er weiß, daß der Schlaf vorüber ist: Zwischen Schlaf und Wachsein trennen, die Grenzlinie ziehen zu können, daran erkennt man einen gesunden Verstand.

Das Schlafzimmer ist groß und spärlich eingerichtet. Während er mit beinahe komischer Leichtigkeit durch den Raum schwebt, betrübt ihn für einen Moment die Vorstellung, daß diese Erfahrung enden wird, doch verflüchtigt sich der Gedanke wieder. Henry steht am Mittelfenster und zieht behutsam, damit Rosalind nicht aufwacht, den großen, hölzernen Klappladen auf. Er denkt dabei an sich und nimmt gleichzeitig Rücksicht. Er will nicht gefragt werden, was er gerade treibt – was könnte er darauf schon erwidern und warum mit dem Versuch einer Antwort diesen Augenblick zerstören? Er öffnet den zweiten Laden, faltet ihn in den Rahmenkasten und schiebt leise das Fenster in die Höhe. Es ist um einiges größer als er selbst, gleitet aber, vom verborgenen Bleigewicht gezogen, schwerelos nach oben. Als ihn die Februarluft umweht, spannt sich seine Haut, doch macht ihm die Kälte nichts aus. Vom zweiten Stock blickt er in die Nacht, sieht die Stadt im eisig weißen Licht, die knochig kahlen Bäume auf dem Platz und zehn Meter unter ihm den schwarzen Eisenzaun wie eine Reihe aufgestellter Speere. Es ist ein, zwei Grad unter Null, die Luft ist klar. Das gleißende Licht der Straßenlampe blendet nicht alle Sterne aus, Reste von Sternbildern hängen am [9] Südhimmel über der Regency-Fassade der gegenüberliegenden Platzseite. Diese Fassade ist eine Rekonstruktion, ein Nachbau – der Stadtteil Fitzrovia wurde im Krieg mehrmals von der Luftwaffe getroffen –, und direkt dahinter ragt der Post Office Tower auf, tagsüber städtisch, schäbig, doch nachts, in Dunkel gehüllt und nur dezent angestrahlt, ein kühnes Denkmal optimistischerer Tage.

Und nun, was sind das jetzt für Tage? Verwirrend und beängstigend findet er sie meist, wenn er sich im wöchentlichen Trott die Zeit nimmt, darüber nachzudenken. Doch im Moment sieht er das anders. Er beugt sich vor, stützt sich an der Fensterbank auf den Handflächen ab und freut sich über die klare Luft, die unbelebte Szenerie. Seine Augen – ohnedies gut – scheinen noch schärfer als sonst zu sein. Er kann den Glimmer im Pflaster des zur Fußgängerzone erklärten Platzes erkennen, den durch Kälte und Entfernung zu beinahe etwas Schönem verhärteten, an Schneeflocken erinnernden Taubenkot. Ihm behagt die Symmetrie der schwarzen Eisengitterstäbe und ihrer noch dunkleren Schatten, das Muster der kopfsteingepflasterten Abwasserrinne. Die überquellenden Abfallkörbe lassen eher an Wohlstand als an Müll denken, die leeren Bänke um den kreisrunden Park harren gelassen ihrer täglichen Benutzer – vergnügte Büromannschaften, ernste, strebsame Jungen aus dem indischen Wohnheim, Liebespaare im stillen Drama oder Glück, zwielichtige Drogendealer oder die verwahrloste alte Frau mit ihrem wilden, gespenstischen Rufen. Weg da, schreit sie manchmal stundenlang, heiser zeternd wie ein Sumpfvogel oder ein Tier aus dem Zoo.

Wie er dasteht – gegen die Kälte so immun wie eine [10] Marmorstatue – und zur Charlotte Street hinüberschaut, auf den perspektivisch verkürzten Wirrwarr der Fassaden, die Baugerüste und Pultdächer, findet Henry, daß Städte ein Erfolg sind, eine geniale Erfindung, ein organisches Meisterwerk – wie um Korallenriffe drängen sich Millionen um die angehäuften, vielschichtigen Errungenschaften der Jahrhunderte, schlafen, arbeiten und vergnügen sich, einträchtig zumeist, und wollen fast alle, daß es funktioniert. Die Gegend aber, in der die Perownes wohnen, ist ein Höhepunkt aufeinander abgestimmter Proportionen, dieser vollkommene, von Robert Adam angelegte Platz, der einen runden Park umschließt – Traum des achtzehnten Jahrhunderts, von Modernem umspült und umschlossen, vom Straßenlicht oben und Glasfaserkabeln unten, von kühlem, frischem Wasser, das durch Rohre strömt, und Unrat, der, gleich vergessen, fortgeschwemmt wird.

Gewohnt, die eigenen Stimmungen zu beobachten, wundert er sich über seine anhaltende, alles verzerrende Euphorie. Vielleicht hatte es, während er schlief, auf molekularer Ebene einen chemischen Unfall gegeben – ein Tablett mit Flüssigkeiten, die verschüttet wurden und dopaminerge Rezeptoren veranlaßten, eine Kaskade erfreulicher intrazellulärer Ereignisse auszulösen, vielleicht aber lag es auch nur an der Aussicht auf den vor ihm liegenden Samstag oder an den paradoxen Folgen seiner extremen Müdigkeit. Jedenfalls hatte er die Woche ungewöhnlich erschöpft zu Ende gebracht, war in ein leeres Haus heimgekehrt, hatte sich mit einem Buch in die Wanne gelegt und es genossen, mit niemandem reden zu müssen. Seine belesene, allzu belesene Tochter Daisy hatte ihm Darwins Biographie geschickt, die [11] wiederum irgendwie mit einem Roman von Joseph Conrad in Zusammenhang stand, den sie ihm ans Herz gelegt und den er noch nicht einmal angefangen hat – Seefahrt, und war sie auch noch so moralisch befrachtet, interessierte ihn nicht sonderlich. Seit einigen Jahren schon nahm sich seine Tochter dessen an, was sie seine erstaunliche Ignoranz nannte, kümmerte sich um seine literarische Fortbildung und schimpfte über seine Unempfänglichkeit und seinen schlechten Geschmack. Sie hatte nicht mal so unrecht –, war er doch direkt von der Schule über das Medizinstudium ins Sklavendasein eines Assistenzarztes geraten, um gleich anschließend die Ausbildung zum Neurochirurgen zu beginnen, von der er ebenso in Atem gehalten wurde wie von der Vaterschaft – weshalb er seit fünfzehn Jahren kaum ein Buch angerührt hatte, in dem es nicht um Medizin ging. Allerdings hatte er dermaßen viel Tod, Furcht, Mut und Leid kennengelernt, daß es seiner Meinung nach für ein halbes Dutzend literarischer Werke reichen würde. Trotzdem hält er sich an ihre Leseliste – auf diese Weise bleibt er mit ihr in Verbindung, während sie sich in einem Pariser Vorort, von der Familie fort, zu unergründlicher Weiblichkeit entwickelt; heute abend kommt sie nach sechs Monaten zum ersten Mal wieder nach Hause – ein weiterer Anlaß zu Euphorie.

Er war mit Daisys Hausaufgaben im Rückstand. Während er gelegentlich mit einem Zeh die Zufuhr frischen, heißen Wassers kontrollierte, las er mit müden Augen einen Bericht über die Eile, mit der Darwin Die Entstehung der Arten zu Ende brachte, sowie eine Zusammenfassung der letzten, in späteren Ausgaben überarbeiteten Seiten. [12] Gleichzeitig hörte er im Radio die Nachrichten. Der wackere Hans Blix hatte sich erneut an die UNO gewandt, und man war allgemein der Auffassung, daß er der Begründung für einen Krieg so ziemlich den Boden entzogen hatte. Erst als Perowne begriff, daß er eigentlich nichts mitbekam, stellte er das Radio aus, blätterte zurück und begann von neuem zu lesen. Manchmal ließ ihn diese Biographie in nostalgischen Bildern von einem grünen, liebenswerten, in Pferdegespanne geschirrten England schwelgen, dann wieder deprimierte es ihn ein wenig, daß ein paar hundert Seiten ein ganzes Leben enthalten konnten – eingeweckt wie selbstgemachter Chutney. Wie leicht sich doch eine Existenz mit all ihren Sehnsüchten, dem Netz aus Freunden und Familie, den vielen geliebten, so selbstverständlich besessenen Dingen in Nichts auflösen konnte. Später streckte er sich lang auf dem Bett aus, um über das Abendessen nachzudenken – und dann erinnerte er sich an nichts mehr. Offenbar hatte Rosalind ihn zugedeckt, als sie von der Arbeit heimkam. Sicher hatte sie ihn auch geküßt. Achtundvierzig Jahre alt und an einem Freitag abend um halb zehn fest eingeschlafen – so sieht das moderne Berufsleben aus. Er arbeitete hart, alle um ihn herum arbeiteten hart, doch da unter dem Krankenhauspersonal die Grippe umging, war diese Woche noch anstrengender als sonst gewesen – auf seinem Operationsplan hatten die Namen von doppelt so vielen Patienten wie sonst gestanden.

Mit Tricks und Timing gelang es ihm, im ersten OP eine größere Operation durchzuführen, im zweiten einen Altassistenzarzt zu beaufsichtigen und in einem dritten kleinere Eingriffe selbst zu erledigen. Zur Zeit hat er in seinem Team [13] zwei Ärzte in neurochirurgischer Facharztausbildung – Sally Madden, fast fertig und absolut verläßlich, und Rodney Browne aus Guyana, Arzt im zweiten Jahr, begabt, fleißig, aber immer noch etwas unsicher. Jay Strauss, der Anästhesist, hat mit Gita Syal eine eigene Assistentin. Drei Tage lang lief Perowne mit Rodney im Gefolge zwischen den drei Operationssälen hin und her – das Geräusch der Clogs auf den polierten Flurböden und das vielfältige Quietschen und Knarren der Schwingtüren zum OP lieferten dazu die orchestrale Begleitmusik. Der Operationsplan vom Freitag war ein typisches Beispiel. Während Sally eine Operation zu Ende führte, ging Perowne nach nebenan, um eine ältere Dame von ihrer Trigeminusneuralgie zu befreien, ihrem Tic douloureux. Solch kleine Operationen konnten ihm immer noch Freude machen – er liebte es, schnell und akkurat zu arbeiten. Um den Zugang zu ertasten, fuhr er mit dem behandschuhten Zeigefinger in ihren Rachen und schob, nach kaum mehr als einem flüchtigen Blick auf den Bildvergrößerer, eine lange Nadel von außen durch die Wange bis hinauf zum Trigeminusganglion. Jay kam aus dem Nachbarzimmer und sah zu, wie Gita die Patientin kurz aus der Narkose zurückholte. Die elektrische Stimulation der Nadelspitze erzeugte in ihrem Gesicht ein Kribbeln, wie sie benommen bestätigte – die Nadel saß korrekt, Perowne hatte auf Anhieb die richtige Stelle getroffen –, und so wurde die Frau wieder betäubt, während der Nerv mit hochfrequenter Thermokoagulation ›abgekocht‹ wurde. Das Problem bestand darin, den Schmerz auszuschalten, aber zugleich darauf zu achten, daß die Frau weiterhin leichte Berührungen spüren konnte – nach fünfzehn [14] Minuten war alles vorbei, drei Jahre Leiden, die scharfen, stechenden Schmerzen waren vorüber.

Er klemmte den Sack eines mittleren Hirnarterienaneurysmas ab – auf diesem Gebiet war er ein wahrer Meister seines Fachs – und führte eine Gewebeentnahme bei einem Tumor im Thalamus durch, einer Hirnregion, in der man nicht operieren kann. Der Patient war ein achtundzwanzigjähriger Tennisprofi und litt bereits an akutem Gedächtnisverlust. Als Perowne sich nach der tiefen Hirnbiopsie die Nadel ansah, erkannte er auf den ersten Blick, daß das Gewebe abnormal war. Bestrahlung oder Chemotherapie boten nur wenig Hoffnung. Sein Eindruck wurde von der Pathologie mündlich bestätigt, und am Nachmittag überbrachte er den betagten Eltern die schlechte Nachricht.

Der nächste Fall war eine Craniotomie bei einer dreiundfünfzigjährigen Grundschullehrerin mit einem Meningeom. Der deutlich ausgeprägte Tumor saß über der motorischen Hirnrinde und rollte daher sauber vor den Sonden seines Rhoton-Dissektors her – und gleich darauf war das wuchernde Gewebe restlos entfernt. Sally brachte die Arbeit zu Ende, während Perowne nebenan eine lumbale Laminektomie über mehreren Höhen an einem vierundvierzigjährigen übergewichtigen Mann durchführte, einem Gärtner, der im Hyde Park arbeitete. Er mußte zehn Zentimeter subkutanes Fett durchtrennen, ehe er die Wirbelsäule freilegen konnte, und daß der Mann auf dem Tisch herumschwabbelte, wenn Perowne nach unten drückte, um am Knochen entlangzuschneiden, war auch nicht gerade hilfreich.

Für einen alten Freund, einen Hals-Nasen-Ohren-[15] Spezialisten, öffnete Perowne den Schädel eines siebzehnjährigen Jungen mit einem Akustikus-Neurinom – schon merkwürdig, wie diese HNO-Leute sich scheuten, schwierige Schädelzugänge selbst durchzuführen. Über dem Ohr entnahm er einen großen, rechteckigen Knochendeckel, wofür er länger als eine Stunde brauchte, was Jay Strauss ärgerte, der mit dem OP-Plan des eigenen Teams vorankommen wollte. Schließlich lag der Tumor für das Mikroskop offen zutage – ein kleines Vestibularis-Schwannom, kaum drei Millimeter von der Cochlea entfernt. Während er es seinem Freund überließ, die Exzision durchzuführen, eilte Perowne zu einem zweiten, kleineren Eingriff, der nun wiederum ihn verärgerte – eine schrille, junge, notorisch nörgelige Frau wollte ihren Rückenmarkstimulator von hinten nach vorn umgesetzt haben. Erst im vorigen Monat hatte er ihn verlegt, weil sie darüber klagte, daß er beim Sitzen störe. Nun behauptete sie, der Stimulator schmerze im Liegen. Er machte einen langen Einschnitt über ihren Unterleib, vergeudete kostbare Zeit damit, bis zu den Ellbogen in ihrem Bauch nach dem Batteriedraht zu suchen, und zweifelte nicht daran, sie bald wiederzusehen.

Zum Mittagessen genehmigte er sich eine Flasche Mineralwasser und ein eingeschweißtes Sandwich mit Thunfisch und Gurke. Im engen Pausenzimmer, dessen Geruch nach Toast und in der Mikrowelle aufgewärmten Nudeln ihn unweigerlich an größere chirurgische Operationen erinnerte, saß er neben der beliebten, Cockney sprechenden Heather, die zwischen den Eingriffen half, den OP zu reinigen. Sie erzählte ihm, ihr Schwiegersohn sei wegen eines bewaffneten Raubüberfalls verhaftet worden, nachdem man ihn in einer [16] Gegenüberstellung fälschlich als Täter identifiziert hatte. Allerdings war sein Alibi wasserdicht – zum Zeitpunkt der Tat hatte er beim Zahnarzt gesessen und sich einen Weisheitszahn ziehen lassen. Ansonsten drehte sich das Gespräch um die Grippewelle – eine der OP-Schwestern und die Praktikantin von Jay Strauss waren am Morgen nach Hause geschickt worden. Nach einer Viertelstunde forderte Perowne sein Team auf, wieder an die Arbeit zu gehen. Während Sally im Raum nebenan ein Loch in den Schädel eines pensionierten Verkehrspolizisten bohrte, um den durch eine innere Blutung entstehenden Druck zu lindern – ein chronisch subdurales Hämatom –, nutzte Perowne die neuste Errungenschaft des OP, ein computergestütztes Navigationssystem, für die Resektion eines rechts hinten im Frontallappen angesiedelten Glioms.

Die Krönung des heutigen OP-Plans war die Entfernung eines pilozytischen Astrozytoms bei einer vierzehnjährigen Nigerianerin, die mit ihrer Tante und ihrem Onkel, einem Pfarrer der anglikanischen Kirche, in Brixton wohnte. Der Tumor ließ sich am besten infratentoriell auf supracerebellarem Weg durch den Hinterkopf erreichen, wobei die narkotisierte Patientin eine sitzende Haltung einnehmen mußte. Dies wiederum schuf besondere Probleme für Jay Strauss, da die Möglichkeit bestand, daß Luft in eine Vene drang und eine Embolie verursachte. Andrea Chapman machte übrigens nicht nur als Patientin, sondern auch als Nichte Probleme. Mit zwölf war sie nach England gekommen – der besorgte Pfarrer und dessen Frau zeigten Perowne ein Foto –, ein adrett gekleidetes Mädchen mit festgezurrten Bändern im Haar und einem schüchternen Lächeln. [17] Irgendwas in ihr, das vom Dorfleben im ländlichen Norden Nigerias unterdrückt worden war, wurde freigesetzt, als sie an Brixtons Gesamtschule kam. Ihr gefiel die Musik, die Mode, der Jargon, die Denkweise – die Straße. Andrea sei ziemlich eigen, gestand der Pfarrer, während seine Frau ihr half, sich auf der Station einzurichten. Seine Nichte nehme Drogen, betrinke sich, stehle, schwänze die Schule, hasse Autoritäten und fluche »wie ein Bierkutscher«. War es möglich, daß der Tumor auf einen Teil des Hirns drückte?

Solchen Trost konnte Perowne nicht bieten. Der Tumor lag außerhalb der Stirnlappen tief im Vermis cerebelli superior. Andrea litt bereits an morgendlichem Kopfschmerz, Sehfeldlücken und an Ataxie – schwankender Körperhaltung. Doch trotz dieser Symptome fühlte sich Andrea als Opfer einer Verschwörung, durch die das Krankenhaus sie im Verein mit den Erziehungsberechtigten, der Schule und der Polizei um ihre Discoabende bringen wollte. Schon Stunden nach der Einlieferung legte sie sich mit den Krankenpflegern, der Stationsschwester und einer älteren Patientin an, die ihre obszöne Ausdrucksweise nicht länger ertragen wollte. Perowne hatte seine liebe Not, sie auf die vor ihr liegende Tortur vorzubereiten. Schon wenn Andrea sich nicht aufregte, redete sie wie ein Rapper auf MTV, saß dabei aufrecht im Bett, glättete mit nach unten gekehrten Handflächen die Luft in kreisförmigen Bewegungen und wiegte den Oberkörper hin und her, als bereite sie sich auf den nächsten Ausbruch vor. Doch Perowne gefielen ihr Kampfgeist, die blitzenden dunklen Augen, die makellosen Zähne und die Art, wie ihre saubere rosige Zunge die Worte herausschleuderte. Während sie vor Wut zu kochen schien, [18] grinste Andrea in sich hinein, als freue es sie diebisch, wie viel man ihr durchgehen ließ. Ein Amerikaner war nötig – Jay Strauss, herzlich und direkt wie sonst niemand in diesem englischen Krankenhaus –, um Andrea zu bändigen.

Ihre Operation dauerte fünf Stunden und verlief gut. Andrea wurde in eine sitzende Position gebracht; der Kopf an einem Rahmen vor ihr festgeklammert. Wegen der gleich unterhalb des Knochens liegenden Blutgefäße verlangte die Öffnung des Hinterkopfes äußerste Vorsicht. Rodney beugte sich seitwärts zu Perowne hinüber, um den Bohrer zu spülen und mit der Bipolar-Zange die Blutung zu stillen. Schließlich lag es offen vor ihm, das Tentorium cerebelli, das Kleinhirnzelt, ein fahles, zartes Gewebe, dort, wo sich die Dura vereint und wieder teilt, schön wie die kurze, wirbelnde Drehung einer verschleierten Tänzerin. Drunter befand sich das Cerebellum. Mit behutsamen Schnitten sorgte Perowne dafür, daß die Schwerkraft das Kleinhirn nach unten zog – Wundhaken waren unnötig –, bis er schließlich tief in jene Region hineinsehen konnte, in der die Epiphyse und direkt davor der Tumor lag, eine große rote Masse. Das Astrozytom war deutlich ausgeprägt, das umgebende Gewebe nicht infiltriert. Perowne konnte fast alles herausschneiden, ohne das Sprechen zu beeinträchtigen.

Er gab Rodney einige Augenblicke Zeit für Mikroskop und Absauger, dann ließ er ihn die Wunde vernähen. Den Kopfverband legte er selbst an, und als er endlich die Operationssäle verließ, war er kein bißchen müde. Eigentlich wurde er vom Operieren nie müde. Befand er sich erst einmal in der abgeschotteten Welt von Team, OP und dessen geregelten Abläufen und war beim Aufspüren eines [19] Zugangs zum Operationsbereich in jenen faszinierenden Anblick versunken, den ihm die Perspektivverkürzung des OP-Mikroskops bot, schienen ihm so übermenschliche Kräfte zuzuwachsen, daß er gar nicht mehr aufhören wollte.

Was die übrige Woche anging, so waren die zwei Vormittagssprechstunden auch nicht anstrengender als sonst. Er hat zuviel Erfahrung, um das Leid in seinen vielfachen Erscheinungsformen an sich herankommen zu lassen – seine Aufgabe ist es, sich nützlich zu machen. Selbst die Visiten und die allwöchentlichen Sitzungen konnten ihn nicht ermüden. Das gelang erst dem Papierberg, der am Freitag nachmittag auf ihn wartete, die aufgelaufenen Überweisungen und Berichte, die Kurzfassungen für zwei Konferenzen, die Briefe an Kollegen und Redakteure, die Besprechung der Veröffentlichung eines Bekannten, sein Kommentar zu Initiativen des Managements, zu Änderungsvorschlägen der Regierung für die Umstrukturierung des Krankenhauskonzerns und zur neusten Revision der Lehrvorschriften. Der Katastrophenplan mußte überarbeitet werden – er mußte jetzt ständig überarbeitet werden. Man begnügte sich nicht mehr mit einem simplen Eisenbahnunglück, sogar Worte wie ›Desaster‹, ›Massenunglück‹, ›chemische und biologische Kriegsführung‹ und ›schwerer Angriff‹ hatten sich durch ewige Wiederholung in letzter Zeit verbraucht. Allein im letzten Jahr waren zahllose neue Komitees und Unterkomitees gegründet und die Befehlsketten nach oben und aus dem Krankenhaus länger und länger geworden, weshalb sie jetzt über die medizinische Hierarchie hinweg und über die fernen Ränge des öffentlichen Dienstes hinaus bis ins Büro des Innenministers reichten.

[20] Monoton diktierte Perowne aufs Band, und da seine Sekretärin längst nach Hause gegangen war, tippte er im überheizten Büroverschlag im dritten Stock des Krankenhauses selbst weiter. Ihm kamen die Worte nicht so leicht wie sonst, und das hielt ihn auf. Dabei war er stolz darauf, schnell formulieren zu können und einen eleganten, ironischen Stil zu pflegen. Er brauchte auch nicht lange zu überlegen – tippen und formulieren waren für ihn eins. Doch jetzt stolperte er nur so dahin. Und obwohl ihn der Fachjargon nicht im Stich ließ – er war ihm zur zweiten Natur geworden –, reihten sich seine Sätze unbeholfen aneinander. Einzelne Worte erinnerten an sperrige Dinge – Fahrräder, Liegestühle, Kleiderbügel –, die ihm im Weg lagen. Er formulierte in Gedanken einen Satz und verlor ihn gleich wieder auf der Seite, oder er tippte sich in eine grammatische Sackgasse, aus der er sich mühsam wieder herauskämpfen mußte. Er nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken, ob diese Schwäche nun Ursache oder Ergebnis seiner Müdigkeit war. Aber er war eisern und hielt bis zum Ende durch. Um acht schickte er eine letzte E-Mail ab und stand vom Schreibtisch auf, an dem er seit vier Uhr nachmittags gehockt hatte. Auf dem Weg nach draußen schaute er noch bei seinen Patienten auf der Intensivstation vorbei. Es gab keine Probleme, Andrea hielt sich ausgezeichnet – sie schlief, und alle Werte waren gut. Kaum eine halbe Stunde später lag er zu Hause in der Wanne und war bald darauf selbst eingeschlafen.

Zwei Gestalten in dunklen Mänteln wollen quer über den Platz, entfernen sich von Perowne in Richtung Cleveland [21] Street, ihre hohen Absätze klicken in versetztem Kontrapunkt über das Pflaster – bestimmt Krankenschwestern auf dem Weg nach Hause, allerdings ist dies eine merkwürdige Zeit für einen Schichtwechsel. Sie reden kein Wort, und obwohl ihre Schritte nicht aufeinander abgestimmt sind, gehen sie eng zusammen, so daß sich die Schultern fast auf vertraute, schwesterliche Weise berühren. Sie kommen direkt unter ihm vorbei und schlagen einen Viertelkreis um den Park, ehe sie abbiegen. Wie ihr Atem hinter ihnen in einer gemeinsamen Dampfwolke aufsteigt, das hat etwas Rührendes, als spielten sie ein Kinderspiel und ahmten eine Dampflok nach. Sie sind zur schräg gegenüberliegenden Ecke des Platzes unterwegs, und aus seiner erhöhten Position und seiner seltsamen Stimmung heraus beobachtet Perowne die beiden Gestalten nicht nur, er wacht auch über sie, beaufsichtigt ihren Fortgang mit dem distanzierten Besitzdenken eines Gottes. Sie durchqueren die Nacht in dieser leblosen Kälte, heiße, kleine, organische Lokomotiven, mit ihren bipedischen Fertigkeiten jedoch an jedes Terrain angepaßt, und tief in ihnen unzählige, sich verzweigende, in einer Knochenschale verborgene Nervennetze und Nervenfasern mit ihren unsichtbaren Glühdrähten des Bewußtseins – diese Loks finden ihren Weg auch ohne Schienen.

Er steht schon seit mehreren Minuten am Fenster, und das Hochgefühl verfliegt; er friert. In dem von einem hohen Zaun umschlossenen Park sind die künstlich angelegten Rasenmulden und Anhöhen unter dem Kreis aus Platanen von leichtem Reif bedeckt. Er sieht einem Krankenwagen nach, der mit Blaulicht bei ausgeschalteter Sirene in die Charlotte Street einbiegt, um dann, vermutlich auf dem Weg [22] nach Soho, in südlicher Richtung zu beschleunigen. Perowne kehrt dem Fenster den Rücken zu und greift hinter sich zum Stuhl mit dem dicken, wollenen Morgenmantel. Aber noch während er sich umdreht, merkt er, daß am Rand seines Gesichtsfelds, unscharf durch die Kopfbewegung, ein neues Element hinzugekommen ist, auf dem Platz oder in den Bäumen, hell und zugleich farblos. Er blickt nicht sofort auf. Ihm ist kalt, er will seinen Morgenmantel. Er nimmt ihn, steckt einen Arm in den Ärmel, geht erst, als er den zweiten Ärmel gefunden hat, wieder zum Fenster zurück und schlingt sich dann den Gürtel um die Hüfte.

Er begreift nicht gleich, was er sieht, obwohl er doch zu verstehen meint. In diesem ersten Moment stellt er voller Neugier und Eifer Vermutungen planetarischen Ausmaßes an: Ein Meteor verglüht an Londons Firmament, zieht dicht über dem Horizont von links nach rechts am Himmel entlang, hoch über den hohen Gebäuden. Meteore aber wären doch pfeilspitz, einer Nadel nicht unähnlich. Wie ein Blitz sieht man sie vorüberzischen, ehe die Hitze sie verzehrt. Das dort aber bewegt sich langsam, majestätisch fast. Augenblicklich erweitert er die Perspektive, paßt den Maßstab dem Sonnensystem an: Dieses Objekt ist nicht Hunderte, sondern Millionen von Kilometern entfernt und kreist weit draußen im All in zeitlosem Orbit um die Sonne. Es ist ein Komet, gelb eingefärbt, mitsamt dem vertrauten strahlenden Kern, gefolgt von einem feurigen Schweif. Hale-Bopp hat er sich damals mit Rosalind und den Kindern von einem Grashügel im Lake District aus angesehen, und wieder fühlt er, wie ihn Dankbarkeit überkommt, weil ihm ein Blick über seine irdische Begrenztheit hinaus auf das wahrhaft [23] Überindividuelle gewährt wird. Dies hier ist noch besser, heller, schneller, auch beeindruckender, weil unerwartet. Offenbar hatten sie die Berichte in den Medien verpaßt. Zuviel Arbeit. Schon will er Rosalind wecken – er weiß, der Anblick würde sie faszinieren –, doch dann überlegt er, ob der Komet nicht verschwunden sein wird, bis sie ans Fenster kommt. Dann verpaßt er ihn auch. Der Anblick aber ist zu außergewöhnlich, um ihn nicht zu teilen.

Als er zum Bett geht, hört er ein tiefes Grollen, leisen, anschwellenden Donner, und er bleibt stehen und lauscht. Nun weiß er Bescheid. Um sich zu vergewissern, blickt er über die Schulter zurück zum Fenster. Ein Komet wäre natürlich derart weit fort, daß es aussähe, als verharrte er auf der Stelle. Voller Entsetzen kehrt er an seinen Platz am Fenster zurück. Während das Geräusch die Tonhöhe hält, paßt Perowne erneut den Maßstab an, zoomt diesmal aber heran, von Eis und Sternenstaub zurück in größere Nähe. Erst drei, vier Sekunden sind vergangen, seit er dies Feuer am Himmel entdeckt hat, und zweimal hat er bereits seine Ansicht darüber geändert. Es folgt einer Route, die er selbst viele Male in seinem Leben genommen hat und bei der er stets den vorgeschriebenen Ablauf befolgte, den Sitz aufrichtete, die Uhr umstellte und die Papiere forträumte, immer wieder neugierig darauf, ob er dort unten sein eigenes Haus in dem riesigen, fast schönen, orange-grauen Meer erkennen konnte; von Ost nach West, am Südufer der Themse entlang, siebenhundert Meter hoch, im Landeanflug auf Heathrow.

Jetzt ist es direkt südlich, kaum anderthalb Kilometer weit fort, und wird bald ins obere Zweiggitter der kahlen Platanen eintauchen, um dann, auf Höhe der niedrigsten [24] Satellitenschüsseln, hinter dem Post Office Tower zu verschwinden. Trotz der Stadtbeleuchtung sind die Konturen des Flugzeugs in der frühmorgendlichen Dunkelheit nicht zu erkennen. Das Feuer ist offenbar an der ihm zugewandten Seite ausgebrochen, etwa dort, wo die Tragfläche in den Rumpf übergeht, aber vielleicht brennt auch einer der unter den Flügeln angebrachten Motoren. Die vordere Feuerwand gleicht einer abgeflachten, weißen Kugel, die in einen gelbroten Kegel übergeht und dabei weniger an einen Meteor oder Kometen erinnert als an eine künstlerische Impression zu diesem Thema. Die Landescheinwerfer blinken, wie um Normalität vorzutäuschen. Doch der Motorenlärm sagt alles. Über dem gewohnten tiefen Röhren erhebt sich ein immer lauter werdendes, angespanntes, fast ersticktes Klagen – ebenso Schrei wie langgezogener Ruf, ein unreiner, schmieriger Laut, der jene unfaßbare mechanische Belastung verrät, die längst das Leistungsvermögen von gehärtetem Aluminium übersteigt und sich zu einem unerträglichen Schlußton emporschraubt wie das Geräusch einer höllischen Karussellfahrt. Irgend etwas wird gleich nachgeben.

Er denkt nicht mehr daran, Rosalind zu wecken. Warum sollte er sie diese Nachtmahr miterleben lassen? Schließlich ist der Anblick so vertraut wie ein wiederkehrender Alptraum. Äußerlich betäubt durch die Monotonie der Flugreisen spielt er, wie wohl die meisten Passagiere, in Gedanken oft die Möglichkeiten durch, während er angeschnallt und gefügig vor abgepacktem Essen sitzt. Draußen, hinter einer Wand aus dünnem Stahlblech und vergnügt knarrendem Plastik, herrschen sechzig Grad Kälte, und bis zum Erdboden sind es zwölftausend Meter. Man wird mit mehr als [25] hundertfünfzig Metern pro Sekunde über den Atlantik geschleudert und fügt sich dem Wahnsinn, weil es alle anderen auch tun. Die Mitreisenden sind beruhigt, weil man selbst und die übrigen Passagiere so gelassen wirken. Aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet – Todesfälle per zurückgelegte Kilometer –, sind die Statistiken tröstlich. Wie sollte man schließlich auch sonst zu einer Konferenz nach Südkalifornien kommen? Flugreisen sind ein Börsengeschäft, ein Trick sich spiegelnder Wahrnehmungen, eine fragile Allianz vereinten Glaubens; solange die Nerven mitmachen und sich keine Bomben oder Selbstmörder an Bord befinden, sind alle zufrieden. Bei einem Scheitern aber gibt es keine halben Sachen. Anders gesehen – Todesfälle pro Reise –, sind die Zahlen keineswegs beruhigend. Die Aktien drohen zu fallen.

Mit der Plastikgabel in der Hand fragt er sich oft, wie es sein würde – das Geschrei in der Kabine vom ohrenbetäubenden Lärm übertönt, die hektische Suche nach Telefonen und letzten Worten, das Flugpersonal, das sich in seiner Angst krampfhaft an die Vorschriften klammert, und der alles durchdringende Gestank nach Scheiße. Doch die von außerhalb, von weit fort vorgestellte Szene ist ebenfalls vertraut. Fast achtzehn Monate sind vergangen, seit der halbe Planet zugeschaut und stets aufs neue zugeschaut hat, wie die unsichtbaren Geiseln über den Himmel zur Schlachtbank geflogen wurden, weshalb sich seither an die unschuldige Silhouette eines jeden Flugzeugs eine neue Assoziation kettet. Alle stimmen überein, daß Maschinen am Himmel nun anders aussehen, irgendwie raubtierhaft oder auch dem Untergang geweiht.

[26] Henry weiß, daß es eine Sinnestäuschung ist, die ihn glauben läßt, er könne jetzt die Umrisse erkennen, einen schwärzeren Schatten vor der Dunkelheit. Das Jaulen des brennenden Triebwerks schwillt weiter an. Es würde ihn nicht wundern, wenn überall in der Stadt Lichter angingen oder der Platz sich mit Bewohnern in Morgenmänteln füllte. Geübt darin, die nächtlichen Probleme der Stadt aus ihrem Schlaf auszublenden, dreht sich hinter ihm Rosalind auf die Seite. Vermutlich ist der Lärm nicht aufdringlicher als die Sirene eines auf der Euston Road vorüberfahrenden Krankenwagens. Der feurig weiße Kern und der farbige Schweif sind weiter angeschwollen – kein Passagier kann im Mittelteil der Maschine noch leben. Auch dies ein vertrautes Element – das Grauen, das er nicht sehen kann. Aus sicherer Entfernung beobachtete Katastrophen. Dem vielfachen Tod zuschauen, aber niemanden sterben sehen. Kein Blut, keine Schreie, überhaupt keine menschlichen Gestalten, nur die willfährige, in die Leere entlassene Phantasie. Der Kampf bis zum Tod im Cockpit, eine Meute tapferer Passagiere, die sich zu einem letzten, verzweifelten Angriff gegen die Fanatiker sammelt. In welchen Teil des Flugzeugs würde man vor der Hitze des Feuers fliehen? Irgendwie könnte einem das Ende beim Piloten weniger einsam erscheinen. Ist es bedauernswerte Idiotie oder notwendiger Optimismus, in der Gepäckablage nach der Tasche zu suchen? Wird einen die Stewardess mit dem dick aufgetragenen Make-up, die so freundlich Croissant und Konfitüre serviert hat, daran hindern?

Das Flugzeug fliegt hinter den Baumwipfeln entlang. Festlich flackert das Feuer kurz zwischen den Ästen und [27] Zweigen auf. Perowne kommt in den Sinn, daß er vielleicht etwas tun sollte. Was immer auch geschehen mag, wird der Vergangenheit angehören, bis die Notdienste seinen Anruf notiert und weitergegeben haben. Sollte der Pilot noch leben, wird er einen Funkspruch vorausschicken. Bestimmt sprüht man schon Schaum auf die Landebahn. Sinnlos in diesem Stadium, nach unten zu gehen und sich beim Krankenhaus zu melden. Heathrow gehört bei einem Notfall nicht zu seinem Einsatzgebiet. Weiter westlich aber werden Ärzte in dunklen Schlafzimmern nach ihren Kleidern greifen, ohne zu wissen, was sie erwartet. Noch fünfzehn Meilen bis zur Landung. Wenn die Tanks explodieren, kann man nichts mehr machen.

Das Flugzeug taucht zwischen den Bäumen auf, durchquert eine Lücke und verschwindet hinter dem Post Office Tower. Würde Perowne zu religiösen Gefühlen neigen, zu übernatürlichen Erklärungen, könnte er mit dem Gedanken spielen, auserwählt und in ungewohnter Gemütslage geweckt worden zu sein, um scheinbar grundlos ans Fenster zu gehen und Zeuge einer geheimen Ordnung zu werden, einer äußeren Intelligenz, die ihm etwas Bedeutsames zeigen oder zu verstehen geben will. Doch liegt es in der Natur der Stadt, daß es Schlaflose gibt, ist sie doch selbst ein Ganzes mit singenden Drähten, die nie verstummen, weshalb es unter so vielen Millionen einfach immer Menschen geben muß, die aus dem Fenster starren, wenn sie eigentlich schlafen sollten. Dabei sind es nicht mal jede Nacht dieselben Menschen. Daß er und kein anderer es sein würde, war reiner Zufall, nichts als ein simples anthrosophisches Prinzip. Das primitive Denken der übernatürlich Veranlagten läuft [28] auf das hinaus, was seine psychiatrischen Kollegen ein Bezugsproblem oder auch Beziehungswahn nennen würden. Ein Übermaß an Subjektivität, ein Ordnen der Welt gemäß den eigenen Bedürfnissen, eine Unfähigkeit, die eigene Bedeutungslosigkeit wahrhaben zu können. Nach Henrys Ansicht gehört eine solche Argumentation zu jenem Spektrum, an dessen fernem Ende wie ein verlassener Tempel die Psychose aufragt.

Solch ein Denken mochte auch das Feuer im Flugzeug verursacht haben. Ein Mann festen Glaubens mit einer Bombe im Absatz. Vielleicht flehten viele der entsetzten Passagiere (ein weiteres Bezugsproblem) ihren eigenen Gott um Einmischung an. Sollte es aber Tote geben, würde man denselben Gott, der es dazu kommen ließ, bald auf Trauerfeiern um Trost bitten. Für Perowne ist das Anlaß zum Staunen, eine menschliche Komplikation jenseits aller Moral, die außer Unvernunft und Gemetzel auch anständige Leute und gute Taten hervorbringt, herrliche Kathedralen, Moscheen, Kantaten und Gedichte. Selbst die Leugnung der Existenz Gottes, hörte er einmal einen Priester zu seiner Verblüffung und Entrüstung behaupten, ist letztlich religiös, eine Art Gebet – es ist nicht leicht, den Fängen der Gläubigen zu entrinnen.

Für das Flugzeug konnte man nur auf einen einfachen, weltlichen Maschinenschaden hoffen. Es zieht am Tower vorbei, entfernt sich über ein offenes Himmelsfeld nach Westen und dreht dabei leicht nach Norden ab. Das Feuer scheint mit der allmählich sich ändernden Perspektive kleiner zu werden. Perowne kann jetzt nur noch das Heck und die blitzenden Lichter sehen. Der Lärm der gequälten [29] Motoren verklingt. Ob das Fahrgestell ausgefahren wurde? Noch während er sich diese Frage stellt, wünscht er es sich auch, will es mit Gedanken erzwingen. Eine Art Gebet? Er bittet niemanden um einen Gefallen. Selbst als die Landescheinwerfer nicht mehr zu erkennen sind, starrt er weiter nach Westen, fürchtet den Anblick einer Explosion und kann den Blick nicht abwenden. Trotz des Morgenmantels friert er noch, wischt über die von seinem Atem beschlagene Scheibe und denkt, wie fern es nun scheint, dieses unvermutete Hochgefühl, das ihn aus dem Bett gelockt hatte. Schließlich richtet er sich auf und zieht leise die Fensterläden vor, um den Himmel zu verdecken.

Während er sich vom Fenster abkehrt, denkt er an das berühmte Gedankenexperiment, von dem er vor langer Zeit in einem Lehrgang für Physik gehört hat. Eine Katze, Schrödingers Katze, verborgen in einer geschlossenen Kiste, ist gerade von einem willkürlich aktivierten Hammerschlag auf eine Giftphiole getötet worden – oder sie lebt noch. Bis der Beobachter den Deckel der Kiste öffnet, bestehen beide Möglichkeiten – lebende Katze, tote Katze – nebeneinander, in parallelen Universen, gleichermaßen real. Sobald der Deckel angehoben und die Katze untersucht wird, kollabiert eine Quantenwelle der Wahrscheinlichkeit. Darin hat Henry noch nie irgendeinen Sinn entdecken können. Keinen menschlichen Sinn. Bestimmt ein weiteres Beispiel für ein Bezugsproblem. Er hat gehört, daß selbst die Physiker von diesem Exempel abkommen. Für Henry steht ohnedies auch ohne Beweise fest, daß ein Resultat, eine Konsequenz unabhängig von ihm und selbständig in der Welt existiert, anderen bekannt, der Entdeckung durch ihn harrend. Was [30] kollabiert, ist nur die eigene Unwissenheit. Wie das Ergebnis auch ausfällt, es ist vorprogrammiert. Und zu welchem Ziel die Passagiere auch unterwegs gewesen waren, ob sie mit einem Schreck davongekommen oder tot sind, inzwischen mußten sie angekommen sein.

Trostsuchend mustern die meisten Menschen bei der ersten Sprechstunde verstohlen die Hände des Chirurgen. Künftige Patienten suchen zarte, sensible, ruhige, vielleicht sogar makellos blasse Hände. Aus diesem Grund verliert Henry Perowne jedes Jahr eine Reihe von Kranken. Meist weiß er es bereits vor ihnen: der häufig nach unten gerichtete Blick, das Zaudern bei den vorbereiteten Fragen, die übertriebenen Dankesbezeugungen beim Rückzug zur Tür. Anderen Patienten gefällt nicht, was sie sehen, doch wissen sie nichts von ihrem Recht, sich einen anderen Arzt suchen zu können; manchen fallen die Hände auf, doch beschwichtigt sie seine Reputation, oder sie sind ihnen völlig egal; dann wiederum gibt es welche, denen nichts auffällt, die nichts empfinden oder die sich ihm infolge der kognitiven Behinderung, die sie überhaupt erst zu ihm gebracht hat, gar nicht mitteilen können.

Perowne macht sich deshalb keine Sorgen. Sollen die Abtrünnigen über den Flur oder ans andere Ende der Stadt gehen, die nächsten werden ihren Platz einnehmen. Das Meer neuronaler Leiden ist groß und tief. Seine Hände sind ruhig, aber riesig. Wenn er richtig Klavier spielen könnte – er klimpert nur ein bißchen –, wäre es sicher nützlich, zehn Noten zugleich greifen zu können. Es sind knotige Hände, deren Sehnen und Knochen an den Gelenken Knubbel [31] bilden, ein Büschel rötlicher Haare an jedem Fingeransatz, Fingerkuppen so breit und flach wie die Saugnäpfe eines Salamanders. Die Daumen sind unanständig lang, bananenartig rückwärts gekrümmt, und selbst ruhend wirken sie doppelgelenkig und scheinen eher einem Clown oder Trapezkünstler in einer Zirkusarena zu gehören. Außerdem sind die Hände, wie fast alles an Perowne, bis hinauf zu den oberen Gelenken von einer bunten Mischung orangefarbener und brauner Pigmente übersät. Auf eine gewisse Sorte Patient wirkt dies befremdend, geradezu ungesund: Solche Hände sollen sich, selbst in Handschuhen, nicht am eigenen Gehirn zu schaffen machen.

Es sind die Hände eines hochgewachsenen, sehnigen Mannes, den die letzten Jahre um ein wenig Gewicht und Selbstvertrauen bereichert haben. In seinen Zwanzigern hing die Tweedjacke an ihm wie an einer dürren Stange. Wenn er sich reckt und den Rücken streckt, kommt er auf einsachtundachtzig. Seine leicht gebeugte Haltung scheint um Vergebung bitten zu wollen, was für viele Patienten zu seinem Charme beiträgt, so wie sie auch seine verbindliche Art beruhigt, der sanfte Blick der grünen Augen und die tiefen Lachfalten in den Augenwinkeln. Bis Anfang vierzig hatten die jungenhaften Sommersprossen auf Wangen und Stirn eine ähnlich besänftigende Wirkung gehabt, doch seit kurzem beginnen sie zu verblassen, als verbiete seine gehobene Stellung ihm ein derart frivoles Aussehen. Seine Patienten würde es vermutlich gar nicht freuen zu erfahren, daß er ihnen nicht immer zuhört. Manchmal träumt er vor sich hin. Aufdringlich und ungebeten wie eine Verkehrsmeldung schleicht sich selbst während einer Konsultation [32] eine vage Phantasie in seine Gedanken ein, doch ist er geschickt darin, die Spuren zu verwischen, nickt auch weiterhin, runzelt die Stirn oder schließt den Mund fest um ein angedeutetes Lächeln. Und wenn er Sekunden später wieder zu sich kommt, scheint er nie viel verpaßt zu haben.

Die gebeugte Haltung täuscht ein wenig. Perowne war schon immer stolz auf seine Kondition und will sie nicht verlieren. Bei der Visite stürmt er mit so ungeduldigen Schritten über die Flure, daß er sein Gefolge abzuhängen droht. Er ist gesund, jedenfalls mehr oder weniger. Wenn er sich nach einer Dusche die Zeit nimmt, sich im großen Spiegel zu betrachten, bemerkt er einen leichten Ansatz um die Taille, eine fast sinnliche Schwellung unterhalb der Rippen, die verschwindet, wenn er sich gerade aufrichtet oder die Arme hebt. Ansonsten wirken die Muskeln – Brust und Arm – zwar bescheiden, doch angemessen ausgeprägt, vor allem dann, wenn die obere Beleuchtung ausgeschaltet ist und das Licht von der Seite einfällt. Mit ihm ist noch zu rechnen. Das Kopfhaar lichtet sich zwar, dafür ist es immer noch rötlichbraun. Nur im Schamhaar zeigen sich vereinzelt erste Silberlocken.

Fast jede Woche joggt er im Regent’s Park, läuft durch die von William Nesfield restaurierten Gärten, vorbei am Lion Tazza zum Primrose Hill und wieder zurück. Und beim Squash kann er noch die meisten jüngeren Ärzte schlagen, zentriert die Reichweite seines langen Arms auf das ›T‹ in der Courtmitte, um von dort seine Lobs zu schlagen, auf die er besonders stolz ist. Wenn er samstags gegen den Anästhesisten spielt, gewinnt er fast jedes zweite Match. Doch wenn der Gegner gut genug ist, ihn aus der [33] Mitte fortzulocken und über den Court zu jagen, ist Henry nach zwanzig Minuten erledigt. Dann kommt es schon mal vor, daß er sich an die Rückwand lehnt, unauffällig zählt und sich fragt, ob sein achtundvierzigjähriges Körpergestell tatsächlich einen Puls von hundertneunzig aushalten kann. An einem ihrer seltenen freien Tage war er gegenüber Jay Strauss zwei Spiele in Führung gewesen, als der Anruf kam – es ging um das Bahnunglück bei Paddington, alle wurden geholt –, und sie arbeiteten zwölf Stunden am Stück in Shorts und Turnschuhen unter den grünen Kitteln. Zu wohltätigen Zwecken läuft Perowne jedes Jahr bei einem Halbmarathon mit, und es heißt, was aber nicht stimmt, daß diejenigen unter ihm, die weiterkommen wollen, auch mitlaufen müssen. Letztes Jahr lag seine Zeit – eine Stunde einundvierzig – elf Minuten unter seiner Bestzeit.

Die Verbindlichkeit trügt, ist eher Stil als Charakter – man kann kein unverbindlicher Hirnchirurg sein. Die Studenten und jüngeren Angestellten erleben ihn seltener von seiner charmanten Seite als die Patienten. Der Student, der in Perownes Gegenwart bei einem CT-Scan von ›ziemlich weit unten links‹ redete, provozierte einen kurzen Wutausbruch, fiel in Ungnade und durfte erst wiederkommen, als er die Richtungsangaben beherrschte. Sein Team sagt über Perowne, er sei im Operationssaal eher dem schweigsamen Ende der Skala zuzurechnen: keine endlose Abfolge von Obszönitäten, wenn Probleme und Risiken sich häufen, keine leise gefauchte Drohung, irgendeinen Unfähigen aus dem Raum zu werfen, keine kernigen Sprüche – »tja, ist wohl wieder nichts mit dem Geigenunterricht« –, die die Spannung abbauen sollen. Perowne findet es im Gegenteil [34] sogar besser, die Spannung zu halten, wenn es schwierig wird. Ein paar barsch gebrummte Worte oder anhaltendes Schweigen sind ihm dann lieber. Wenn der Diensthabende beim Anlegen des Wundhakens herumfummelt oder ihm die OP-Schwester die Pinzette ungeschickt reicht, stößt Perowne an einem schlechten Tag schon mal ein einziges schnelles »Verdammt!« hervor, das aber, weil es selten geschieht und ohne jede Betonung herauskommt, um so beunruhigender wirkt und das Schweigen im Raum noch unangenehmer werden läßt. Ansonsten hört er beim Arbeiten im OP gern Musik, meist Klavierwerke von Bach – die Goldberg-Variationen, das Wohltemperierte Klavier oder die Partitas. Er bevorzugt Angela Hewitt und Martha Argerich, gelegentlich auch Gustav Leonhardt. An einem wirklich guten Tag entscheidet er sich schon mal für die freiere Interpretation von Glenn Gould. Während der Sitzungen schätzt er Präzision und mag es, wenn alle Themen innerhalb der vorgesehenen Zeit angesprochen und erledigt werden, weshalb er ein effizienter Vorsitzender ist. Ausschweifende Überlegungen und Anekdoten älterer Kollegen, die von den meisten als notwendiges Übel hingenommen werden, machen ihn ungeduldig; Träumereien sollten Privatsache sein. Auf Entscheidungen kommt es an.

So ist es trotz seiner scheinbar um Vergebung bittenden Haltung, seiner sanften Art und der Neigung zu gelegentlichem Tagträumen untypisch für Perowne, daß er jetzt unschlüssig am Fußende des Bettes steht und sich fragt, ob er Rosalind wecken soll oder nicht. Es ergibt keinen Sinn. Schließlich ist nichts mehr zu sehen. Sein Wunsch ist gänzlich egoistisch. Ihr Wecker klingelt um halb sieben, und hat [35] Perowne ihr erst mal seine Geschichte erzählt, dürfte sie kaum wieder einschlafen können. Dabei wird sie alles noch früh genug zu hören bekommen. Sie hat einen schweren Tag vor sich. Jetzt, da die Läden geschlossen sind und er wieder im Dunkeln steht, merkt er erst, wie aufgeregt er ist. Seine Gedanken haben etwas Wankelmütiges, Flüchtiges – er vermag keine Idee lang genug festzuhalten, um ihr einen Sinn abgewinnen zu können. Irgendwie fühlt er sich schuldig, aber auch hilflos. Das sind widersprüchliche Begriffe, wenn auch nicht ganz, geht es doch darum, inwieweit sie sich überschneiden, inwiefern sie dasselbe aus verschiedener Sicht beschreiben. Schuldig in seiner Hilflosigkeit. Hilflos schuldig. Er verliert sich und denkt erneut ans Telefon. Wird er es bei Tageslicht für eine Unterlassung halten, nicht den Notruf gewählt zu haben? Wird es deutlich sein, daß es nichts zu tun gab, daß nicht genügend Zeit war? Sein Vergehen besteht darin, in der Geborgenheit seines Schlafzimmers gestanden zu haben, gehüllt in einen wollenen Morgenmantel, und reglos und lautlos, halb träumend, zuzusehen, wie Menschen sterben. Ja, er hätte anrufen sollen, und wenn auch nur, um zu reden, um seine Stimme und seine Gefühle an denen eines Fremden zu messen.

Und deshalb will er sie wecken, nicht bloß um ihr die Neuigkeit zu erzählen, sondern weil er irgendwie verstört ist und immer wieder abschweift. Er will sich an die konkreten Details des Gesehenen klammern, will sie vor ihrem weltklugen, juristischen Verstand und ihrem festen Blick ausbreiten. Er mag die Berührung ihrer kleinen, zarten Hände, die immer kühler als die eigenen sind. Es ist fünf Tage her, seit sie sich zuletzt geliebt haben, Montag früh, [36] vor den Nachrichten um sechs, bei einem Gewitterregen, nur das gedämpfte Licht aus dem Bad, zwanzig Minuten, den Fängen der Arbeit entrissen, wie sie oft im Spaß sagen. Nun ja, im ehrgeizigen Leben der Menschen mittleren Alters scheint es oft nur noch die Arbeit zu geben. Meist bleibt er bis zehn Uhr abends im Krankenhaus, wird um drei wieder aus dem Bett geholt und ist manchmal um acht schon wieder dort. Rosalinds Arbeit kommt in einer Serie langsamer Crescendos und abrupter Schlüsse voran, während sie ihre Zeitung aus Gerichtsprozessen herauszuhalten versucht. An bestimmten Tagen prägt die Arbeit jede Stunde, manchmal ganze Wochen lang; das sind die Gezeiten, die Mondzyklen, nach denen sie ihr Leben ausrichten und ohne die es scheinen könnte, als gäbe es nichts, als wären Henry und Rosalind Perowne nichts.

Henry kann der Dringlichkeit seiner Fälle nicht widerstehen und den Stolz auf seine Fähigkeiten nicht leugnen, das Vergnügen, das ihm auch heute noch die Erleichterung der Angehörigen bereitet, wenn er wie ein Gott aus dem Operationssaal kommt, wie ein Engel mit froher Botschaft – Leben, nicht Tod. Rosalind hat ihre schönsten Momente außerhalb des Gerichtssaals, wenn ein mächtiger Gegner schon vor Prozeßbeginn vor besseren Argumenten kapitulieren muß oder, seltener, wenn sie nicht nur gewinnt, sondern auch ein Grundsatzurteil erstreitet. Einmal in der Woche, meist am Sonntagabend, stellen sie ihre Terminplaner wie kleine sich paarende Tiere nebeneinander, Seite an Seite, damit die Termine von einem Infrarotstrahl ins Notizbuch des jeweils anderen übertragen werden. Wenn sie sich Zeit für die Liebe stehlen, lassen sie das Telefon ein[37] geschaltet. Irgendein perverser Synchronismus sorgt dafür, daß es meist klingelt, wenn sie anfangen, ebensooft für Rosalind wie für ihn. Falls er derjenige ist, der sich anziehen und aus dem Zimmer hasten muß – um vielleicht noch einmal mit einem Fluch wegen Schlüssel oder Kleingeld zurückzukehren –, wirft er einen sehnsuchtsvollen Blick zurück und macht sich dann mit seiner Last, den abklingenden Gedanken an die Liebe, auf den Weg zum Krankenhaus – zehn Minuten in strammem Marschtempo. Doch kaum hat er die Doppelschwingtür durchschritten und eilt über die abgetretenen, schachbrettartig gemusterten Linoleumfliesen der Notaufnahme, kaum ist er mit dem Lift in den dritten Stock gefahren und hört sich im Waschraum, Seife in der Hand, die Anamnese des diensthabenden Arztes an, schwindet wie von allein der letzte Hauch des Begehrens. Kein Bedauern. Er ist bekannt für seine Schnelligkeit, seine Erfolgsquote und seinen langen Operationsplan – er nimmt über dreihundert Fälle im Jahr an. Manche gehen nicht gut aus, eine Handvoll Patienten überlebt mit leicht vernebeltem Sichtfeld, doch die meisten erholen sich, und viele nehmen irgendeine Form von Arbeit wieder auf – Arbeit, das ultimative Gütesiegel der Gesundheit.

Und wegen der Arbeit kann er sie nicht wecken. Um zehn hat sie eine außerordentliche Anhörung vor dem obersten Zivilgericht. Ihre Zeitung wurde daran gehindert, über die Einzelheiten eines gegen eine andere Zeitung verhängten Maulkorberlasses zu berichten. Die mächtige Prozeßpartei, die den ursprünglichen Erlaß erwirkt hatte, argumentierte erfolgreich vor dem Richter, daß selbst die Tatsache der Verhängung eines Maulkorberlasses nicht [38] öffentlich gemacht werden dürfe. Damit würde die Pressefreiheit beeinträchtigt, und Rosalind wollte sich darum bemühen, die zweite Anordnung bis zum Abend aufheben zu lassen. Vor der Anhörung Besprechungen in den Amtszimmern, dann – so hoffte sie jedenfalls – auf den Korridoren erste Annäherungsgespräche mit der gegnerischen Seite. Später würde sie dem Herausgeber und dem Management die Optionen vorlegen. Gestern abend war sie bestimmt erst spät von einer Sitzung nach Hause gekommen, lange nachdem Henry ohne Abendbrot eingedöst war. Sicher hatte sie noch einen Tee am Küchentisch getrunken und ihre Zeitungen durchgesehen. Und vielleicht war sie schlecht eingeschlafen.

Verstört und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, bleibt er vor dem Bett stehen und betrachtet ihre Gestalt unter der Bettdecke. Sie schläft wie ein Kind mit angezogenen Knien und sieht klein aus auf dem weiten Bett in nahezu völliger Dunkelheit. Er lauscht auf ihren Atem, fast unhörbar beim Luftholen, etwas betonter beim Ausatmen. Sie macht ein Geräusch mit ihrer Zunge am Gaumen, ein leises Schmatzen. Vor vielen Jahren hat er sich auf einer Krankenhausstation in sie verliebt, eine schreckliche Zeit. Sie nahm ihn kaum wahr. Ein weißer Kittel, der an ihr Bett trat, um die Nähte aus der inneren Oberlippe zu ziehen. Es sollten noch einmal drei Monate vergehen, ehe er diese Lippen küssen durfte, doch wußte er mehr über sie, hatte zumindest mehr von ihr gesehen, als jeder nur erdenkliche Liebhaber erwarten konnte.

Er geht jetzt auf sie zu, beugt sich über sie und küßt sie auf den warmen Hinterkopf. Dann zieht er sich zurück, [39] schließt leise die Schlafzimmertür, geht in die Küche, um Radio zu hören.

Es ist ein Gemeinplatz der Pädagogik und modernen Genetik, daß Eltern nur geringen oder gar keinen Einfluß auf den Charakter ihrer Kinder haben. Man weiß nie, wen man bekommt. Chancen, Gesundheit, Zukunftsaussichten, Akzent, Tischmanieren – das mag man noch beeinflussen können. Doch eigentlich wird die Person, mit der man das Leben teilen soll, dadurch bestimmt, welches Spermium auf welches Ei trifft, welche Karten aus den beiden Stapeln gezogen werden, wie sie gemischt, ausgeteilt und neu kombiniert werden. Fröhlich oder neurotisch, großzügig oder habgierig, neugierig oder träge, aufgeschlossen oder schüchtern oder von allem etwas; es kann für die elterliche Selbstachtung schon ein ziemlicher Schlag sein, wenn man begreift, in welch großem Ausmaß die Arbeit bereits getan ist. Es kann aber auch entlasten. Das wird besonders deutlich, wenn man mehr als ein Kind hat: Unter nahezu gleichen Lebensbedingungen wachsen dann womöglich zwei völlig verschiedene Menschen heran.

Hier in der höhlenartigen Souterrainküche sitzt Theo Perowne um fünf Minuten vor vier im einzigen Lichtkegel wie auf einer Bühne, achtzehn Jahre alt, der Schule längst entwachsen, kippelt zurückgelehnt auf dem Küchenstuhl und stemmt mit übereinandergeschlagenen, in engen schwarzen Jeans steckenden Beinen die (vom eigenen Geld gekauften) Stiefel aus weichem, schwarzem Leder gegen die Tischkante. Von seiner Schwester Daisy ist er so verschieden, wie es der Zufall nur zuläßt. Er trinkt Wasser aus [40] einem großen Glas, hält eine Musikzeitschrift umgeschlagen in der Hand und liest. Eine Nietenlederjacke liegt achtlos hingeworfen auf dem Boden, am Schrank lehnt der Gitarrenkoffer, den bereits einige Aufkleber von Schiffsreisen verzieren – Triest, Oakland, Hamburg, Val d’Isère, doch ist noch Platz für weitere Etiketten. Aus einer Mini-Stereoanlage im Regal über der Sammlung Kochbücher dringt wie sanfter Regen die Musik eines rund um die Uhr dudelnden Popsenders.

Perowne fragt sich manchmal verwundert, ob er sich in seiner Jugend je ausgemalt hätte, daß er eines Tages einen Bluesmusiker zeugen würde. Er selbst war problemlos durchgerutscht, ohne Frage oder Klage, in glattem Übergang von der Schule zum Medizinstudium und weiter zum mühseligen Erwerb klinischer Erfahrung in London, Southend-on-Sea, Newcastle, der Notaufnahme des Bellevue in New York und dann erneut in London. Wie hatten derart pflichtbewußte und konventionelle Menschen wie er und Rosalind nur einen solchen Freigeist hervorbringen können? Einer, der sich, wenn auch gleichsam augenzwinkernd, im Stil eines Bohemiens der fünfziger Jahre kleidete, der keine Bücher las und sich nicht überreden ließ, länger als nötig zur Schule zu gehen, der selten vor dem Mittag aufstand und dessen Leidenschaft den Blues-Traditionen galt, die er in all ihren Nuancen zu meistern versuchte, Delta, Chicago und Mississippi, oder auch bestimmten Licks, die für ihn den Schlüssel zu allen Mysterien und zum Erfolg seiner Band New Blue Rider bedeuteten. Sein Gesicht ist eine vergrößerte Ausgabe vom Gesicht seiner Mutter, er hat sanfte Augen, doch keine grünen, sondern dunkelbraune, [41] sprichwörtliche Mandelaugen, sogar ein wenig exotisch schräggestellt. Er hat ihren offenen, liebenswürdigen Blick und die großknochige Schlaksigkeit seines Vaters geerbt, wenn auch in einer kräftigeren, kompakteren Ausgabe. Er hat selbst Henrys Hände, was für sein Gitarrenspiel ganz nützlich ist. In der kleinen, klatschsüchtigen Welt des britischen Blues erzählt man sich über Theo, er sei ein vielversprechendes Talent, ein Mann, der bereits ein ausgereiftes Gefühl für das Blues-Idiom beweise und eines Tages mit den Göttern wandeln könne, mit den britischen Göttern wohlgemerkt – Alexis Korner, John Mayall oder Eric Clapton. Irgendwer hatte irgendwo geschrieben, Theo Perowne spiele wie ein Engel.

Natürlich ist sein Vater derselben Meinung, trotz aller Zweifel an den begrenzten Möglichkeiten dieser Musik. Er mag den Blues – schließlich hat er selbst den neunjährigen Theo damit bekannt gemacht. Danach hatte dann der Großvater übernommen. Doch ließ sich aus zwölf Takten in drei gängigen Akkorden wirklich Befriedigung für ein ganzes Leben gewinnen? Nun, vielleicht war dies einer jener Fälle, wo sich durch einen Mikrokosmos die ganze Welt erschließt. Wie durch einen Eßteller von Spode. Oder durch eine einzelne Körperzelle. Oder, so Daisy, wie durch einen Roman von Jane Austen. Wenn Musiker und Zuhörer den Weg derart gut kennen, liegt der Reiz in der Abweichung, der unvermuteten Variation. Die ganze Welt in einem Sandkorn. Genau so, versucht Perowne sich einzureden, ist es, wenn man ein Aneurysma abklemmt: die faszinierende Variante eines unveränderlichen Themas.

Und etwas an der lässigen Autorität von Theos Spiel läßt [42] jene unerklärliche Faszination für diese simple Akkordfolge in Henry wiederaufleben. Theo gehört zu den Gitarristen, die mit offenen Augen, doch wie in Trance spielen, ohne den Körper zu bewegen oder auch bloß auf die Hände zu schauen. Nur gelegentlich läßt er sich zu einem bedächtigen Nicken herab. Manchmal legt er in einem Set den Kopf in den Nacken, um den anderen anzudeuten, daß er ›noch einen Chorus‹ spielt. Er gibt sich auf der Bühne wie im Gespräch, still, förmlich, schützt sich durch eine äußere Schale freundlicher Höflichkeit. Wenn er seine Eltern hinten in der Menge entdeckt, hebt er die Linke vom Gitarrenhals zu einem schüchternen, privaten Gruß. Henry und Rosalind müssen dann an die Pappkrippe in der Turnhalle denken, an den ernsten, fünfjährigen Joseph, ein Gummiband mit einer Geschirrtuchkrone um den Kopf, der eine leidgeprüfte Maria an der Hand hält und verstohlen dieselbe liebevolle Geste macht, als er endlich seine Eltern in der zweiten Reihe sieht.

Dieses Beherrschte, Coole, paßt zum Blues, zumindest zu Theos Version. Wenn er zu einem mittelschnellen Standard wie ›Sweet Home Chicago‹ mit lässigem, punktiertem Rhythmus ansetzt – er hat gesagt, er hätte diesen Evergreen-Blues langsam satt –, gibt er auf den unteren Saiten ein locker kraftvolles Tempo vor, einem geschmeidigen Raubtier gleich, das die Müdigkeit abschüttelt und Meile um Meile offener Savanne durchstreift. Dann wandert er auf dem Bund nach oben, und im Zaghaften schwingt unvermittelt eine Ahnung von Gefahr mit. Ein kurzer Synkopenlauf beim Turnaround, der plötzliche Schlag eines übermäßigen Akkords, ein gegen das wogende Auf und Ab [43] gehaltener Ton, eine mit Bedacht verminderte Quinte, die sinnlich klingenden Mikrotöne einer gezogenen Septime. Dann eine zwischengeschobene Soul-Dissonanz. Er besitzt das rhythmische Talent, Erwartungen zu durchkreuzen, eine Art, Triolen gegen Zwei- oder Vier-Noten-Cluster auszuspielen. Seine Läufe kommen mit dem Tempo und der Phrasierung vom Bebop daher. Es ist eine Art Hypnose, eine mühelose Verführung. Henry hat noch niemandem erzählt, nicht mal Rosalind, daß es Momente gibt, in irgendeiner Bar im West End, da schlägt ihn die Musik in ihren Bann, und aus dem Überschwang heraus schnürt ihm – untrennbar vom Vergnügen an der Musik – der Stolz auf seinen Sohn die Brust zu, ein fast schmerzhaftes Gefühl. Das Atmen fällt ihm schwer. Im Herzen des Blues haust keine Melancholie, sondern eine seltsame, irdische Freude.

Theos Gitarre fährt ihm ins Mark, weil sie einen Tadel vorbringt, die Erinnerung an eine tief vergrabene Unzufriedenheit, an ein fehlendes Element in seinem Leben. Manchmal wächst dieses Gefühl noch, wenn ein Set vorüber ist, wenn der Oberarzt für Neurochirurgie sich herzlich von Theo und seinen Freunden verabschiedet, auf den Bürgersteig tritt, beschließt, zu Fuß nach Hause zu gehen, und ins Grübeln kommt. Es gibt nichts in seinem Leben, das eine solche Kreativität enthielte, eine solche Art des Freiseins. Theos Musik rührt an eine unausgesprochene Sehnsucht oder Verzweiflung, eine Ahnung, daß er sich einen offenen Weg verbaut hat, ein Leben nach dem Herzen, wie es die Songs rühmen. Dabei muß es doch mehr im Leben geben, als nur Leben zu retten. Disziplin und Verantwortung einer medizinischen Karriere, dadurch erschwert, daß er mit [44]