Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie - Alexander von Gontard - E-Book

Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie E-Book

Alexander von Gontard

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Beschreibung

Der Begriff "Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie" wirft oft Fragen auf. Können so kleine Kinder schon psychisch gestört sein? Handelt es sich dabei nicht um eine Stigmatisierung ganz normaler Reifungsphänomene? Dieses Lehrbuch bietet Antworten auf solche Fragen. Es zeigt, dass psychische Störungen im Kleinkindalter sich zwar oft mit anderer Symptomatik zeigen, jedoch ebenso häufig sind wie bei älteren Kindern, und beschreibt, wie sie erkannt und behandelt werden können. Es ist die erste umfassende Darstellung des Gebiets der Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie in deutscher Sprache und beruht sowohl auf der reichen praktischen Erfahrung des Autors sowie auf aktuellen Forschungsergebnissen.

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Der Begriff 'Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie' wirft oft Fragen auf. Können so kleine Kinder schon psychisch gestört sein? Handelt es sich dabei nicht um eine Stigmatisierung ganz normaler Reifungsphänomene? Dieses Lehrbuch bietet Antworten auf solche Fragen. Es zeigt, dass psychische Störungen im Kleinkindalter sich zwar oft mit anderer Symptomatik zeigen, jedoch ebenso häufig sind wie bei älteren Kindern, und beschreibt, wie sie erkannt und behandelt werden können. Es ist die erste umfassende Darstellung des Gebiets der Säuglingsund Kleinkindpsychiatrie in deutscher Sprache und beruht sowohl auf der reichen praktischen Erfahrung des Autors sowie auf aktuellen Forschungsergebnissen.

Prof. Dr. Alexander von Gontard ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes (Homburg) sowie Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinderheilkunde und Psychotherapeutische Medizin.

Alexander von Gontard

Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie

Ein Lehrbuch

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstiger Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlich geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © 2010 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

ISBN 978-3-17-021067-7

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-026626-1

epub:

978-3-17-027408-2

mobi:

978-3-17-027409-9

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1 Psychische Störungen im Vorschulalter allgemein

1.1 Klassifikation

1.1.1 Revisionen etablierter DSM-IV-Kriterien

1.1.2 Klassifikationssystem Zero-to-Three

1.1.3 Deutsche Leitlinien

1.2 Prävalenz

1.2.1 Allgemeine Prävalenz

1.2.2 Versorgungsprävalenz

1.3 Diagnostik

1.3.1 Allgemeine Diagnostik

1.3.2 Standardisierte Diagnostik

1.4 Therapie

2 Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörungen und Hyperkinetische Störungen

2.1 Definition und Klassifikation

2.2 Prävalenz

2.3 Diagnostik

2.4 Klinik

2.5 Ätiologie

2.6 Therapie

2.6.1 Psychotherapie der ADHS

2.6.2 Pharmakotherapie der ADHS

2.7 Verlauf und Prognose

2.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten/Störung des Sozialverhaltens

3.1 Definition und Klassifikation

3.2 Prävalenz

3.3 Diagnostik

3.4 Klinik

3.5 Ätiologie

3.6 Therapie

3.7 Verlauf und Prognose

3.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

4 Ausscheidungsstörungen

4.1 Definition und Klassifikation

4.2 Prävalenz

4.3 Diagnostik

4.4 Klinik

4.5 Ätiologie

4.6 Therapie

4.7 Verlauf und Prognose

4.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

5 Posttraumatische Belastungsstörungen

5.1 Definition und Klassifikation

5.2 Prävalenz

5.3 Diagnostik

5.4 Klinik

5.5 Ätiologie

5.6 Therapie

5.7 Verlauf und Prognose

5.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

6 Bindungsstörungen

6.1 Definition und Klassifikation

6.1.1 Bindungsstörungen

6.1.2 Bindungstheorie

6.2 Prävalenz

6.3 Diagnostik

6.4 Klinik

6.5 Ätiologie

6.6 Therapie

6.7 Verlauf und Prognose

6.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

7 Depressive Störungen

7.1 Definition und Klassifikation

7.2 Prävalenz

7.3 Diagnostik

7.4 Klinik

7.5 Ätiologie

7.6 Therapie

7.7 Verlauf und Prognose

7.8 Zusammenfassungen und Empfehlungen

8 Angststörungen

8.1 Definition und Klassifikation

8.2 Prävalenz

8.3 Diagnostik

8.4 Klinik

8.5 Ätiologie

8.6 Therapie

8.7 Verlauf und Prognose

8.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

9 Anpassungsstörungen

9.1 Definition und Klassifikation

9.2 Prävalenz

9.3 Diagnostik

9.4 Klinik

9.5 Ätiologie

9.6 Therapie

9.7 Verlauf und Prognose

9.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

10 Regulationsstörungen

10.1 Definition und Klassifikation

10.2 Prävalenz

10.3 Diagnostik

10.4 Klinik

10.5 Ätiologie

10.6 Therapie

10.7 Verlauf und Prognose

10.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

11 Fütterstörungen

11.1 Definition und Klassifikation

11.2 Prävalenz

11.3 Diagnostik

11.4 Klinik

11.5 Ätiologie

11.6 Therapie

11.7 Verlauf und Prognose

11.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

12 Schlafstörungen

12.1 Definition und Klassifikation

12.2 Prävalenz

12.3 Diagnostik

12.4 Klinik

12.5 Ätiologie

12.6 Therapie

12.7 Verlauf von Prognose

12.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

13 Weitere Störungen

13.1 Autismus

13.2 Elektiver Mutismus

13.3 Andere Störungen

14 Belastende Symptome: Exzessives Schreien

14.1 Definition und Klassifikation

14.2 Prävalenz

14.3 Diagnostik

14.4 Klinik

14.5 Ätiologie

14.6 Therapie

14.7 Verlauf und Prognose

14.8 Zusammenfassung und Empfehlung

15 Beziehungsstörungen

15.1 Definition und Klassifikation

15.2 Prävalenz

15.3 Diagnostik

15.4 Klinik

15.5 Ätiologie

15.6 Therapie

15.7 Verlauf und Prognose

15.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

16 Ausblick

Abkürzungen

Literatur

Anhänge

Anhang I: Amerikanische Leitlinien zur Diagnostik psychischer Störungen von Säuglingen und Kleinkindern

Anhang II: Zero-to-Three R (2005)

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Der Begriff der Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie sorgt nach wie vor oft für Verwunderung: Braucht man das überhaupt? Wie können schon so kleine Kinder psychisch gestört sein? Handelt es sich nicht nur um eine weitere „Psychiatrisierung“, d. h. eine Stigmatisierung eigentlich ganz normaler Reifungsphänomene? Was hat das für Konsequenzen? Selbst wenn es in diesem Alter Probleme geben sollte – die lösen sich doch von alleine! Ein wenig Beratung und vor allem Erziehung – das reicht doch vollkommen aus!

Dieses Buch versucht auf solche Fragen wissenschaftlich fundierte Antworten zu geben und darüber hinaus zu zeigen, dass psychische Störungen im frühen Kindesalter sehr wohl vorhanden sind und auch erkannt werden können, dass sie genau so häufig sind wie bei älteren Kindern und dass sie sich natürlich mit anderer Symptomatik zeigen, aber für Eltern und Kinder sehr belastend sein können. In anderen Worten, eine Beratung und Behandlung stellt für viele Kinder und Familien eine enorme Hilfe dar und kann die weitere Entwicklung positiv beeinflussen.

Die Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie ist ein wichtiges, bisher weitgehend unerforschtes und wenig beachtetes Teilgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Aufgrund der hohen Entwicklungsdynamik des Vorschulalters hat die Erkennung und Behandlung von psychiatrischen Störungen in diesem Alter weitreichende Konsequenzen für die nächsten Entwicklungsschritte.

Von daher hat sie neben den kurativen, auch weitergehende, präventive Effekte für Kinder und Familien.

Dieses Lehrbuch ist der erste Versuch, im deutschsprachigen Bereich das Gebiet der Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie darzustellen. Als Vorbild gilt das hervorragende Handbuch (Handbook of Preschool Mental Health) von Luby (2006), in dem einzelne Störungsbilder von ausgewiesenen Experten ausführlich zusammengefasst wurden.

In diesem Buch wurden dagegen Schwerpunkte auf einzelne, besonders wichtige Störungen gesetzt – eine vollständige systematische Übersicht war nicht geplant. Dabei wurde vor allem die Literatur der letzten fünf Jahre berücksichtigt. Das Buch ist gleichzeitig Grundlage für Weiterentwicklungen, wie z. B. spezielle Leitlinien zur Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie, die von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und den anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbänden geplant sind und in aufwändigen Konsensusverfahren als allgemeine Empfehlungen für Störungen des frühen Kindesalters erarbeitet werden.

Dieses Lehrbuch spiegelt zugleich die Erfahrungen und die Beschäftigung des Autors mit der Problematik wieder: Als Kinderarzt hat man im klinischen Alltag ausreichend Gelegenheit, junge Kinder und ihre Eltern in verschiedenen Bereichen zu beobachten und bei der Bewältigung von zum Teil schweren körperlichen Erkrankungen zu begleiten. Obwohl psychische Faktoren intuitiv in der Kinderheilkunde berücksichtigt werden, fehlt der Pädiatrie das Rüstzeug, psychische Störungen bei Kindern (und Eltern) professionell zu erkennen und zu behandeln. Viele Kinder- und Jugendpsychiater, vor allem diejenigen, die in der Erwachsenenpsychiatrie sozialisiert wurden, bevorzugen die Arbeit mit Jugendlichen und kennen sich mit den Problemen von Kindern, geschweige denn von Kleinkindern nicht genügend aus. Diese Altergruppe wird jedoch nicht nur in der praktischen Arbeit vernachlässigt, auch die Forschung im Vorschulalter gehört zu den wenig beachteten Bereichen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und wird nur an sehr wenigen Universitätskliniken aktiv verfolgt.

Zu den letzteren gehört auch die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes, wo im Jahr 2003 der Schwerpunkt der Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie im ambulanten und stationären Bereich etabliert wurde. In einer Spezialambulanz für Säuglinge, Kleinkinder und ihre Eltern können dort Kinder bis zu fünf Jahren ambulant untersucht und behandelt werden. Für schwere Störungen wurde eine Mutter-Kind-Modellstation (in Zusammenarbeit mit der Klinik für Psychiatrie) mit vier Behandlungsplätzen für Mütter und Kinder gegründet. Das Besondere und bisher Einmalige an dieser Station ist, dass sowohl Mütter mit eigenen psychischen Störungen (wie postpartale Depressionen und Psychosen, aber auch andere psychische Störungen) als auch Kinder im Alter bis fünf Jahren mit eigenen Störungen (wie Fütterstörungen und allen anderen in diesem Buch dargestellten Störungen) aufgenommen werden können. Während die Mütter Patienten der Erwachsenenpsychiatrie bleiben, werden die Kinder von der Kinderpsychiatrie behandelt. Die Störungen der Interaktion zwischen Mutter und Kind liegen dabei im Fokus der Therapie. Dieses einmalige interdisziplinäre Konzept ermöglicht ein differenziertes Vorgehen bei ganz unterschiedlichen Kombinationen: So können Mütter Hauptbetroffene sein – das Kind ist Begleitperson, wie es häufig bei postpartalen mütterlichen Störungen der Fall ist; das Kind kann andererseits mit seiner Störung im Vordergrund stehen und die Mutter wird als Begleitperson aufgenommen; und schließlich findet man nicht selten das Zusammenspiel von mütterlichen und kindlichen Störungen, die sich wechselseitig negativ verstärken können.

Dieses Lehrbuch beruht somit einerseits auf der vorhandenen Literatur, anderseits auf den Erfahrungen der ambulanten und stationären Arbeit an unserer Klinik. Es sei hiermit allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gedankt, die mit hohem Engagement diese Spezialangebote an unserer Klinik in den letzten Jahren aufgebaut haben. Danken möchte ich besonders Frau Birgit Weber für ihre Unterstützung beim Verfassen des Manuskriptes.

Homburg, im Februar 2010

Alexander von Gontard

Einleitung

Das Säugling- und Kleinkindalter, d. h. das Alter von der Geburt bis zur Einschulung, ist durch eine rasche Entwicklungsdynamik gekennzeichnet. Im deutschen Sprachbereich wird traditionell unterschieden zwischen dem Neugeborenenalter (1.–4. Woche), dem Säuglingsalter (1.–12. Monat) und der entwicklungspsychologisch langen Altersspanne des Kleinkindalters (1.–5. Lebensjahr). Im angelsächsischen Bereich wird eine andere Einteilung vorgenommen, die entwicklungspsychologisch sehr viel sinnvoller ist, wobei die Altersangaben sich bei verschiedenen Autoren unterscheiden können. Als „Infants“ werden junge Kinder im Alter von ca. 0–18 Monaten bezeichnet. Der lateinische Wortstamm „Infans“ bedeutet „noch nicht redend“, „stumm“, d. h. „Infancy“ bezeichnet das Alter vor dem Spracherwerb. „Toddlers“ sind Kleinkinder im Alter von ca. 18 Monaten bis 3 Jahren. „To toddle“ bedeutet „mit kleinen, unsicheren Schritten laufen“, was dem typischen Gangbild dieses Alters entspricht. Schließlich bezeichnet der Begriff „Preschoolers“ ältere Kleinkinder im Alter von ca. 4–5 Jahren. Der Name deutet an, dass es sich um Kinder vor der Einschulung handelt, bei denen typischerweise gerade die kognitive Entwicklung enorme Sprünge macht.

Da in jedem Altersabschnitt auch typische entwicklungspsychopathologische Auffälligkeiten auftreten können, sind in den letzten Jahren spezielle Handbücher zu diesen drei Altersabschnitten erschienen.

Zu erwähnen sind dabei besonders das „Handbook of Infant Mental Health“ von Zeanah (2000), das sich besonders dem ersten Altersabschnitt der „Infancy“ widmet. Das „Handbook of Infant, Toddler, and Preschool Mental Health Assessment“ von Del Carmen, Wiggins und Carter (2004) widmet sich ausschließlich und detailliert diagnostischen Fragestellungen. Das Vorschulalter ist der Hauptfokus von „Behavior Problems in Preschool Children“ von Campbell (2004) und dem hervorragenden Handbuch von Luby (2006): „Handbook of Preschool Mental Health“. Eine entsprechende Auswahl von Büchern – noch dazu gestaffelt nach Entwicklungsabschnitten – gibt es in dem deutschen Sprachbereich noch nicht, trotz der Häufigkeit von psychischen Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter.

Mehrere epidemiologische Studien konnten zeigen, dass psychische Störungen im frühen Kindesalter mindestens genau so häufig wie in späteren Lebensphasen sind. Wie von Egger und Angold (2006a) zusammengefasst, zeigen ca. 14–25 % aller Kleinkinder klinisch relevante psychische Störungen. Dennoch werden Auffälligkeiten dieses Lebensalters häufig übersehen, nicht adäquat diagnostiziert und als nicht behandlungsbedürftig betrachtet. So werden nur 11–25 % der Kleinkinder mit Verhaltensstörungen tatsächlich zur Diagnostik und Therapie vorgestellt (Egger und Angold 2006a, Knapp et al. 2007). In machen Regionen scheint die Inanspruchnahme noch niedriger zu liegen: So erhielten in einer Studie nur 3 % der 4-jährigen Kinder mit einer DSM-IV-Diagnose tatsächlich professionelle Hilfe (Lavigne et al. 2009). Dies liegt überwiegend daran, dass es sich bei der Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie noch um ein junges Fachgebiet handelt. Angold und Egger (2004) kamen zu der Einschätzung, dass die Vorschulpsychiatrie sich auf dem gleichen Stand befindet wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Jahr 1970, d. h. vor 40 Jahren. Wichtige, heute selbstverständliche Aspekte der Nosologie (Einteilung der Krankheitsbilder), exakte Diagnostik und evidenzbasierte Therapie waren in der allgemeinen Kinderpsychiatrie damals nur rudimentär vorhanden. Epidemiologische Studien, vor allem im Langzeitverlauf, fehlten, die die Bedeutung der Entwicklungspsychopathologie im Verlauf des Kindes- und Jugendalters herausarbeiten konnten. Angold und Egger wagten 2004 die Voraussage, dass die nächsten zwanzig Jahre die Vorschulpsychiatrie in ähnlicher Weise transformieren werden. Sie gehen davon aus, dass die wissenschaftlichen Erfahrungen bei älteren Kindern für die Forschung im Vorschulalter genutzt werden können, so dass die Fortschritte sehr viel schneller erfolgen werden als bisher in der allgemeinen Kinderpsychiatrie. Inzwischen sind fünf Jahre seit der Prognose von Angold und Egger (2004) vergangen und die beiden Autoren scheinen Recht behalten zu haben. Gerade in den letzten fünf Jahren ist eine Fülle von Arbeiten publiziert worden. Dabei sind drei Trends besonders begrüßenswert: Während früher Fallberichte oder Arbeiten über selektierte Patientengruppen publiziert wurden, liegen für viele Störungen repräsentative, bevölkerungsbezogene, epidemiologische Studien vor. Gerade durch den Bezug auf nicht selektierte Gruppen von gesunden, unbetroffenen Kindern konnten viele Annahmen zu Häufigkeit, Schweregrad, Symptomatik und Ätiologie revidiert werden. Der Verlauf der Störungen sowie der intervenierenden Variablen konnten zunehmend erfasst werden, weil mancher dieser bevölkerungsbezogenen Studien nicht nur einen Querschnitt, sondern auch einen Langzeitverlauf beinhalteten. Ein weiterer positiver Trend zeigt sich in der Zunahme von qualitativ hochwertigen Therapiestudien, z. B. mit einem randomisiert kontrollierten Design. Dadurch ist es möglich, Therapieempfehlungen auf einer zunehmend besseren Evidenzbasis aussprechen zu können.

Bei der Sichtung der Literatur der letzen fünf Jahre wurde deutlich, dass manche Störungen sehr intensiv erforscht wurden, andere sehr viel weniger. Zu den Störungen mit hoher Forschungsaktivität gehören die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ODD – Oppositional Defiant Disorder), die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die Schlafstörungen. Die intensive Beschäftigung mit den externalisierenden Störungen (ADHS und ODD) ist wichtig wegen der Tendenz zur Chronifizierung und Persistenz vom Kleinkind-, über das Schul-, Jugend- und sogar das Erwachsenenalter. Über andere genauso wichtige Problembereiche wie die depressiven, Angst-, Ess- und Fütterstörungen liegen sehr viel weniger Publikationen vor. Über die Anpassungsstörungen fand sich sogar keine einzig spezifische Arbeit. Diese Ungleichverteilung ist mit Sicherheit bedingt durch die Vorlieben und Spezialisierung einzelner Forschungsgruppen sowie durch mögliche Förderschwerpunkte. Es ist zu wünschen, dass die bisher „vernachlässigten“ Gebiete der Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie in Zukunft mit mehr Aufmerksamkeit bedacht werden.

Trotz der unausgewogenen Datenlage hat sich für alle Störungen eine kategoriale Ausrichtung bewährt. Natürlich sind Verhaltenssymptome dimensional verteilt und eine scharfe Abgrenzung zwischen Störung und Normalverhalten sowie von einer Störung zur anderen ist nicht für alle Problembereiche möglich. Dennoch betonen Angold und Costello (2009), dass die bisherigen traditionellen Klassifikationen nach ICD-10 und DSM-IV auch für das Kindesalter in Praxis und Forschung ausgesprochen erfolgreich waren. Mit entsprechenden Modifikationen können sie sinnvoll bis zum Alter von zwei Jahren eingesetzt werden. Für jüngere Kinder unter zwei Jahren sind alternative Klassifikationen wie z. B. das Zero-to-Three (DC:0–3R) notwendig, die jedoch empirisch validiert werden müssen.

Aus diesem Grund wird in diesem Buch dem Plädoyer für eine kategoriale Einteilung von psychischen Störungen bei Vorschulkindern zugestimmt. Einwände, dass emotionale und Verhaltensymptome in diesem Alter sich dimensional über ein Spektrum verteilen und deshalb nicht klaren Störungsbildern zugeteilt werden können, zeigen sich in Praxis und Forschung nicht (Angold und Egger 2004). Auch dem Einwand, dass eine Unterscheidung zwischen der eigentlichen „kindlichen“ Störung und Auffälligkeiten in der Beziehung nicht möglich sei, muss widersprochen werden. Es ist sehr gut möglich, diskrete Störung des Kindes zu identifizieren – während Auffälligkeiten in der Beziehung separat klassifiziert werden können. Anderseits gilt der Einwand, dass die bisherigen Klassifikationssysteme die Entwicklungsdynamik des Vorschulalters nicht genügend berücksichtigen, tatsächlich. Einzelne Kriterien, wie Dauer einer Störung oder einzelne Symptome müssen für das junge Alter modifiziert werden. Das Thema der Klassifikation ist von daher zentral für die Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie. Wie aus den späteren Kapiteln ersichtlich wird, stehen vier verschiedene Klassifikationssysteme zur Verfügung:

Die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation mit dem entsprechenden multiaxialen Klassifikationssystem für Kinder und Jugendliche (WHO 1993, Remschmidt et al. 2001).

Die DSM-IV der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung (APA 1994, 2000): Während die ICD-10 und DSM-IV für viele Störungen weitgehend übereinstimmen, divergieren sie z. B. erheblich bei der Definition von Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS nach DSM-IV) und hyperkinetischen Störungen (HKS nach ICD-10).

Eine Revision und Modifikation der DSM-IV-Kriterien für das Vorschulalter wurde von der amerikanischen kinderpsychiatrischen Vereinigung vorgenommen (AACAP, 2003). Diese wurden als „Research Diagnostic Criteria – Preschool Age (RDC-PA 2002) bezeichnet. Sie können sogar für manche Kinder bis zum Alter von sieben Jahren sinnvoll sein.

Ein gänzlich neues Klassifikationssystem für junge Kinder im Alter von 0–3 Jahren wurde seit den achtziger Jahren entwickelt. Die neuste Auflage dieser Zero-to-Three Klassifikation (DC:0–3R 2005) liegt bisher nur in englischer Sprache vor. Die Kriterien sind für manche Kinder sogar bis zum Alter von fünf Jahren verwendbar.

Dieses Buch behandelt nach einer allgemeinen Einleitung elf der wichtigen psychischen Störungen des Säuglings- und Kleinkindalters. Zur Vereinfachung wird der Begriff „Vorschulalter“ für die geamte Zeitspanne von 0 bis 5 Jahren gewählt. Es werden dabei ausschließlich Störungen der ersten Achse referiert, d. h. psychische im Kind diagnostizierbare Störungen.

Speziell werden behandelt: ADHS, ODD, Ausscheidungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Bindungsstörungen, depressive Störungen, Angststörungen, Anpassungsstörungen, Regulationsstörungen, Fütterstörungen und Schlafstörungen. Jedes Kapitel folgt dabei einem ähnlichen Verlauf: Die Definition und Klassifikation wird ausführlich behandelt und, soweit Daten vorhanden sind, die Prävalenz referiert. Auf spezielle Aspekte der Diagnostik folgen dann Aspekte der klinischen Ausprägung. Nach der Abhandlung von Ätiologie und Pathogenese werden wirksame und bewährte Behandlungskonzepte vorgestellt, wobei der therapeutische Schwerpunkt bei Säuglingen und Kleinkindern eindeutig auf der Psychotherapie liegt. Für einzelne Störungen wie z. B. ADHS kann auch bei jungen Kindern eine Pharmakotherapie sinnvoll sein. Das Unterkapitel Verlauf und Prognose behandelt die Frage, wie sich die Krankheit weiter entwickelt. Zum Schluss werden die wichtigsten Aspekte zusammengefasst und evidenzbasierte Empfehlungen ausgesprochen. Es wird dabei ausdrücklich Bezug genommen auf die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kinder- und Jugendalter (Schmidt und Poustka 2007) sowie Empfehlungen der amerikanischen kinderpsychiatrischen Vereinigung (AACAP). Abweichende und spezifische Empfehlungen für das junge Kindesalter werden speziell formuliert. Obwohl verschiedene Evidenzeinteilungen in Publikationen zu finden sind, folgt dieses Buch aus Gründen der Einheitlichkeit den Evidenzgraden, die in den deutschen Leitlinien (Schmidt und Poustka, 2007) angegeben sind (Tab. 1).

Der Grad der Evidenz bezeichnet dabei die Güte der vorliegenden Daten, auf denen eine Empfehlung beruht. In anderen Worten: Auch Empfehlungen auf einem niedrigen Evidenzgrad (IV oder V) können wirksam sein – nur reicht die Datenlage nicht aus, um eine allgemein gültige Empfehlung aussprechen zu können. Dagegen beruhen Empfehlungen auf einem hohen Grad der Evidenz (I oder II) auf hochwertigen Studien, die zum jetzigen Zeitpunkt eine entsprechende, allgemeine Empfehlung zulassen.

Tab. 1: Grad der Evidenz (nach den deutschen kinderpsychiatrischen Leitlinien; Schmidt und Poustka 2007)

Grad der Evidenz

Art der Evidenz

I

Harte Evidenz beruhend auf mindestens einem systematischen Review, das verschiedene gute randomisierte Studien mit gutem Design einschließt

II

Harte Evidenz beruhend auf mindestens einer kontrollierten randomisierten Studie mit angemessener Größe mit gutem Design

III

Evidenz beruhend auf nicht-randomisierten Studien mit gutem Design, einzelnen Gruppen vor/nach Interventionen, Kohortenstudien, Serien in zeitlicher Folge oder Fall-Kontroll-Studien

IV

Evidenz beruhend auf nicht-experimentellen Studien mit gutem Design, die von mehr als einem Zentrum oder mehr als einer Forschergruppe durchgeführt wurden

V

Meinung respektierter Experten, beruhend auf kritischer Evidenz, deskriptiven Studien oder Berichten von Expertenkomitees

Neben den elf ausführlich behandelnden Störungsbildern finden sich in Kapitel 13 weitere Störungen des jungen Kindesalters. Es handelt sich dabei um gut etablierte Störungen, die nach den bisherigen Klassifikationssystemen sicher diagnostiziert werden können. Im Vordergrund stehen dabei die autistischen Störungen, die als tiefgreifende Entwicklungsstörungen per se in der frühen Kindheit beginnen und eine Tendenz zur Persistenz aufweisen. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, diese Störungen ausführlich und auf hohem Standard zu behandeln. Es darf dabei auf weiterführende, schon vorhandene Literatur hingewiesen werden.

In Kapitel 14 werden belastende Symptome behandelt, die nicht die Kriterien für eine spezifische eigenständige Störung erfüllen. Im Vordergrund steht dabei das exzessive Schreien, das z. B. in das Klassifikationssystem Zero-to-Three (DC:0–3R 2005) nicht als eigenständige Störung aufgenommen wurde. Ohne Zweifel ist die Symptomatik für Eltern belastend und kann die Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kind erheblich beeinträchtigen. In Zukunft wird man möglicherweise durch enge und stringente Definitionen Subgruppen bei älteren Säuglingen identifizieren, die aufgrund von Häufigkeit, Schweregrad und Prognose doch als Störung aufzufassen sind.

Schließlich werden in Kapitel 15 die Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kind separat klassifiziert. Diese sind als Störungen der zweiten Achse in dem Klassifikationssystem Zero-to-Three (DC:0–3R 2005) aufgeführt und werden hier gesondert referiert.

Einige Aspekte des Vorschulalter s (d. h. der Zeitspanne bis zur Einschulung von 0–5 Jahren) können im Rahmen dieses Buches nicht behandelt werden. Dazu zählen zum Beispiel körperliche Erkrankungen und Behinderungen, die traditionell Aufgaben der Kinderheilkunde sind. Auch wird nicht speziell auf die Bedürfnisse von Kindern mit Intelligenzminderung, d. h. geistiger Behinderung eingegangen. Ferner werden Teilleistungsstörungen, die traditionell Aufgabe der Frühförderung sind, nicht separat behandelt. Zu diesen zählen z. B. umschriebene Entwicklungsstörungen der Motorik, des Sprechens, der Sprache und anderer spezifischer kognitiver Funktionen. Für diese drei Gruppen (körperliche Erkrankungen, geistige Behinderung, Teilleistungsstörungen) gilt, dass die Rate von komorbiden psychischen Störungen eindeutig erhöht ist. Diese Risikogruppen benötigen deshalb eine besonders intensive Diagnostik und Therapie möglicher psychischer Störungen – im Vergleich zu anderen Kindern mit typischer Entwicklung.

Zum Schluss finden sich im Anhang des Buches Materialien, die in der Praxis hilfreich sein können: Zum einen eine Übersetzung der amerikanischen Leitlinien zur Diagnostik psychischer Störungen von Säuglingen und Kleinkindern. Zum anderen eine kondensierte Zusammenfassung der diagnostischen Kriterien der revidierten Zero-to-Three-Klassifikation (DC:0–3R 2005), die bisher noch nicht in der deutschen Sprache erhältlich ist. Da in diesem Buch immer wieder auf diese wichtige Klassifikation Bezug genommen wird und sie möglicherweise nicht allen Lesern nicht geläufig ist, können die Kriterien somit leicht nachgeschlagen werden.

1 Psychische Störungen im Vorschulalter allgemein

1.1 Klassifikation

Störungen im Vorschulalter zeigen gegenüber denen älterer Kinder und Jugendlicher Besonderheiten. Es wurden deshalb in der Vergangenheit verschiedene Einwände dagegen erhoben, dass die Identifikation von psychischen Störungen in diesem Alter überhaupt sinnvoll und möglich ist, die bei Egger und Angold (2006a) zusammengefasst sind. Man befürchtete, dass erstens das Vorschulalter eine so rasche Entwicklungsdynamik aufweise, dass valide Symptome oder Cluster von Symptomen überhaupt nicht gemessen werden könnten. Da manche Kinder individuelle Entwicklungsverläufe zeigen, die von Normen abweichen können, wurde zweitens in Frage gestellt, ob psychiatrische Störungen überhaupt abgrenzbar seien. Drittens kritisierte man, dass die DSM- und ICD-Klassifikationen nicht genügend Entwicklungsaspekte berücksichtigen würden. Viertens wurde eine Stigmatisierung durch psychiatrische Diagnosen befürchtet, die die Selbstwahrnehmung des Kindes und elterliche Einstellungen negativ beeinflussen könnten, und fünftens kritisiert, dass Beziehungsaspekte mit den versorgenden Erwachsenen so unmittelbar wirksam seien, dass sie von der kindlichen Problematik nicht abgetrennt werden könnten.

Egger und Angold (2006a) weisen darauf hin, dass genau dieselben Kritikpunkte vor dreißig Jahren allgemein gegenüber der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgebracht wurden. Die Entwicklung der allgemeinen Kinder- und Jungendpsychiatrie der letzten Jahrzehnte zeigte hingegen, dass diese Befürchtungen unbegründet sind und dass im Gegenteil eine kategorial ausgerichtete Klassifikation sich für die Praxis und Forschung ausgesprochen bewährt hat. In ihrer kritischen Übersicht kommen Angold und Costello (2009) zu dem Schluss, dass

kategoriale Diagnosen meist extreme Ausprägungen von kontinuierlich verteilten Symptomen repräsentieren;

DSM-IV-Kategorien sich gut replizieren ließen;

Störungsbilder, die auf Untersuchungen an Erwachsenen basieren, sich auch Im Vorschulalter zeigen und sich in der Praxis bewährt haben;

sich die häufigsten psychiatrischen Diagnosen bis zum Alter von zwei Jahren nachweisen lassen;

unter dem Alter von zwei Jahren jedoch alternative Klassifikationen notwendig sind, wie z. B. die Zero-to-Three (DC:0–3R 2005), die bisher jedoch nicht genügend empirisch untermauert ist.

Von daher erscheint es theoretisch, logisch und praktisch sinnvoll, auch für das frühe Kindesalter eine kategoriale Einteilung von Störungsbildern zu übernehmen. Dabei stehen vier Klassifikationssysteme zur Verfügung, die sich sinnvoll ergänzen:

Das

multiaxiale Klassifikationssystem für psychische Störungen des Kindes-

und Jugendalters nach der ICD-10 der WHO

(WHO 1993, Remschmidt et al. 2001). Die ICD-10 bildet in Europa und in weiten Teilen der Welt die Grundlage der kinderpsychiatrischen Praxis mit gut definierten Störungsbildern, die sich auch im Vorschulalter replizieren lassen. In dem multiaxialen Klassifikationssystem (MAS) werden insgesamt sechs Achsen unterschieden, die jeweils individuell zu erfassen sind. Die sechs Achsen umfassen:

Achse: Das klinisch-psychiatrische Syndrom

Achse: Umschriebene Entwicklungsstörungen und Teilleistungsstörungen

Achse: Das Intelligenzniveau

Achse: Die körperliche Symptomatik

Achse: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände

Achse: Die globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus

Da vorausgesetzt wird, dass die MAS der ICD-10 allgemein bekannt ist, wird sie in diesem Zusammenhang nicht weiter vertieft. Eine altersspezifische Adaptation bzw. Modifikation der Kriterien für das Vorschulalter gibt es für die ICD-10 nicht.

Die

DSM-IV

(APA 1994) und die neuere Textrevision

DSM-TR

(APA 2000) wird in Nordamerika, anderen Ländern und vor allem in vielen Forschungsprojekten verwendet. Trotz vieler Überschneidungen divergieren die Kriterien für manche Diagnosen vor allem bei AHDS (DMS-IV) versus HKS (ICD-10) sehr.

Da die beiden Klassifikationsschemata die Störungen des Alters von 0–5 Jahren nicht genügend erfassen, wurden zwei verschiedene Reformschritte verfolgt:

Die Revisionen der DSM-IV-Kriterien mit altersentsprechender Anpassung: die

Research Diagnostic Criteria – Preschool Age

(RDC-PA 2002, AACAP 2003, www.infantinstitute.org).

Die Etablierung von Kriterien von neuen Störungsbildern speziell für das junge Alter mit dem Klassifikationssystem

Zero-to-Three

(DC:0–3R 2005).

Diese beiden Richtungen (3. und 4.) können sich idealerweise ergänzen, insbesondere, da sich die Zero-to-Three den Störungen der Säuglinge und jungen Kleinkinder, die RDC-PA sich auch den Auffälligkeiten der älteren Vorschulkinder widmet. Beide Zugänge sollen deshalb ausführlich dargestellt werden.

1.1.1 Revisionen etablierter DSM-IV-Kriterien

Von der amerikanischen kinderpsychiatrischen Vereinigung wurden Vorschläge zur Revision und Ergänzung der DSM-IV Kriterien (RDC-PA 2002, AACAP 2003) mit altersentsprechender Anpassung für das Vorschulalter veröffentlicht (AACAP 2003). Diese wurden als „Research Diagnostic Criteria – Preschool Age“ (RDC-PA 2002) bezeichnet und sind im Internet unter www.infantinstitute.org abrufbar. Die Autoren dieser Kriterien haben dabei versucht, mehrere Grundprinzipien zu berücksichtigen:

Eine enge Anbindung an DSM-IV-Kriterien: Diese sollten möglichst beibehalten werden, um eine Vergleichbarkeit mit älteren Kindern zu ermöglichen. Eine Veränderung sollte nur erfolgen, falls sie empirisch begründbar ist oder wenn einzelne Items für das Vorschulalter nicht passend sind.

Keine Annahme von „internalen“ Zuständen, Kognitionen und Emotionen: Wegen des eingeschränkten sprachlichen Ausdrucks können junge Kinder Gefühle und Gedanken nicht ausdrücken; sie können deshalb auch nicht eingeschätzt werden. Ein Einschluss von internalen Zuständen als Diagnosekriterien wäre Spekulation.

Kein Einschluss von elterlichem Verhalten in die Diagnosekriterien der kindlichen Störung: Die Störung erfolgt nach phänomenologischen Prinzipien der kindlichen Symptome und nicht nach möglicher Ätiologie durch Symptome der Eltern-Kind-Beziehung.

Eine klare Unterscheidung zwischen Symptomen und Beeinträchtigungen: Nur Symptome, nicht z. B. Beeinträchtigungen in der Familie und im Kindergarten sollen zur Diagnose herangezogen werden.

Klare Unterscheidung zwischen Symptomen und Diagnostikinstrumenten: Nur die Symptome an sich und nicht die Methodik der Erfassung gehören zu den Diagnosekriterien.

Neben der Reliabilität werden vier Aspekte der Validität (Face, Descriptive, Predictive und Construct Validity) für die einzelnen Störungen aufgeführt (RCD-PA 2002). Nach diesen Empfehlungen gelten folgende Störungen als diagnostisch valide im Vorschulalter – neben autistischen Störungen, für die die Validität längst etabliert ist: ADHS; ODD; Störung des Sozialverhaltens; depressive Störungen; posttraumatische Belastungsstörungen; reaktive Bindungsstörungen; Schlafstörungen; Fütterstörungen. Für die Subgruppen der Fütterstörungen, die denen der Zero-to-Three (DC:0–3R 2005) entsprechen, ist die Reliabilität und Validität durch bisherige Studien zum Teil bisher noch nicht ausreichend untermauert.

Bei der Durchsicht der Kriterien fällt auf, dass die Autoren der RCD-PA sehr umsichtig vorgegangen sind. Oft betrifft die Veränderung der Diagnosekriterien (gegenüber der DSM-IV) die Dauer einer Störung. Bei jungen Kindern ist es durchaus sinnvoll z. B. bei der Störung des Sozialverhaltens die Dauer von 12 auf 6 Monate zu reduzieren. Andere Veränderungen betreffen Items, die in diesem Alter nicht möglich sind, z. B. Hinweise auf Hausaufgaben (bei ADHS) oder die Beschreibung von möglichem Waffengebrauch bei der Störung des Sozialverhaltens. Bei manchen Störungen wurden kaum Veränderungen vorgenommen, bei anderen mussten viele Symptome und Items angepasst werden.

Die Verwendung von DSM-IV-Kriterien mit altersentsprechender Modifikation macht durchaus Sinn, wie mehrere faktorenanalytische Studien im Vorschulalter zeigen konnten. Die Validität DSM-IV-basierter Syndrome wurde z. B. von Sterba et al. (2007) anhand von 1.073 Kindern im Alter von 2–5 Jahren untersucht. In einer Faktorenanalyse konnten drei emotionale Syndrome differenziert werden: Soziale Phobie (SOC), Trennungsangst (SAD) und Depression/generalisierte Ängste (MDD/GAD). Im Gegensatz zu älteren Kindern scheinen somit erhebliche Überlappungen zwischen depressiven und generalisierten Angststörungen vorzuliegen. Zudem konnten drei externalisierende Syndrome unterschieden werden: Oppositionell verweigernd/Störung des Sozialverhaltens (ODD/CD), Hyperaktivität/Impulsivität und Unaufmerksamkeit. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die DSM-IV-Störungen sich sehr wohl im Vorschulalter abbilden lassen: „Psychopathology appears to be differentiated among preschoolers as much as it is among older children and adolescents. We conclude that it is as reasonable to apply the DSM-IV nosology to preschoolers as it is to apply it to older individuals.“

In einer weiteren Studie konnten bei 2–6-jährigen Vorschulkindern grob die DSM-IV-typischen Angststörungen durch Faktorenanalyse nachgewiesen werden. Fünf Faktoren konnten trotz Überlappungen identifiziert werden: Soziale Phobie, Trennungsangst, generalisierte Angst, Zwangsstörungen und Angst vor körperlicher Verletzung (Spence et al. 2001).

Zusammengefasst sprechen diese Studien dafür, dass viele DSM-IV-basierte Diagnosen im Vorschulalter Sinn machen. Mit entsprechender Modifikation können valide, therapieleitende Diagnosen schon bei jungen Kindern gestellt werden.

1.1.2 Klassifikationssystem Zero-to-Three

Ein anderer Weg wurde von der „Task Force Zero-to-Three: National Center for Infants, Toddlers and Families“ ab 1987 beschritten. Das Zero-to-Three -Klassifikationsschema (DC:0–3) wurde erstmals 1994 veröffentlicht und 1999 ins Deutsche übersetzt (Zero-to-Three: Diagnostische Klassifikation 0–3 1999). Die DC:0–3 wurde klinisch eingesetzt und durch mehrere wissenschaftliche Untersuchungen überprüft (Zusammenfassung siehe Emde und Wise 2003). Es wurde dabei deutlich, dass die Definition für manche Störungen revidiert und ihre Operationalisierung verbessert werden musste. Die Vorschläge zur Revision finden sich bei der neuen revidierten Version DC:0–3R (2005), die bisher nur in englischer Sprache vorliegt (für eine Zusammenfassung siehe Anhang II). In der klinischen Anwendung ist sie auch für Kinder im Alter von 4–5 Jahren geeignet.

Die DC:0–3R (2005) unterscheidet fünf Achsen:

Achse: Klinische (psychische) Störung

Achse: Beziehung

Achse: Medizinische Diagnosen nach ICD-10 und DSM-IV

Achse: Psychosoziale Stressoren

Emotionales und soziales Funktionsniveau

Mit Abstand sind sie beiden ersten Achsen am wichtigsten. In Tabelle 2 sind alle Diagnosen der ersten Achse mit Hauptdiagnosen sowie den Subtypen aufgeführt. Als erstes findet sich die posttraumatische Belastungsstörung. Die Deprivations-/Misshandlungsstörung entspricht weitgehend den Bindungsstörungen nach ICD-10 und DSM-IV. Unter Störungen des Affekts werden die verlängerte Trauerreaktion, vier spezifische Angststörungen, depressive Störungen und eine Restkategorie für gemischte emotionale Störungen zusammengefasst. Ähnlich wie in DSM-IV und ICD-10 gibt es eine Rubrik für Anpassungsstörungen. Die Regulationsstörungen der sensorischen Verarbeitung beinhalten eine kontroverse, nicht exakt operationalisierte Gruppe von Störungen, die es in den traditionellen DSM-IV- und ICD-10-Klassifikationsschemata nicht gibt. Bei den Schlafstörungen werden Ein- und Durchschlafstörungen unterschieden. Die exakte Aufteilung der Fütterstörungen in sechs verschiedene Untergruppen ist für die Praxis von großem Gewinn. Schließlich stellt sich die Frage, ob die Gruppe der Störungen der Bezogenheit und der Kommunikation, die tiefgreifende Entwicklungsstörungen erfasst, wirklich notwendig ist – diese Gruppe ist in DSM-IV und ICD-10 genügend klar beschrieben.

Die zweite Achse der Zero-to-Three (DC:0–3R 2005) stellt ein Novum in der Diagnostik dar. Es werden ausgeprägte interaktive Störungen für die jeweiligen Dyaden klassifiziert. Störungen können primär beim Kind, beim Elternteil oder bei beiden liegen. Deskriptiv beurteilt werden:

Die globale Funktionsebene von Kind und Eltern.

Das Ausmaß emotionaler Belastung bei Kind und Elternteil.

Die adaptive Flexibilität von Kind und Elternteil.

Das Ausmaß von Konflikten und deren Lösung zwischen Kind und Elternteil.

Die Auswirkungen der Qualität der Beziehung auf die kindliche Entwicklung.

Folgende Untergruppen von Beziehungsstörungen sind diagnostizierbar:

Überinvolvierte Beziehungsstörung

Unterinvolvierte Beziehungsstörung

Tab. 2: Übersicht über Störungen der Achse I nach DC:0–3R (2005)

Hauptdiagnosen

Subtypen/Unterdiagnosen

Posttraumatische Belastungsstörung (100.)

Deprivations-/Misshandlungsstörung (150.)

Emotional zurückhaltendes, gehemmtes Muster Wahlloses und enthemmtes Muster

Störungen des Affekts (200.)

Verlängerte Trauerreaktion (210.)

Angststörungen der frühen Kindheit (220.)

Störung mit Trennungsangst (221.)

Spezifische Phobie (222.)

Störung mit sozialen Ängsten (Soziale Phobie) (223.)

Generalisierte Angststörung (224.)

Angststörung, nicht näher bezeichnet (225.)

Depression der frühen Kindheit (230.)

Typ I: Major Depression (231.)

Typ II: Depressive Störung, nicht näher bezeichnet (232.)

Emotionale Störung, gemischt (240.)

Anpassungsstörung (300.)

Regulationsstörungen der sensorischen Verarbeitung (400.)

Überempfindlicher Typ (410.)

Typ A: Ängstlich/vorsichtig (411.)

Typ B: Negativ/oppositionell (412.)

Unterempfindlicher/Unterreagierender Typ (420.)

Stimulationsuchender/impulsiver Typ (430.)

Schlafstörungen (500.)

Einschlafstörungen (510.)

Durchschlafstörungen (520.)

Fütterstörungen (600.)

Regulations-Fütterstörung (601.)

Fütterstörung der reziproken Interaktion (602.)

Frühkindliche Anorexie (603.)

Sensorische Nahrungsverweigerung (604.)

Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen (605.)

Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes (606.)

Störungen der Bezogenheit und der Kommunikation (700.)

Multisystemische Entwicklungsstörung (710.)

Andere Störungen (800.)

Ängstlich/angespannte Beziehungsstörung

Ärgerlich/ablehnende Beziehungsstörung

Verbal misshandelnde Beziehungsstörung

Körperlich misshandelnde Beziehungsstörung

Sexuell misshandelnde Beziehungsstörung.

Es werden genaue Items zur Diagnose der jeweiligen Beziehungsstörungen in drei Kategorien aufgeführt: die Qualität des interaktiven Verhaltens, der affektive Ton und die psychische Involvierung (s. Kap. 15 und Anhang II). Zur besseren klinischen Erfassung von Beziehungsstörungen werden in Zero-to-Three (DC:0–3R 2005) zwei Instrumente aufgeführt. Die „Parent-Infant-Relationship-Global Assessment Scale“ (PIR-GAS) ermöglicht eine Einschätzung der Beziehungsqualität auf einer Skala von 0–100. Bei einem Wert von 80–100 spricht man von einer adaptierten Beziehung; Werte von 41–80 sprechen für Auffälligkeiten in der Beziehung; bei Werten von 0–40 liegt eine Beziehungsstörung eindeutig vor und sollte als solche auf der Achse II klassifiziert werden. Während die PIR-GAS sich in dem klinischen Alltag sehr bewährt hat, handelt es sich bei der Relationship-Problem-Checklist (RPCL) weniger um ein diagnostisches Instrument, sondern eher um eine Erinnerungshilfe für den Kliniker, ob eine Beziehungsstörung ausgeschlossen werden kann, ob weitere Untersuchungen notwendig sind oder ein erheblicher Verdacht besteht.

Die Achsen III, IV und V der Zero-to-Three haben in der klinischen Arbeit so wenig Relevanz, dass gut auf sie verzichtet werden kann. Zudem liegt mit dem multiaxialen Klassifikationssystem der ICD-10 schon ein bewährtes Instrument vor. Mit dem folgenden, von Wiefel et al. (2007) vorgeschlagenen Vorgehen wird man in der klinischen Praxis den Störungen im Vorschulalter am ehesten gerecht:

Klassifikation nach den bewährten sechs Achsen der MAS der ICD-10

Als Ergänzung Diagnosen der Achsen I und II nach Zero-to-Three (DC:0–3R 2005)

Auch die Verwendung der modifizierten DSM-IV-Kriterien kann in Europa insbesondere bei Forschungsfragestellungen, aber auch bei klinischen Fällen sinnvoll sein. Dabei ergänzen sich die beiden Reformschritte – DC:0–3R (2005) und die RDC-PA (2002) ideal, wie aus Tabelle 3 ersichtlich. Die DC:0–3R ist primär für den klinischen Einsatz bei jüngeren Kindern geplant, während die RDC-PA eher für die Behandlung älterer Vorschulkinder und zur Forschung geeignet ist.

Tab. 3: Klassifikation – Vergleich DC:0–3R und RDC-PA

DC:0–3R (2005)

RDC-PA (2002) – Task Force

Grundlagen

Andere Kategorien, Ergänzung zur DSM-IV

DSM-IV-Kriterien, angepasst an Entwicklungsalter

Schwerpunkte

Klinik

Forschung

Altersgruppe

0–3 Jahre (Infants + Toddlers), max. bis 5 Jahre

3–5 Jahre (Preschoolers), z. T. auch unter 3 Jahre und bis max. 7 Jahre

1.1.3 Deutsche Leitlinien

Die Leitlinien zu Diagnostik und Therapie psychischer Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Schmidt und Poustka 2007) decken nicht alle Störungen des Säuglings- und Kleinkindesalter ab, obwohl im Titel des Buchs Bezug auf das Säuglingsalter genommen wird. Bei den Empfehlungen einzelner Störungen wird nicht speziell auf die Besonderheiten des Vorschulalters eingegangen. In einem Kapitel werden die so genannten Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter (0–3 Jahre) separat behandelt.

Die Klassifikationsvorschläge der deutschen Leitlinien weichen von den internationalen Entwicklungen deutlich ab und behandeln als so genannte „Regulationsstörungen“ vor allem die drei Problembereiche exzessives Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen. Regulationsstörungen werden dabei definiert als eine für das Alter bzw. den Entwicklungsstand „außergewöhnliche Schwierigkeit, ein Verhalten in einem, häufig in mehreren Interaktions- und regulativen Kontexten angemessen zu regulieren“. Für dieses Konstrukt der frühkindlichen Regulationsstörungen gibt es keine vergleichbare Diagnose in den internationalen Klassifikationsschemata ICD-10 oder DSM-IV. Nur die nicht organischen Schlafstörungen können nach ICD-10 unter F51.0 bis F51.9 erfasst werden und die Fütterstörung unter F98.2. Wie in den Kapiteln 11 und 12 dargestellt, reichen diese zwei Diagnosegruppen natürlich nicht aus, um die spezifischen Probleme des jungen Kindesalters adäquat zu erfassen.

Die Definition der deutschen Leitlinien deckt sich aber auch nicht mit den Kriterien der „Regulationsstörungen“ nach Zero-to-Three (DC:0–3R, 2005), die durch die Betonung von Auffälligkeiten der sensorischen Reizverarbeitung gekennzeichnet sind (s. Kap. 10). Nach Zero-to-Three sind die Schlaf- und Fütterstörungen eigenständige Störungen und das exzessive Schreien wird als häufiges, oft belastendes Symptom, nicht als Störung klassifiziert, da die vorliegende Forschungslage dies nicht rechtfertige.

Ferner plädieren die Autoren der deutschen Leitlinien für einen dimensionalen Ansatz – im Gegensatz zu den internationalen Entwicklungen, die ein kategoriales Vorgehen auch bei jungen Kindern befürworten: „Es handelt sich bei den beschriebenen Symptomkonstellationen weniger um nosologisch abgrenzbare Gruppen als vielmehr um Extremvarianten normaler Entwicklungsphänomene.“, woraus geschlossen wird: „Dementsprechend bietet sich auch eher ein dimensionales als kategoriales Krankheitsverständnis an“ (Schmidt und Poustka 2007, S. 358).

Wegen der großen Bedeutung der Eltern-Kindbeziehung für Auffälligkeiten gehen die Autoren sogar so weit, das Anliegen einer empirisch begründeten Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie ganz in Frage zu stellen: „Eine isolierte Pathologie des Säuglings- und Kleinkindalters ist konzeptionell nicht ausreichend begründbar“ (Schmidt und Poustka 2007, S. 357). Im Gegensatz dazu betonen die neuen Klassifikationsansätze (DC:0–3R 2005, RDC-PA 2002) gerade die Notwendigkeit, Störungen nur über die kindlichen Symptome zu diagnostizieren. Begleitende Beziehungsstörungen werden separat diagnostiziert, wie auf der zweiten Achse der DC:0–3R (2005).

Im Gegensatz zu den derzeitigen Leitlinien sollen die geplanten neuen Leitlinien zum Säuglings- und Kleinkindalter das gesamte Vorschulalter der Jahre 0–5 umfassen. Es sollen auf der Grundlage von ICD-10 bzw. DSM-IV kategoriale, deskriptive Diagnosen (nicht Dimensionen) bevorzugt werden. Dabei sollen die Krankheitsbilder übernommen werden, für die eine adäquate Validität für das Vorschulalter vorliegt. Eine Anpassung der Kriterien an das jeweilige Entwicklungsalter ist für manche Diagnosen unbedingt erforderlich (s. RDC-PA 2002), deren Ergänzung durch das Klassifikationssystem Zero-to-Three (DC:0–3R 2005) vorgesehen ist. Beziehungsstörungen werden separat klassifiziert, d. h. die zweite Achse der Zero-to-Three wird in jedem Fall berücksichtigt. Auch wird ein höheres Niveau als bisher über aufwändige Konsensusverfahren angestrebt (S2). Eine Evidenzbasierung mit Empfehlung zu Diagnostik und Therapie ist vorgesehen, entsprechende Algorithmen werden erstellt. Zuletzt sollen sich die Leitlinien eindeutig an der internationalen Terminologie orientieren. Es macht wenig Sinn, eine eigene deutschsprachige Terminologie, z. B. den deutschen Begriff „Regulationsstörungen“ aufrechtzuerhalten.

1.2 Prävalenz

1.2.1 Allgemeine Prävalenz

Epidemiologische, d. h. bevölkerungsbezogene Studien bieten die Möglichkeit repräsentative Angaben zur Häufigkeit und zum Verlauf psychischer Störungen in der Bevölkerung zu erfassen. Alle Studien an Zentren oder Institutionen werden durch Selektionseffekte zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen. Allerdings hängt auch die Qualität der epidemiologischen Studie sehr davon ab, welche Methodik verwendet wurde, z. B. wie die Probanden rekrutiert und welche Instrumente eingesetzt wurden.