Schattenland - Benjamin Cors - E-Book + Hörbuch

Schattenland Hörbuch

Benjamin Cors

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Beschreibung

Ein glamouröses Filmfest, ein brutaler Serienmörder, ein Wettlauf gegen die Zeit Sein sechster Fall führt den charismatischen Personenschützer Nicolas Guerlain zurück in seine Heimatstadt Deauville: Das internationale Filmfestival lockt Schauspieler und Regisseure aus aller Welt in die Normandie. Wenige Tage vor der Eröffnung wird der Leiter des Festivals brutal ermordet. Und das ist nur der Auftakt einer Reihe rätselhafter Verbrechen. Für Nicolas beginnt die mörderische Jagd auf einen vom Hass zerfressenen Serientäter. Während er versucht, eine junge Schauspielerin zu beschützen, muss er erkennen, dass die Vergangenheit ihn immer wieder einholt.

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Zeit:13 Std. 8 min

Sprecher:Sascha Rotermund

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Benjamin Cors

Schattenland

Ein Normandie-Krimi

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für uns

Mein Sohn.

 

Manchmal, so scheint es mir, brauchen Worte ihre Zeit. Sie mögen schon immer da gewesen sein, tief in den Schatten, und doch sind sie zugeschüttet. Die Last, die auf ihnen liegt, wiegt schwer. Es ist kein Fels, der sie begräbt, es ist ein ganzes Gebirge, Tonnen von Steinen, unverrückbar, kein Licht kommt hindurch, niemand ist da, der sie fortschiebt, der schwitzt und schreit, der sich die Hände aufreißt, bis sie blutig sind. Es ist, als würden sie nicht existieren, diese Worte. Tot, von Geburt an.

Aber glaub mir, so war es nicht.

Ich habe nie an das Schicksal geglaubt, nie einen vorgegebenen Weg gesehen, der sich vor uns auftut, nur weil das, was wir als »Fügung« bezeichnen, lächelnd seine Muskeln spielen lässt. Schicksal ist das, was wir mit unseren Händen schaffen. Unser Geist, unser Urteilsvermögen, die innere, uns antreibende Kraft, unser Wille, der eiserner sein kann als jedes Metall – das, mein Sohn, habe ich zeit meines Lebens als Schicksal empfunden.

Diese Haltung gab mir die Möglichkeit, mein Leben selbst zu gestalten, es in die Hand zu nehmen, eigenständig und ohne Furcht. Ich bin den Weg mit Stolz gegangen, habe ihn nie aus den Augen verloren, jeden Wegweiser habe ich genau studiert, bevor ich mich für eine Richtung entschied.

Jetzt weiß ich, dass ich dabei so vieles nicht bedacht habe.

 

Dieses Gebirge, diese Tonnen von Stein – man trägt sie mit. Sie erschweren jeden Schritt, ihre Last wird erdrückend, je weiter der Weg führt, und sei er noch so lohnenswert. Das, mein Sohn, will ich dir mitgeben, für deinen Weg, für dein eigenes Schicksal, das vor dir liegt, das du selbst ergreifst und formst.

Es braucht Mut. Den ich nicht hatte.

Es braucht Angst. Die ich nicht haben durfte.

Und es braucht Einsicht. Die ich mir selbst verwehrt habe.

Wenn ich sage, dass Worte ihre Zeit brauchen, dann darf dies keine Entschuldigung sein. Sie nicht ausgesprochen, sie gar ignoriert zu haben war ein Fehler, der unverzeihlich ist.

 

Für mich, das habe ich jetzt begriffen, ist das Leben eine Täuschung. Versteh mich nicht falsch, ich will damit nicht sagen, dass alles vergebens war, alles nur Trug und Schein. Nein, meine Arbeit, mein Wirken habe ich immer als etwas Bedeutsames angesehen. Mein Einfluss auf Menschen, die Macht meiner Entscheidungen, deren Konsequenzen: Ich wollte all das nicht aufgeben.

Und dennoch, das Wort Täuschung spukt mir im Kopf herum. Im Sinne einer bewusst in Kauf genommenen Ablenkung. Das Leben als Rechtfertigung dafür, dass ich nicht gegraben habe. Dafür, dass ich die tonnenschwere Last lieber mit mir herumtrug, als sie klein zu schlagen, so lange, bis meine Hände blutig gewesen wären.

Jetzt weiß ich das. Schieb es auf die Einsicht des Alters, wenn du möchtest.

 

Ich schreibe dir, mein Sohn, weil ich diese Worte nun gefunden habe. Sie lagen noch dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Es ist seltsam, aber die vielen Jahre ändern nichts an der Tatsache, dass die Stelle, an der sie sich befanden, mir stets vertraut war. In den Schatten meiner selbst, gut verpackt, jenseits allen Lichts.

Und wenn es so ist, dass Worte ihre Zeit brauchen, dann ist uns beiden klar: Diese Zeit ist gekommen.

 

So viele Kämpfe haben wir gefochten. Uns wehgetan.

Ich dir, vor allem.

Vielleicht, so scheint es mir, war dies meine Art, mich dem Gebirge zu nähern. Unser Ringen, die Schläge, die ich dir versetzt habe, sie brachten mich den Worten womöglich jedes Mal ein Stück näher. Ich musste sie mir erarbeiten, so wie ich mir mein Leben, mein ganzes Wirken, stets erarbeitet habe. Ich weiß, es klingt hohl, und ich erwarte nicht, dass du mich verstehst. Vielleicht tue ich es selbst nicht.

Aber das spielt keine Rolle mehr. Wenig spielt jetzt noch eine Rolle.

 

Was ich getan habe, habe ich getan. Was ich nicht getan habe, habe ich nicht getan.

Aber jetzt ist es gut.

 

Dich zu haben, das hätte mein Schicksal sein müssen. Eines, das ich akzeptiere, das ich zu schätzen und zu lieben lerne.

Ich hatte nicht den Mut dazu.

Und jetzt? Jetzt magst du denken, dass jede Zeit irgendwann vorbei ist, dass keine Uhr unendlich tickt und so mancher Stein schlicht und ergreifend unverrückbar bleibt. Zu viel ist geschehen, zu vieles gesagt. Das Leben hat aus mir keinen guten Menschen gemacht, und die Kraft, dagegen anzugehen, ist mir nicht gegeben. Und so haben wir unsere Kämpfe gefochten.

Du warst der Sohn, den ich nicht wahrnahm.

Ich war der Vater, den du nicht hattest.

 

Ich wünschte, wir könnten von vorne beginnen. Aber würde ich es besser machen? Es wäre vermessen, das zu behaupten. Aber ich könnte es versuchen.

Der Blick zurück mag Einsicht bringen, schmerzhaft bleibt er dennoch.

 

Deine Mutter ist ein guter Mensch, sie verletzt zu haben wiegt schwer.

Du bist es auch, mein Sohn.

Dir das zu sagen, dafür hatte ich nie die Kraft, und das bedaure ich sehr. Mehr als alles andere. Und glaub mir: Da ist viel, das ich bedauern muss.

 

Dein Vater

Teil eins

Die Blinden

Befragung des Zeugen:

Roussel, Luc, geb. 24.11.1967, Leiter des Commissariat Deauville, Normandie

Uhrzeit: 20:14 Uhr

Anwesend: Serge Roscoff, Interne Ermittlung, Polizeidirektion Caen

Auszug aus dem Protokoll

»Mögen Sie Gedichte?«

»Ach kommen Sie …«

»Nein, ganz im Ernst: Was bedeutet Ihnen Poesie, Luc? Ich darf doch Luc sagen, ist das in Ordnung für Sie?«

»Die Letzte, die mich Luc genannt hat, war meine Mutter. Aber bitte, wenn Sie wollen, dürfen Sie sogar Luc zu mir sagen.«

»Gut Luc. Also, Poesie – wie steht es damit? Lesen Sie Gedichte? Beschäftigen Sie sich damit?«

»Ich bevorzuge den Sportteil der Zeitung.«

»Verstehe. Aber das ist schade, wirklich schade. Denn es geht um Poesie, finden Sie nicht auch? In dieser Sache meine ich, da geht es letztendlich um Wörter. Um Zeilen, um das, was sie ausdrücken, um ihre Botschaft. Würden Sie mir da recht geben?«

»Ich würde sagen, es geht um Mord.«

»Natürlich, da haben Sie recht. Mehrfachen Mord sogar, hässliche Sache. Wirklich hässliche Sache. Und so gar nicht poetisch, oder?«

»Wenn Sie es sagen. Sie stellen die Fragen, ich antworte. Wenn ich zwischendurch eine rauchen dürfte, dann wäre uns beiden geholfen. Ich werde leider sehr übellaunig, wenn ich keine Zigarette bekomme. Und das wird dann etwas unschön. Sie können mein Team fragen, die könnten Ihnen Geschichten erzählen. Aber glauben Sie nur die Hälfte, die Jungs neigen zur Übertreibung.«

»Glauben Sie mir, wir reden mit allen. In dieser Angelegenheit brauchen wir das ganze Bild. Aber bleiben wir ruhig noch bei den Gedichten. Was haben Sie gedacht, als das erste aufgetaucht ist?«

»Sie meinen vergangene Woche? Nun, ich schätze, ich dachte so was wie: Jetzt ist der Durchgeknallte zurück, ausgerechnet jetzt.«

»Was meinen Sie mit ›ausgerechnet jetzt‹?«

»Nun, das Internationale Filmfestival stand ja unmittelbar bevor. Die ganze Stadt war in Aufruhr, alles drehte sich schneller, wie ein Brummkreisel.«

»Schönes Bild.«

»Stammt nicht von mir, aber das trifft es ganz gut. Alles dreht sich, die Luft flirrt, überall Schauspieler, Regisseure, die Pressemeute. Es ist jedes Jahr der Wahnsinn. Und für uns eine echte Herausforderung.«

»Und dann taucht also das erste Gedicht auf.«

»Nicht nur das.«

»Ich weiß. Aber bleiben wir doch erst mal bei dem Gedicht. Kannten Sie es?«

»Natürlich kannte ich es. Wir kannten es alle.«

»Weil Sie alle Lyrikliebhaber sind?«

»Witzbold.«

»Entschuldigung.«

»Das Gedicht kannten wir aus dem Vorjahr. Da hat er es zum ersten Mal verwendet.«

»Wen meinen sie mit ›er‹?«

»Er nennt sich selbst ›der Poet‹. Völlig durchgeknallt, wenn Sie mich fragen. Aber das hat man dann ja auch gesehen.«

»Sie meinen die Sache am Strand? Er hatte Geiseln genommen, nicht wahr? Direkt am Strand von Deauville, ist das zu glauben. Woher hatte er die Waffe?«

»Wir wissen es nicht. Vermutlich auf dem Schwarzmarkt gekauft, irgendein Dealer, wir sind da noch dran.«

»Ihrer Meinung nach, Luc: Haben Sie korrekt gehandelt, da unten am Strand?«

»Ich würde sagen: Ja. Hätte schlimmer ausgehen können.«

»Also würden Sie auch Ihr Vorgehen und das Ihrer Kollegen zu diesem Zeitpunkt als angemessen bezeichnen?«

»Ja, das würde ich. Aber die endgültige Beurteilung überlasse ich Ihnen. Meine habe ich ja gerade zum Besten gegeben.«

»Verstehe. Wir machen auch gleich eine kurze Pause, keine Sorge.«

»Gut.«

»Dieses Gedicht, mögen Sie es eigentlich? Wie heißt es doch gleich …«

»›Die Blinden‹. Von Charles Baudelaire.«

»Natürlich, hier steht es ja auch. ›Die Blinden‹. Und, gefällt es Ihnen?«

»Nein.«

»Warum nicht? Ich meine, Baudelaire ist ja nun ein Meister der Poesie, ein ganz Großer der französischen Geschichte.«

»Mag sein.«

»Aber?«

»Mit diesem Gedicht hat alles begonnen. Alles, was danach passierte, die Toten, das Filmfestival, diese ganzen Sachen, die geschehen sind: Alles begann mit diesem Gedicht.«

»Wünschten Sie, Sie hätten die Bedeutung sofort begriffen?«

»Wie hätten wir das ahnen sollen? Ein Gedicht an einer Hauswand?«

»An mehreren Wänden. Überall in der Stadt. Es war nicht zu übersehen.«

»Aber dort stand nicht: Es wird Tote geben. Korrigieren Sie mich, wenn ich das überlesen haben sollte!«

»Es gibt keinen Grund, laut zu werden, Luc. Ich stelle hier nur ein paar Fragen.«

»Natürlich. Ich würde jetzt gerne eine rauchen.«

»Sofort. Eine Frage habe ich noch, wenn Sie gestatten.«

»Meinetwegen.«

»Wo ist Nicolas Guerlain?«

»Gute Frage.«

»Danke. Haben Sie auch eine Antwort für mich?«

»Ja.«

»Und die wäre?«

»Ihr Arschlöcher findet ihn nie.«

Kapitel 1

Varengeville-sur-Mer, Normandie

Es begann stets mit dem Wimmern des Hundes.

Und es endete mit dem Tod, jedes Mal.

Mit seinem. Oder mit ihrem. Das waren die einzigen Optionen, die die Nacht ihm gewährte, ohne dass er selbst darüber entscheiden konnte. Nur eins war gewiss: Einer von ihnen würde sterben. Es gab kein Entrinnen, keine Flucht, es war ein Käfig aus Erinnerungen, eine sich immer enger zuziehende Schlaufe um seinen Hals. Ihr zu entkommen, wenigstens zeitweise, hatte ihn viel gekostet. Er hatte vieles aufgegeben, um an einen Punkt zu gelangen, an dem er wieder Hoffnung schöpfen konnte. Regelmäßig meinte er jetzt, ein Licht zu sehen, schwach noch, immer wieder verschwand es, wenn das Wimmern des Hundes erneut erklang, wenn das kalte Wasser sich über ihm schloss, wenn ein Schatten sich über ihn beugte.

So wie damals. Auf der Insel.

Er ertrank. Die Flut war da.

Das Licht des hellen Mondes drang durch das Wasser, die Frau, die Felsen hinter ihr warfen lange Schatten. Er hörte seinen eigenen Atem, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, es war lauter als sein eigenes Schreien. Er zerrte an seinen Fesseln, bäumte sich auf, hörte die Stimme des Mannes, das Lachen, den Triumph.

»Adieu.«

Diesmal war er es, der starb. Sie überlebte.

Es war das kleinere Übel. Es war leichter hinzunehmen.

 

Als Nicolas schweißgebadet und zitternd erwachte, blickte er auf den Radiowecker auf dem Nachttisch: 03:54 Uhr.

Draußen war es dunkel, sein Brustkorb hob und senkte sich, er schnappte nach der kühlen Luft, die durch die geöffnete Balkontür kam. Sie schmeckte salzig, ein plötzlicher Windzug ließ ihn erschauern. Auf seinen Handgelenken, auf seinen Knöcheln: keine Spuren der Fesseln, nur das zerwühlte Laken auf seinem Bett, das schweißgetränkte Kopfkissen, sein eigener schmaler Schatten an der Wand, als er die Nachttischlampe anknipste.

Nicolas setzte sich im Bett auf und wartete, bis das Wimmern des Hundes verklang, bis es überging in das beruhigende Geräusch der Brandung, die nicht weit entfernt, am Fuß der Klippen, gegen die Felsen schlug. Er fuhr sich durch das Gesicht, sah auf den Vorhang vor der Balkontür, der sich jetzt wieder leicht im Wind bewegte, sich wölbte.

»Schlaf weiter, Rachmaninoff«, murmelte er schließlich und schwang die Beine über den Bettrand. Für einen Augenblick schloss er die Augen, sammelte seine Reserven, von denen er nun wusste, dass sie endlich waren. Als er sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf das Muster der beigen Tapete, auf die gerahmten Fotografien an der Wand. Das Meer, die Klippen, das glänzende Deck eines Fischerboots.

Er drückte eine Taste auf dem Radiowecker, hörte, wie ein Moderator das Wetter für den kommenden Tag verkündete: Sonne satt an der Küste, es würde heiß werden. Nicolas musste diesmal etwas länger überlegen, als die ersten Takte eines Liedes erklangen.

»Na komm schon«, murmelte er, stand auf, hielt sich für einen Augenblick an der Wand fest, weil die Gedanken in seinem Kopf sich drehten, weil die Erinnerungen an die Nacht auf Chausey ihn niederdrückten, manchmal auch noch jenseits seiner Träume. Schließlich ging er zu dem Tisch, auf dem sein Notizbuch lag, er schlug es auf und schrieb »Manhattan–Kaboul« auf eine leere Seite.

»Ein Punkt für mich, alter Mann«, sagte er in die Stille seines Zimmers hinein und dachte für einen Augenblick an Tito, seinen alten Nachbarn, der vermutlich gerade ebenfalls nicht schlief, in seiner Wohnung in Paris. Nicolas überlegte, ob er ihn anrufen sollte, beließ es aber bei dem Gedanken, der kam und ging, so wie das Wimmern des Hundes kam und ging.

Es gehörte zu Rachmaninoff, Titos Mischlingshund, der ihm und Julie vor mittlerweile mehr als fünfzehn Monaten das Leben gerettet hatte.

Zumindest vorerst.

Die kleine Schachtel mit Medikamenten lag immer griffbereit neben einem Glas Wasser auf dem Tisch. Er wäre einfacher, er würde schnell wieder einschlafen.

»Nicht heute«, sagte er zu sich selbst. Die Ecken der Postkarte auf dem Nachttisch neben der Lampe waren stark abgegriffen, fast schon rund. Nicolas nahm sie mit der rechten Hand, die immer noch leicht zitterte, betrachtete sie für einen Augenblick, bis er spürte, wie er ruhiger wurde, wie sein Atem sich verlangsamte und er wieder festen Halt fand.

Marseille. Die Fischerboote im Hafenbecken. Ein kleines Café am Quai du Port.

Sie war da. Und es ging ihr gut. So wie ihm.

Irgendwann.

 

Zehn Minuten später öffnete Nicolas leise eine Seitentür des »Hôtel de la Falaise«, die hinaus in den Garten führte, und stahl sich hinaus in die Nacht. Der Kies knirschte unter seinen Füßen, als er den Weg entlangging, zwischen zwei großen Hortensiensträuchern hindurch, an den Tennisplätzen vorbei und den Tischen auf dem Rasen. Die gelben Sonnenschirme waren zusammengeklappt, die Stühle ins feuchte Gras gelegt. Der Mond beleuchtete die Rasenfläche vor ihm, er konnte hinter der kleinen Hecke das dunkle Meer sehen, darüber einen wolkenlosen Nachthimmel, an dem die Sterne funkelten wie Tausende kleiner Signallampen. Hinter ihm war das Rascheln des Efeus an der Außenwand des Hotels zu hören, durch das der Wind fuhr. Während er am Pool vorbeilief, zog er seine Trainingsjacke zu und blickte auf die Uhr.

In einer Stunde würde er wieder hier sein, Myriam, die Besitzerin des Hotels, würde bereits wach sein und in der Küche das Frühstück vorbereiten. Sie würde ihm erst einen Kaffee hinstellen, dann die Rührschüssel, in das er mehrere Eier schlagen würde, bis sie genug hatten für die Crêpes und das Rührei für die Gäste. Sie würden nicht viel sprechen, sie würde auch nicht fragen, wie er geschlafen hatte. Myriam wusste, wenn Nicolas am frühen Morgen in ihrer Küche erschien, dann war das Wimmern des Hundes wieder zu hören gewesen.

Manchmal sah sie ihn mit ruhigem Blick an, die Falten um ihre Augen zogen sich etwas zusammen, den Kopf etwas zur Seite geneigt.

»Wer ist diesmal gestorben?«, fragte sie dann mit sanfter Stimme.

Heute war er es gewesen, und Nicolas hatte gelernt, dass diese Nächte leichter zu ertragen waren.

Besser er als Julie.

 

Es wurde dunkler, als er in die Schatten der Birken eintauchte, die am Ende des Grundstücks standen, eng beieinander, weil sich so der Wind oberhalb der Klippen besser ertragen ließ. Nicolas nahm den schmalen Pfad hinunter zum Meer, er führte steil hinab, dorthin, wo die Brandung lauter war und das Schnattern der Seevögel.

Basstölpel, Albatrosse, Lachmöwen – Nicolas konnte sie mittlerweile gut auseinanderhalten, er hatte sich ein Buch über die Pflanzen- und Tierwelt an der Alabasterküste gekauft, manchmal saß er auf der Terrasse des Hotels und blätterte darin, während die anderen Gäste ihn aus den Augenwinkeln argwöhnisch beobachteten.

Ein einzelner Mann, keine Begleitung – angeblich wohnte er ständig hier. Ein gutes Thema für den Nachmittagstee.

 

Als er den Strand erreichte, wichen die letzten Schatten aus seinem Kopf, der Traum löste sich langsam auf. Chausey, das eiskalte Wasser, der Schuss, die Hand, die ihn niederdrückte – all das wurde abgelöst vom Geräusch der Wellen, vom feuchten Sand, den er jedes Mal in die Hand nahm, vom Wasser, das gegen seine Schuhe schwappte, weil er sich so dicht wie möglich ans Meer stellte. Er atmete tief ein, bis er all das Gute dieses Ortes in sich aufgesogen hatte. Es war seine Therapie, und sie wirkte besser als jedes Medikament, das er ausprobiert hatte.

Dicht an den hohen Felsen von Vasterival entlang lief er nun Richtung Osten. Der grobkörnige Sand kostete ihn anfangs einige Mühe, dann fanden seine Beine ihren Rhythmus, er spürte den Wind im Gesicht, das Salz in der Luft. Es war noch immer dunkel, das erste fahle Licht eines neuen Tages hatte sich noch nicht aus dem Hinterland über die Felskante geschoben, noch bewegte er sich im Dunkel der gewaltigen Felswand, die sich viele Kilometer entlang der Alabasterküste erstreckte.

Nicolas dachte kurz an die erste Nacht im Hotel, den ersten Lauf zwischen Felsen und Meer, es war ebenfalls tiefste Nacht gewesen, vor etwas mehr als einem halben Jahr. Die kalte Luft hatte in der Lunge gebrannt, und die Nacht war schlimmer gewesen.

Alles war schlimmer gewesen, bevor er hierhergekommen war.

Draußen auf dem Meer blinkte eine Boje, weiter im Norden konnte er schwach die Lichter eines Frachters erkennen. Er lief jetzt direkt an der Wasserkante, ab und an spülte eine Welle kalten Wassers in seine Laufschuhe, er fühlte, wie sein Körper zur Ruhe kam, er atmete gleichmäßig, spürte seine Beine wieder, seine Hände.

 

Es war seine Mutter gewesen, die ihn nach Varengeville eingeladen hatte. Myriam war eine alte Freundin, sie führte das abgelegene Hotel im äußersten Norden der Normandie seit dem Tod ihres Mannes allein, mithilfe einiger Angestellter. Im Laufe der Zeit hatte sich das »Hôtel de la Falaise« zu einem Geheimtipp entwickelt, die Ruhe oberhalb der Klippen, die unfassbare Aussicht von der Terrasse, die grünen, geschwungenen Hügel des Pays de Caux im Rücken – es war ein Ort wie aus der Zeit gefallen.

Und somit einen Versuch wert.

Das waren zumindest die Worte seiner Mutter gewesen, als sie ohne Vorwarnung an seiner Wohnungstür an der Place Sainte-Marthe geklingelt hatte, seinen alten Nachbarn Tito neben sich. Die beiden hatten seinen Koffer gepackt und ihn dann ins Auto gesetzt.

»Es ist einen Versuch wert«, hatte seine Mutter gesagt, und sie sollte recht behalten.

 

Eine Woche zuvor hatte er seinem Dienst mitgeteilt, dass er nicht mehr als Personenschützer des französischen Staatspräsidenten zur Verfügung stehe. Seine Vorgesetzten hatten milde gelächelt, verständnisvoll genickt, ihm alles Gute gewünscht, und Nicolas hatte gewusst, dass sie durchaus nicht unglücklich waren, ihn loszuwerden. Er war der talentierteste Mitarbeiter seines Dienstes, ein renommierter und mittlerweile hocherfahrener Personenschützer. Er hatte nach den Vorkommnissen auf Chausey alle Tests bestanden, die sportlichen sowieso, die psychologischen auch. Aber dann, einige Monate danach, hatte ihn das Wimmern des Hundes zum ersten Mal geweckt. Und alles war zurückgekommen, so heftig, so niederträchtig, dass aus seinen Nächten ein Käfig geworden war. Da war eine dunkle Kraft, die ihn packte, ihn niederdrückte. So oft hatte er auf seinem Bett gelegen, um Luft gerungen, hatte geschrien, gekämpft.

Alles vergeblich.

Es endete immer mit dem Tod.

Mit seinem oder mit ihrem.

 

In einiger Entfernung konnte er jetzt den schmalen Einschnitt in den Felsen sehen. Der Strand ging hier direkt in felsiges Geröll über, als sich die Steinwand, diese scheinbar undurchdringliche Mauer, überraschend öffnete. Nicolas hielt nicht an, sondern lief, federnd jetzt und mit ruhiger Kraft, direkt vom Strand in die Gorges des Moutiers hinein, eine enge Schlucht im Fels, bei der er jedes Mal an einen Riesen denken musste. Turmhoch, aus dem Meer aufsteigend, mit einer gewaltigen Axt in seinen Händen. Er hob sie hoch in die Luft, die Möwen stoben davon, brachten sich in Sicherheit, dann sauste die Klinge nieder, der Riese trieb sie mit unbändiger Kraft in das Gestein, er spaltete den Felsen, die Klippen, die gesamte Küste, Staub stieg auf, ein gewaltiger Nebel legte sich auf die Alabasterküste. Als er sich schließlich lichtete, war der Riese verschwunden und zurück blieb diese schmale, dunkle Schlucht, durch die ein Weg führte, die Klippen hinauf, ein Nadelöhr zwischen den Gezeiten.

Nicolas nahm zwei Stufen auf einmal, lief die Treppe hinauf, über einen Pfad, der sich durch die Felsen schlängelte, bis er schließlich die Spitze der Klippe erreicht hatte, achtzig Meter über dem Meer.

Wie oft hatte er hier gestanden? Wie viele Male hatte er die Luft angehalten angesichts der Unendlichkeit, die sich vor ihm ausbreitete. Weit draußen ging das Meer in den Himmel über, in nicht einmal einer Stunde würde sich ein erster Lichtschein auf das Wasser legen, die Felsen würden ihren Schatten weit hinaus auf die Wellen werfen, Albatrosse sich von den Klippen stürzen und die Geister der Nacht endgültig vertreiben.

 

Er hatte sich überschätzt.

Er hatte geglaubt, dass er die Geschehnisse auf Chausey verdrängen könnte, so wie es ihm auch mit anderen Ereignisse in den vergangenen Jahren gelungen war. Der hungrige Fluss, Vieux-Port, das Dorf an der Seine-Schleife. Die Jagd nach dem Teufel, die Leiche eines Priesters, heimgesucht von den Ratten im Gewölbe seiner eigenen Kirche.

Er hatte es verarbeitet, die Schatten abgelegt.

Der 6. Juni, die Feierlichkeiten anlässlich der Alliierten-Landung. Die Explosion auf dem amerikanischen Friedhof. Claire, wie sie schwer verletzt im Krankenhaus lag. Ein Duell im Bunker, der Hubschrauber, der Julie mit sich nahm, sie ihm erneut entriss.

Er hatte die Erinnerung daran sorgfältig in seinem Inneren verpackt.

Der Einsatz in Deauville, der Sprung vor dem Casino, über die Köpfe der Menschen hinweg, weil ein Freund dabei war, sich in einen Mörder zu verwandeln. Selbst das Bild des toten Mannes, der hatte fliegen wollen, bis sein Körper am Fuße eines Hochhauses aufschlug, im Schneetreiben von Paris – auch dieses Bild hatte er erfolgreich übermalt, mit einem neuen Leben und einer alten Liebe.

Julie.

Aber all das zählte nicht mehr.

Chausey war anders. Zu viel.

Und so hatte er die kleine Dachwohnung im »Hôtel de la Falaise« bezogen und sich seinen Albträumen gestellt. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er es mit einer Schutzperson zu tun, die ihm mehr abverlangte, als er zu geben in der Lage war. Sich selbst zu beschützen, das war ihm nie gelungen. Aber genau das war hier, in Varengeville, seine Aufgabe.

Es hatte mehrere Wochen gedauert, viele Läufe entlang der Felsen, durchschwitzte Nächte und eine Postkarte aus Marseille, bis ihm klar geworden war: Er konnte gewinnen.

Aber es würde dauern. Und es würde Rückschläge geben.

So wie in dieser Nacht.

 

Ein letzter Blick über das Meer, das sich bereit machte für einen neuen Tag, eine neue Brandung am Fuße der Felsen von Failly, die hier steil hinabstürzten und an deren Spitze Nicolas’ Ziel lag. Er drehte sich um und betrachtete das dunkle Gebäude, das erdverwachsen und sturmerprobt am Rande der Klippe lag, umgeben von steinernen Gräbern und den langen Schatten der Vergangenheit: Saint-Valéry.

Die Kirche auf dem Felsen

Erbaut »durch die Hand der Heiligen« im 12. Jahrhundert, ein massiger, gedrungener Bau, gehauen aus den groben Steinen des Nordens. Nicolas verlangsamte seinen Lauf, bis er schließlich wenige Schritte vor dem Kirchenportal stehen blieb. Das doppelläufige Kirchenschiff erstreckte sich vor ihm in der Dunkelheit, der Kirchturm war nicht sonderlich hoch, sodass die Spitze auch nachts noch zu sehen war. Er legte seine Hand auf den kalten Stein, es kam ihm vor, als fühlte er den Stamm einer jahrhundertealten Eiche, deren Wurzeln tief im Erdreich steckten. Tatsächlich führte die Kirche Saint-Valéry einen Kampf, der von Beginn an verloren war, auch wenn er jetzt schon mehrere Hundert Jahre andauerte. Jahr für Jahr stahl das Meer dem Land einige Zentimeter, fraß sich geduldig durch den Fels, schaufelte mit der Brandung Stein um Stein aus der Küste heraus. Und so blieben nur noch einige Meter übrig zwischen dem Gotteshaus und dem klaffenden Abgrund.

Die Kirche würde dem Meer gehören, irgendwann, es wären noch viele Jahrzehnte bis dahin, aber es würde geschehen. Und als Erstes würden die Gräber des Friedhofs um sie herum den Gezeiten zum Opfer fallen. Während Nicolas die Reihen abschritt, den Mond über sich, stellte er sich vor, wie die ersten Knochen in den Abgrund fielen, wie Gebeine und Schädel in die Fluten stürzten.

Wie die Toten ein zweites Mal starben.

 

Vor einem flachen Grab, auf dem eine steinerne Bank befestigt war, blieb er stehen. Auch ohne Tageslicht wusste er, wessen Name dort eingraviert war. Jacques Antoine Danois, tapferer Krieger und Überlebender der großen Schlachten unter Napoléon Bonaparte. Wagram, Austerlitz, Eylau, er hatte seine Kämpfe gefochten, und er war heil in die Heimat zurückgekehrt, um mit eiserner Hand als Steuereintreiber des Königs zu wirken, bis zu seinem Tod im Jahr 1857. Und hier lag er nun und wartete darauf, dass seine müden Knochen von der Zeit und vom Meer freigelegt wurden.

Es war still hier oben, kein Laut war zu hören.

»Dann wollen wir mal«, sagte Nicolas leise, sah sich um und griff in die Tasche seiner Trainingsjacke.

 

Die schwarze Sig-Sauer SP2022, Standardwaffe der französischen Polizei, glänzte im Mondlicht. Er entsicherte sie, überprüfte den Lauf, wog die Waffe in der Hand, prüfte die Patronen. Dann beugte er sich schnell hinunter, schob einige Steine unter der kleinen Bank auf dem Grab zur Seite und legte die Waffe, sowie einen Schalldämpfer für den Lauf, direkt darunter.

Das Ganze dauerte keine zehn Sekunden.

Nicolas stand wieder auf, klopfte sich die Erde von den Händen und blickte zurück zur Kirche. Schweigsam stand sie dort, den Lauf der Dinge geduldig erwartend. Am Portal waren frische Blumen angebracht, der gekieste Parkplatz war abgesperrt. Er wusste, dass in der Kirche bereits die Gesangbücher auf den Bänken lagen, der Altar von einer weißen Decke überzogen war, die Orgel gestimmt, die meterhohen Fenster gereinigt.

Alles war vorbereitet.

»Bis später«, murmelte Nicolas, während er den Friedhof verließ und langsam zurück in Richtung Gorge des Moutiers ging, zurück zum Strand, zum Meer, zu seinem Hotel, in dem Myriam ihm einen Kaffee hinstellen würde, ohne viele Worte.

»Bereit für die Hochzeit?«, würde sie fragen. Und Nicolas würde nicken und ein weiteres Ei in die Schüssel schlagen.

Kapitel 2

Deauville

Zur gleichen Zeit

Die Place Morny im Zentrum von Deauville war kein Ort für jemanden wie ihn, und doch hatte Sammy, wie ihn seine Brüder nannten, am Morgen beschlossen, sich genau hier niederzulassen. Er wusste sehr wohl, dass man ihn fortjagen würde, freundlich zwar und womöglich sogar mit einem verständnisvollen Blick – aber es blieb eben doch ein Fortjagen, so wie eine Münze eine Münze blieb, egal, ob man sie sich verdiente, oder nur im Rinnstein fand, so wie er vorhin, in der Rue de Verdun. Die Zweieuromünze hatte im ersten Licht des Tages gefunkelt, er hatte nach ihr gegriffen, bevor sie sich als Fata Morgana entpuppen konnte, als bösartiges Versprechen, das niemals eingelöst werden würde.

Zwei Euro mehr in der Tasche konnten einen Unterschied machen. Und wenn sie das Erste waren, was seine müden Augen am Morgen erblickten, dann wurde selbst einem vom Leben im Stich gelassenen Mann klar, dass dieser Tag ein guter werden würde.

Ein Tag ohne Hunde vor allem, denn das war seine größte Angst: streunende Hunde, die ihn anfielen, kläffende Köter, Kampfhunde womöglich, die sich von ihren Besitzern losrissen, ihm hinterherjagten, ihn zu Fall brachten, sich in ihn verbissen. Er hatte panische Angst vor Hunden, seit seiner Kindheit schon, und er hatte das Gefühl, dass es mit der Zeit immer schlimmer wurde. Als gäbe es da eine Gewissheit, tief in seinem Innern, dass seine schlimmsten Befürchtungen eines Tages wahr werden würden.

 

Er hatte seine Sachen aus dem Hauseingang gezogen: die Decken, die Isomatte, den Wintermantel, den er jetzt, am Ende eines heißen Sommers, noch nicht brauchte, den er aber hütete wie seinen Augapfel. Er hatte alles in den Einkaufswagen gestopft, zu den Tüten, dem Rucksack, er hatte sich zur Feier des Tages frische Socken angezogen und war aufgebrochen. Er beeilte sich nicht. Vorfreude war etwas, das man auskosten musste. Am Brunnen vor dem Bahnhof hatte er sich das Gesicht gewaschen, einer Frau zugelächelt, die aus dem Gebäude kam, und sie hatte zurückgelächelt, und da hatte er gewusst: Er war nicht unsichtbar, nicht an diesem Tag, der gut werden würde, ohne Zweifel.

 

Unsichtbar sein, das war sein größtes Problem. Er hatte den Umgang damit lernen müssen, damals, als er seine Wohnung verloren hatte, er hatte lernen müssen, schlicht nicht mehr sichtbar zu sein.

»Sie schauen durch uns durch«, hatten ihm seine Brüder beigebracht, sie hatten es ihm eingetrichtert, hatten ihm aber nie gesagt, wie tief der Schmerz sitzen konnte. Kinder mochten sich wünschen, unsichtbar zu sein, verborgen vor den Augen der Erwachsenen. Ein Mann seines Alters jedoch wollte gesehen werden, er war da, niemand hatte das Recht, ihn zu ignorieren.

Aber sie taten es. Alle.

Aber nicht heute.

Er hatte den Einkaufswagen die Rue Désiré le Hoc entlanggeschoben, über den rissigen Asphalt, ihn die Bordsteinkanten hochgewuchtet. Er hatte den rundlichen Polizisten gegrüßt, der in der Tür des Commissariat von Deauville stand, mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der einen und einem Croissant in der anderen Hand. Er mochte Alphonse, für ihn war er der eigentliche Chef im Commissariat, die anderen konnten ihm gestohlen bleiben, die Ehrgeizigen, die Beflissenen, die ihn immer wieder misstrauisch anstarrten, nur um ihm zu signalisieren, dass er weiterziehen solle.

Wenn sie ihn nicht gar ignorierten, so wie die anderen.

Immer weiterziehen, Sammy hatte aufgehört zu zählen, es machte ihm nichts mehr aus, die Sachen zum hundertsten Mal in seinen Wagen zu stopfen, die Tüten, die leeren Flaschen, die Mützen, er hatte mehrere, aber die gelbe war seine liebste, der Herbst würde stürmisch werden hier oben, er konnte es in den Knochen spüren.

Manchmal kam es ihm vor, als sei er nichts anderes als ein überflüssiger Spielstein auf einem fein austarierten Feld, ein Spielstein zu viel, der aus Versehen in der Packung gelandet war und jetzt keinen Platz für sich beanspruchen konnte. Man warf ihn nicht weg, diesen Stein, man schob ihn nur immer wieder woandershin.

Solange die Füße ihn trugen.

 

Die Place de Morny leuchtete in der Sonne, die Pflastersteine glänzten im Licht des frühen Tages, und als Sammy vor der Bäckerei hielt, schloss er kurz die Augen und genoss die wärmenden Strahlen im Gesicht. Die Tauben gurrten, und einige Autos bogen auf den Platz ein, auf der Suche nach einem Parkplatz. Der fangfrische Fisch, der direkt hinter ihm unter dem Vordach der kleinen Markthalle verkauft wurde, duftete, er vernahm das Rufen der Verkäufer und die Vögel über ihm, die den Himmel über Deauville in ihre eigenen Planquadrate aufteilten.

Sammy lächelte, sah durch das Schaufenster zu Mathilde und hob sein Zweieurostück in die Höhe. Die Frau hinter dem Tresen nickte kurz, während sie eine Kundin bediente. Sammy machte es sich auf einer der Bänke gemütlich, schob seinen Wagen direkt neben sich und seine Mütze etwas in den Nacken. Kurz darauf öffnete sich die Tür der Bäckerei und Mathilde kam zu ihm heraus.

»Fünf Minuten, Sammy«, sagte sie, und er schenkte ihr sein wärmstes Lächeln.

»Ist versprochen, Mathilde.«

»Hier ist dein Kaffee. Milch und Zucker, wie immer. Und ich nehme an, für die Münze wolltest du zwei Croissants, nicht wahr?«

Sie gab ihm eine Tüte in seine schmutzigen Hände und setze sich kurz neben ihn.

»Schöner Tag heute«, murmelte sie und legte den Kopf in den Nacken, um ihr Gesicht der Sonne zuwenden zu können.

»Da hast du sehr recht«, sagte Sammy und öffnete die Tüte vorsichtig. Der Duft zerlassener Butter stieg ihm in die Nase.

»Da sind drei drin, Mathilde«, sagte er schließlich. »Ich kann das eine nicht bezahlen.«

Er sah ihr an, dass sie müde war, müde vom frühen Aufstehen, müde von der Verantwortung, eine Bäckerei an der Place Morny zu leiten, sie hatte den Laden vor drei Jahren übernommen, und die Miete musste horrend sein. Aber die Bäckerei lief gut, und seitdem Mathilde sie führte, durfte er immer für ein paar Minuten auf der Bank sitzen.

»Fünf Minuten, Sammy.« Es war ein geflügeltes Wort geworden.

 

»Ich muss mich wohl verzählt haben«, sagte sie jetzt und legte den Kopf zur Seite. »Aber zurücklegen darf ich es jetzt auch nicht mehr.«

Sammy nippte an seinem Kaffee.

»Du bist ein guter Mensch, Mathilde«, sagte er leise und legte das Zweieurostück in ihre Hand. Sie betrachtete es einen Augenblick und sah dann auf die Uhr.

»Ich glaube, drüben an der Ecke zur Rue Gambetta ist es heute ruhig«, sagte sie und stand auf, als ein älteres Ehepaar sich anschickte, die Bäckerei zu betreten. Sie glättete ihre Schürze und gab ihm lächelnd die Münze zurück.

»Nimm es als Startkapital. Und mach was draus, Sammy.«

Er beobachtete, wie sie das Ehepaar begrüßte und zwei Baguettes in eine Brottüte packte, wie sie ihr Haar nach hinten strich und kurz darauf in der Backstube verschwand.

»Danke, Mathilde«, murmelte er, dann stand er mit einem leichten Stöhnen auf, packte seine Sachen und schob den Einkaufswagen an den teuren Boutiquen vorbei, an den Restaurants, die noch geschlossen waren, aber deren Ablehnung gegenüber jemandem wie ihm schon zu spüren war. Er fragte sich, ob ihm das Essen dort drinnen überhaupt schmecken würde, die Austern, der Hummer, das Lammcarée.

Kurz darauf breitete er seine Isomatte vor einer geschlossenen Parfümerie aus, drapierte seinen Rucksack und seine Decken und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Bürgersteig. Es war eine gute Stelle, die Sonne schien flach über die Dächer, sie wärmte seine müden Knochen, die stets ächzten und knarzten, wie eine Tür, die niemand mehr ölte. Er legte eine flache Schiebermütze vor sich auf den Boden und tat das Zweieurostück hinein.

»Mach was draus«, murmelte er. Dann biss er genüsslich in ein Croissant und dachte für einen kurzen Augenblick, dass der Moment nicht besser sein könnte. Und angesichts des weiteren Verlaufs des Tages lag er damit gar nicht mal falsch.

 

Mehr als eine Stunde später hatte sich die Sonne endgültig über die Dächer der angrenzenden Häuser und Geschäfte geschoben, sie schien auf die sauber geharkte Rasenfläche in der Mitte der Place Morny und auf die Dächer der teuren Autos, deren Besitzer in den umliegenden Cafés saßen oder Schlange standen in der Fischhalle von Deauville.

Sammy blinzelte kurz und fuhr sich über das Gesicht, er musste eingenickt sein auf dem warmen Stein des Trottoirs. Er blickte sich um, so wie er es immer tat, wenn er aus einem unruhigen Schlaf erwachte, er überprüfte seine Taschen, die Tüten, suchte sofort nach den Decken. Stets hatte er eine Hand in einer Schlaufe seines Rucksacks verhakt, denn er war sein Heiligtum, er nannte ihn »Meine Zweizimmer-wohnung«. Alles an seinem Platz, ein Kamm, frische Unterwäsche, seine Handschuhe und Mützen. Und keine Hunde in Sicht. Auch die Schiebermütze lag unberührt vor seinen Füßen, immerhin um zwei Geldstücke reicher als vorhin.

»Ich habe doch gewusst, dass es ein guter Tag wird«, murmelte Sammy und richtete sich auf. Müde kratzte er sich an der Schläfe und überlegte, was ihn wohl geweckt hatte. Er war alleine an der Straßenecke, in beide Richtungen war niemand zu sehen, nur in der Seitenstraße hinter ihm, neben der Apotheke, entfernte sich eine Gestalt, er konnte das Gesicht nicht erkennen. Auf der anderen Seite des Platzes gingen die Menschen bei Mathilde ein und aus.

»Ich wäre auch ständig bei ihr, wenn ich Geld hätte«, murmelte er.

Was hatte ihn nur geweckt?

»Auch egal«, beschloss er und griff nach der Bäckertüte, in der das ganze Glück dieser Erde in Form zweier Croissants auf ihn wartete.

Dann sah er es.

 

»Was ist denn das?«, murmelte er und richtete sich etwas auf, um über den Rand der Mütze sehen zu können, die vor ihm auf dem Boden lag. Davor der Pappkarton mit der Bitte um eine Spende, in geschwungener Schrift, mit einer Blume verziert.

Mathilde hatte sie für ihn gezeichnet.

Neben den drei Geldstücken lag etwas, blass und rund, kaum größer als ein …

»Was …?«

Sammy krabbelte jetzt auf allen vieren über seine Decke, den Blick ungläubig auf den Gegenstand gerichtet, der dort lag und der …

»Oh mein Gott!«

… kein Gegenstand war.

Er sah sich um, aber niemand war da, kein Schatten, keine Gestalt, kein Verrückter, denn um einen solchen musste es sich handeln, wer sonst als ein durchgeknallter, völlig gestörter Mensch würde so etwas tun.

Voller Widerwillen blickte Sammy auf die Hautfetzen, auf das getrocknete Blut und den eingerissenen Nagel.

»Verdammte Scheiße …«

Ihm wurde schlecht. Er drehte sich weg, sah sich hilflos um, dann richtete er sich auf und winkte hektisch, als er eine junge Frau über die Place Morny kommen sah.

»Mademoiselle! Hierher!«

 

»Léon, ich muss Schluss machen«, sagte Claire lachend und blickte auf ihre Uhr. »Im Ernst, wir müssen später …«

»Aber du musst dir das einmal vorstellen, der Kerl steckt wirklich bis zum Hals in der Kläranlage! Ich meine, der hatte höchstens ein paar Gramm dabei, und dafür liefert er sich eine Verfolgungsjagd mit uns und endet in einem Klärbecken!«

Claire lachte erneut, sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und versuchte, einen Zopf zu binden, während sie das Handy zwischen Kopf und Schulter einklemmte.

»Léon, wir müssen jetzt wirklich Schluss machen, ich muss dringend ins Commissariat, und gefrühstückt habe ich auch noch nichts …«

Sie sah sich um und überquerte die Place Morny mit schnellen Schritten.

»Sehen wir uns heute Abend?«, fragte Léon, und sie lächelte.

»Mal sehen. In zwei Tagen beginnt das Filmfestival, die Stadt ist verrückt geworden könnte man meinen. Vielleicht, wenn Roussel mich früher rauslässt, komme ich am späten Nachmittag nach Caen. Aber ich glaube eher nicht.«

»Grüß ihn von mir, den alten Knorzer.«

»Salut, Léon.«

»Pass auf dich auf, Claire.«

Es waren immer seine letzten Worte, bei jedem Gespräch, bei jedem Telefonat. »Pass auf dich auf, Claire« – sie wusste, dass er stets besorgt war, und sie wusste auch, dass es Gründe dafür gab. Sie hatte viel erlebt in den vergangenen Jahren, und oft hatten sie und Léon nachts wach gelegen, weil ein schlechter Traum sie aufgeschreckt hatte. Aber er war da, und nur das zählte. Die schlimmen Tage waren vorbei, auch wenn die Narben an ihrem Körper sie immer daran erinnern würden.

Claire kramte nach einem Geldstück und sah erneut auf die Uhr. Sie hätte vor zehn Minuten im Commissariat sein müssen, aber wenn sie Glück hatte, kam Roussel heute nach seiner Fortbildung erst später ins Büro.

Und ohne einen Kaffee bei Mathilde ging sowieso nichts.

 

»Mademoiselle!«

Gerade als sie die Mitte des Platzes erreichte, hörte Claire die Rufe. Ein älterer Mann winkte an einer Straßenecke hektisch zu ihr herüber.

»Kommen Sie! Schnell!«

Es war ein Obdachloser, auf dem Boden verstreut lagen seine Decke, ein Rucksack, an der Wand stand ein rostiger Einkaufswagen. Claire sah kurz sehnsüchtig zur Bäckerei, dann drehte sie sich mit einem Seufzen um und ging in Richtung des Mannes. Beim Näherkommen erkannte sie ihn, sie hatten sich schon einige Male auf den Straßen von Deauville getroffen, seitdem sie hier ihre erste richtige Stelle angetreten hatte.

»Wie heißt er noch mal  …«, murmelte sie, während sie zu ihm ging.

Der Mann kam ihr einige Meter entgegen, immer wieder deutete er auf eine alte Mütze, die auf dem Boden lag.

»Salut«, sagte Claire und lächelte ihn freundlich an.

»Sie sind doch die junge Polizistin«, begrüßte er sie aufgeregt. »Sie sind doch von der Polizei, sind Sie das … ich habe Sie gesehen, wir haben uns schon … ich bin Sammy, das sind doch Sie, nicht wahr? Sie sind neu hier, also so neu nicht, aber eben noch nicht so lange da, ich bin Sammy, ich darf hier nicht liegen, ich weiß, aber es war früh, kaum jemand da und … aber es hat niemand etwas gesagt, Sie sind doch von der Polizei, oder?«

Claire legte dem Mann eine Hand auf die Schulter.

»Beruhigen Sie sich, Sammy«, sagte sie langsam. »Ja, ich bin von der Polizei, und ja, ich weiß, wer Sie sind. Sie sind Sammy, es ist alles gut, niemand schickt Sie hier weg.«

»Aber ich darf hier nicht liegen«, sagte er, und seine Stimme klang wie ein rostiger Einkaufswagen, der über das Kopfsteinpflaster geschoben wird. »Ich weiß das, aber es hat niemand etwas gesagt, und da liegt etwas, es ist … ich weiß nicht …«

»Sie können hier gern noch ein bisschen liegen, ausnahmsweise«, beruhigte Claire ihn erneut. »Und jetzt sagen Sie mir, was los ist, in Ordnung? Was liegt wo?«

»Ein Stück! Es ist ein Stück, jemand muss es mir reingelegt haben. Ich habe geschlafen, nur ganz kurz, ich darf hier nicht liegen, und als ich aufgewacht bin … aber da war niemand mehr, ich habe niemanden gesehen, nur das Stück.«

»Was für ein Stück, Sammy?«

»Dort, in der Mütze. Neben dem Geld, es ist mein Geld, niemand darf es nehmen, auch nicht die Polizei, ich mag die Polizei, ich mag vor allem den Dicken, er ist immer nett.«

»Ja, ich mag Alphonse auch«, murmelte Claire und beugte sich über die Mütze, in der sie drei Geldstücke erkennen konnte.

Und …

»Es lag plötzlich da, ganz weiß und … ich habe Sie gesehen, ich habe gewunken, Sie sind doch von der Polizei, oder?«

Claire kniete sich auf den Boden und sah genauer hin: »Scheiße«, murmelte sie. »Das ist wirklich widerlich.«

Als würde er dort wie selbstverständlich hingehören, lag in der Mitte der Mütze ein abgetrennter Fußzeh. Claire konnte die feinen Härchen auf der Haut erkennen, den rissigen Nagel, die Hautfetzen und das getrocknete Blut am Rumpf.

Sie beugte sich weiter hinunter.

»Von einem Mann«, murmelte sie. Die Haut war fahl und weiß, der Zehennagel geschnitten, sie konnte keine Hornhaut erkennen.

»Der gehörte keinem Obdachlosen.«

»Wer macht so etwas?«, fragte Sammy aufgeregt hinter ihr. »Ich habe niemandem etwas getan, ich bin nur Sammy, alle kennen mich, nehmen Sie ihn mit, diesen Zeh, er soll weg sein, verschwunden, ich verschwinde auch!«

Claire holte ihr Handy aus der Tasche und machte einige Aufnahmen, von dem Zeh, von der Mütze, von Sammys Sachen auf dem Boden. Dann wählte sie die Nummer des Commissariat.

»Komm schon, Alphonse«, sagte sie und lächelte Sammy an.

»Wir kümmern uns jetzt darum«, sagte sie. »Alles wird sich regeln. Nur ihre Mütze, die werden wir erst mal mitnehmen müssen. Und ich müsste Ihnen noch einige Fragen stellen, am besten bleiben Sie erst mal hier, die Kollegen kommen gleich und nehmen das hier mit.«

»Hierbleiben?« Sammy sah sie aus großen Augen an, kratzte sich umständlich am Kopf und deutete dann auf die eleganten Geschäfte, die Cafés und die wachsende Betriebsamkeit auf der Place Morny.

»Die schicken mich demnächst weg«, sagte er. »Ich wundere mich schon, dass noch niemand gekommen ist. Ich meine, es ist ein schöner Ort, ich mag ihn, ich kenne ihn gut von früher, da habe ich auch in den Cafés gesessen, bevor … jedenfalls, die wollen nicht, dass jemand wie ich hier lange bleibt, bestimmt kommt gleich jemand, der Apotheker ist immer der Erste, oder die Besitzerin des Kleidungsgeschäfts, die schaut immer böse, wenn sie mich nur sieht, und jetzt ist das Geschäft ja offen, ich kann nicht …«

Claire sah, wie der Obdachlose zitterte, wie er begann, sich an den Armen, den Beinen zu kratzen, als hätte sich eine unsichtbare juckende Schicht auf ihn gelegt.

Kurz entschlossen griff sie in ihre Hosentasche, holte einen Zehneuroschein hervor und drückte ihn Sammy in die Hand, zusammen mit einer Karte, auf der ihre Nummer im Commissariat stand.

»Passen Sie auf, Sammy«, sagte sie, während er wie unter Schock auf den leuchtenden Schein blickte. »Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen? Ich bin übrigens Claire, es freut mich, dich kennenzulernen. Und es ist in Ordnung, wenn du hierbleibst. Und sollte der Apotheker oder sonst wer dich verscheuchen wollen, dann sagst du, dass du in meinem Auftrag hier bist. Du beobachtest den Platz, Sammy, verstanden? Ich will alles wissen, jede Besonderheit, du kennst die Menschen, du bist bestimmt ein guter Beobachter. Ich komme nachher wieder, um dir einige Fragen zu dem Zeh hier zu stellen. Und wenn dir in der Zwischenzeit etwas aufgefallen ist, dann will ich das wissen, einverstanden? Hast du eine andere Mütze?«

Der Obdachlose nickte, ohne den Schein aus den Augen zu lassen. Schließlich lächelte er Claire an und holte aus dem Innern seines Mantels eine gelbe Mütze hervor, die ihm sicher zu warm war, auf die er aber mächtig stolz zu sein schien. Er legte sie neben die andere auf den Boden und grinste zufrieden.

»Du bist ein guter Mensch, Claire. Obwohl du bei der Polizei bist.«

»Also, alles schön beobachten, verstanden? Vielleicht fällt dir ja etwas auf, egal was, eine Person, ein Gespräch, jemand, der nervös ist, kommt vielleicht zurück zur Place Morny. Du wirst schon merken, wenn etwas anders ist, Sammy.«

»Der Mann dahinten ist komisch. In dem Café. Er schaut andauernd hier rüber.«

Claire lächelte ihn an.

»Okay, das ist bestimmt normal. Ich meine, ich bin Polizistin, du hast die ganze Ecke hier mit deinen Sachen ausstaffiert, er will bestimmt nur sehen, ob ich dich fortjage. Also, ich muss jetzt los.«

»Er sieht böse aus.«

Claire runzelte die Stirn und drehte sich um. Sie sah über die Place Morny, Möwen zwischen den Autos, eine Frau, die mit dem Handy am Ohr über den Bürgersteig flanierte, ein Fahrradfahrer, der in die Rue Désiré le Hoc einbog. Eine kleine Schlange vor der Bäckerei, die blau-weiß gestreiften Pullover in den Auslagen einer Boutique, in deren Schaufenster sich ein dunkler Wagen spiegelte, der in zweiter Reihe vor dem Café de Morny parkte, auf der anderen Seite des Platzes.

Einige Tische waren bereits besetzt, ein älteres Ehepaar saß an einem Bistrotisch, er las eine Zeitung, sie warf zwei Tauben einige Brotkrumen zu. Ein junger Mann zündete sich eine Zigarette an, während er auf ein kleines Schachbrett blickte, dass er vor sich aufgebaut hatte. Er machte einen ersten Zug, spielte gegen sich selbst, der Platz ihm gegenüber war leer.

In der ersten Reihe saß ein älterer Herr in einem teuren Anzug, einer im Ton perfekt abgestimmten Krawatte, seine Lederschuhe glänzten im Sonnenlicht. Sie schätzte ihn auf Mitte sechzig, seine Haare waren grau, seine Hände lagen wie drapiert auf seinen übereinandergeschlagenen Beinen.

Er blickte sie über den Platz hinweg direkt an und nickte leicht, als er sah, dass sie ihn bemerkt hatte.

Claire erkannte ihn sofort.

 

»Nicht schlecht, Sammy«, murmelte sie. »Und du hast absolut recht.«

»Mit was?«

»Der Mann ist wirklich böse. Bis nachher, wir sehen uns.«

Claire überquerte den Platz, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Gerade machte er dem Kellner ein Zeichen und hielt zwei Finger in die Luft.

»Als würde ich mit dir einen Kaffee trinken«, murmelte sie und holte tief Luft. Als sie auf die Uhr sah, fluchte sie innerlich. Roussel würde sie vor versammelter Mannschaft an die wichtigen Werte Verlässlichkeit und Pünktlichkeit erinnern.

Sie sah den Fahrer der dunklen Limousine streng an, der in zweiter Reihe parkte. Der Mann aber starrte nur in Richtung des Cafés. Claire überlegte kurz, ob sie ihm den Mittelfinger zeigen sollte, beherrschte sich aber in letzter Sekunde. Sie würde in den nächsten Minuten Ruhe bewahren müssen, so viel war klar.

 

»Der Wagen muss da weg, hier ist Halteverbot.«

Sie war vor dem Bistrotisch stehen geblieben und blickte den Mann an, der in all seiner Selbstgefälligkeit vor ihr saß und sie musterte.

Er zögerte kurz, dann machte er dem Fahrer ein Zeichen. Der Wagen startete, wenige Augenblicke später verschwand er in die Rue Désiré le Hoc in Richtung Rathaus.

»Bonjour, Mademoiselle Cantalle. Setzen Sie sich doch.«

Seine Stimme war sanft und doch ohne jedes Gefühl. Und der Punkt, der am Ende jeden Satzes stand, glich einem in Stein gemeißelten Ausrufezeichen. Da war keine Unsicherheit, nicht der Anflug eines Zweifels. Nur Gewissheit. Dass am Ende alles so kommen würde, wie er es angekündigt hatte.

»Bitte. Ich würde mich wirklich freuen.«

Ein Lächeln, er nahm die Sonnenbrille ab, drehte seine Handinnenflächen nach oben, ein sorgsam einstudiertes Zeichen für Offenheit und das absolute Fehlen jeglicher Gefahr. Ein Gespräch in der Morgensonne von Deauville, ein Kaffee an der Place Morny, an einem Tag im Spätsommer, der sich in das Bewusstsein dieser Stadt einprägen würde – für immer.

Langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen, zog sie einen Korbstuhl zu sich heran und setzte sich. Seine müden Gesichtszüge, die tiefen Falten auf seiner Haut ließen ihn ungesund aussehen. Doch bevor sie sich darüber weitere Gedanken machen konnte, erschien der Kellner und stellte eine Tasse schwarzen Tee für ihn und einen schwarzen Kaffee für sie auf den Tisch, dazu ein Körbchen mit einer einzelnen Rosinenschnecke.

Claire lehnte sich zurück und genoss für einen kurzen Augenblick die Sonne auf ihrem Gesicht.

Er war alt geworden.

»Wenn Sie wissen möchten, wo Ihr Sohn ist, Monsieur Guerlain, dann muss ich sie enttäuschen: Ich habe ihn seit längerer Zeit nicht gesehen.«

 

Alexandre Guerlain, ehemaliger Leiter des Inlandsgeheimdienstes und jahrzehntelang mächtigster Sicherheitsberater der französischen Regierung, blickte sie amüsiert an. Er kippte etwas Milch in seinen Tee, rührte um und nahm einen Schluck, bevor er sich in seinem Stuhl zurücklehnte.

»Ich gehe nicht davon aus, dass er viel über mich erzählt hat«, sagte er leise, seine Augen waren jetzt zusammengekniffen. »Aber Sie sind eine kluge Frau, Mademoiselle Cantalle. Sie wissen, dass jede gute Geschichte von zwei Seiten gelesen werden kann.«

»Jede schlechte Geschichte auch.«

Keine Regung, kein Schmunzeln.

»Die Rosinenschnecken sind von der Bäckerei dort drüben, die Besitzerin heißt Mathilde, sie macht die besten in der Stadt. Nehmen Sie ruhig, ich persönlich frühstücke morgens nicht.«

Claire sah ihn herausfordernd an.

»Nicolas hat tatsächlich nie viel von Ihnen erzählt. Aber selbst das wenige reicht, um das Gespräch sofort zu beenden. Ein Vater, der so agiert, wie Sie es getan haben, Monsieur Guerlain, der sollte einer jungen Frau kein Frühstück an der Place Morny anbieten. Er sollte nach Hause gehen und sich Gedanken machen. Sehr viele Gedanken, ehrlich gesagt.«

 

Nicolas hatte ihr tatsächlich nur in Ansätzen vom Verhältnis zu seinem Vater erzählt. Und doch wusste sie genug: Es war Alexandre Guerlain gewesen, der Nicolas’ Partnerin Julie in eine geheime Undercovermission gezwungen hatte, ohne seinem Sohn etwas davon zu sagen. Es war Alexandre Guerlain gewesen, der Nicolas hatte zusammenschlagen lassen, ihn erpresst hatte, mit dem Ziel, wieder an die Spitze des Geheimdienstes zu kommen.

Der Versuch war misslungen. Und doch wusste sie, dass der Mann, der ihr gegenübersaß, noch immer Macht und Einfluss hatte, vielleicht sogar mehr denn je. Sie hatte die Artikel über den Zustand des Geheimdienstes gelesen, über die Fehler der Behörde in den vergangenen Monaten.

Alexandre Guerlain wurde als neuer Leiter gehandelt, aber er war im Verborgenen geblieben. Und nun saß er hier, an der Place Morny, trank unbeschwert seinen Tee, als würden sie auf dem millimetergenau geschnittenen Rasen eines englischen Landhauses sitzen und über das Wetter reden.

Seine Haut war grau, die Haltung etwas gebeugt, wenn auch kaum wahrnehmbar. Und als er die Tasse zurück auf den Tisch stellte, fiel ihr auf, dass seine Hand leicht zitterte. Dennoch war seine gesamte Erscheinung, sein Auftreten, sein zutiefst selbstsicheres Auftreten noch immer beeindruckend.

Auch ihr gelang es nicht, sich der einnehmenden Aura dieses Mannes zu entziehen.

»Warum sind Sie hier?«, fragte sie schließlich. »Wie bereits erwähnt, ich kann Ihnen nicht sagen, wo sich Nicolas gerade aufhält. Es ist nicht so, dass er mich dreimal in der Woche anruft, um sich zu erkundigen, wie es mir geht.«

Alexandre Guerlain lächelte, seine Lippen waren kaum mehr als ein dünner Strich.

»Ich bin nicht hier, um mich nach Nicolas zu erkundigen. Ich weiß, wo er ist.«

Überrascht sah Claire ihn an.

»Nein? Dann sind Sie bestimmt wegen des Filmfestivals hier? Gibt es … natürlich, was sollten sie sonst in Deauville. Das Festival ist in Gefahr, ist es das? Dann sollten sie mit Roussel reden, das Commissariat ist gleich um die Ecke, ich bringe Sie gern hin.«

Wieder nahm er einen Schluck Tee, beobachtete sie, schwieg für einige Sekunden.

Bis sie begriff.

Er würde es ihr nicht sagen. Sie musste selbst darauf kommen. Aber sie hatte es längst begriffen.

 

Die junge Polizistin atmete tief durch. Ihr Blick fiel auf die Tasse schwarzen Kaffee, auf die Rosinenschnecke von der Bäckerei nebenan. Sie hatte vor drei Wochen ihren Dienst bei Roussel angetreten, hatte sich ein kleines Zimmer in der Altstadt von Trouville genommen, weil ihr die Schwesterstadt auf der anderen Seite der Touques authentischer erschien, weniger anstrengend als das mondäne und stets um den richtigen Anschein bemühte Deauville mit seinen frisch geharkten Wegen, den gepflegten Rasenflächen und den Seidenschals, die um die faltigen Hälse älterer Damen geschlungen waren. Jeden Morgen ging sie zu Fuß über den Pont des Belges, telefonierte mit Léon in Caen, betrachtete die Fischerboote, die Möwen, die auf dem Wasser schaukelten, hörte die Rufe der Verkäufer in der Fischhalle. Sie mochte die alten Platanen, die ihre Köpfe über das Hafenbecken beugten, die alten Männer, die vor dem Sportwettbüro standen und ihr ungeniert hinterherpfiffen, bis sie drohend (und lachend) ihre Marke herausholte.

Und jeden Morgen ging sie zuerst zu Mathilde an der Place Morny, um dort ihr Frühstück abzuholen. Wenn sie spät dran war, aß sie im Gehen, wenn sie mehr Zeit hatte, am Strand, direkt auf den Planches, die noch gewärmt waren von der Sonne des Vortages. Sie lehnte sich dann an eine der grünen Türen der Umkleidekabinen, studierte die Namen der Schauspieler auf den Geländern, während die ersten Jogger vorbeikamen, rote Lenkdrachen im Wind tanzten und die ersten Schwimmer die Wellen durchpflügten.

Und während sie über sich und ihr seltsames, rastloses Leben nachdachte, das in hohem Tempo an ihr vorbeizog, nippte sie an ihrem schwarzen Kaffee und brach ein Stück von ihrer Rosinenschnecke ab.

Immer das gleiche Frühstück, seit drei Wochen.

Nicolas’ Vater war nicht gekommen, um nach seinem Sohn zu fragen. Auch nicht, weil das anstehende Filmfestival möglicherweise in Gefahr war.

»Seit wann beobachten Sie mich?«, fragte Claire leise.

Er sah sie an, hielt dabei den silbernen Teelöffel wie ein Schwert, dessen Spitze auf sie gerichtet war. Vorsichtig wischte er einen Zuckerkrümel vom Tisch.

Schließlich lächelte er und sagte: »Von Anfang an.«

Kapitel 3

Varengeville-sur-Mer

Zur gleichen Zeit

Der Applaus vermischte sich mit dem Geräusch der Brandung und dem heiseren Krächzen der Albatrosse, hoch oben über der Kirche Saint-Valéry. Die Gäste reckten ihre Hälse, Kinder wurden hochgehoben, Bravorufe erklangen. Ein Fotograf eilte vor das Portal der Kirche, um die Braut abzulichten, die in diesem Augenblick aus einem schwarzen Cabrio stieg, gestützt vom starken Arm ihres Vaters. Ihr Kleid war schlicht und elegant, ihren Kopf schmückte ein schmaler Blumenkranz, der in den gleichen Farben gehalten war wie der Brautstrauß in ihrer rechten Hand. Sichtlich gerührt blickte sie auf die Gäste, unsicher richtete sie ihr Kleid, während eine streng blickende Dame die Hochzeitsgäste ins Innere der Kirche scheuchte.

Nicolas stand etwas abseits und unterhielt sich mit einem jungen Geschäftsmann aus Paris, der applaudierte, als die Braut ihren Gästen zuwinkte.

»Sie sieht fantastisch aus, nicht wahr?«, sagte der Mann, der sich ihm als Benoît vorgestellt hatte, zu Nicolas, und er applaudierte nun seinerseits und wandte sich seinem Gesprächspartner wieder zu.

»Wirklich sehr hübsch, die Blumen machen den Unterschied. Eine echte Bilderbuchbraut. Woher kennen Sie sie?«

»Wir haben zusammen studiert, an der Sorbonne. Verdammt, wir waren alle verliebt in sie, aber sie wollte schon immer nur Marc, da gab es kein Vertun. Und jetzt schauen Sie sich die beiden an, ein echtes Traumpaar. Man könnte fast neidisch werden.«

»Ich glaube, wir müssen rein.«

Die beiden folgten den anderen Gästen in die Kirche, Nicolas zwinkerte im Vorbeigehen der Braut zu, grüßte ihren Vater.

»Ganz schön viel Security hier«, sagte Benoît neben ihm, als sie in die Kirche kamen. »Kein Wunder, bei der Familie.«

Tatsächlich zählte Nicolas mindestens ein Dutzend Personenschützer, die innerhalb und außerhalb der Kirche verteilt waren. Die dunklen Anzüge, die Kabel der Mikros am Kragen, die Blicke der Männer, die alles und jeden misstrauisch musterten.

»Wollen wir uns hierhin setzen?«, fragte Benoît und zeigte auf eine der hinteren Bänke.

Nicolas sah nach vorne zum Altar, der vom blauen Licht des berühmten Fensters von Raoul Ubac beschienen war. Der Bräutigam blickte nervös den Gang hinunter, in Richtung Portal, durch das in wenigen Sekunden seine künftige Ehefrau schreiten würde. Nur wenige Meter neben ihm standen zwei Sicherheitsleute, ein weiterer Personenschützer, links des Ganges, beobachtete jede Regung in den Bänken.

»Wirklich eine wunderschöne Kirche«, murmelte Nicolas, gerade so laut, dass die umstehenden Personen ihn hören konnten. Während er sich langsam um die eigene Achse drehte und die letzten Gäste ihre Plätze einnahmen, konnte Nicolas die Anspannung der Sicherheitsleute geradezu spüren, die Blicke, die sie sich zuwarfen.

Sie sind nervös, dachte er. Und sie haben allen Grund dazu.

Der Bräutigam war der Sohn eines der angesehensten Medienmogule Frankreichs, und damit entstammte er einer Familie, die tagtäglich Drohungen erhielt, sowohl anonym als auch auf offener Straße. Auch im Vorfeld der Hochzeit mit seiner langjährigen Freundin hatte es Hinweise auf eine mögliche Gefahrenlage gegeben.

Das Familienoberhaupt stand in der ersten Reihe, daneben die Ehefrau und Mutter des Bräutigams, die bereits jetzt ihr Taschentuch brauchte.

»Wahnsinn, wie viele Bodyguards hier versammelt sind. Das sind ja bestimmt … mein Gott, das sind …«

»Zehn, hier in der Kirche«, sagte Nicolas mit einem Lächeln und setzte sich auf seinen Platz direkt am Gang im hinteren Teil der Kirche. »Draußen sind zwei weitere.«

Benoît sah ihn überrascht von der Seite an.

»Sie kennen sich aber gut aus, arbeiten Sie in der Sicherheitsbranche?«

»Keineswegs«, antwortete Nicolas und stand auf, so wie alle anderen Gäste, als die Orgel einsetzte und die Braut mit ihrem Vater durch das Portal schritt.

»Die tragen wirklich alle dunkle Anzüge«, flüsterte Benoît. »Weißes Hemd, dunkle Krawatte … ehrlich gesagt, Sie tragen einen ziemlich ähnlichen Anzug, man könnte fast meinen …«

»Sie ist wirklich wunderschön«, sagte er rasch, als die Braut in diesem Moment an ihnen vorbeikam. Zwei Blumenmädchen liefen direkt hinter ihr, einige Gäste machten Fotos, die Blicke der Umstehenden wurden weich, und ein Lächeln legte sich auf die Gesichter. Es schien, so kam es Nicolas in diesem Augenblick zumindest vor, nichts Magischeres zu geben als eine Braut, die den Gang zum Altar entlangschritt, geführt von ihrem Vater und erwartet von ihrem Bräutigam.

Nicolas wartete, bis die Braut fast den Altar erreicht hatte, das Licht, das durch die Fenster schien, verlieh ihrem weißen Kleid einen bläulichen Schimmer. Dann beugte er sich zu seinem Sitznachbarn.

»Ich bin gleich wieder da.«

Nicolas zuckte selbst zusammen, als er sich jene Wörter aussprechen hörte, die ihn so viele Jahre begleitet hatten. Julie hatte sich mit genau diesen Worten von ihm verabschiedet, vor so langer Zeit in einem Konzertsaal in der Avenue Montaigne. Wörter, die einer anderen Zeit entsprangen – und doch wusste er, dass es letztendlich diese Wörter warten, die ihm die Träume schickten in der Nacht, bis hierher in den äußersten Norden der Normandie. Der Hund, der Schatten über dem Wasser, der Schuss und der Tod, vor dem es kein Entrinnen gab – die Ursache für all dies lag in diesen Wörtern.

Benoît sah ihn entsetzt an: »Sie wollen jetzt … ich meine, es geht doch gleich los!«

Aber da hatte Nicolas sich bereits aus seiner Bank geschält und ging im Schatten der Pfeiler Richtung Ausgang. Er zog sein Handy aus der Tasche und hielt es einem der Sicherheitsleute mit einer entschuldigenden Geste hin.

»Anruf aus Paris, meine Firma. Entschuldigen Sie, ich muss kurz raus«, flüsterte er beschwichtigend.

Der Mann warf ihm einen strengen Blick zu, winkte ihn dann jedoch durch das Kirchenportal.

»Sagen Sie meinem Kollegen draußen Bescheid, wenn Sie wieder reinwollen.«

»Vielen Dank.«

Ein leichter Wind war aufgekommen, der kurz in die Kirche strömte, als er die Tür aufstieß. Er wollte gerade seine Sonnenbrille aufsetzen, weil das grelle Licht über den Klippen ihn blendete, als er sich noch einmal umdrehte und den Gang entlang zum Altar sah.

»Monsieur, bitte gehen Sie nun hinaus, ich muss die Tür schließen.«

Der Vater der Braut übergab seine Tochter an den zukünftigen Ehemann, der Priester hob seine Arme und bat die Hochzeitsgesellschaft, sich zu setzen. In der ersten Reihe war ein lautes Schniefen zu hören, die Orgel verstummte.

Das Brautpaar setzte sich auf die beiden weiß bezogenen Stühle.

»Monsieur, bitte.« Der Sicherheitsmann berührte ihn am Arm.