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Cathy erfährt mit 35 Jahren von ihrem tot geglaubten Vater, dass sie einer Spezies mit besonderen Kräften angehört. Nach einem Angriff der Schattenwesen flieht sie mit dem Anführer Clay, zu dem sie eine mysteriöse mentale Verbindung hat, in die Appalachen. Dort begegnen sie dem feindseligen Anführer Alister, der Cathy ablehnt und jede Menge Ungereimtheiten aufwirft. Während Cathy ihre Herkunft und die Verbindung zu Clay zu verstehen versucht, entdeckt sie endlich ihre eigene Fähigkeit. Doch mit jedem Schritt vorwärts nehmen die Rätsel und Komplikationen zu.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Erwachen
Roman
von
Eve Silverwind
Auflage im April 2025, veröffentlicht über epubli,
Enthält Rechtschreibkorrekturen
www.evesilverwind.de
ISNI 0000000523764975
Eve Silverwind wird vertreten von Evelyn Heine Ulmenweg 22 06231 Bad
Dürrenberg
Alle Rechte liegen beim Urheber, Illustrationen wurden mit KI erstellt
Alle Rechte bei Verlag/Verleger
Copyright © 2025, Eve Silverwind
www.evesilverwind.de
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a,
10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Auf der Suche nach Sinnhaftigkeit bin ich vielen kleinen Wahrheiten begegnet, doch keine davon gab mir letzten Endes das, was ich suchte. Ich meine die Momente, in denen ich fassungslos dastehe und nicht begreife, was gerade passiert. In den Sekunden, in denen es sich anfühlt, als würde mein Herz stehen bleiben, nur damit ich im nächsten Augenblick eine ganz neue Wahrnehmung für alles und jeden erhalte. Als würden alle Schatten, die über der Realität lagen, wie Schleier von meinen Augen fallen. Mir bewusstwerden, was ich tief drin schon immer ahnte: Dass das, was mir vorgelebt wurde, nicht der echten Wirklichkeit gleichkam. Als wäre mir bis dahin ein Spiegel vorgehalten worden, der mich das sehen ließ, was ich sehen sollte. Und während ich in den Spiegel sah, war da doch immer dieses Gefühl, dass alles nicht dem entsprach, was wirklich ist. Unfähig meine Vermutungen auszusprechen, folgte ich einer Lüge, die so viel einfacher anzunehmen war als die Wahrheit. Sie war bequemer und erschien realer, als alles, was sich dahinter verbarg, weil es so weit weg war von allem, was ich kannte oder mir beigebracht wurde. Eine dieser Erkenntnisse ist zum Beispiel: Glück ist endlich. Es ist begrenzt auf den Augenblick und die Erinnerung daran – doch niemand kann es festhalten oder zu sich zwingen. Für mich schien es immer besonders schwer, es zog an mir vorbei, wie Wolken am Horizont, nicht greifbar, flüchtig und nicht Teil meiner Welt. So wie nichts überhaupt Teil meiner Welt zu sein vermochte. Obwohl es Menschen gab, denen ich mich verbunden fühlte, brachen sie alle nach und nach aus meinem Leben, bis nur Verlust und Einsamkeit blieben. Ich fühlte eine gewisse Leere, die ich nicht zu füllen wusste. Selbst wenn ich glaubte, ich hätte etwas oder jemanden gefunden, spürte ich immer diesen kleinen, dunklen Fleck in mir, sowie das unstillbare Verlangen, endlich die eine Sache zu finden, die meine Sehnsucht stillen würde. Doch so sehr ich auch suchte – im Außen wie im Innen: Nie entdeckte ich etwas, das von Dauer über den schmerzlichen Hohlraum herrschte und ihn beseitigte. Ich fühlte mich fremd, stellte in Frage, ob ich überhaupt in diese Welt gehörte. Ich hegte düstere Gedanken und stellte alles und jeden – letzten Endes sogar mein eigenes Leben in Frage. Vielleicht war es ja nicht geplant, dass ich hier und jetzt zu dieser Zeit auf Erden weile. Womöglich war es ein Fehler der Schöpfung oder ich habe mir mein Dasein durch eine List erzwungen. Musste nun Buße dafür tun, damit meine unendliche und nie sterbende Seele diese körperliche Erfahrung machen konnte. Ich empfand mein Leben als Strafe und ich dachte darüber nach, ob es eine frühere Schuld gab, die ich begleichen musste, indem ich dieses Leben führte. Nur so konnte ich mir die unglaubliche Last auf meinem Herzen erklären.
Auch wenn ich scheinbar nie ankommen werde, an dem Punkt, an dem alles echt ist, wahrhaftig ist. Rein, unbefleckt und ich mich frage, wie viele Jahre es noch dauern mag oder ob ich je diesen Punkt erreichen kann. Nur eins weiß ich – egal wie es sich verhalten mag, ich werde dabei sein. Ich werde Zeuge meiner eignen Geschichte sein, so wie ich es schon immer war – und letzten Endes, bevor ich diese Welt verlasse, werde ich wissen, wie es ausgegangen ist.
***
KAPITEL 1
Als ich ein Kind war, glaubte ich an Magie. Die Art von Magie, die alles möglich machte. Es gab keine Bedenken, keine Ängste – nur vollkommenes Vertrauen. Ich hätte als Kind in Betracht gezogen, irgendetwas sei nicht machbar. Ich zweifelte nicht, dass alles für mich zur Verfügung stand, was ich mir ersehnte. Auch später noch, als ich erwachsen wurde, glaubte ich an die Güte dieser Welt. An ihre Herrlichkeit, an den Zauber, den sie versprühte. Über alle Enttäuschungen, Blendungen und Betrüge hinweg erhielt ich mir die Fähigkeit das Wunderbare in der Welt zu sehen. In einem Sonnenaufgang, dem Morgentau auf frischem Gras, dem Meer und seiner unendlichen Kraft – all das war Schönheit für mich und berührte nicht nur mein Herz, sondern auch meine Seele. Wie hätte ich auch je abstreiten können, dass unsere Welt in ihrem Wesenskern pure Schönheit war, wo ich gerade in diesem Moment einen Anblick genoss, der mich mit Demut erfüllte.
Ich befand mich einige tausend Meter über der Erde in einem Flugzeug, das gerade über die Appalachen flog. Um diese Jahreszeit war das Blattwerk teilweise schon gelb, an manchen Stellen rot verfärbt. Ein kleiner, glasklarer Fluss schlängelte sich durch die kompliziert erscheinenden geografischen Gebilde. Unter uns zogen große Greifvögel ihre Bahn. Ich konnte unser Ziel durch die geöffnete Heckklappe, an der ich stand und hinuntersah, erkennen. Der Wind blies mir straff die langen Haare aus dem Gesicht und streifte meine nackten Arme. Ich kostete dieses Gefühl aus, denn es verhieß Freiheit. »Macht euch bereit«, schrie einer unserer Begleiter. Er würde nicht mit uns kommen, denn wir verteilten uns über die ganze Welt. Wir waren in einer Lage, in der wir Unterschlupf suchen und uns still verhalten mussten. Unter uns befand sich das Versteck, welches für mich und meinen Partner Clay zugedacht war. Ebenfalls in die Tiefe blickend stand er neben mir. Mir war unklar, ob er den Anblick ebenso genoss oder ob ihm etwas mulmig war angesichts der Sache, die wir gleich tun würden. Wir nickten uns zu, um unsere Bereitschaft zu signalisieren.
Ich sammelte die Kraft in meiner Mitte, die ich dort vor einigen Monaten entdeckt hatte und mittlerweile beinah perfekt für mich nutzen konnte. Leichtfüßig stieß ich mich vom Boden des Flugzeuges ab. Innerhalb einer Millisekunde war mein Körper in der Luft. Ein leichtes Kribbeln fuhr mir durch den Magen, als würde man Achterbahn fahren und gerade eine steile Kurve nehmen. Das Adrenalin schoss mir in die Venen, surrte, angenehm wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Es fühlte sich natürlich an – frei. Als wäre das der Zustand, für den ich geboren war.
Während ich fiel, neigte ich meinen Kopf zur Seite, um einen Blick auf die wunderschönen Berge zu erhaschen – und auf meinen Partner. Doch zu meinem Erstaunen war er nicht nervös oder zeigte irgendein Zeichen von Angst, sondern genoss die Sache genauso, wie ich. Ich nutzte die wenigen Sekunden, die mir dafür blieben, um dieses Bild in mir zu speichern. Seine goldbraunen Augen schauten mich warmherzig an. Ein wissendes Lächeln lag auf seinen Lippen. Als Vorbereitung auf das, was gleich geschehen würde, streckte ich meine Hand nach ihm aus. Im selben Moment, in dem sich unsere Finger ineinander verschlangen und sich Wärme zwischen ihnen ausbreitete, wurde seine Miene ernst. Ich spürte die Wirkung meiner Kraft. Tief in mir wogte sie auf. Ihre starken Wellen leckten von innen an mir, wollten mich drängen, beinah hetzen. Sie wollte angesichts der Gefahr des sicheren Todes entfesselt werden. Ohne Fallschirm unterwegs war sie meine einzige Rettung.
Als ich nach unten sah und kurz die Augen schloss, explodierte meine Kraft beinah zeitgleich mit der von Clay. Ich spürte ihren schützenden Kokon, der uns vor dem Aufprall in dem Fluss unter uns schützen würde. Es war wie Sonne, die in mich hinein wogte und mich mit ihrer Wärme von innen erhellte. Wie weiches Karamell, in das ich hineingezogen wurde. Während wir in den Fluss eintauchten, musste ich lächeln. Beinah kreischte ich wie ein kleines Kind in freudiger Erwartung auf die kalten Spritzer des Wassers. Doch es durchdrang den Kokon nur in winzigen Tröpfchen, die nicht auf uns einschossen, sondern um uns tanzten, als würden sie unserem Herzschlag gehorchen. Wie in einer Art Schneekugel wurden wir davon eingeschlossen. Hätte ich bis hierhin nicht an die Schönheit der Welt geglaubt, so wäre sie in diesem Moment absolut unbestreitbar gewesen.
Clay lächelte, die Hände ebenfalls schützend vor dem Gesicht. Auch er schien fasziniert, denn so hatten wir die Verbindung unserer Kräfte noch nie getestet. Ich tat mich immer etwas schwer damit, unsere Grenzen zu verschmelzen. Ich fürchtete zu tief in seine Gedanken einzudringen und wollte das letzte bisschen Privatsphäre, das uns noch blieb, bewahren.
So berauschend es auch war, wir konnten den Moment jenseits unserer Probleme nur kurz genießen. Immer noch auf der Flucht blieb uns nicht viel Zeit. Wir tauchten vollkommen trocken aus dem Fluss auf. Die Motoren der Maschine waren noch zu hören, auch wenn wir sie am Horizont kaum mehr ausmachen konnten.
»Fertig?« Clays Ton war, genau wie seine Miene, ernst. »Fertig.«
Die Höhle, in der wir Unterschlupf finden sollten, befand sich direkt hinter dem Wasserfall, der keine hundert Meter vor uns kraftvoll in den Fluss zu unseren Füßen fiel. Wirkte er aus der Luft schon beeindruckend, so wirkte nun seine ganze majestätische Kraft auf mich. Noch immer verfiel ich in Ehrfurcht vor solcher Schönheit, die die Natur uns darbot.
Wir gingen um den Wasserfall herum. Unsere Anweisungen lauteten, dahinter einen kleinen Weg zu folgen, den wir erst erkennen konnten, als wir unsere Kräfte darauf fokussierten. Er war von einem starken Zauber geschützt. Vielleicht wurde er von Rebecca gesprochen – eine unserer besten Zaubersprecherinnen aus New York. Falls sie hier sein sollte, freute ich mich auf das Wiedersehen mit ihr. Wir mussten den Weg nicht lange folgen, als wir die Anwesenheit von Leuten unserer Art spürten. Zwar fühlte es sich nicht wie die Verbindung zwischen mir und Clay an, aber unseresgleichen konnten wir immer wahrnehmen. Langsam arbeiteten wir uns durch die Masse an Leuten, die hier Unterschlupf fanden. Ein paar klopften uns auf die Schulter oder fielen uns um den Hals. Sie bekundeten, wie froh sie wären, uns wohlauf zu sehen oder grüßten mit einem freundlichen Nicken.
Und dann sah ich ihn.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn an diesem Ort finden würde. Gehofft – das ja. Doch Hoffnung kann ein fieser Betrüger sein, darum legte ich nicht allzu viel Gewicht in diese Emotion.
Als er nun direkt vor mir stand, wurde mir klar, wie sehr ich mir gewünscht hatte, ihn hier endlich wieder zu sehen. Ich rannte, ohne lange nachzudenken los – direkt in seine Arme. Er drückte mich fest an sich und wirbelte mich einmal herum.
»Vorsicht, junge Dame.« Zwinkerte er mir zu und drückte mir mit einem glücklichen Lächeln einen Kuss auf die Wange.
»Ich hatte solche Angst, dich schon wieder verloren zu haben«, sagte ich, während ich nicht gewillt war ihn loszulassen. Seine Nähe und Wärme zu spüren, führte mir vor Augen, wie mein früheres Leben ohne ihn ausgesehen hatte. In dem Glauben eine Halbwaise zu sein, lebte ich ein von Leere und dem Gefühl der Hilflosigkeit bestimmtes Leben, bis zu dem Tag, an dem sich alles für immer für mich veränderte.
***
Der besagte Tag, an dem mein neues Ich erwachte, war einer dieser Tage, an dem sich mir ein Stück mehr der Wahrheit offenbarte. Und er lag einige Monate zurück.
Ich dachte an diesem grauen Tag im Oktober, ich wäre in einem meiner lebhaften Träume gefangen, die sich schon immer echter für mich anfühlten als die Realität selbst. Lebendiger, viel mehr nach der Person, die ich eigentlich sein sollte. Darum ging ich davon aus, als mein vor zwanzig Jahren verstorben geglaubter Vater vor mir stand, dass ich noch immer tief schlafend in meinem Bett lag und nicht vollkommen abgehetzt und erschöpft von einem anstrengenden Tag nach Hause kam.
Und doch, konnte ich mich an die Details dieses Tages sehr real erinnern. Wie ich mir bereits am Morgen im Büro einen Kaffee über die Jacke gekippt hatte und ich deswegen dazu gezwungen war, sie abzulegen. Das missfiel mir vor allem deswegen, weil man so mehr von meinen Kurven sehen konnte. Ich fühlte mich manchmal nicht wohl in meinem Körper, obwohl er im Spiegel betrachtet ganz okay zu sein schien. Meine langen, hellblonden Haare öffnete ich deswegen, damit sie mir auf die Schultern fielen und ich mich etwas abgeschotteter von der Welt fühlte. Eigentlich unnötig, denn ich ging sowieso unter, in der Masse an Angestellten im Büro, doch irgendwie fühlte ich mich trotzdem beobachtet und unwohl. Später, beim Frühstück biss ich mir so kräftig auf die Lippe, dass sie blutete. Das konnte man nicht träumen, oder? Ich prüfte die Verletzung im Spiegel der Bürotoilette und mich blickten müde, blaue Augen an, die einst ein Strahlen innehatten, dass mir nun fremd war. Meine Lippe war geschwollen, aber nicht so, dass es aufgefallen wäre, denn meine Lippen waren ohnehin sehr voll. Ich fuhr mit der Zunge meine Lippe ab - ja, die Verletzung war da, ich schmeckte noch das Eisen in meinem Mund.
Und doch, ergab es keinen Sinn, dass nun mein toter Vater vor mir stand. Ich kannte diese nächtlichen Szenarien, die mich seit seinem Verschwinden immer wieder plagten. Sie hatten viele Facetten angenommen, doch in einem waren sie alle gleich: Mein Vater lieferte mir jedes Mal eine glaubwürdige Erklärung dafür, wo er abgeblieben war und wir erlebten danach so eine Art »happy after ever«. Zum Beispiel war er Teil eines geheimen Regierungsprojektes oder der Erste, den man von einer unheilbaren Krankheit heilte. Letzten Endes fand er in all diesen Träumen immer einen Weg, zu mir zurückzukehren. Und ich war jedes Mal überglücklich, meinen heiß geliebten Vater zurückzubekommen. Das war die Stelle an der ich meistens, mit Tränen in den Augen, aufwachte. Doch als er an diesem Tag vor mir stand, sagte er etwas so Abwegiges zu mir, wie es in keinem meiner Träume je hätte stattfinden können. »Cathy, du bist etwas Besonderes.«
Der Klang seiner Stimme verpasste mir einen Schock. Meine Fassung war nicht so stark, wie geglaubt und der Schlüssel, mit dem ich gerade den Hausflur meines Wohnblocks aufgeschlossen hatte, entglitt meinem lockeren Griff. Klirrend kam er zu Boden. Ein Geräusch, so wirklich und real, es passte nicht zu dem, was hier gerade geschah.
Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen: Keine Erklärungen, keine Ausflüchte, keine Geschichte, die mich unweigerlich auf ein Happy End zutrieben, nur die vertraute Stimme meines Vaters. In meinem Hals bildete sich ein Kloß, Tränen wollten in meinen Augen brennen. Ich musterte ihn von oben bis unten, wagte kaum, dabei Luft zu holen. Ich hatte tausend Fragen im Kopf, aber keine davon wollte mir über die Lippen kommen. Ein Teil von mir wollte ihm meine Verzweiflung entgegen schreien, während andere Teile in mir zwischen »Ist das dein Ernst« und »Hast du eine Ahnung, wie schwer es ohne dich war« gefangen waren.
»Du bist nicht einen Tag gealtert«, stellte ich schließlich stoisch fest und ohrfeigte mich innerlich für die Benennung dieser vollkommen unwichtigen Tatsache. Doch vielleicht war mein Gehirn gar nicht so benebelt, wie ich dachte und funktionierte einfach nur vollkommen logisch. Denn wie konnte das sein? Wie konnte jemand in zwanzig Jahren nicht um einen Tag gealtert sein, der eigentlich tot sein sollte? Und als wäre das alles noch nicht verwirrend genug, blieb die Erklärung, auf die ich hoffte, noch immer aus.
»Wir haben nicht viel Zeit«, entgegnete er auf meine Feststellung. »Nein?«, fragte ich mit staubtrockener Zunge. Ich wog in Gedanken die Bedeutung ab. Würde er mich etwa wieder verlassen? »Nein, wir müssen gehen.«
Was zur Hölle meinte er damit?
»Wohin gehen?«
»Das erkläre ich dir unterwegs«, versprach er und ließ weiterhin alle Fragen offen. Mit ausgestreckter Hand kam er auf mich zu, hielt sie mir entgegen, während er sich bückte und mit der anderen meinen Schlüssel aufhob. Nur am Rande nahm ich wahr, wie meine Hand sich ferngesteuert auf seine zubewegte, ihn erst zaghaft berührte, dann fest zugriff, als könnte ich so diese surreale Situation gleich mit festhalten und kontrollieren. Doch seine warme Haut stellte meinen Verstand vor ein neues Rätsel, schließlich hatte ich die eiskalte Hand eines Toten erwartet.
Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Frau, über deren Körper ich keine Kontrolle mehr hatte, folgte den Mann, der vorgab ihr Vater zu sein, hinaus auf die Straße. Die kalte, frische Luft traf mich wie ein Schlag, weckte all meine Sinne und ließ meinen Puls um ungefähr zweihundert Schläge anwachsen. Lief ich hier gerade mit einem wildfremden Mann durch die Stadt, der vorgab, mein Vater zu sein? War die Verzweiflung in meinem Leben, die unermessliche Einsamkeit wirklich so unerträglich geworden, dass ich bereit war, alles zu glauben? Ich hatte noch Überlebenswillen, durchaus. Ich konnte ihn wahrnehmen, jeden Tag, wenn ich mich fragte, ob es sich wirklich lohnte aufzustehen. Wenn ich gegen die bleierne Schwere ankämpfte, die sich um mein Herz gelegt hatte und sich Stück für Stück auch in meine Seele gefressen hatte. Doch um darüber nachzudenken, blieb keine Zeit. Ich konnte nur meiner Intuition folgen und die schrie förmlich danach, mit ihm zu gehen. Wir bogen zweimal um den Block. Dort stand, in einer Seitenstraße geparkt, ein dunkler SUV, auf den wir direkt zuhielten. Der Anblick des Wagens löste in mir weniger angenehme Gedanken aus. Entführung, Erpressung, Mord. All das kam mir in den Sinn und ich zerrte wie wild an der Hand, die der Mann an meiner Seite locker hielt. Ohne großen Widerstand gab er sie frei, blieb abrupt stehen und sah mich sorgenvoll an.
Die Narbe an seiner Schläfe war immer noch da. Ich kannte sie genauso gut, wie die Geschichte dazu: Er hatte sie von einem Badeunfall in jungen Jahren davongetragen. Doch das war nicht der Grund, warum ich jedes Mal so fasziniert von dieser Narbe war. Dies war viel mehr der Tatsache geschuldet, dass er so meine Mutter kennen lernte, die sich zu dieser Zeit in einem Praktikum auf der Krankenstation, auf der er behandelt wurde, befand. Er sagte immer, an dem Tag wurde ihm sein zweites Leben geschenkt-Worte, deren Bedeutung ich nie ganz verstand, denn so lebensbedrohlich war die Verletzung nicht. Dann fiel mir auf, wie wir bis hierher gelangt waren. Der Rhythmus seiner Schritte passte genau zu meinen. Gleichmäßige, nicht allzu hektische, aber schnelle Schritte - so wie ich sie hunderte Male an mein Kinderzimmer herankommen hörte, als wir noch in einem kleinen Haus am Rande der Stadt gelebt hatten.
Immer mehr zerstörte sich das Bild von dem Traum und dem Bett, in dem ich noch lag und dem Erwachen, welches all das ungeschehen machen würde. »Du musst mir vertrauen.«
Keine Frage, eine Forderung und doch war sein Blick weich, beinah flehend. »Ich möchte dich nicht noch einmal verlieren, Cathy.«
Ich konnte mich nicht rühren. Tausend Fragen schossen auf mich ein. So viele, dass ich nicht wusste, welche ich zuerst stellen sollte. »Komm bitte mit dir in den Wagen. Ich werde dir alles erklären.« Im Nachhinein kann ich nicht mehr sagen, was genau mich dazu bewegte, weiter mit ihm zu gehen, und schließlich in den Wagen zu steigen, doch kaum hatten wir die Türen hinter uns geschlossen, schoss der Wagen förmlich davon. »Wo fahren wir hin?«, verlangte ich zu wissen. Mir entging dabei das Zittern meiner Stimme nicht. Obwohl ich funktionierte, wie ich es unter Schock immer tat, war ich von einer gewissen Skepsis erfüllt.
»Zu unseren Leuten.«
»Unseren? Was für Leute? Und wo bist du gewesen?« Die Fragen, die immer noch wild durch meinen Kopf purzelten, kamen unkontrolliert heraus. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht die Fassung zu verlieren oder durchzudrehen. Noch immer war ich unsicher, ob ich hier gerade das Richtige tat oder mich selbst in eine echt miese Lage brachte. In Gedanken ging ich durch, wem mein Verschwinden als Erstes auffallen könnte, doch leider vielen mir nur die Kollegen auf Arbeit ein. Die eine Freundin, die ich hatte, wohnte quasi am anderen Ende des Landes und war nichts Ungewöhnliches, wenn wir monatelang Funkstille hielten.
»Ach Cathy.« Das leichte Keuchen in der Stimme meines Vaters brachte mich dazu, ihn genauer anzusehen. Er sah verzweifelt aus, müde und fertig, selbst unter all der Jugendlichkeit, die ihm erhalten geblieben war. In seinen Augen standen Sorgen, die weit älter zu sein schienen als die Menschheit selbst. Was war ihm bloß widerfahren? Plötzlich tat mir leid, dass ich so auf ihn reagierte. Was, wenn er tatsächlich mein Vater war?
»Das muss alles verwirrend für dich sein.«
Verwirrend war nicht der Ausdruck, der mir auf der Zunge lag, trotzdem blieb mir eine überspitzte Bemerkung im Halse stecken. Ich schloss stattdessen die Augen und versuchte bis drei zu zählen.
»Was geht hier vor sich?«, fragte ich schließlich, so ruhig ich konnte. »Wir beide sind Teil eines größeren Ganzen.« Sein Blick wanderte nach draußen auf die Straßen. Er sah die Leute auf den Gehwegen an, als würden sie nicht zu seiner Welt gehören. Er musterte sie mit Bedauern und als sein Blick schließlich wieder den meinen traf, war ich mir ganz sicher hellwach zu sein. Und das alles, was gerade geschah, einfach nur echt war. Irgendetwas in meinem Herzen schrie förmlich danach, dass ich jetzt in diesem Augenblick ganz genau hierhergehörte. Mit wem auch immer er war, wo auch immer wir hinfuhren. Es musste so sein, denn es fühlte sich richtiger an als alles, was ich jemals in meinem Leben getan hatte. Etwas in mir rückte sich gerade, als würden die Zahnräder, die so lange hatten funktionieren wollen, endlich ineinandergreifen und etwas in Bewegung setzten, was Sinn ergab.
Während mein Vater mich musterte und begriff, was sich in mir abspielte, wurde sein Blick weicher. Fast glaubte ich, ein Lächeln wollte sich auf seinen Lippen abzeichnen, obwohl er sich sichtlich schwertat, den Mund wieder zu öffnen, um mir etwas zu sagen, was immer für alles und unaufhaltsam verändern würde. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, glaubte er, er würde mir etwas Furchtbares antun, von dem er mich nie wieder befreien konnte. Und so war es letztendlich auch, selbst wenn ich es aus heutiger Sicht nicht mehr so empfinde. Alles, was von diesem Augenblick an geschah, war wie ein Erwachen für mich, doch anders als sonst, begann der Traum erst danach.
***
»Ich konnte nicht mehr bei euch bleiben. Es ist uns nicht gestattet, mit normalen Sterblichen zusammen zu leben. Glaube mir, es war die schwerste Sache, die ich je in meinem Leben tun musste – dich und deine Mutter zu verlassen, euch eurem Leben zu überlassen. Bestenfalls nur als Beobachter zu fungieren. Ich zögerte es so lange heraus, wie es nur ging, doch letzten Endes musste ich gehen, denn mit meinem Bleiben brachte ich euch in Gefahr.« »Normale Sterbliche?«, fragte ich, als hätte ich alles andere nicht gehört. »Den Menschen.« Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Inneren bildete. Die Worte waren einfach, doch ihre Bedeutung wog schwer. Wie konnte so etwas überhaupt sein?
Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus. Mein Körper wollte mit Panik reagieren, mein Verstand versuchte, ruhig zu bleiben. Ein seltsames Gefühl, passend zu allem, was in den Minuten davor geschehen war.
Ganz vorsichtig öffnete ich den Mund, wisperte die Worte, die ich ausprobieren wollte, nur ganz zaghaft. »Ich bin kein Mensch?« Es hörte sich nicht so verrückt an, wie es hätte sein sollen.
»Richtig, Cathy. Und unsere Spezies hat Feinde, die nicht nur uns, sondern die ganze Menschheit bedrohen.«
Ich konnte nichts erwidern. Natürlich wäre es logisch, wenn ich annehmen würde, dass alles, was er sagte, stimmte, wenn er und ich nicht die Einzigen sein konnten, die anders waren. Doch ich konnte es nicht einfach akzeptieren. Es war zu viel auf einmal. Obwohl alles in mir nach diesen Antworten verlangte, die ich nun bekam, hätte ich am liebsten die Pause Taste gedrückt und all die »guten Nachrichten« lieber in Stücken serviert bekommen. Doch irgendetwas sagte mir, dass dies hier eher eine Achterbahnfahrt, als ein Spaziergang werden würde. »Darum bin ich gegangen«, fuhr Aron auf mein Schweigen hin fort. »Ich habe euch immer einer realen Gefahr ausgesetzt. Einer Gefangennahme zum Beispiel. Ihr wärt ein gutes Druckmittel gegen mich gewesen. Ich hätte mir nie verziehen können, wenn sie euch etwas angetan hätten. Letzten Endes konnte ich das nicht länger verantworten. Damals war mir noch nicht klar, ob du genauso werden würdest wie ich – Angehörige unserer Art pflanzen sich selten mit Menschen fort, da sie meisten keine wirklichen Beziehungen aufbauen können. Sie fühlen sich fremd unter Menschen – anders, isoliert.«
Er sah mir fest in die Augen und ich spürte, wie die Tränen, die schon die ganze Zeit Oberhand gewinnen wollten, sich ihren Weg in die Freiheit bahnten. Was er schilderte, passte zu all den Qualen, die ich mit mir herumtrug, und nun gab es einen Freifahrschein, die Hoffnung, dass alles ein Ende haben könnte? Und noch dazu konnte ich rein gar nichts dafür. Es lag nicht an mir, es war vorherbestimmt. So einfach sollte es sein?
»Und diese Feinde sind auch hinter dir her«, setzte er seine Erklärung ungefragt fort. Die Achterbahn nahm wieder Fahrt auf, ich konnte kaum an einem Gedanken festhalten, kam schon der nächste Hammer. »Denn du stehst kurz davor zu erwachen und besondere Kräfte zu erhalten, die dich endgültig als eine von uns enttarnen würden. Damit würdest du ins Kreuzfeuer geraten und wir haben leider viel zu spät bemerkt, wie es um dich steht.« Er erklärte mir, dass unsere Leute einen Stützpunkt hier in New York hätten und wir auf dem Weg dorthin seien. Man würde mir dort all meine Fragen beantworten und mir helfen, wenn meine Kräfte zum Leben erwachten. Außerdem bot man mir Schutz und Verteidigung. Bei den meisten Details blendete mein Verstand einfach aus, doch ich war durchaus in der Lage, die Ernsthaftigkeit dahinter zu begreifen. Auch wenn vieles davon verrückt klang, wie aus einem Science-Fiction-Film, spürte ich tief in mir eine allgegenwärtige Wahrheit dahinter, als wäre diese seit Jahren vergraben gewesen und würde nun Stück für Stück hervorbrechen. Einem Teil meines Verstandes war klar, wie irrational es war, so zu denken. Dass es ein Komplott sein konnte, ich unter Drogen stand und mein Leben vielleicht doch in Gefahr sein konnte. Der Wagen hielt an und ich konnte nicht mehr sagen, wie lange wir gefahren waren. Als ich den SUV jedoch verließ, war ich erstaunt darüber, mich an einem so bekannten Ort wiederzufinden. Es war der Parkplatz eines großen Bürogebäudes, dessen Fassaden verglast, aber nicht durchschaubar waren. Bisher hatte ich es für einen Bankenkonzern oder Ähnliches gehalten. Dass sich dahinter etwas ganz anderes verbergen könnte, war mir bisher nicht in den Sinn gekommen.
»Kommst du?«
Mein Vater war bereits einige Schritte vom Wagen entfernt. Ich löste meinen Blick vom Gebäude, straffte meine Schultern, atmete die frische Herbstluft ein und ging schließlich in weitaus besserer Verfassung als noch vor wenigen Minuten auf ihn zu. Als ich ihm ein Lächeln schenkte, erhellten sich seine Augen, doch er unterdrückte das Verlangen, mir seine Hand zu reichen. Wir wussten beide, ich würde ganz freiwillig mit ihm kommen. Während wir uns dem Gebäude näherten, begann ich langsam, die Veränderungen zu akzeptieren. Es fühlte sich an, als ob diese Wahrheit schon immer tief in mir geschlummert hätte und nun endlich ans Licht kam. Die Vorstellung, dass ich kein Mensch war, war immer noch schwer zu begreifen, aber ich spürte, dass es eine Erklärung für vieles in meinem Leben war. Die Einsamkeit, das Gefühl, anders zu sein – all das machte plötzlich Sinn. »Ich werde dir alles erklären«, sagte mein Vater, als wir das Gebäude betraten. »Du wirst sehen, dass du nicht allein bist.«
Ich nickte langsam, bereit, mich den Antworten zu stellen, die ich so lange gesucht hatte. Schritt für Schritt begann ich, die neue Realität zu akzeptieren und die Wahrheit, die tief in mir geschlummert hatte, zu erkennen. Gemeinsam gingen wir die wenigen Meter bis zu einem Eingang, an dem zwei Wachleute eines gängigen Security-Services postiert waren. Das war nichts Ungewöhnliches in New York, schon gar nicht nahe der UpperEastSide. Mein Vater nickte ihnen zu, während sie uns kommentarlos passieren ließen. Nichts daran wäre auffällig gewesen, hätte es da nicht die kleine Veränderung in meinem Inneren gegeben. Als wäre ich durch eine Energiebarriere getreten und irgendwas in meinem Innersten wäre leicht verschoben worden und würde nun beginnen, sich neu zu ordnen. Das Gefühl war kaum zu beschreiben, doch es brachte mich dazu, kurz nach Luft zu schnappen und innezuhalten. Ich musterte meinen Vater, der von alledem nichts zu bemerken schien. Er stockte lediglich, als ich einen Schritt aussetzte, lächelte mich aber an und ermutigte mich, ihm weiter zu den Fahrstühlen zu folgen. Dort angekommen, zog er eine Chipkarte aus seiner Tasche, hielt sie gegen einen Scanner und die Türen öffneten sich.
»So eine wirst du auch bekommen«, erklärte er, während wir den Fahrstuhl betraten.
Mit jedem Stockwerk, das wir hinter uns ließen, begannen sich die Gefühle in meinem Inneren mehr und mehr zu verschieben. Ich spürte einen leichten Anflug von Euphorie, Vorfreude sowie einem Gefühl, welches ich damals nicht einordnen konnte. Ich weiß noch, wie seltsam es mir vorkam – hätte ich nicht aufgeregt oder besorgt sein sollen? Hätte nicht jede Faser meines Körpers danach schreien sollen mich in Acht zu nehmen, vorsichtig zu sein, kein Wort von dem, was mein Vater mir sagte zu glauben oder bei der nächsten Gelegenheit die Flucht zu ergreifen? Wäre das nicht vernünftig gewesen? Binnen nicht mal einer halben Stunde wurde mein Leben komplett auf den Kopf gestellt, doch die Idee, dass alles sei Betrug, wurde immer unwirklicher, schien beinah weniger wahrscheinlich als alles, was in diesem Moment geschah. Als wir endlich oben ausstiegen, bot sich mir ein Bild, welches ich so nicht erwartet hätte. Es gab unzählige Computerarbeitsplätze, die in langen Reihen zu beiden Seiten standen. Dazwischen verlief einen Gang, dem wir folgten. Alles war in hellen, schlichten Farben gehalten, der Fußboden aus grauen Fliesen und die Möbel von einem eher funktionellen Design. Es lagen die üblichen Schmutzfangmatten aus, die dem Ganzen doch wieder den Anschein von Normalität aufdrückten, als würde hinter der nächsten Ecke die junge Sekretärin des Chefs hervorgesprungen kommen und einem einen Kaffee anbieten, während man in einer gemütlichen Sitzecke warten konnte. Erst auf den zweiten, genaueren Blick stachen die Details heraus, die offenbarten, was hier wirklich vor sich ging. Überall waren Menschen, die mit Headsets in den Ohren telefonierten oder auf ihren Computern herumtippten. Was ich an Technik sah, war mir größtenteils fremd. Zum Beispiel liefen wir an einem 3D-Hologrammtisch vorbei, auf dem der Grundriss eines Gebäudes abgebildet war. Eine Gruppe von Leuten in schwarzen, modernen Lederklamotten stand darum. Sie sahen aus, als würden sie eine Lage- oder Kampfbesprechung durchführen und ihre gesamte Aufmachung erinnerte mich an Schauspieler aus Hollywoodfilmen wie Matrix oder Blade. Beinah erwartete ich, um die nächste Ecke einen Vampir oder Lykaner zu treffen, der von einem der Leute hier erledigt werden würde. Kurz kam mir sogar der Gedanke, diese mysteriösen Kräfte, von denen mein Vater gesprochen hatte, könnten tatsächlich etwas damit zu tun haben.
Ich schob meine Gedanken beiseite und widmete mich der ganzen Technik, die mir mit einer ungekannten Selbstverständlichkeit präsentiert wurde. Niemand schien Bedenken mir gegenüber zu haben, was wahrscheinlich daran lag, dass ich dieses Gebäude so schnell nicht wieder verlassen würde. Oder falls doch, nur unter Bewachung. Dass ich keines unserer Geheimnisse je freiwillig verraten würde und dass der Grund für ihre Offenheit war, kam mir da noch nicht in den Sinn. Uneingeschränktes Vertrauen erlebt man schließlich nicht jeden Tag. Einige musterten mich mit kritischem Blick. Das erste Mal fühlte ich mich etwas unbehaglich. Mit meiner hellen Jeans und dem farbenfrohen Oberteil fiel ich nicht nur auf, ich fühlte mich auch deplatziert.
Am Ende des Raumes lagen mehrere Büros, die zwar von Türen getrennt waren, aber aus Glasfronten bestanden. Mein Vater brauchte mich nicht führen, ich spürte genau, wohin ich gehen musste. Es fühlte sich an, als würde ich gelenkt oder von einem unsichtbaren Band direkt auf etwas zugezogen werden. Besser gesagt, auf jemanden, dessen Silhouette sich ganz klar durch das milchige Glas abzeichnete.
Als sich die Tür des Konferenzsaals öffneten, blickte er bereits in meiner Richtung. Ohne Zweifel erwartete er uns sowieso, doch auch er wirkte bei meinem Anblick verblüfft. Die wenigen Schritte, die uns trennten, nutzte ich, um ihn zu mustern.
Er überragte mich um etwas mehr als einen Kopf. Seine schwarze Lederkleidung saß an manchen Stellen etwas lockerer, an anderen enger. Ich erahnte die Muskeln, die sich darunter verbargen und fragte mich, wie oft er dafür trainieren ging. Sein Drei-Tage-Bart ließ sein ansonsten jung gebliebenes Gesicht markant erscheinen. Zu behaupten er wäre schön, war beinah untertrieben. Er war definitiv der Typ Mann, den Frauen im Vorbeigehen nicht nur musterten, sondern dem sie auffallen wollten. Wahrscheinlich schwangen die mit den Hüften, öffneten ihre Lippen leicht, drückten ihren Rücken durch, um sich in Pose zu setzen. Nur mit dem Ziel, dass er ihnen eine Millisekunde Beachtung zukommen lassen würde. Unter anderen Umständen, wenn heute noch irgendein Teil von mir dazu in der Lage gewesen wäre und wir uns zufällig auf der Straße getroffen hätten, wäre er mir sicher aufgefallen. Dann hätte ich mir Gedanken gemacht, um die Kaffeeflecken auf meiner Jacke oder meine geschwollene Unterlippe, hätte eventuell versucht, ihm ein Lächeln zu schenken. Aber heute, jetzt und hier nahm ich nur die offensichtlichen Dinge wahr. Das kurze, dunkle Haar passte perfekt zu seinen Augen, die braun, aber weder glatt noch emotionslos waren. Von verschiedensten Tönen durchsetzt, wirkten sie im Gegenteil lebendig und kühn. Doch das alles war es nicht, was mich fesselte. Es war die Art, wie er mich ansah. Als könne er tief in meine Seele blicken, sprachen seine Augen mehr als tausend Worte.
»Das ist meine Tochter, Cathy.« Ich hörte meinen Vater zwar sprechen, doch es klang für mich wie durch Watte. Der Unbekannte nickte kurz, wandte seinen Blick aber nicht von mir ab. Es war verrückt und ich fühlte mich wie in einer falschen Welt, weil dieses Gefühl, fremd zu sein, mit einem Schlag verschwand. »Ich bin Clay« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Ich bin hier der Anführer.« Als ich meine Hand mechanisch ebenfalls ausstreckte, dachte ich darüber nach, ob es ihm peinlich war, so bezeichnet zu werden – etwas in seiner Stimme klang für mich danach. Es war nur eine Nuance – für andere vermutlich nicht hörbar. Ehe ich mich jedoch weiter mit diesen Gedanken beschäftigen konnte, geschah etwas mit mir – vielmehr mit uns.
Kaum berührten sich unsere Hände, wogte etwas in mir auf. Wahrscheinlich fühlte es sich so an, wenn man vom Blitz getroffen wurde. Es war mächtig, stark und seine Intensität riss mich aus den Wurzeln meiner Existenz. Ich verlor den Halt und sank zu Boden. Gleichzeitig verschob sich etwas in mir und es fühlte sich an, als würde ich in zwei Hälften gespalten werden. Das Einzige, was mich in diesem Moment noch im Leben verankert hielt, war dieser unbekannte Mann.
Plötzlich war es, als würde ich alles von außen beobachten können und nicht mehr Teil des Geschehens sein. Ich konnte dabei zusehen, wie Clay neben mir in die Knie ging und schützend seine freie Hand in meinen Nacken legte, um meinen Kopf vor dem Aufprall zu bewahren. Verwirrender als diese Erfahrung war nur, dass ich den Eindruck bekam, die Zeit würde langsamer verstreichen, fast stehen bleiben. Nur um sich zu diesem einen, alles entscheidenden Moment wieder auszudehnen. Wäre es mir möglich gewesen, hätte ich mit Panik reagiert. So musste ich nur still ausharren, während ein Sturm in mir tobte, der alles von mir mit sich reißen wollte. Egal wie sehr ich es gewollt hätte, ich konnte es nicht verhindern, als diese Urgewalt seinen Weg aus mir herausfand und geradewegs auf Clay traf. Kaum hatte sie meinen Körper verlassen, flaute der Sturm ab und verwandelte sich in einen zarten Nebel aus reinem Licht, welcher uns umfing. Nicht fordernd – sondern eher wie eine Bitte, wollte es Clays Akzeptanz. Er verhielt sich so, wie man es von einem Krieger erwartete. Er wehrte sich, seine Muskeln waren bis zum Zerbersten gespannt, gewillt, diesen Übergriff nicht einfach zu tolerieren, sondern sich mit jeder Faser seines Körpers dagegen zu sträuben. Den Angriff, für den selbst ich das Ganze hielt, abwehren. Mein Schicksal schien besiegelt. Ich war verloren, auf ewig gefangen in diesem Moment.
Gerne hätte ich Wort für mein eigenes Leben ergriffen, doch ich war hier nur Darsteller, in einem Stück, dessen Fäden keiner von uns in den Händen hielt. Nicht fähig, etwas zu sagen, konnte ich nur abwarten und beten. Musste mich seiner Entscheidung – wie immer die ausfallen mochte – beugen. Mein Leben lag in den Händen eines Mannes, den ich nicht kannte. Doch dann gab Clay nach. Nur zögerlich, vorsichtig, ließ er das Licht gewähren. Testete aus, ob es sicher war, prüfte die Grenzen des Ganzen und mir wurde bewusst: Ohne sein Einverständnis konnte das, was hier geschehen wollte nicht existieren. Als er das Licht endlich in sich aufnahm, hätte ich vor Freude am liebsten geweint. Und wie als Antwort auf meine Gedanken flackerte das Licht noch einmal hell auf, ehe es verebbte und unser beider Leben für immer veränderte.
KAPITEL 2
Nachdem ich wieder zu mir gekommen war, war das Erste, was ich überhaupt wahrnahm, die Veränderung an mir.
Ich fühlte mich stark, kraftvoll, als könnte ich auf eine Quelle ewiger Energie zugreifen. Da brodelte ein kleiner Vulkan in mir, den ich versuchte zu greifen, zu erforschen. Je mehr ich meine Fühler ausstreckte, umso klarere wurde mir, es war kein Vulkan, sondern eher ein Quell strahlenden Lichts, das in mir wogte, mich von innen wärmte und erfüllte.
Überraschenderweise war es weder beängstigend, noch löste es irgendeine Art der Unruhe in mir aus. Im Gegenteil war es schön, beinah berauschend. Jede Zelle in mir fühlte sich an wie neu erschaffen, meine Haut spannte und kribbelte, als wäre sie ein wenig zu eng für meinen Körper. Natürlich war das absurd, ich war ja nicht gewachsen oder in einen Jungbrunnen gefallen. Obwohl ich mir schon damals denken konnte, dass Faltencreme für mich nie ein Thema werden würde. Mein Atem ging ruhig und flach, fast als hätten meine Lungen sich nie mit dem Staub und Dreck einer Großstadt plagen müssen. Als wäre alles in mir reingewaschen, befreit von allem, mit dem ich mich als Mensch je herumplagen musste.
Ich fühlte mich nicht nur wie neu geboren - ich war es auch. Das zweite, was sich wahrnahm, war das Bett, auf dem ich lag und der Sensor an meinem Finger. Ich schlug die Augen auf und war beinah geblendet von den tausend Farben, die plötzlich auf mich einschossen. Als könne mein Auge nun weitaus mehr Facetten von allem, was mich umgab, erfassen. Ein Blick auf den Monitor zeigte meine Herzfrequenz und die Sauerstoffsättigung meines Blutes. Soweit ich das beurteilen konnte, war ich auch rein klinisch topfit. Dass es trotzdem irgendein Problem geben musste, verrieten mir die Wachen vor dem Zimmer, in dem ich mich befand. Natürlich waren die Wände aus Glas, so wie im Rest des Gebäudes. Nur ein Sichtschutzstreifen in angemessener Höhe brachte etwas Privatsphäre, ließ aber dennoch den Blick nach draußen zu. Wie groß der Schlamassel, in den ich mich geritten hatte war, wurde mir erst bewusst, als die freundliche Schwester, die auf meine Bewegungen hin hereinkam, mir erklärte, dass ich vorerst in diesem Raum bleiben musste. Erst viel später erfuhr ich den Grund dafür. Im Nachhinein betrachtet, war ihr Verhalten nur logisch, denn was zwischen ihrem Anführer und mir passiert war, sollte so nicht vonstattengehen. Normalerweise blieben Anwärter zwar einige Zeit dort, aber sie waren auch noch in ihrem Leben, welches sie bis dahin führten, verankert. Konnten den Abschied, der unweigerlich folgen musste, vorbereiten. Sorge dafür tragen, dass sich um zurückgelassene Angehörige gekümmert wurde. Schritt für Schritt wurden sie so in diese neue Welt eingeführt. Es gab spezielle Unterweisungen und Trainingseinheiten. Dieser Prozess dauerte für gewöhnlich Wochen oder sogar Monate. Abgeschlossen wurde das Ganze dann durch eine Zeremonie, bei der sie ihre Kräfte erhielten. Tja, da war mir wohl mächtig was durch die Lappen gegangen.
Das was mit mir geschehenen war, glich eher einer Naturgewalt, die ohne zu fragen über mich hereinbrach und für immer alles veränderte. Als kleinen Bonus betraf die ganze Sache nicht nur mich, sondern ich hatte es tatsächlich fertig gebracht ihren Anführer mit in die ganze Sache hineinzuziehen. Das war dann doch wieder typisch für mich. Es passte zum Rest meines bisherigen Lebens: Wenn es kam, dann kam es meist dick.
Das Dritte, was mir auffiel, war etwas, was ich zunächst nicht in Worte fassen konnte. Über die Euphorie meiner Veränderung hinweg war es zunächst nur wie ein Schatten all der Neuerungen. Doch nun, da die Schwester weg war und ich mit meinen Gedanken allein, wurde es immer präsenter. Denn so allein, wie ich glaubte, war ich nicht.
Ich hatte mich mehrfach davon überzeugt, dass sich in diesem Zimmer keine weitere Person befand. Und doch fühlte ich mich irgendwie beobachtet, obwohl es diese Umschreibung auch wieder nicht traf. Es war eher, als wäre da noch etwas in meinen Gedanken, was sie aber weder bestimmen noch kontrollieren konnte.
Immer wieder huschte das Bild dieses Mannes, Clay, an meinem inneren Auge vorbei. Immer wieder sah ich das Szenario zwischen uns, fragte mich, wie es ihm damit ging. Bis mir bewusst wurde, dass er sich mit denselben Fragen und derselben Unsicherheit herumschlug, wie ich. Und mir wurde klar, woher ich diese Gewissheit nahm: Ich konnte ihn spüren, wie einen Besucher, der in meinem Geist herumlief. Wie genau das funktionierte, wusste ich natürlich nicht. Ich nahm damals noch an, es würde sich um eine ganz normale Nebenwirkung dieses ganzen Ärgers handeln, den ich uns beiden eingebrockt hatte. Dass es von diesem Tag an allerdings für immer so bleiben würde, war mir absolut nicht im Klaren. Ich nahm an, es würde abebben, wenngleich ich bei diesem Gedanken auch traurig wurde. Irgendwie war die Vorstellung tröstlich, nie wieder wirklich allein sein zu müssen. An Probleme, die diese Verbindung mit sich bringen könnte, verschwendete ich damals keine Gedanken. Warum auch? Es war ein schönes, beinah natürliches Gefühl. Fast so, als hätte es so schon immer sein sollen. Vor lauter Glück wusste ich damals gar nicht, wohin mit mir und meinen Gedanken. Sorgen und Ängste schienen plötzlich meilenweit weg. Und genau an dem Punkt kam ich tatsächlich ins Stocken. Die Natürlichkeit, mit der ich das alles hinnahm, war nicht normal, oder? Wenn ich mir selbst vor Augen führte, wie ich meine Umwelt wahrnahm und wie selbstverständlich mir das alles vorkam, lag die Möglichkeit nahe, dass ich mich unter dem Einfluss von Drogen befand. Auf irgendeinem berauschenden Trip war, der die Realität anders darstellte, als sie es vielleicht war. Durch meinen Beruf wusste ich, dass dafür Halluzinogene in Frage kommen konnten. Und wie wahrscheinlich konnte es schon sein, dass ausgerechnet ich von nun an so etwas wie eine Auserwählte mit geheimnisvollen Kräften sein sollte. Wieso sollte ausgerechnet ich das Glück haben, meinen toten Vater wieder zu finden? Warum passierte das nicht allen Waisen auf diesem Planeten? So betrachtet war es absurd und kam mir doch immer mehr wie etwas vor, was ich mir zusammen spann. Vielleicht war es genau das, was ich brauchte, und ich baute mir eine Welt zusammen, in der ich noch in der Lage war zu existieren, denn mein normaler Alltag fraß mich immer mehr auf. Manchmal empfand ich sogar so etwas wie eine Abneigung gegen Menschen, wollte mich nicht in ihrer Nähe aufhalten und meldete mich öfter mal ein paar Tage krank. Ich verlor über die Jahre jeden Sinn für Humor, Sarkasmus und verlor jegliches Interesse an Freundschaften. Am Anfang war mir noch aufgefallen, wie ich mich veränderte und ich zwang mich, etwas dagegen zu tun. Lud Leute zu mir nach Hause ein, ging oft spazieren, an Orte mit vielen Menschen. Aber mit der Zeit wurde es mir egal. Ich empfand Ekel vor mir selbst und noch dazu wurde ich depressiv, weil ich glaubte, falsch zu sein. Ich traf Maßnahmen, um besser zurechtzukommen. In meinem Job, als Journalistin, war ich gezwungen mit vielen Menschen zusammen zu sein. Ich orientierte mich irgendwann Richtung Kriminalarbeit und suchte mir vorrangig die Stories aus, wo es um Tote ging. Die Anwesenheit der Leichen belastete meine Seele nicht. Ja, ich war ein seltsamer Mensch geworden, lebte zurückgezogen, abgeschottet und merkte, wie mir jeden Tag Lebensenergie entzogen wurde. Und nun das?
Es vergingen ein paar Minuten, in denen ich diese besonnen Gedanken zusammensammelte, doch sie wurden jämmerlich in den Schatten verbannt, als ich gerade zu hellseherisch wusste, dass sich im nächsten Moment die Türe öffnen würde und mir noch dazu glasklar war, wer eintreten würde. Sein Blick traf den meinen und ich erstarrte. Er sah mich an, als wäre er durch mich mit sich selbst in Konflikt geraten. Das wusste ich so genau, weil ich es zu allem Überfluss auch noch spüren konnte. Heiliger Bimbam! Stumm musterte er mich mit einer Mischung aus Verwunderung und Skepsis, sah mich nur so lange an, wie nötig. Es war mir unangenehm, als würde ich irgendeiner Art Prüfung unterzogen. Als würde er entscheiden, ob er mir trauen konnte, oder nicht. Oder vielleicht wusste er einfach nicht, was er sagen sollte. Wie er mir erklären sollte, was wir beide mit Gewissheit wussten. Also ging er wieder, genauso wortlos, wie er gekommen war. Und ich fühlte mich, trotz der eben noch so großen Freude, elend. Wie eine Versagerin, die verstoßen wurde. So viel anders war dieses Leben hier wohl doch nicht.
***
In den darauffolgenden Tagen kamen verschiedene Leute zu mir, mein Vater war aber nicht dabei. Mir wurden viele Fragen gestellt, die für mich allesamt aus dem Zusammenhang gerissen waren. Zum Beispiel gab es Nachfragen über meine Aufenthalte in irgendwelchen fremden Ländern und auch Fragen, die auf logisches Denken abzielten, manchmal sollte ich Dinge rückwärts schildern. Mir war durchaus klar, worauf das hinauslief – sie testeten meine Glaubwürdigkeit. Es war seltsam, dass sie mir misstrauten, wo ich doch diejenige war, der diese seltsame Sache widerfahren war. Vor einer Woche war ich ja schließlich noch die einfache, normale Cathy, die als graue Maus an irgendeinem Schreibtisch für alle um mich herum immer unsichtbarer wurde.
Über all die Fragen hinweg konnte ich jedoch immer weniger ignorieren, wie sich in mir alles irgendwie wieder zurechtrückte. Zu einem Zustand, den ich nur als Kind gekannt hatte. Und da sich meine Wahrnehmung nicht wieder verändert hatte und ich auch keinerlei Medikamente bekam, wurde ich mir immer sicherer, dass alles, was um mich geschah, real war. Die Gewissheit in meinem Inneren war nicht nur mehr ein kleiner Keim, sie hatte Nährboden gefunden und mich beflügelt.
Ich versuchte so gut es ging zu verbergen, wie euphorisch ich, trotz der merkwürdigen Begegnung mit Clay, war. Egal was hier vor sich ging, egal, was von jetzt an mit mir geschehen würde – ich war wieder glücklich. Ich spürte, wie diese alte, abgelegte Emotion von mir Besitz ergriff. Ich war von einem seltsamen Frieden ergriffen – ein Frieden wie ich ihn lange Zeit niemals wieder zu spüren glaubte. Und ich würde, wenn nötig, auch damit leben können, wenn Clay mich nie wieder eines Blickes würdigte.
Ich stellte den Ärzten und Schwestern ein paar Fragen, denn obwohl es mir merkwürdig leichtfiel, zu akzeptieren, wie mein Leben nun war, so konnte ich doch nicht verdrängen, welche Rätsel für mich noch ungelöst waren. Wer waren diese Feinde, vor denen man mich hier angeblich versteckte? Was für Kräfte schlummerten nun in mir, würde ich ab jetzt eventuell irgendwelche speziellen Dinge können? Wo war mein Vater, warum besuchte er mich nie? Obwohl ich mir die Antwort auf die letzte Frage denken konnte, versuchte ich Informationen aus den Leuten herauszubekommen. Doch wie ich schon fast vermutet hatte, erhielt ich nur spärliche Informationen, mit denen sich kaum etwas anfangen ließ. Im Groben erklärte man mir nur, was mit mir passiert war und dass mein Aufenthalt in diesem Zimmer der Beobachtung meines Gesundheitszustandes diente.
Sie betitelten es als normale Standardprozedur. Für mich klang es jedoch nur wie ein eingeübter Satz, der mich beruhigen sollte und die Tatsache, dass ich auf unbestimmte Zeit in diesem Zimmer gefangen wäre, machte mir doch ein wenig zu schaffen. Ich versuchte nicht in Panik zu geraten, wenn ich mir vorstellte, dass es Wochen dauern konnte, bis man mich herausließ. Ab und zu konnte ich wahrnehmen, wie Clay sich diesem Zimmer näherte. Er sprach sogar mit den Schwestern und er war vor allem aufgewühlt und durcheinander. Ich wusste instinktiv, dass es allein an ihm lag, wann ich dieses Zimmer verlassen durfte, und ich versuchte mich davon nicht beeinflussen zu lassen. Ich versuchte, ihm einen Vertrauensvorschuss zu geben und schließlich verging nicht allzu viel Zeit, bis er eines Nachts wieder bei mir aufschlug. Ich wurde wach, weil ich Geräusche vor meiner Tür wahrnahm. Als ich die Augen öffnete, sah ich, wie er die beiden Wachen wegschickte. Er öffnete die Tür und kam dieses Mal in großen Schritten direkt auf mich zu. Vor Aufregung fing mein Herz an, schneller zu schlagen. Ohne um Erlaubnis zu bitten, setzte er sich auf die Kante meines Bettes. Instinktiv rutschte ich zur Seite, damit er ein Bein hochlegen konnte. Es geschah so schnell, ich realisierte es selbst kaum. Dennoch fühlte es sich richtig an.
»Nun, es ist so«, setzte er zögerlich an, während ich den für mich immer noch fremden Mann musterte. Es war absurd, in welcher Situation wir uns befanden. Ich- herausgerissen aus meinem bisherigen Leben und er - ein Anführer einer mir bisher fremden Spezies, die ab sofort so etwas wie meine Familie sein sollte. Schlimmer konnte kein erstes Date dieser Welt verlaufen - als seien wir gezwungen worden, uns zu treffen und uns nun zu arrangieren, weil unser Zusammensein auf ewig vorherbestimmt war.
Und doch spürte ich unser beider Aufregung. Wir waren beide eine Spur verlegen, wussten nicht so recht, welche Worte zu wählen waren und in höflichem Schweigen versuchten wir, einander nicht auf den Schlips zu treten. »Wir sind miteinander verbunden«, bestätigte er das Offensichtliche, sah mich dabei aber nicht mehr an. Vielleicht fiel es ihm so leichter, wenn er bei den reinen Tatsachen ohne emotionale Wertung blieb, was auch ich für eine gute Taktik hielt.
»Ja.« Statt etwas zu erwidern oder sich zu erklären, räusperte er sich nur. Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bis mir bewusstwurde, dass etwas Unausgesprochenes im Raum stand.
»Den anderen haben Angst vor mir.« Ich sagte es, weil es sich um eine Feststellung handelte, die ich in den letzten Tagen gemacht hatte. Es war die Art, wie die Schwestern mit mir umgingen. Höflich, aber verhalten. Und der Blick, mit dem sie mich bedachten - nicht nur vorsichtig, sondern skeptisch. Sie ließen niemals irgendwelche Gegenstände herumliegen, nicht einmal Kulis. Das ganze Zimmer war sozusagen klinisch rein, bis auf die nötigsten Gegenstände. Man hielt mich hier für eine ernstzunehmende Bedrohung. »Ja«, war seine trockene Antwort. Er befand sich eindeutig in einem Zwiespalt, denn er musste seine Leute schützen, wenn er ihr Anführer war. »Warum?«
Nun sah er mir in die Augen, suchte fast meinen Blick, als würde er mir dadurch etwas Trost spenden können. Die Skepsis von vor ein paar Tagen war verschwunden. Stattdessen ruhte er in sich. Was immer ihn dazu bewegte, zu mir zu kommen – er war damit im Reinen. Trotzdem stimmte etwas nicht, das konnte ich mehr denn je spüren.
»Was mit dir geschehen ist, ist ungewöhnlich. Und dass wir irgendwie miteinander verbunden wurden, das ist so noch nie passiert. Es ist vollkommen einzigartig«
„Einzigartig?“ Das Wort entfuhr mir und plötzlich wurde mir bewusst, wie oft ich es in den letzten Tagen gehört hatte. Ärzte murmelten es vor sich hin, Soldaten benutzten es stoisch und selbst die Leute, die mir Essen brachten, ließen es fallen. Meistens kam es in Verbindung mit einem musternden Blick oder einer verhaltenen Geste, wenn sie dachten, ich bemerkte es nicht. Doch ich bemerkte vieles, viel mehr als jemals zuvor in meinem Leben. Ich konnte die Spannung in der Luft spüren, die unausgesprochenen Fragen, die in ihren Köpfen kreisten. Einzigartig… In einer Situation, die bereits über alle Maßen ungewöhnlich war, auch noch einzigartig zu sein, konnte nichts Gutes bedeuten, oder? Es fühlte sich an, als ob dieses Wort eine Last trug, eine Bedeutung, die schwer auf meinen Schultern lag. Noch dazu nagte die altbekannte Unsicherheit an mir. »Normalerweise funktionieren alle hier für sich. Und sie werden von uns auf das, was sie hier erwartet, vorbereitet, wenn es an der Zeit ist. Sie leben eine Weile in beiden Welten, verstehst du?«, fing er seine Erklärung an. »Und sie bekommen ihre Kräfte erst nach einer längeren Vorbereitungszeit, sind fest hier verankert und funktionieren als isolierte Einheit. Du musst es dir so vorstellen, dass sie daran wachsen, sich daran gewöhnen können und uns gegenüber vollkommen loyal sind, weil sie tief in sich diese Wahrheit spüren, wohin sie gehören. Sie fühlen sich hier wohl…so wohl, wie du. Als würde man ankommen. Sie werden also nicht einfach in dieses Leben geworfen, so wie es bei dir der Fall war. Es war eher ein Tsunami, der über dich und mich hinweggerollt ist und den man als getarnten Angriff hätte sehen können. Außerdem hat es so eine Verbindung wie die unsere, nach unserem Wissensstand, noch nie gegeben. Weder vorübergehend noch von Dauer.«