Schattenmörder - Werner Bauknecht - E-Book

Schattenmörder E-Book

Werner Bauknecht

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Beschreibung

Am Rande Tübingens wird eine Frau mit einem Hammer furchtbar verstümmelt. Die Kommissare ermitteln im Umfeld der Frau, aber es gibt keine heiße Spur. Während die Polizei unter der Führung des Hauptkommissars Christian Löfflers ratlos vor dem Fall steht, gibt es eine weitere Leiche. Wieder wird das Opfer mit einem Hammer grausig zugerichtet. Auch da führt die Spur zunächst ins Nirgendwo. Das Morden geht weiter, und am Ende tut sich für die Kommissare ein Abgrund auf. Löffler und sein Team müssen erkennen, dass manche Taten nicht aufzuhalten sind. Das Böse taucht da auf, wo man es nicht erwartet. Auch wenn es ihnen gelingt, den Täter zu stellen - am Ende stehen alle als Verlierer da.

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Über dieses Buch

In einem Gewerbegebiet am Rande Tübingens wird gegen Mitternacht eine Frau umgebracht. Ihr Gesicht ist furchtbar verstümmelt, vermutlich mit einem Hammer. Die Kommissare beginnen, im Umfeld der Frau zu ermitteln. Sie arbeitete in einer Werbeagentur war alleinstehend, hatte keine Familie und so gut wie kein Privatleben. Zunächst gibt es auch keine heiße Spur.

Während die Polizei unter der Führung des Hauptkommissars Christian Löffler ratlos auch im Kunden- und Kollegenkreis der Toten nach einem Motiv sucht, wird eine weitere Leiche gefunden.

Wieder wird das Opfer, dieses Mal ein Arzt, Onkologe an der Uni-Klinik, mit einem Hammer grausig zugerichtet. Auch hier führt die Spur zunächst ins Nirgendwo.

Die Polizei vermutet, dass aller Wahrscheinlichkeit nach ein und derselbe Täter für die Morde verantwortlich ist.

Ob männlich oder weiblich – das bleibt offen.

Vergeblich versuchen die Kommissare, denen der Anblick der Leichen schwer zu schaffen macht, Verbindungen zwischen den Opfern und dem Täter zu finden.

Das Morden geht weiter – und am Ende der Ermittlungen tut sich für die Kommissare ein Abgrund auf. Löffler und sein Team müssen erkennen, dass manche Taten nicht aufzuhalten sind.

Für das Ermittlungsteam ist es Horror – der reinste Horrortrip. Es muss feststellen, dass das Böse da auftaucht, wo man es nicht erwartet. Der Täter wird zwar gefunden und eine noch längere Mordserie verhindert. Dennoch, Löffler und sein Team fühlen sich am Ende als Verlierer.

Werner Bauknecht arbeitete nach dem Studium in München als Dozent in der IT-Branche, danach als Referent beim Sparkassenverlag in Stuttgart. Seit 2000 ist er als freiberuflicher Autor und Journalist tätig.

Regionalkrimis schreibt er seit 2012. »Schattenmörder« ist sein vierter Tübingen-Krimi mit dem Kriminalhauptkommissar Christian Löffler und seinem Team nach »Totgelaufen«, »Berbertod« und »Tödliche Kristalle«.

Er ist auch Autor zahlreicher Theaterstücke. Werner Bauknecht wohnt in Wurmlingen.

Werner Bauknecht

Schattenmörder

Ein Krimi aus dem Neckartal

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig

und nicht beabsichtigt.

© Oertel+Spörer Verlags-GmbH+Co. KG 2016

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: Anita Bauknecht

Umschlaggestaltung: Oertel+Spörer Verlag

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-88627-767-4

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:

www.oertel-spoerer.de

Lauren Meineke verließ das Bürogebäude im Industriegebiet »Unterer Wert« in Lustnau spät. Spät wie immer. Lauren, die eigentlich Lola hieß, aber sich seit vielen Jahren mit dem neuen, erfundenen Namen vorstellte – Lauren also kam aus dem noch immer hell erleuchteten Bürohaus in die dunkle Lustnauer Nacht hinaus.

Sie atmete tief durch. Ein fernes Grummeln war zu hören. Sie sah nach Süden, hin zum Burgholz. Das war ein Waldgebiet zwischen den Härten auf dem Berg und dem Tübinger Stadtgebiet. Das Grummeln stammte von einem vorbeifahrenden Zug. Dann verschwand der Ton und es war totenstill. Um diese Uhrzeit – es war nicht lange hin bis Mitternacht – war keine Menschenseele mehr in der Gegend.

Industriebrache. Nichts Großes. Wie immer in Tübingen. Ein paar kleine Zulieferer, Autohäuser, Reparaturwerkstätten, ein Kieswerk. Und aus weiter Ferne leuchteten die Strahler einer großen Baumarktkette.

Lauren blieb einen Augenblick auf der unteren Stufe des Zugangs zum Gebäude stehen. Sie schloss die Augen, nahm die frische Brise auf, die vom Osten herwehte.

Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, fegte sie erschrocken herum und ließ dabei ihre Tasche fallen. Vor ihr tauchte das Gesicht eines Mannes auf, das ihr bekannt vorkam.

»Nun mal langsam«, sagte der Mann, »i bens doch bloß. Frau Meineke, koi Angscht, Sie kennet mi doch.«

Lauren trat einen Schritt zurück.

Günter Schmieder stand vor ihr, der Hausmeister. Zuständig fürs Gebäude, auch für das Stockwerk, in dem ihr Büro lag.

»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt.«

Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Des wollt i net. Ich wollt Sie bloß frage, ob i jetzt des Haus abschließe kann. Sie waret die Letschte, jetzt stoht’s leer.«

»Von hinten anschleichen, das geht nicht.«

Lauren war sauer. Sie spürte ihr Herz heftig schlagen. Die Knie wurden ihr weich. Jetzt erst stellte sich die Reaktion ihres Körpers ein. Sie sah ihre Tasche auf dem Boden liegen. Aber sie fühlte sich nicht in der Lage, sich zu bücken und sie aufzuheben. Ihr war schwindlig.

»Ha noi, i hab mi net angschliche. Sie habet mi bloß net ghört, als ich sie angsproche hab.«

»Heben Sie meine Tasche auf. Wegen Ihnen liegt sie auf dem Boden. Und wehe, es ist was zu Bruch gegangen. Dann mache ich Sie verantwortlich.«

Schmieder brummte etwas Unverständliches. Aber er schnappte sich die Tasche vom Boden und streckte sie Lauren entgegen. Die nahm die schwarze Ledertasche und hängte sie sich über die Schulter.

Die beiden standen sich schweigend gegenüber.

»Dann mach i jetzt mal zu«, sagte Schmieder und drehte sich um. »Mei Frau wartet, die isch bestimmt sauer, weil es so spät isch.«

»Soll ich daran schuld sein?«

Lauren spürte, wie der Groll in ihr aufstieg. Jetzt wurde einem schon zum Vorwurf gemacht, dass man gewissenhaft arbeitete, auch wenn es mal länger dauerte. Hätte Schmieder was Rechtes gelernt, dann bräuchte er sich nicht die Nacht um die Ohren hauen und auf andere warten. Dann könnte er warten lassen.

Schmieder winkte stumm ab. Dann ging er zur Eingangstür, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss die Glastüre ab. Er drehte sich zu der noch immer dastehenden Lauren um.

»So, des war’s jetzt. Jetzt isch zua. Guat Nacht.«

Dann spuckte er auf den Boden.

Schließlich marschierte Schmieder zu einem direkt am Gebäude abgestellten Auto, stieg ein und machte die Scheinwerfer an. Wie ein Feuerschwert durchschnitt der helle Strahl die Nacht. Weit drüben prallte das Licht von einer Gebüschreihe zurück. Schmieder startete den Motor, gab Gas und verließ das Gelände.

Lauren blieb alleine zurück. Sie starrte den rot leuchtenden Rücklichtern des Wagens nach, bis er um die Hausecke verschwunden war. Der Platz wurde jetzt nur noch vom Mondlicht beschienen. Die Lichter im Bürogebäude waren allesamt erloschen.

Lauren seufzte.

Geschafft, dachte sie, wieder mal die letzte von der ganzen Bagage. Aber sie meinte das keineswegs positiv. Sie fühlte sich wie eine Betrogene. Als die letzte Mohikanerin, als eine, die alleine das Licht löschte und dann verschwand.

Ohne Familie, dachte sie, ist man halt der Arsch. Aber warum habe ich keine Familie? Weil ich mit diesem Scheißjob verheiratet bin.

Halt, beschwichtigte sie sich selbst, der Job ist klasse und ich bin normalerweise zufrieden und glücklich. Es gibt nur manche Abende, manche Nächte, in denen der Job nicht ausreicht. Und dann kann schon mal eine kleine Welt zusammenbrechen. So wie jetzt zum Beispiel. Einsam, müde, alleine auf einem dunklen Parkplatz und kein Ton zu hören. Wer da nicht depressiv wird …

Langsam näherte sie sich ihrem Wagen. Er war der Letzte in der Reihe der Parkbuchten. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, tastete sich förmlich nach vorne, um ja nicht zu stolpern. Schon von der Ferne öffnete sie den Wagen mit ihrer Fernbedienung. Das rasche mehrfache Aufblitzen der Lichter am Auto schnitt durch die Nacht.

Wie bei einem Gewitter, fand Lauren.

Sie öffnete die Hintertüre des Wagens und warf ihre Tasche achtlos auf die Rückbank. Dann schlug sie die Türe zu. Laut hallte es über den Parkplatz. Lauren blieb stehen, atemlos, und achtete darauf, ob sie ein Echo hörte. Woher auch, schüttelte sie dann den Kopf über sich selbst, ich bin hier doch nicht im Gebirge oder in einer blöden Schlucht in den Dolomiten.

Über die nicht so ferne Bundesstraße nach Stuttgart fuhr gelegentlich ein Auto. Wie Glühwürmchen tasteten sich deren Scheinwerfer von Kirchentellinsfurt her kommend durch die Nacht. Dann waren sie verschwunden, die Nacht war wieder stumm und dunkel.

Ich werde hier ja noch trübsinnig, fand Lauren, zog die Fahrertüre auf und beugte ihren Rücken, um in ihren BMW einzusteigen.

Sie spürte auf einmal, noch während ihr Kopf bereits im Wagen, das Hinterteil aber noch im Freien war, dass etwas auf ihren Rücken pochte. Ihr Kopf schnellte vor Überraschung und Schreck hoch. Dabei schlug sie mit dem Hinterkopf gegen den Holm des Wagens.

»Aua«, rief sie.

Es tat weh und sie rieb sich die schmerzende Stelle. Als sie den Kopf aus dem Wagen bugsiert hatte und wieder aufrecht stand, drehte sie sich um, um nach der Ursache ihrer Verwirrung zu schauen. Fast erwartete sie, noch einmal diesem unsäglichen Schmieder gegenüberzustehen.

»Du?«, fragte sie überrascht.

»Ja, ich. Überrascht dich das so sehr? Musstest du nicht damit rechnen?«

Lauren stand mit offenem Mund da. Sie hatte etwas sagen wollen, aber mittendrin vergessen, was es war. So verharrte sie einen Moment in diesem Zustand der Sprachlosigkeit und der Mundsperre.

»Verstehe ich nicht«, sagte sie dann. »Warum sollte ich damit rechnen müssen?«

Eine schallende Ohrfeige prallte auf ihre Wange. Ihr Kopf drehte sich zur Seite und eine Schmerzwelle bebte durch ihren Körper. Sie legte, ganz automatisch, ihre Hand auf die schmerzende Stelle. Sie fühlte sich heiß an. Lauren spürte, wie das Blut durch ihren Körper strömte.

»Bist du irre?«, schrie sie und wollte in ihre Handtasche greifen, in der sie ein Pfefferspray deponiert hatte. Die Frauenwaffe, hatte ihre Freundin Gerdi gelästert.

Aber die Handtasche lag im Wagen. Sie starrte ihre leere Hand an. Sie fühlte sich nackt. Ausgeliefert.

»Du bist irre, wenn dir nicht klar ist, dass wir eine Rechnung zu begleichen haben.«

Lauren trat einen Schritt nach hinten. Wollte sich aus der offensichtlichen Gefahrenzone wegbewegen. Dann noch ein Schritt. Aber da stieß sie mit dem Rücken endgültig gegen den Wagen. Weiter nach hinten kam sie nicht.

Sie fühlte sich gefangen. Nein, sie war gefangen.

»Scheißgefühl, was? So alleine. Und so dunkel. Und keine Seele weit und breit.«

»Willst du mir drohen?«

»Vorwarnen.«

»Worauf?«

»Auf das, was gleich passieren wird.«

Ja, das war eindeutig Angst, was Lauren mit einem Mal empfand. Große, tief sitzende, unbeherrschbare Angst. Wenn man Angst hat, dann redet man, dachte sie, das weiß doch jeder. Also rede ich.

»Nun hör mir mal zu, du hattest jetzt deinen Auftritt. Wenn du mir Angst machen willst, dann ist dir das gelungen. Gratuliere. Aber du könntest mir jetzt sagen, was du wirklich von mir willst. Was ist das für ein Geschwätz von wegen, ich müsste damit rechnen. Womit denn? Und wofür?«

Sie musste das Gespräch am Laufen halten. Es musste ihr gelingen, in den Wagen zu springen und die Türe abzuschließen. Dann wäre sie in Sicherheit. Mit der rechten Hand umklammerte sie den Wagenschlüssel. Es musste klappen. Rein ins Auto, dann die elektronische Verriegelung drücken – basta. Sie fühlte sich schlagartig besser.

»Du hast mir mein Projekt weggenommen. Du hast meine Position bekommen. Aber ich habe die Arbeit gemacht.«

Langsam tastete sie sich nach rechts, zentimeterweise Richtung Türe. Sie stand halb offen, das reichte, um hineinzuschlüpfen. Nur noch ein halber Schritt.

»Nein«, sagte Lauren und rückte wieder ein paar Zentimeter Richtung Fahrertüre, »hast du nicht, wir haben zusammen daran gearbeitet. Aber ich war die Kompetentere. Deshalb leite ich die Abteilung und nicht du. Außerdem ist das schon ein halbes Jahr her und du hast gekündigt. Du hast mit der Firma gar nichts mehr zu tun.«

Ein trockenes Lachen war die Antwort.

»Es war meine Idee, du hast nur ein bisschen beigesteuert.«

»Du verdrehst die Tatsachen …«

Dann sprang sie durch die Türe und ließ sich auf den Sitz plumpsen. Noch während sie erst halb drin war, zog sie die Wagentüre bereits zu.

Aber sie schaffte es nicht.

Es gab einen Widerstand. Ein Schuh, ein Fuß hielt die Türe auf. Lauren zerrte, zog, trat mit ihrem Fuß gegen den anderen. Nichts geschah. Sie bekam die bescheuerte Wagentüre einfach nicht zu. Scheiße, dachte sie. Ihre Angst nahm schlagartig wieder zu.

»Guter Trick, aber ich bin doch nicht blöd.«

Sie wurde an der Schulter gepackt, herausgezogen aus dem BMW, zu Boden gestoßen. Ein Tritt traf sie in den Magen. Sie krümmte sich vor Schmerz. Und Wut. Und vollkommener Hilflosigkeit.

Sie lag auf dem Boden, hielt sich mit den Händen den Bauch und schaute nach oben.

»Ich wollte, dass du mich ansiehst, wenn es passiert.«

Lauren schloss die Augen.

Alles ist so sinnlos, dachte sie.

Sie sah den Hammer nicht kommen, der ihr die Stirn einschlug. Und von den weiteren Schlägen bekam sie schon nichts mehr mit.

Warum passieren die schlimmen Dinge immer nachts, dachte Christian Löffler, als er sich auf den Weg zur Küche machte. Nur deshalb muss ich jetzt aus dem warmen Bett raus, mich nachher ins Auto setzen und mir dann an einem Tatort die Füße kalt stehen. Warum können die Leute ihre Morde und alle anderen bösen Taten nicht mittags begehen? Bei schönem Wetter und nach dem Verdauungsschläfchen? Und vor allem: im Sommer, bei angenehmen Temperaturen.

Er schaute auf die Küchenuhr. Es war gerade mal halb sieben. Die Frage war: Kaffee ja oder nein? Gleich losfahren oder erst noch eine Weile in der warmen Küche sitzen bleiben und in den Tag finden? Außerdem war der Kollege Gerd Stammler noch nicht aufgetaucht. Obwohl er beim Vorbeigehen an dessen Zimmertüre geklopft hatte. Und zwar laut.

Also beschloss Hauptkommissar Löffler, sich einen Kaffee zu gönnen und einen langen Blick durchs Panoramafenster in der Küche. Wären die hellen Nebelschlieren und die Dunkelheit weg gewesen, hätte er einen Blick über Lustnau genießen können. Oder rüber zum Österberg, bis zu den Anfängen der Tübinger Kernstadt. Jetzt ließ sich das alles nur erahnen.

»Was gibt es denn?«, hörte der Hauptkommissar eine Stimme in seinem Rücken.

»Mord. Direkt vor der Haustüre.«

»Schön für uns, dann haben wir keine lange Anreise.«

Löffler drehte sich um.

So langsam hatte er sich an den Anblick seines Kollegen zur Morgenstunde gewöhnt. Immerhin war es bereits etliche Monate her, seitdem er im Löffler’schen Haus eingezogen war, nachdem seine Frau ihn zu Hause rausgeschmissen hatte. Morgens jedenfalls sah Stammler immer besonders zerzaust aus. Er war einer der Typen, die, egal was sie auch kosmetisch-hygienisch unternahmen, immer etwas verwahrlost aussahen. Was sich auf seinen Morgenzustand natürlich fatal auswirkte. Für Löffler hatte das inzwischen seinen Schrecken verloren.

»Geben wir heute Morgen den Pragmatiker? Immerhin hat man eine Frau erschlagen. Und soweit die Kollegen mir das mitgeteilt haben, soll es kein schöner Anblick sein.«

Stammler hatte inzwischen einen Kaffee aus der Maschine eingegossen und schüttete Unmengen Zucker in die Tasse. Dann setzte er sich an den Tisch und versank ebenfalls in den Ausblick vor dem Küchenfenster.

»Wir sollten uns warm anziehen«, sagte er plötzlich, stand auf und trank die Tasse auf einen Zug leer. »Weiß die Berger schon Bescheid?«

Berger war Monika Berger, ihre Kollegin. Bis vor Kurzem hatte sie ebenfalls in dem Kriminalistenhaushalt im Haus der Familie Löffler gewohnt. Inzwischen hatte sie sich eine eigene Wohnung genommen – gemeinsam mit Löfflers Noch-Ehefrau, die gerade in Tübingen eine Auszeit von Hamburg nahm. Diese war dadurch außerdem der gemeinsamen Tochter näher, die bei ihrem Vater bleiben und nicht nach Hamburg zurückkehren wollte.

Zugegeben, ein merkwürdiger Haushalt, dachte Löffler stets, wenn er sie alle zusammen sah – bei einem Abendessen zum Beispiel oder einem gemeinsamen Ausflug.

»Wir rufen sie von unterwegs an, sie kann mit dem eigenen Wagen hinkommen.«

»Wohin genau?«

»Lustnau. Gewerbegebiet Unterer Wert. Eisenbahnstraße, in der Nähe von dem Kieswerk.«

»Da können wir ja fast hinspucken, von hier aus.«

»Umso besser. Also los jetzt, die Kollegen warten. Ich fahre, Sie rufen Berger an. Spurensicherung und Gerichtsmedizin sind schon da und wir wieder mal die Letzten.«

Am Abend hatte der Hauptkommissar den Wagen nicht in die Garage gestellt. Das rächte sich nun – er musste mit dem Eiskratzer die Windschutzscheibe bearbeiten. Immer wieder blies er die handschuhlosen Finger mit seinem warmen Atem an. Leise fluchte er vor sich hin. Reine Faulheit, gestand er sich ein. Und jetzt muss ich dafür büßen. Wir leben halt in einer gerechten Welt.

Währenddessen saß sein Kollege bereits im Wagen und bestellte Monika Berger zur Leiche, zum Opfer in die Eisenbahnstraße. Die Beifahrertür öffnete sich und Löffler warf Stammler den Eiskratzer in den Schoß.

»Los, jetzt Sie. Ich kratze nur meine Seite frei.«

»Also mal ganz im Ernst: Was kann ich denn dafür, dass Sie den Wagen nicht unterstellen? Also fair ist das nicht, dass ich jetzt auch noch kratzen muss.«

»Ich habe auch nichts von Fairness gesagt. Ich friere bloß so sehr, dass ich meine Finger nicht mehr bewegen kann.«

Nachdem der Wagen schließlich eisfrei war, fuhren die beiden Polizisten vom oberen Ortsteil Lustnaus, vom Herrlesberg, hinunter ins Gewerbegebiet. Dabei kamen sie auch am neu gebauten Wohngebiet Alte Weberei vorbei. Bei dem Wetter sah das alles noch trister aus als ohnehin. Da konnten auch ein paar bunt bemalte Balkone, die so groß waren wie Starenkästen, nichts ändern. Schließlich bogen sie ein paar Hundert Meter hinter der Neckarbrücke rechts ein in die Eisenbahnstraße.

Bereits von Weitem sahen sie den Ort des Geschehens. Etliche Polizeiautos standen auf dem Parkplatz vor einem Bürohaus herum, manche mit stummem Blaulicht. Und mittendrin Monika Berger, die es tatsächlich geschafft hatte, den doppelt so langen Weg von Tübingen West schneller zurückzulegen als die beiden Lustnauer.

Sie kam den beiden entgegen. Es war noch immer dunkel, langsam riss der Himmel auf. Berger hatte den Kragen ihres dicken Mantels hochgestellt. Man konnte kaum ihr Gesicht sehen.

»Sieht schlimm aus«, sagte sie zur Begrüßung und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Man hat der Frau das Gesicht förmlich zertrümmert. Mit irgendeinem Eisenstab oder auch gleich mit einem Hammer. Die Kollegen rätseln noch.«

Gemeinsam trotteten sie zur Fundstelle der Leiche. Sie lag neben einem BMW, dessen Fahrertür offen stand. Über den Körper der Frau hatten die Gerichtsmediziner bereits eine Decke gelegt. Löffler deutete darauf und sah Berger fragend an.

»Die waren schon ganz früh hier«, meinte sie, »man hat die Frau ja bereits um fünf Uhr gefunden.«

Löffler war erstaunt.

»Wie kann man sich um die Uhrzeit hier aufhalten? Oder hat etwa der Täter angerufen? Das wäre natürlich die einfachste Lösung.«

Berger schüttelte den Kopf.

»Leider nein. Es war ein Frühjogger. Er sitzt da drüben in einem Wagen der Kollegen. Dem Mann ist eiskalt geworden. Und nach dem Schock mit der Leiche sowieso. Ich habe mich vorhin kurz mit ihm unterhalten.«

»Sagen Sie mal, seit wann sind Sie eigentlich hier? Das wird ja langsam unheimlich.«

Berger wurde rot.

»Na ja«, druckste sie dann herum, »ich musste mich nicht mehr anziehen, als Stammler anrief. Ich meine, ich war schon … ich war noch … angezogen. Ich kam gerade nach Hause. Geburtstagsparty.«

»Hauchen Sie mich mal an.«

Löffler trat ganz dicht an seine Kollegin heran. Sie öffnete den Mund und atmete aus. Löffler schnüffelte.

»Nix getrunken? Was war das denn für eine Party?«

»Können wir uns vielleicht mal der Leiche widmen«, sagte Stammler, der gerade von einem Gespräch mit dem Einsatzleiter vor Ort zurückkam. Er zog einen Zipfel der Decke vom Kopf der Frau.

Es sah schlimm aus. Ein zertrümmertes Gesicht, nahezu kein Knochen war verschont geblieben. Das Gesicht war eine breiige Masse. Um den Kopf lag geronnenes Blut, das aussah wie ein hellroter Heiligenschein.

»Mein Gott, was ist da denn passiert?«

Berger wirkte noch immer geschockt. Tatsächlich war selbst ihr eine derartige Verwüstung im Gesicht eines Menschen in ihrer Berufspraxis noch nie begegnet.

Auch Löffler schaute stumm auf den Kopf. Er atmete heftig ein und aus. Schöne Sauerei, dachte er. Und das frühmorgens. Er war zwar vorgewarnt, aber was ihm hier begegnete, war doch deutlich schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Andererseits, überlegte er, nutzte auch das ganze Vorwarnen nichts. Das Gesicht hätte er sich so oder so angucken müssen. Und anders ausgeschaut hätte es ja nicht.

»Wer ist die Frau?«, fragte er.

Aber da war keiner, der ihm hätte antworten können, bloß seine beiden Kollegen, die auch nichts wussten. Er winkte den Einsatzleiter, Carsten Schneck, zu sich.

»Was wissen Sie von der Frau?«

Schneck kramte in einem Ordner, den er mit sich herumtrug. Dann holte er ein Blatt Papier und einen Ausweis heraus.

»Hier«, sagte er und reichte Löffler das Dokument, »das ist die Frau.«

Das Foto zeigte die Tote, wenngleich mit etwas kürzeren Haaren. Sie war auch in ihrem jetzigen Zustand zu erkennen. Im Personalausweis stand Lola Meineke, sie war demnach einunddreißig Jahre alt, aus Tübingen und wohnte in der Scheefstraße, oben auf dem Österberg.

»Was sonst?«, fragte der Hauptkommissar.

Schneck hob die Schultern.

»Nichts bis jetzt. Die Kollegen prüfen gerade die Personendaten ab. Hier im Gebäude ist noch keiner, da können wir nicht nachfragen. Aber in der Handtasche haben wir einen Firmenausweis gefunden. Hier!« Er gab auch diesen an Löffler weiter. »Jetzt wissen wir, dass sie bei der Werbeagentur ›Free Minds‹ arbeitet. Die haben ihre Büros im vierten Stock.«

Löffler schaute nach oben. Kein Licht in den Büroräumen. Das ganze Haus lag da wie ein schwarzer Klotz.

»Gut«, entschied der Hauptkommissar, »reden wir eben mit dem Jogger, der die Frau gefunden hat.«

Die drei Kommissare marschierten zum Polizeiwagen. Sie zogen die Schiebetüre auf. Drinnen saß ein Mann, der die drei erschrocken ansah. Er rieb sich die Augen und setzte sich schlagartig aufrecht hin auf der Sitzbank.

»Ich bin wohl kurz eingenickt«, sagte er, »aber die Warterei geht auch ziemlich auf die Nerven.«

Der Mann trug lange Laufhosen, eine hellgelbe Überjacke, Handschuhe und eine Mütze, die er selbst jetzt nicht abgenommen hatte. Außerdem baumelte eine LED-Stirnlampe um seinen Hals.

»Wir sind Ihnen auch dankbar«, säuselte Berger, »dass Sie die Geduld aufbringen. Aber Sie haben ja selbst gesehen – wir brauchen alle Informationen, um diese schreckliche Sache aufklären zu können.«

Der Mann nickte.

»Ja, klar. Furchtbarer Anblick. Ich habe bereits meine Frau angerufen. Sie soll für mich im Geschäft absagen, ich komme heute nicht mehr. Nach dem Anblick kann ich mich nicht zu den Kollegen setzen und die Quartalsplanung vorbereiten. Da sehe ich bestimmt ständig den zertrümmerten Schädel vor mir. Brrrr.«

Der Mann schüttelte sich.

»Sie haben die Frau also gefunden«, stellt Stammler fest. »Aber zunächst mal – wie heißen Sie eigentlich?«

»Bauer. Moritz Bauer. Tübingen. Gartenstraße.«

Der Mann hielt den Kommissaren die Hand hin und alle drei schüttelten sie ihm nacheinander.

»Schön, Herr Bauer«, fuhr Stammler dann fort, »wie ist Ihnen denn aufgefallen, dass da etwas nicht stimmt? Die Straße ist doch etliche Meter vom Parkplatz hier entfernt, von da aus kann man ja kaum sehen, wenn jemand auf dem Boden liegt.«

»Nee, habe ich auch nicht. Aber schon beim Herlaufen, also von ganz vorne an der Straßeneinmündung, habe ich den Wagen gesehen. Die Innenbeleuchtung war an. Das sieht man deutlich, wenn es so dunkel ist. Wie ein Glühwürmchen hat es …«

»Schon gut, Herr Bauer. Sie haben also den Wagen mit der Beleuchtung gesehen.«

»Genau. Und als ich näherkam, hat die immer noch geleuchtet. Da dachte ich, da hat jemand seine Autotür nicht richtig zugemacht. Weil – zu sehen war ja niemand. Also bin ich in den Parkplatz eingebogen, habe meinen 4:10er-Schnitt auf den Kilometer abgebrochen und bin da hingetrabt. Ich ums Auto rum – und rein in die Leiche. Tja, ich bin da richtig draufgetreten. Rechnet ja keiner damit, dass da jemand auf dem Boden liegt. Ich richte meine Stirnlampe auf die Figur, die Beine, den Körper und dann auf den Kopf. Wumm – mich hätte es fast umgehauen. Würde ich nicht so viele Horrorfilme im Fernsehen anschauen … ich meine … da gewöhnt man sich an solche … Anblicke … jedenfalls – dann hätte ich gekotzt.«

»Haben Sie sonst noch jemanden gesehen? Jemanden in der Nähe? Vielleicht ist da einer oder eine weggelaufen. Oder kam Ihnen ein Wagen entgegen oder einer hat Sie überholt? Können Sie sich an irgendetwas erinnern, das uns weiterhelfen könnte?«

Der Mann dachte eine Weile nach. Es sah aus, als würde er zählen, weil er dazu die Finger benutzte. Dann schüttelte er den Kopf.

»Tut mir leid, aber da war nichts.«

»Kannten Sie denn die Tote?«

»Ich? Nein, eigentlich nicht.«

»Eigentlich?«

»Ist nur eine Redensart. Nein, ich habe die Frau noch nie gesehen.«

»Ist das Ihre Standardstrecke, die Sie heute gelaufen sind?«

Bauer nickte.

»Täglich. Immer um die gleiche Zeit. Um fünf gehe ich aus dem Haus. Anders geht’s nicht, ich bin abends zu schlapp zum Laufen.«

»Na schön, dann lassen wir Sie jetzt in Ruhe. Unser Kollege wird Ihre Aussage noch aufnehmen. Wenn Sie wollen, fährt er sie dann nach Hause.«

Bauer winkte ab.

»Nie im Leben. Ich laufe, ist doch klar. Ich stecke voll im Training, da kann ich nicht einfach abbrechen. Der Nikolauslauf steht bevor, da ist jeder Trainingskilometer wichtig.«

Er machte eine kurze Pause.

»Aber sagen Sie mal.« Er deutete auf Löffler. »Sie kenne ich doch. Sie waren beim letzten Nikolauslauf auch dabei. Da haben Sie doch die Altersklasse gewonnen. Und im Team der LAV Stadtwerke haben Sie die Mannschaft gewonnen. Stimmt’s?«

Löffler nickte.

»Sind Sie dieses Jahr wieder dabei?«

»Wenn wir den Fall rechtzeitig lösen, komme ich vielleicht zum Trainieren. Dann ja.«

»Schön, man sieht sich am Start.«

»Wie Sie meinen. Aber falls Ihnen noch etwas einfällt zu der Sache hier – Sie wissen, wo Sie uns erreichen können.«

Damit steckte er Bauer seine Visitenkarte zu.

Sie entdeckten Professor Kürner, den Gerichtsmediziner, an seinem Einsatzfahrzeug. Markus Kürner war ein persönlicher Freund Löfflers. Und ein Intimfeind Bergers. Zumindest sah die Kripobeamtin das so. Für Kürner waren das bloß Kabbeleien, die er nicht ernst nahm. Umso mehr amüsierte ihn Bergers aufrechte Entrüstung, wenn er sie wieder einmal mit ein paar völlig sinnlosen Behauptungen auf die Palme brachte. Er liebte dieses Spiel.

»Ich gehe mal zu Markus«, sagte Löffler zu Berger, »Sie bleiben hier, ich habe keine Lust auf die Streitereien. Mir liegt das Opfer im Magen, da hat so was keinen Platz.«

Berger wollte etwas sagen, aber Stammler zog sie einfach weg.

»Hallo Doc«, sagte der Hauptkommissar, als er bei Kürner auftauchte, »hast du dir den Anblick auch schon angetan?«

»Anblick?«

Löffler deutete auf die immer noch auf dem Boden liegende Leiche.

»Ach, du meinst das Opfer und ihr derangiertes Gesicht. Ja, das habe ich mir angesehen. Endlich mal wieder etwas Abwechslung für mich als Profi. Kommt ja sonst nichts Außergewöhnliches mehr auf meinen Tisch.«

Er grinste.

Dann wurde er ernst.

»Die Frau wurde übel zugerichtet. Hast du ja gesehen. Da war Wut im Spiel, viel Wut. Sonst richtet man keinen Menschen derart zu.«

»Hat man sie dort getötet, wo man sie gefunden hat?«

Kürner nickte.

»Eindeutig. Alle Spuren deuten darauf hin. Vor allem das Blut und die Form, wie es floss – die Sache ist klar.«

»Mordwaffe?«

»Ziemlich sicher ein Hammer. Ohne mich jetzt festzulegen – entweder ein Latt- oder ein Maurerhammer. Die Schlagfläche, die Bahn, ist meiner Meinung nach aufgeraut. Bei dieser Art Hämmer trifft das zu. Ich muss mir die Wunden noch näher anschauen. Aber ich glaube, in der Haut kann man die Abdrücke ziemlich deutlich erkennen.«

Während ihrer Unterhaltung waren sie langsam zum Opfer gegangen. Jetzt standen sie direkt daneben.

»Kannst du mir etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«

Löffler sah voraus, wie sein Freund sich vor ihm aufbauen und ihm dasselbe, wie in allen diesen Fällen vermelden wollte: Dazu kann ich doch jetzt noch nichts sagen. Also griff er ihm an den Unterarm und lenkte gleich ein.

»Natürlich will ich nur deine persönliche Einschätzung, nichts Offizielles. Ist doch klar. Unter uns sozusagen. Ich behalte es auch für mich.«

Kürner lachte laut. Mit einem tiefem Bass, der sich langsam zu etwas Baritonähnlichem steigerte. Vor allem aber war es laut, richtig laut. Die Polizisten und Mediziner auf dem Platz starrten alle herüber zum berühmten Professor. Den schien es allerdings überhaupt nicht zu kümmern, dass gerade mal eineinhalb Meter unter ihm eine furchtbar verstümmelte Leiche lag. Löffler selbst kümmerte das wenig, er kannte seinen Freund seit dreißig Jahren. Konventionen hatten den noch nie gestört. Im Gegenteil – er suchte sie förmlich, um dann dagegen zu verstoßen.

»Also gut«, fuhr der Pathologe nach seinem Lachanfall fort, »dann spekuliere ich mal. Nur unter uns, mein Freund. Ich schätze, es könnte ziemlich genau gegen Mitternacht gewesen sein, dass der Hammer auf die Dame niederging. Plus minus eine Stunde. Aber ihr könnt schon mal bis Mitternacht arbeiten, das ist eine gute Grundlage.«

Löffler dachte einen Moment nach. Das machte er laut.

»Was macht eine Frau um Mitternacht noch vor dem Bürohaus? Ganz alleine. Am Arsch der Welt. Und wie kommt dann jemand dazu, ihr mit dem Hammer das Gesicht einzuschlagen?«

»Das musst du lösen, das ist dein Problem. Dafür wirst du bezahlt.«

Der Hauptkommissar schaute Kürner verblüfft an.

»Was meinst du?«

»Aufwachen, Christian. Ich sagte, du musst dich jetzt um die Sache kümmern. Ruf mich später an, dann kann ich dir vielleicht mehr sagen. Und jetzt bringen wir mal das Opfer weg, sie liegt schon lange genug auf dem Boden rum.«

Kürner winkte seine Kollegen zu sich. Christian Löffler ging zu Stammler und Berger hinüber, die beide am Smartphone hingen.

»Ich habe bei dem Opfer zu Hause angerufen, aber da ging niemand ran. Entweder hat sie keine Familie oder die pennen alle noch.«

»Vielleicht sind sie arbeiten.«

Berger schaute auf ihre Handy-Uhr.

»Um diese Zeit? Dann müssten sie ja bei der Polizei arbeiten und sich an einem Tatort rumtreiben.«

Es ging bereits auf halb acht Uhr zu. Langsam wurde es hell. Der Krankenwagen mit der Leiche verließ den Parkplatz, auf dem Weg zur Gerichtsmedizin. Dahinter Kürner in seinem Wagen, der Löffler noch kurz zuwinkte, ehe er um die Ecke verschwand. Auch die Polizeiautos machten sich auf den Weg zurück in die Konrad-Adenauer-Straße zum Präsidium. Oder sie nahmen ihren Streifendienst auf. Ganz zuletzt folgte die Spurensicherung. Wie eine kleine Karawane tuckelten sie alle durch die Eisenbahnstraße Richtung Innenstadt. Bloß die Kommissare der Mordkommission blieben zurück.

Horst Kleber machte sich auf den Weg zur Arbeit. Er war früh dran. Früher als sonst. Üblicherweise erschien er nie vor neun Uhr in seinem Büro im vierten Stock in dem Gebäude in der Eisenbahnstraße. Aber er hatte heute kein großes Verlangen danach, seiner Frau am Frühstückstisch zu begegnen. Seit gestern Abend herrschte Krieg.

Kleber setzte sich in den Wagen, ohne Kaffee, ohne Frühstück, selbst ohne seine Zeitungslektüre. Den Sportteil hatte er sich in die Aktentasche gesteckt. Wenigstens das. Dem würde er sich nachher an seinem Schreibtisch in aller Ruhe widmen.

Er wohnte im Rottenburger Kreuzerfeld. Fuhr man die Stadt von Osten, von Tübingen aus, an, wiesen die auf der Anhöhe stehenden Häuser des Viertels einem den Weg. Er aber hatte sie im Rücken, wenn er zur Arbeit in die Uni-Stadt fuhr. Durch Kiebingen durch, Bühl – alles Tempo 30. Er hatte sich daran gewöhnt. War ohnedies nicht zu ändern.

Kleber war Chef der Werbeagentur »Free Minds«. Noch lief die Agentur gut. Aber immer mehr neue Agenturen erschienen mittlerweile auf der Bildfläche, das Geschäft war härter geworden. Hinz und Kunz machen in Werbung, hatte seine Mitarbeiterin Meineke gesagt. Dann muss sich Qualität ja eigentlich durchsetzen, hatte er geantwortet. Sie hatte jedoch nur mit den Schultern gezuckt. Sein aufgesetzter Optimismus behagte ihr nicht besonders. Als Pragmatikerin las sie Bilanzen, schaute die Kostenrechungen durch, versuchte, neue Kunden an Land zu ziehen. Da hatte sie auch nicht davor zurückgeschreckt, einen altgedienten Mitarbeiter, Jonas Mayer, aus der Firma rauszuschmeißen. Kleber hatte sich blind und taub gestellt. »Wenn es der Sache dient«, hatte er zu ihr gesagt.

Und jetzt die Sache mit seiner Frau.

Dumme Kuh, dachte er. Es laut zu sagen, hätte er in ihrer Anwesenheit nicht gewagt. Dennoch – ihre Reaktion war bescheuert gewesen. Er hatte doch bloß den Urlaub über Pfingsten abgesagt. Absagen müssen. Sie hatten eine große Präsentation vor sich, das war doch wohl wichtiger als so ein blöder Urlaub auf den Kanaren. Es ging immerhin um ihre Zukunft. Wenn sie den Etat des Kunden erhielten, war die Firma auf Jahre hinaus saniert. Durfte er sich so etwas entgehen lassen?

Er hatte jedenfalls kein Verständnis für ihr Verhalten. Machte ihm Vorhaltungen. Beschimpfte ihn. Dann schrie sie ihn auch noch an. Sollte sie doch sehen, wo sie ohne ihn blieb. Heute früh jedenfalls musste sie alleine am Frühstückstisch in der Küche sitzen.

Er bog von der Reutlinger Straße in die Ludwigstraße ab und dann in die Eisenbahnstraße ein. Als er auf Höhe des Depots war, kamen ihm ein paar Polizeiwagen und ein Auto vom DRK entgegen.

Unfall, dachte er.

Ein paar Minuten später bog er in den Parkplatz vor seinem Büro ein. Er wollte auf den für ihn reservierten Platz fahren, aber der war wie der danebenliegende durch ein rot-weißes Band abgesperrt. Außerdem sah er die aufgemalte Silhouette eines Menschen auf dem Boden. Daneben standen zwei Männer und eine Frau. Kleber stellte den Wagen auf einem unversperrten Platz ab. Er stieg aus und ging zu den Männern und der Frau hinüber.

Christian Löffler und seine Kollegen sahen den Wagen auf den Parkplatz einbiegen. Auf der Fahrertür war ein »Free Minds«-Logo.

»Da kommt einer von der Truppe«, sagte Stammler und deutete auf das Auto, das gerade einparkte und aus dem gleich darauf ein Mann im Anzug ausstieg.

»Können Sie mir sagen, wieso Sie meinen Parkplatz absperren?«, fragte der Mann und kam auf die Kripobeamten zu.

»Absperren?«

»Na hier«, deutete er auf das Schild, auf dem ein Autokennzeichen stand, »das ist mein Platz. Und das rote Band hier gehört ja wohl Ihnen.«

Christian Löffler sah erst auf das Band, dann auf das Schild und danach verglich er die Autonummer damit.

»Dann gehören Sie zu der Werbeagentur hier im Haus, richtig?«

Der Mann nickte.

»Ja, ich bin der Geschäftsführer von ›Free Minds‹. Aber wer sind Sie eigentlich, wenn man mal fragen darf?«

Löffler hielt ihm seinen Ausweis hin.

»Wir sind die Kripo Tübingen. Mordkommission. Mein Name ist Christian Löffler. Das sind meine Kollegen Kommissarin Berger und Kommissar Stammler. Und wie, sagten Sie, ist Ihr Name?«

Der Mann zögerte. So, als müsse er sich erst überlegen, ob er der Polizei trauen könne. Mit einem Seufzen verbunden schien er sich dazu entschlossen zu haben, die drei vor ihm als Freunde und Helfer einzuordnen.

»Mein Name ist Horst Kleber«, sagte er, »ich wollte eigentlich bloß in mein Büro, um zu arbeiten. Oder geht das jetzt nicht?«

Die Kommissare sahen sich untereinander an. Schon wieder erweckte der Werbefachmann den Eindruck, als würde ihm mulmig zumute.

»Wir haben hier unten, gerade daneben, wo sonst Ihr Auto steht, eine Leiche gefunden. Eine tote Frau. Sie müssten Sie eigentlich kennen.«

Kleber schaute die Kommissarin Berger an.

»Ach ja? Wer soll das denn sein?«

»Lola Meineke. Sie arbeitet in Ihrer Agentur.«

»Meineke arbeitet hier. Aber nicht Lola. Meine Meineke heißt Lauren. Dann könnte es sich höchstens um ihre Schwester handeln. Aber sie hat keine, das weiß ich, das hat sie mir selbst erzählt.«

Stammler kramte den Ausweis der Toten heraus und gab ihn Kleber. Der schaute sich das Bild genau an. Dann reichte er den Ausweis zurück.

»Unglaublich«, sagte er mehr zu sich als zu den Polizisten, »da hat die Meineke jahrelang unter falschem Namen gelebt. Und wir haben das nicht bemerkt. Das ist ja Urkundenfälschung. Oder wie soll man das sonst nennen?«

Löffler und die anderen gaben Kleber ein wenig Zeit, um sich wieder zu fassen.

»So«, begann dann der Hauptkommissar, »jetzt können Sie uns sagen, was Sie über die Frau wissen. Wir müssen uns ein Bild machen können, damit wir eine Ahnung bekommen, wo wir bei der Lösung des Falles überhaupt ansetzen müssen. Haben Sie denn eine Erklärung, warum man die Frau getötet haben könnte?«

»Ich?«

»Ja klar Sie. Sie haben sie doch jeden Tag bei der Arbeit gesehen. Mit ihr täglich zusammengearbeitet. Mit ihr geredet. Vielleicht hat sie Ihnen auch private Dinge erzählt. Vom Alter her könnten Sie ja ihr Vater sein, das schafft Vertrauen zwischen zwei Menschen.«

»Ihr Vater? Sie spinnen wohl.«

Kleber schien sich, seiner Miene nach zu urteilen, zu fragen, ob er wirklich so alt aussah, wie der Kommissar annahm.

»Wir wollen das jetzt nicht vertiefen«, übernahm Stammler das Gespräch. »Dennoch würden wir gerne Ihre Einschätzung zu Lola Meineke hören.«

»Meine Einschätzung?«

»Ja, genau«, wurde Stammler etwas ungeduldig, »was hielten Sie von ihr, wie war sie, hatte sie Feinde, ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen? Gucken Sie nie ›Tatort‹ oder andere Krimis im Fernsehen?«

Kleber lachte.

»Das schon, aber man denkt ja nie, dass man selber mal solche Texte hören oder sprechen muss. Aber schön, ich sage Ihnen, was ich weiß.«

Er schloss für einen Augenblick die Augen. Möglicherweise beschwor er so noch einmal das Bild der lebenden Lauren Meineke herauf.

»Frau Meineke war meine wichtigste Mitarbeiterin. Ich hätte sie bald zur Partnerin gemacht. Sie ist, nein, sie war eine typische Geschäftsfrau, knallhart, wenn es darauf ankam. Aber nur dann. Privat lebte sie eher zurückgezogen, soweit ich das beurteilen kann. Ich wohne in Rottenburg, sie in Tübingen, da traf man sich eigentlich nie. Kein Tübinger geht je nach Rottenburg. Und ich selbst gehe eigentlich fast nie aus.«

»Hatte sie denn keinen Mann, Freund, Freundin, Familie?«

Der Werber schüttelte den Kopf.

»Nicht dass ich wüsste. Aber ich weiß ja nicht alles über sie. Irgendwie machte sie, wenn es ums Private ging, ständig einen unzufriedenen Eindruck. Manchmal dachte ich, dass sie sich zu sehr isoliert. Dauernd verbrachte sie die Abende im Büro. Klar, mir war das recht, denn dadurch blieb bei uns nie irgendetwas liegen. Ich habe mich da auch nie eingemischt, war ja ihre Sache, wenn sie mit dreißig schon lebendig begraben sein will. Na ja, jetzt wird sie halt tot begraben.«

Erst mit Verzögerung fiel ihm auf, was er gerade gesagt hatte.

»Tut mir leid«, meinte er zerknirscht und schaute die Kriminalbeamten, einen nach dem anderen an, »aber das war nicht so gemeint. Lag mir halt auf der Zunge. Also – ich mochte die Meineke. Wirklich. Aber wissen tu ich halt nicht viel über sie.«

»Hatte sie Krach mit Kunden? Oder mit anderen Mitarbeitern? Oder ein unglückliches, vielleicht auch glückliches Verhältnis mit einem von ihnen?«

In diesem Augenblick bog ein Wagen in das Firmengelände ein. Ein kleiner Alfa Spider, altes Baujahr. Früher nannten die Italiener den Typ einen »Frauenwagen«. Zuerst etwas orientierungslos angesichts der kleinen Versammlung auf dem Platz, wurde der Wagen schließlich mitten auf dem Hof in einer aufgemalten Parkbucht abgestellt. Alle Blicke wandten sich dem kleinen roten Flitzer zu. Heraus stieg Mira Bögelein, die Sekretärin der Werbeagentur. Schwungvoll schlug sie die Autotüre zu und stöckelte dann in ihren hohen Schuhen zu Kleber und den Polizisten hin.

»Empfangskomitee?«, fragte sie in die Runde und lächelte.

Das Lächeln war durchaus beeindruckend. Mit Wohlgefallen schienen die Kripobeamten, zumindest die beiden männlichen, den Anblick Bögeleins zu genießen. Nun ja, warum auch nicht. Die Firmensekretärin war ein Blickfang. Heute steckten ihre langen Beine in einer schwarzen Stoffhose, den Oberkörper bedeckte eine Kunstpelzjacke.

»Gut gelaunt heute Morgen?«, fragte Kommissarin Berger.

»Wie jeden Morgen«, antwortete Mira, »oder gibt es einen Grund, es nicht zu sein?«

Löffler trat nach vorne.

»Wir sind von der Polizei. Können Sie mir vielleicht sagen, wer Sie sind?«

»Polizei? Dann ist also was passiert. Hat das was mit meinem Chef hier zu tun?«, fragte sie und deutete auf Kleber.

Berger übernahm.

»Wären Sie wohl so freundlich und würden sich vorstellen?«

»Klar, kein Problem. Ich heiße Mira Bögelein und ich arbeite bei ›Free Minds‹. Und das hier«, sie zeigte abermals auf Kleber, »ist mein Chef. Und jetzt wüsste ich gerne, was eigentlich vorgefallen ist. Wenn ich hier schon meine geheimen Daten öffentlich preisgeben muss.«

Wieder lachte sie. Das klang irgendwie ansteckend.