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In Rom begeht ein Mann Selbstmord, indem er sich in der Badewanne die Pulsadern aufschneidet. In San Francisco springt eine Frau von der Terrasse. Zwei dramatische Ereignisse, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Als Betta in Rom versucht, die Scherben ihres Lebens aufzusammeln, steht auf einmal Mark aus San Francisco mit einer bestürzenden Nachricht vor ihrer Tür: Die beiden Selbstmorde – ihres Ehemanns und seiner Schwester – haben eine Gemeinsamkeit. Hinter der verzweifelten Tat scheint sich jemand zu verbergen, der als eine Art Souffleur fungiert: Dionysos. Dieser spürt in den sozialen Netzwerken leicht beeinflussbare Personen auf, um sie dann auf einem Weg zu begleiten, der zum Tod führt. Von der Polizei nicht ernst genommen, machen sich Betta und Mark mithilfe von Andrea, Suicide-Girl und genialer Hackerin, auf eigene Faust auf die Jagd nach Dionysos, indem sie den wenigen Spuren, die er hinterließ, kreuz und quer durch Europa folgen. Eine dunkle Macht streckt jedoch ihre Fühler aus und lässt sie von Jägern zur Beute werden. Welche Interessen stecken hinter dem tragischen Tod zweier Menschen? Die Antwort auf diese Frage ist gleichermaßen beunruhigend wie unglaublich. Es geht um etwas, das die Welt noch nicht bereit ist zu akzeptieren.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2024
Coverbild: Daniela Molisso Covergestaltung:
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ALESSANDRO RICCARDI
SCHATTENTEMPEL
nach einem Script von
Alessandro Riccardi und Laura Sinceri
Übersetzt von Ulrike Sengfelder
EDIZIONI MEA
Für Laura, ohne die diese Geschichte niemals geschrieben worden wäre.
Der graue Himmel über Rom warf einen Schleier der Traurigkeit über die Stadt. In jenem Jahr war der Winter besonders mild gewesen, aber an diesem Februarnachmittag hatte er es sich offensichtlich anders überlegt. Kälte und Feuchtigkeit fuhren in die Knochen, und in der Wohnung des Manns schien es sogar noch kälter als draußen zu sein.
Er sah aus dem Fenster und fühlte sich als Teil des grauen, trostlosen Panoramas, das sich durch Smog und Schmutz Tag für Tag verschlimmerte. Gedankenversunken strich er mit den Fingern über seinen Bart und konzentrierte sich auf das Gefühl, das ihn seit einiger Zeit begleitete. Nur dass es dieses Mal tiefer und schmerzvoller war. Seine Finger glitten auch durch sein dichtes, dunkles Haar, das schmutzig geworden war, nachdem er sich tagelang hatte gehen lassen, und hinterließen ein stehendes Haarbüschel, das bei anderer Gelegenheit sicher lustig ausgesehen hätte.
Er ging einen Schritt zurück und blickte auf das Bücherregal. Drittes Buch von links: Das verräterische Herz. Mit einer Traurigkeit, die er nicht hätte beschreiben können, griff er den Buchrücken und zog das Buch heraus. Er schrieb etwas auf ein Post-it, klebte dieses auf eine zufällig aufgeschlagene Seite, und ließ das Buch auf dem Schreibtisch liegen.
Ein schrilles Geräusch ließ ihn aufschrecken, und er drehte sich zu seinem Computerbildschirm um, auf dem etwas blinkte. Er ging näher, warf einen Blick auf den Monitor und atmete hörbar ein.
7
Sein Blick verschwamm oder vielleicht fokussierte er auch ein weit entferntes Universum. Er ging ins Bad, ließ warmes Wasser in die Badewanne laufen und zog sich nackt aus. Das Wasser hatte fast die richtige Temperatur. Er nahm eine Schachtel aus dem Badezimmerschränkchen, stieg in die Wanne und legte sich hinein. Das Wasser streichelte seine Haut und verlieh ihm ein Wohlgefühl. Aber der Mann konnte es nicht genießen, er konnte kaum die Wärme um ihn herum spüren.
Aus der Schachtel zog er eine Klinge, eine von denen, die er zum Rasieren benutzte. Er hielt sie einige Sekunden lang in der Hand und betrachtete sie, als ob er zum ersten Mal eine solche Klinge sehen würde. Schließlich schnitt er sich entschlossen die Pulsader auf, senkrecht, so wie sie es ihm gezeigt hatten.
Der Schmerz zog sich über den ganzen Arm, aber der Mann hielt erst inne, als er das gewünschte Ergebnis erreicht hatte. Das Blut sprudelte, der stechende Schmerz wurde zu einem leichten Brennen, das sich fast angenehm anfühlte.
Er überlegte, ob er sich auch noch die andere Pulsader aufschneiden sollte, kam aber zu dem Schluss, dass das nicht notwendig wäre. Schließlich würde vor dem Abend niemand nach Hause kommen. Er hatte Zeit.
Er streckte sich in der Wanne aus, schloss die Augen und kam endlich zur Ruhe.
8
Mary
Die Frau hatte langes blondes Haar und ein Gesicht wie ein Engel. Auf den ersten Blick sah sie wie eine typische Kalifornierin aus. Tatsächlich aber war sie in New Jersey geboren und erst vor etwa zehn Jahren nach Kalifornien gezogen, nachdem sie ihre ersten Werke verkauft hatte.
Durch die Fenster ihres hellen Lofts im hoch gelegenen Teil San Franciscos genoss man ein atemberaubendes Panorama, das sie so oft bei ihrer Arbeit inspiriert hatte.
Auf der Leinwand, die sie in Arbeit hatte, entstand ein weibliches Gesicht vor einem verschwommenen dunklen Hintergrund. Dem Gesicht fehlten die Augen, doch die Frau schien nicht zu beabsichtigen, ihm welche hinzuzufügen.
Der Pinsel strich präzise und langsam über die Leinwand und schuf sorgfältig und ausdrucksstark die von seiner Besitzerin gewünschten Formen.
Beim Ausspülen der Pinselspitze vor dem Farbwechsel gelangte ein roter Tropfen auf das weiße Nachthemd, das sie am Abend zuvor angezogen hatte und das sie noch immer trug, ohne den blauen Kittel, der bereits mit vielen Farbspritzern übersät war, übergezogen zu haben. Sie senkte kein Sekunde ihren Blick, um den sich ausbreitenden Fleck zu betrachten, so sehr war sie auf ihre Schöpfung konzentriert.
Sie vollendete die weibliche Gestalt, ging einen Schritt zurück und betrachtete sie.
9
Immer noch fehlten die Augen, wodurch das Bild ziemlich beunruhigend wirkte. Die Frau kehrte zur Leinwand zurück und zeichnete an die Stelle der Augäpfel kleine Spiralen, die noch mehr Unruhe vermittelten.
Das Bild war fertig, und sie war sicher, dass ihr Galerist es gut verkaufen würde, und doch lächelte sie nicht.
Ein schrilles Geräusch kam vom eingeschalteten Computer hinter ihr. Sie drehte sich nicht um. Die Traurigkeit, jene schreckliche Begleiterin, die ihr schon seit Langem den Magen zusammenkrampfen ließ, zog sich nun durch ihren Körper. Sie wusste, dass der so lang herbeigesehene Zeitpunkt gekommen war, und legte den Pinsel, den sie noch immer in der Hand hatte, auf die Palette.
Sie verließ das Loft so, wie sie war – im Nachthemd und mit bloßen Füßen – und stand auf dem kalten Treppenabsatz. Sie blickte kurz auf die nach unten führende Treppe. Um auf die Straße zu gelangen, hätte sie acht Stockwerke hinuntergehen müssen, zur Terrasse war es nur eins nach oben. Sie wandte sich in diese Richtung. Als sie ins Freie trat, blies ihr ein kalter, vom Meer kommender Wind ins Gesicht. Sie zitterte, aber das kümmerte sie nicht. Sie ging zum Geländer und warf einen letzten Blick auf das Golden Gate, das sich in der Ferne vom Horizont abhob.
Das wäre der richtige Ort, dachte sie. Aber der Weg wäre zu lang gewesen, und sie spürte, dass ihr diese Zeit nicht blieb.
Sie zog sich mit den Armen hoch, um auf die Brüstung zu klettern. Dort hielt sie noch einige Augenblicke lang das Gleichgewicht. Kurz wandte sie sich um, um noch einen Blick auf das zu werfen, was sie hinterlassen würde.
Dann schloss sie die Augen und ließ sich fallen.
10
Der Irish Pub war ungewöhnlich voll, obwohl es unter der Woche war und der Dauerregen nicht zum Ausgehen einlud.
Martin saß allein am Tresen und war beim dritten Bier. Er war hundemüde, aber zufrieden. Endlich lief alles nach Plan, und er würde große Dinge vollbringen. Vor allem würde er jene Villa in Salzburg kaufen, die er im vergangenen Sommer gesehen hatte, und wahrscheinlich auch eine Jacht.
Er schaute auf den Grund des Glases und betrachtete sich dann im Spiegel hinter dem Tresen. Was er sah, gefiel ihm nicht, aber er hatte gelernt, sich zu akzeptieren. Sein Aussehen konnte man sich schließlich nicht aussuchen. Die vernachlässigte Erscheinung, der zerknitterte Anzug und der ungepflegte Bart vermittelten sicher nicht das Erfolgsbild, das Martin zu verdienen glaubte.
Ab morgen werden andere Saiten aufgezogen, dachte er und erstellte in Gedanken eine Liste der Dinge, die es zu tun galt, um sein Äußeres zu optimieren, beginnend beim Schneider.
Einen Augenblick war er unschlüssig, ob er noch ein Bier trinken sollte oder nicht, doch schließlich beschloss er, ins Hotel zurückzukehren. Der Tag war lang gewesen, und der nächste würde noch länger werden. Er zahlte und hielt dabei die lederne Umhängetasche fest, die sein Onkel ihm vor nicht allzu vielen Jahren, als er ins Arbeitsleben eingestiegen war, geschenkt hatte.
Der Winter in Genf war kalt. Die Straßen waren häufig schneebedeckt, aber nicht an diesem Abend. Er betrachtete die gepflegte und ordentliche Umgebung und kam erneut zu dem Schluss, dass ihm dieser Ort zwar gefiel, er ihn aber nicht ins Herz schließen konnte.
11
Ihm fehlte hier der unterhaltsame Teil des Lebens, jener, für den er im Rotlichtviertel seiner Stadt so einiges an Geld ausgab.
Er verscheuchte diese Gedanken, zog den Mantel enger und ging in Richtung seines Hotels. Als er ein kurzes Vibrieren spürte, das sich mehrmals wiederholte und auf eine Nachricht hindeutete, nahm er das Handy aus der Tasche. Jemand schrieb ihm mehrere Nachrichten. Er begann zu lesen, und seine Miene verfinsterte sich.
Genau in diesem Augenblick kam der Scheinwerfer eines großen Motorrads auf ihn zu. Darauf saßen zwei Personen, die schwarze Jacken und Helme wie eine Art Uniform trugen. Der Beifahrer streckte den Arm aus im Versuch, Martin die Umhängetasche zu entreißen. Dieser sprang jedoch instinktiv zurück und konnte den Raub verhindern. Dachte er jedenfalls.
Das Motorrad wendete schnell und startete einen erneuten Versuch. Offensichtlich wollten sie um jeden Preis seine Tasche, aber Martin hatte nicht die Absicht, sie ihnen zu überlassen.
Er rannte im Zickzack zwischen den geparkten Autos hindurch, sodass die Motorradfahrer ihn nicht erwischen konnten, und lief schließlich auf einen Streifenwagen zu, den er in der Ferne ausgemacht hatte. Die Polizisten hatten an einer Straßenecke geparkt, und als sie den Mann sahen, der auf sie zurannte, stiegen sie aus dem Fahrzeug. Das Motorrad fuhr weg. Martin lief zu den Polizisten und versuchte ihnen zu erklären, was passiert war, aber er war so außer Atem, dass er nicht sprechen konnte. Er lehnte sich ans Auto. Sein Herz raste.
»Gibt es ein Problem?«, fragte einer der Polizisten.
»Die da ... die auf dem Motorrad ...«, keuchte Martin und zeigte in Richtung einer Straße, »... haben versucht, mich auszurauben.«
12
Die Polizisten sahen in die Richtung, in die Martin gezeigt hatte, aber es war weit und breit kein Motorrad zu sehen.
»Wir haben das Motorrad gesehen, aber jetzt ist es weg.« Martin nickte, immer noch außer Atem.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte der Beamte, dem klar war, dass sich Martin vollkommen verausgabt hatte und dass das in Kombination mit der Kälte in dieser Nacht nicht nur für die Lunge, sondern auch für das Herz fatal sein könnte.
Martin nickte erneut. »Ja, ja, alles okay. Danke.«
Er löste sich vom Fahrzeug, dankte erneut, verabschiedete sich und ging los. Das Adrenalin jagte ihm noch eine Ladung an Energie durch die Venen, aber seine Lungen und Beine sahen das anders.
Fitnesscenter – noch eine Maßnahme, die zu seiner Selbstoptimierung beitragen würde.
In Genf hatte noch nie jemand versucht, ihn zu berauben oder zu bestehlen, auch wenn es in den Fernsehnachrichten ständig um die steigende Kriminalitätsrate im Kanton ging.
In den Randbezirken Amsterdams, wo er geboren und aufgewachsen war, war es deutlich schlimmer. Aber das Thema Kriminalität war dort nicht im Entferntesten so präsent wie in der Schweiz.
Jetzt ging wohl auch er in irgendeiner Weise in die Statistiken ein.
Er bog in die Gasse ein, die zu dem Hotel führte, wo er normalerweise abstieg, als ihn ein Schlag gegen die Schulter an die Wand warf. Es gab ein dumpfes Geräusch, und Sekunden später spürte er einen stechenden Schmerz.
Er griff sich an die Schulter und sah, dass seine Hand voller Blut war, ohne zu verstehen, was passiert war. Er hob den Blick und sah einen der beiden Motorradfahrer vor sich, der eine Pistole mit Schalldämpfer in der Hand haltend auf ihn zukam.
13
Unter Aufbietung all seiner Kräfte versuchte Martin, erneut zu fliehen, aber zwei Schüsse drangen in seine Brust und alles wurde schwarz.
Er ging zu Boden. Der Motorradfahrer steckte die Pistole zurück in seinen Gürtel, ging zur Leiche und nahm die Umhängetasche. Sein Komplize, der auf dem Motorrad an der Ecke gewartet hatte, startete nun den Motor, fuhr heran, ließ den anderen aufsteigen und fuhr davon.
All das spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab.
14
Die Crédit-Agricole-Filiale an der Tuscolana war an jenem Morgen sehr gut besucht. Betta saß daher im Wartebereich und vertrieb sich die Zeit mit ihrem Handy. Immer und immer wieder sah sie sich Bilder an, die sie Arm in Arm mit einem Kind und einem Mann zeigten: Edoardo.
In den letzten beiden Jahren war Bettas Leben von Schmerz und Traurigkeit geprägt gewesen. Aber von all dem, was geschehen war, ließ sie das Bild ihres nackten Ehemanns, der tot im von seinem eigenen Blut rot gefärbten Wasser in der Badewanne lag, nachts aus dem Schlaf schrecken.
Er war einfach gegangen. Er hatte sie verlassen. Und hatte sie nicht nur gezwungen, allein mit jenem ungeheuren Schmerz, den sie bereits verspürte, weiterzuleben, sondern hatte ihr einen weiteren Schlag versetzt.
Sie verabscheute ihn. Dessen war sie sich kurz nach der Bestattung bewusst geworden. Ja, natürlich liebte sie ihn, aber sie verabscheute ihn auch. Sie war so wütend. Wie hatte er ihr das antun können?
In guten wie in schlechten Zeiten ... so ein Quatsch!, wiederholte sie mit zusammengekniffenen Lippen wie eine Art Mantra.
Sie aktivierte die Tastensperre und blickte sich zerstreut um. Erst nach einiger Zeit bemerkte sie den Filialleiter, der sie aus der Ferne herbeiwinkte.
Betta stand auf, zwang sich zu einem Lächeln und ging ins Büro. Der Mann, Daniele Bendoni, war um die vierzig, hatte ein sympathisches, rundliches Gesicht und bat sie, Platz zu nehmen.
15
»Betta, wie geht es dir?«, hob er an und bereute die Frage sofort. Betta lächelte bitter, antwortete aber nicht, sodass Daniele schnell hinzufügte:
»Das war eine dumme Frage. Reine Gewohnheit, sodass ich sie automatisch stelle.«
»Kein Problem. Im Allgemeinen geht es mir gut ... soweit das möglich ist.«
Daniele nickte und holte tief Luft. Was er zu sagen hatte, fiel ihm nicht leicht, aber es gehörte nun mal zu seinem Job.
»Betta, du hast schon fünf Raten des Hypothekendarlehens ausgelassen. Ich habe versucht, Aufschub zu beantragen und ... deine Lage ... erklärt, aber den Banken geht es leider nur um Zahlen, das weißt du ja.«
»Ja, das weiß ich.«
»Lass mich dir helfen. Kannst du wirklich gar nichts zahlen?«
Betta senkte die Augen, starrte auf ihre Hände und schüttelte den Kopf.
»Dann würde ich mit deiner Erlaubnis gern ein paar unserer Kunden anrufen, die in Immobilien investieren. Wenn jemand deine Wohnung kauft, könntest du das Darlehen tilgen und hättest noch etwas Geld übrig, um entspannt wieder von vorn anzufangen.«
»Ich werde die nächste Rate fristgerecht bezahlen. Ich will nicht verkaufen.«
Daniele sah sie mit einer Mischung aus Ärger und Mitgefühl an.
»Und wie willst du das hinkriegen?«
»Ich werde mir was überlegen.«
»Du hast keine Chance«, konstatierte er ruhig. »Lass dir helfen.«
»Daniele, ich danke dir, aber ich habe dir gesagt, dass ich zahlen werde«, erwiderte sie schlicht und stand auf, bereit zu gehen.
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Der Direktor lehnte sich zurück und führte seine Hände fast wie zum Gebet vor dem Mund zusammen.
»Mit Stolz kommst du nicht weiter. Ich versuche es so hinzubekommen, dass die Hypothek nicht in Anspruch genommen wird. Das ist nicht gerade angenehm.«
»Ich weiß, aber ich will nicht verkaufen ... ich kann nicht.«
Danieles Augen wurden feucht. Der Schmerz, den sie empfinden musste, war unvorstellbar, er hatte Mitleid mit ihr.
Was Betta in seinem Blick las, brachte sie in Verlegenheit. So beeilte sie sich zu gehen und grüßte nur mit einer knappen Kopfbewegung.
Als sie den Raum verließ, fühlte sie seinen Blick auf sich ruhen.
Der Italo-Hochgeschwindigkeitszug raste mit 250 km/h in Richtung Rom, wo er in einer Stunde eintreffen würde.
Mark saß am Fenster, und Teresa, die junge Frau neben ihm, hatte von der Tatsache profitiert, dass er ihr nicht entkommen konnte. Sie hatte ein Gespräch begonnen und wollte nicht mehr aufhören zu reden.
»... also habe ich ihm gesagt, dass er nicht mehr nerven soll, dass ich genug von ihm habe und nichts mehr von ihm wissen will. Da schossen ihm plötzlich die Tränen in die Augen, und er ist fast weggelaufen. Wer hätte das gedacht?«
Obwohl sie sehr gut Englisch sprach, konnte Mark dem Gespräch nicht folgen, er hatte nicht einmal verstanden, um wen es ging. Er wollte einfach nur aus dem Fenster sehen, die Landschaft betrachten, versuchen, sein Gehirn so weit wie möglich auszuschalten, um dem kontinuierlichen und beharrlichen Strom an Gedanken, Schmerz und Schuldgefühlen zu entfliehen. Teresas unaufhörliches Gerede half nicht.
Er betrachtete sie erneut. Sie war hübsch, hatte hellbraunes Haar, war schlank, ihre Jeans waren an den Knien zerrissen, und sie trug Sneakers mit Absätzen. Ihre Augen strahlten die Energie und Arglosigkeit ihrer zwanzig Jahre aus. Sie waren die einer jungen Frau, die überzeugt davon ist, viele Aspekte des Lebens zu kennen, aber noch rein gar nichts verstanden hatte.
Einen Augenblick lang beneidete er sie. Auch er wäre gern wieder zwanzig und in die College-Zeit, die Zeit, als er mit Freunden ausging, in der Bar arbeitete und die Mädchen auf der Suche nach Erfahrung waren, zurückgekehrt.
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Er würde alles für einen Moment der Sorglosigkeit geben, wusste aber, dass ihm Mary diese mit ihrem Sprung aus dem obersten Stock weggenommen hatte und sie vermutlich nie mehr zurückkehren würde.
»Warum fährst du nach Rom?«, fragte Teresa, der anscheinend das Gesprächsthema rund um ihre Liebeleien ausgegangen war.
»Familienangelegenheiten«, antwortete er vage.
»Ach, deine Familie stammt aus Rom?«, rief sie fast begeistert aus.
»Nein, ich habe keine Verwandten hier in Italien. Ich bin ... geschäftlich für die Familie hier«, erklärte er.
»Und um welche Geschäfte handelt es sich?«, insistierte sie, ohne seine Signale zu bemerken.
»Private Geschäfte.«
Diese Antwort brachte sie zum Schweigen. Fast. Sie war nicht gewohnt, aufzugeben. Sie nickte höflich, wandte sich dann zum Gang und kündigte an, sie werde zum Automaten gehen, um sich etwas zum Essen zu holen.
Mark entspannte sich. Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. In Gedanken ließ er das Geschehene Revue passieren, und wie immer lief ihm ein Schauer über den Rücken. Der Zwischenstopp in Mailand war keine gute Idee gewesen, aber er hatte ihn einlegen müssen, denn er musste versuchen, das ganze Netzwerk aufzudecken. Auch wenn er jetzt nicht schlauer war als zuvor. Aber das war egal. Nun hoffte er, in Rom zu finden, was er suchte.
Teresa kam an ihren Platz zurück, in der Hand einen herzhaften Snack und eine Dose Cola.
»Möchtest du einen Schluck?«, fragte sie etwas zu vertraut.
Mark öffnete die Augen, sah sie an und schüttelte den Kopf.
»Es gehört sich nicht, Angebote abzulehnen, weißt du? Wir Italiener reagieren da empfindlich.« Dann fügte sie kokett hinzu: »Wenn du mir etwas anbieten würdest, würde ich es annehmen.«
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Die nicht zu unterschwellige Metapher entging Mark nicht, der längst kapiert hatte, dass das Mädchen an ihm interessiert war. Er hatte diese Erfahrung immer wieder gemacht, seit er ein Junge war. Vielleicht wegen seines blonden Haars und der grünen Augen, wegen seines gewinnenden Lächelns oder seiner athletischen Figur.
Er wusste, dass sie, wenn er aufstehen und ihr vorschlagen würde, ihm zur Toilette zu folgen, es machen würde.
Er war geschmeichelt, lächelte aber nur. Nie könnte er jetzt etwas mit einer Frau anfangen.
»Wenn du morgen Abend Zeit hast: Ein Freund von mir spielt in einem Lokal. Er ist sehr gut.«
»Ich glaube nicht, dass ich Zeit haben werde, tut mir leid.«
Teresa schien zu verstehen, dass dies eine Abfuhr war, und begann, ihren Snack zu essen, ohne etwas hinzuzufügen.
Mark war erleichtert.
Betta ging mit gesenktem Kopf die Via La Spezia entlang und nahm die Menschenmassen um sie herum kaum wahr. Fröhliche, traurige, wütende Menschen. Kurzum, lebende Menschen.
Vielleicht war das der Hauptgrund dafür, warum sie für sie so weit entfernt waren, denn sie konzentrierte sich auf den Tod.
Ein plötzlicher Druck auf der Brust ließ sie innehalten. Niemand hatte ihr auf den Brustkorb gedrückt, aber sie hatte Mühe zu atmen. Dankbar lehnte sie sich an eine Mauer und wartete darauf, dass ihre Lunge sich wieder entschied, ihre Arbeit zu verrichten. Sie rang nach Atem, zwang sich jedoch dazu, nicht zu gierig nach Luft zu schnappen. Das Gewicht auf der Brust ließ etwas nach, genug, um den Sauerstoff wieder seinen Weg finden zu lassen. Dieser kleine Sieg gab ihr Vertrauen, und sie atmete ruhig weiter.
Wenige Sekunden später lehnte sie sich mit dem ganzen Rücken an die Mauer, glücklich darüber, dass sie wieder normal atmen konnte.
»Alles in Ordnung?«, fragte ein Mann in mittlerem Alter, der vor ihr stehen geblieben war. Betta betrachtete ihn. Er war gut gekleidet, wirkte aber etwas altmodisch.
»Alles gut«, antwortete sie. Dann merkte sie, dass ihrer Antwort etwas fehlte, und fügte hinzu: »Danke.«
Der Oldtimer-Mann musterte sie wenig überzeugt. »Sind Sie sicher? Ich habe gesehen, dass Sie Mühe hatten, Luft zu bekommen ... möchten Sie, dass ich einen Arzt rufe?«
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»Es war nur eine Panikattacke«, erklärte sie, »daran bin ich gewöhnt.«
Der Mann nickte, blieb aber stehen und betrachtete sie weiter.
»Hier gibt es nichts zu sehen!«, schnauzte Betta ihn an.
Der Mann steckte den Angriff nonchalant ein, bat um Entschuldigung und ging. Ich bitte um Verzeihung, wollte sie noch hinzufügen, aber er war bereits weg. Sie spürte das vertraute Schuldgefühl dafür, wie sie die einzige Person, die sich wie ein Mensch verhalten hatte, behandelt hatte. Häufig konnte sie sich nicht zurückhalten und war viel unfreundlicher, als sie eigentlich sein wollte.
Sie atmete tief ein und ging weiter.
Nach wenigen Hundert Metern stand sie vor einem von einer Mauer umgebenen Gebäude, neben dessen Eingangstür ein silbernes Schild mit der Aufschrift Familienberatung angebracht war. Sie zögerte einen Augenblick und ging dann durch das große Tor.
Zuerst sah sie Oscar, den Pförtner. Ein Student, der zur Finanzierung seines Studiums einen Arbeitsplatz gefunden hatte, der ihm nicht allzu viel abverlangte und an dem er auch während der Arbeitszeit einen Blick in seine Bücher werfen konnte.
Betta hatte mehrmals mit Oscar gesprochen, fand ihn intelligent, vielleicht nicht besonders scharfsinnig, aber höflich und zielstrebig. Er war der Einzige in seiner Familie, der die Universität besuchte, und seine Eltern waren zu jedem Opfer bereit, um ihn seinen Abschluss machen zu lassen, aber er musste ihnen helfen, sonst würden sie es nicht schaffen. Deswegen war er hier. Außerdem studierte er Psychologie, und diese Umgebung bereitete ihn auf das vor, was ihn in Zukunft erwarten würde.
Als Oscar sie sah, errötete er. Es war offensichtlich, dass er etwas sagen wollte.
24
Er hatte sie seit Monaten nicht gesehen und wusste, was passiert war, aber es gelang ihm nicht, etwas zu sagen. So grüßte er sie nur mit einem Nicken. Betta erwiderte den Gruß, ging den langen Gang hinunter und fühlte sich ein wenig wie eine Aussätzige.
Dieses Gefühl verstärkte sich, als sie zwei Kolleginnen begegnete, die sie schnell und mit einem mitleidigem Blick grüßten, sich dann verabschiedeten und dabei gestikulierten, wie um zu sagen Wirsprechen später. Auch sie hatten sie seit geraumer Zeit nicht gesehen. Jede von ihnen hatte ihr eine Kondolenzkarte geschickt und sich bereit erklärt, jederzeit zu helfen. Dann war nichts mehr gekommen. Kein Anruf, keine weitere Mitteilung, keine Nachricht, nichts, was ein Minimum an Interesse beweisen würde. Nichts.
Und das sollen Psychologinnen sein, dachte sie bitter. Wie immer gelangte sie zu dem Schluss, dass sie wohl etwas falsch gemacht haben musste, weil es ihr nicht gelungen war, die Beziehungen zu den Kolleginnen zu pflegen, dass sie selbst die Frauen dazu gebracht hatte, sich so zu verhalten. Irgendwas war falsch an ihr, da war sie sich sicher.
Sie hielt vor der Tür Paolo Colangelis, des Leiters der Einrichtung, an, klopfte nachdrücklich und wartete darauf, dass er mit seiner Baritonstimme »Herein!« rief. Stattdessen öffnete sich die Tür plötzlich, und der riesige Körper Paolos erschien auf der Schwelle.
Er riss die Augen auf. »Betta!«
Sein rundes Gesicht strahlte, und er freute sich aufrichtig, sie zu sehen. Seine breiten Schultern hoben sich, damit er seine Arme ausbreiten konnte. Er ging einen halben Schritt auf sie zu und hielt dann inne, da er in ihren Augen sah, dass ihr Körperkontakt nicht behagen würde. Er senkte die Arme und legte ihr die Hände auf die Schultern.
Mit seiner Größe von einem Meter einundneunzig bei mindestens einhundertzwanzig durchtrainierten Kilo überragte er sie vollständig.
25
Und doch würde niemand, der ihn sah, jemals denken, er sei gefährlich. Er war ein erkennbar freundlicher Mann, ein guter Riese.
»Ich freue mich so sehr, dich zu sehen!«
»Ich freue mich auch«, erwiderte sie mit einem Lächeln und bemerkte, dass dies die Wahrheit war.
»Wir haben gerade über dich gesprochen«, sagte Paolo und schob seinen massigen Körper beiseite, damit sie nach innen blicken konnte. Auf der Couch im Büro saß ein Mann, der ganz erfolgreicher Geschäftsmann war: teurer Anzug und Rolex am Handgelenk. Sein grau meliertes, etwas längeres Haar ließ ihn aristokratisch wirken.
Der Mann stand auf und deutete eine Verbeugung in Bettas Richtung an.
»Hocherfreut, dich wiederzusehen«, sagte er in einem ausgezeichneten Italienisch mit ausgeprägtem deutschem Akzent.
»Hallo, Wilhelm, die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte sie und fühlte sich augenblicklich nicht wohl in ihrer Haut. Anders als Paolo war Wilhelm Ring, der Hauptwohltäter der Beratungsstelle sowie Europa-Geschäftsführer des multinationalen Unternehmens WNE, das Standorte in der ganzen Welt und Interessen praktisch in jedem Sektor hatte, ein Mann, der keine positive Ausstrahlung hatte. Obwohl er niemals etwas gemacht hatte, was ihr den Eindruck vermitteln hätte können, dass er unredlich wäre, nahm sie hinter seinem höflichen Verhalten und den großen menschenfreundlichen Gesten, zu denen er in der Lage war, eine Eiseskälte wahr. Manager auf diesem Niveau mussten wohl einen Killerinstinkt – diesen Begriff kannte sie aus amerikanischen Filmen – haben, vielleicht war das der Grund für ihr Misstrauen.
»Entschuldigt bitte, wenn ich euch gestört habe«, fuhr Betta fort. »Ich kann draußen warten, bis ihr fertig seid.«
26
»Das ist nicht nötig, ich wollte gerade gehen«, erwiderte Wilhelm und näherte sich der Tür.
Ein Kollege Bettas machte vom Gang her Zeichen, um Paolos Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Offensichtlich war es dringend.
»Entschuldigt mich bitte eine Minute«, sagte dieser und ging.
Wilhelm ging auf Betta zu, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte.
»Ich habe dir mehrmals geschrieben«, begann er.
»Ich weiß, entschuldige bitte ... die Zeit ist wirklich ...« Sie beendete den Satz nicht, weil sie nicht wusste, welches Adjektiv sie benutzen sollte.
»Aber sicher«, antwortete Wilhelm und hob die Hände, um das Unbeschreibliche, das ihr widerfahren war, zu unterstreichen. »Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich mich wirklich freuen würde, wenn du mir erlauben würdest, dir irgendwie zu helfen.«
Betta nickte befangen. »Danke, du bist immer sehr freundlich.« Wilhelm legte ihr sanft eine Hand auf den Arm und drückte sie leicht. »Es ist nicht schlimm, um Hilfe zu bitten.«
Betta nickte erneut. Diesen Satz hatte sie selbst viele Male zu vielen Patienten gesagt.
»Ein kleiner Notfall«, entschuldigte sich nun Paolo, der zurückgekehrt war.
»Ich muss jetzt los«, sagte Wilhelm zu dem riesigen Mann auf der Schwelle. »Mach dir keine Sorgen wegen der neuen Computer, das mache ich schon.«
»Danke, Wilhelm.«
Der Manager nickte leicht, fast so als ob er etwas entgegnen wollte. Dann verabschiedete er sich und ging.
»Ein anständiger Mann«, kommentierte Paolo.
»Ja«, sagte sie und hatte immer noch ein ungutes Gefühl.
Paolo zeigte auf die Couch und bat sie, Platz zu nehmen.
27
»Also, was gibt‘s?«
Betta fühlte sich durch das offene Lächeln ihres Chefs ermutigt und sprach aus, was ihr auf dem Herzen lag.
»Ich möchte zurück zur Arbeit, Paolo.«
Der gute Riese runzelte die Stirn. »Fühlst du dich fit genug?« Betta nickte. »Ich schaffe es nicht mehr, zu Hause zu bleiben und nichts zu tun. Ich bin bereit, wieder zu arbeiten.«
»Ich schaffe es nicht mehr ist kein guter Grund.«
»Du hast genau verstanden, was ich sagen möchte. Alles war so schrecklich, und wenn ich die Zeit nur in der Wohnung verbringe, rotiert mein Gehirn. Zuerst konnte ich an nichts anderes denken, aber jetzt bin ich bereit, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen.«
Paolo holte tief Luft und erwiderte ruhig: »Es freut mich sehr, das zu hören, Betta ... Das Problem ist nur, dass ich dir das nicht abnehme.«
Betta gefror das Blut in den Adern. Sie war überzeugt, ihren Part gut gespielt zu haben, aber ihr Chef hatte offensichtlich tiefer gesehen. Trotzdem blieb sie in ihrer Rolle, lächelte und sagte: »Warum?«
»Die Worte, die du gewählt hast, sind nicht deine. In all den Jahren habe ich dich nie so förmlich reden hören. Das ist kein spontaner Gedanke, du hast dir einen Satz zurechtgelegt und ihn auswendig gelernt. Hast du ernsthaft geglaubt, dass ich das nicht merke?«
Betta schluckte und wandte den Blick ab. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
»Warum bist du hergekommen?«, fragte er gelassen wie immer, »sag mir die Wahrheit.«
Sie fand nicht den Mut, ihn erneut anzusehen, sagte aber: »Ich brauche Geld.«
Paolo veränderte seine Sitzhaltung und lehnte sich zurück.
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»Seit fünf Monaten bekomme ich nur das halbe Gehalt, wie du weißt. Ihr wart wirklich entgegenkommend, mir drei Monate lang das volle Gehalt zu zahlen, trotz des Wartestands. Ich wusste, dass es halbiert werden würde, und ich weiß auch, dass es ab dem nächsten Monat noch einmal um die Hälfte gekürzt wird.«
»Betta, wir ...«, wollte Paolo sich rechtfertigen, aber sie unterbrach ihn.
»Nein, nein, ich bitte dich ... ich gebe dir keine Schuld, im Gegenteil. Du hast gemacht, was du konntest, und das war viel mehr, als andere gemacht hätten. Das sollte keine Kritik sein ... Ich muss nur wieder Vollzeit arbeiten, ich muss das Darlehen abzahlen, ich muss ausstehende Rechnungen bezahlen ...«.
Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie hasste sich dafür. Sie wollte niemandes Mitleid erregen, schon gar nicht Paolos.
Dieser überlegte einige Augenblicke und starrte auf seine Hände, die er auf dem Schreibtisch verschränkt hatte.
»Vielleicht könnten wir Wilhelm bitten, uns zu helfen. Du weißt, dass er schon immer eine Schwäche für dich gehabt hat.«
»Nein, bitte nicht. Ich will keine Almosen. Ich bin jung, gesund und stark, ich habe nur eine schlimme Zeit durchgemacht. Ich bin in der Lage, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, ich kann das.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist ...«, kommentierte Paolo.
»Du wirst es nicht bereuen.«
»Du weißt, dass wir hier einen anstrengenden Rhythmus haben, es gibt viel Arbeit.«
»Ja, ich weiß. Mach dir keine Sorgen, ich schaffe das.«
Paolo nickte zögerlich und ohne den Mut zu haben, Betta unverrichteter Dinge wegzuschicken.
»Also dann bis morgen früh, Uhrzeit wie immer.«
Mark folgte den Google-Maps-Anweisungen bis zu einem bernsteinfarbenen Gebäude mitten im San-Giovanni-Viertel. Er ging zur Klingelanlage, zögerte jedoch. Er fühlte sich unwohl. Er war direkt vom Bahnhof hierher gekommen, war müde, seine Kleidung war verknittert. Das war sicher nicht die beste Art und Weise, sich jemandem vorzustellen, den man nicht kannte, vor allem angesichts dessen, was er mitzuteilen hatte.
Sie musste ihm glauben, und – wie man in den USA zu sagen pflegte – es gibt keine zweite Chance, einen guten ersten Eindruck zu machen.
Angst und Hektik überkamen ihn, aber er riss sich zusammen und ließ es sein. Er machte kehrt und ging in Richtung des nahen Hotels, das er sich ausgesucht hatte.