Schauspiel: ein Grundriss - Mykola Bogdanov - E-Book

Schauspiel: ein Grundriss E-Book

Mykola Bogdanov

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Beschreibung

Dieses Buch ist ein Versuch, das Schauspiel als ein klares System zu umfassen. Im Laufe der Zeit erlernte und entdeckte ich unterschiedliche Methoden, vor allem von Konstantin Stanislawski, Eugenio Barba und Michael Chekhov und integrierte sie in mein praktisches Tun als Schauspieler und Regisseur. Als ich begann, selbst Schauspiel zu unterrichten, stieß ich zu meiner Überraschung auf die Tatsache, dass viele dieser Methoden bei einigen Schülern nicht griffen, oder von Kollegen nicht- oder missverstanden wurden. Irgendwann kam ich zu dem Punkt, an dem ich all das Gelernte auf seine tatsächliche Anwendbarkeit überprüfen musste. Dafür habe ich mich zunächst von der Unantastbarkeit der großen Namen verabschiedet und jede Methode mit meiner eigenen subjektiven Erfahrung beurteilt. Dabei kam mir sehr gelegen, dass ich als Regisseur oft mit unerfahrenen Schauspielern oder mit Laien arbeite. So konnte ich meine Beurteilungen einigermaßen objektivieren und sehen, ob eine konkrete Methode tatsächlich funktioniert und eine schwierige Szene nicht bloß vom schauspielerischen Können gerettet wurde. Manche Methode wurden aussortiert, manches neu rangiert und zugeordnet, wieder einiges musste ich durch meine Ideen ergänzen. So eröffneten sich mir Zusammenhänge unterschiedlicher Techniken und Herangehensweisen, was mich mehr und mehr davon überzeugte, dass sie zu einem übergreifenden System zusammengefasst gehören.

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Seitenzahl: 168

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dieses Buch ist ein Versuch, das Schauspiel als ein klares System zu umfassen. Da ich nicht der Erste bin, der sich dieser Herausforderung stellt, greife ich hin und wieder auf die Methoden großer Schauspiellehrer zurück; manchmal widerspreche ich sogar ihren Ratschlägen und Einsichten. Im Laufe der Zeit erlernte und entdeckte ich unterschiedliche Methoden, vor allem von Konstantin Stanislawski, Eugenio Barba und Michael Chekhov und integrierte sie in mein praktisches Tun als Schauspieler und Regisseur. Als ich begann, selbst Schauspiel zu unterrichten, stieß ich zu meiner Überraschung auf die Tatsache, dass viele dieser Methoden bei einigen Schülern nicht griffen oder von Kollegen nicht- oder missverstanden wurden. Das verunsicherte mich, denn ich selbst war für mein Schauspiel immer gelobt worden und fühlte mich in diesem Gerüst der Schauspiel-Techniken wohl. Ich bekam Zweifel: Waren der Grund für meine Erfolge genau diese Techniken oder ausschließlich meine Begabung? Irgendwann kam ich zu dem Punkt, an dem ich all das Gelernte auf seine tatsächliche Anwendbarkeit überprüfen musste.

Dafür habe ich mich zunächst von der Unantastbarkeit der großen Namen verabschiedet und jede Methode mit meiner eigenen subjektiven Erfahrung beurteilt. Dabei kam mir sehr gelegen, dass ich als Regisseur oft mit unerfahrenen Schauspielern oder mit Laien arbeite. So konnte ich meine Beurteilungen einigermaßen objektivieren und sehen, ob eine konkrete Methode tatsächlich funktioniert und eine schwierige Szene nicht bloß vom schauspielerischen Können gerettet wurde. Manche Methode wurde aussortiert, manches neu rangiert und zugeordnet, wieder einiges musste ich durch meine Ideen ergänzen. So eröffneten sich mir Zusammenhänge unterschiedlicher Techniken und Herangehensweisen, was mich mehr und mehr davon überzeugte, dass sie zu einem übergreifenden System zusammengefasst gehören.

Im Bestreben, einige Lücken zu schließen und einige Thesen zu untermauern, griff ich auf Erkenntnisse aus verschiedensten Quellen zurück: der Schauspiellehre, Psychologie, Neurologie und sogar aus der Linguistik. Leider lässt der Rahmen dieses Buches keine ausführlichen Erläuterungen aus den erwähnten oder zitierten Quellen zu, deshalb hoffe ich, dass mein Umgang mit dem Stoff nicht zu freizügig ist.

Mykola Bogdanov

München, April 2021

Da ich im vorliegenden Buch aus Gründen der besseren Lesbarkeit die Worte Schauspieler, Darsteller, oder Ähnliches nur in ihrer maskulinen Form verwende, möchte ich mich bei allen Menschen jeglicher Gender-Schattierungen entschuldigen, die sich nicht direkt angesprochen fühlen.

Wenn man mit einem Buchprojekt beginnt, setzt man sich nicht nur mit der Thematik auseinander, sondern auch mit der Frage, für wen man es schreibt. Selbst nach Fertigstellung dieses Buchs konnte ich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Erst die letzten Korrekturen vor Veröffentlichung schafften mir Klarheit.

Vielleicht ist das Buch für manchen Leser zu anspruchsvoll. Es ist mir leider nicht geglückt eine „Gebrauchsanweisung“, etwa Mit zehn Schritten zum Erfolg zu schreiben, wobei ich mir ein solches Werk sogar wünschen würde. Trotz meiner Bemühungen, möglichst einfach zu schreiben, fand ich nicht für jeden komplizierten Sachverhalt eine simple Erklärung; oder ich brachte es schlichtweg nicht übers Herz, bestimmte Details wegzulassen. Es gibt Menschen, für die es keine unwichtigen Kleinigkeiten ihrer Kunst gibt, für die die darstellende Kunst etwas viel Größeres ist, als im Rampenlicht zu stehen oder seinen Lebensunterhalt damit zu sichern.

Ich weiß, dass nur Wenige allen Rückschlägen, Enttäuschungen und Versuchungen zum Trotz ihrer Berufung innig treu bleiben. Für die, die ihre Kunst ernsthaft betreiben, gleich ob sie jung oder alt sind, ob sie noch studieren, spielen oder unterrichten, ist dieses Buch.

Mykola Bogdanov

Schauspiel: Ein Grundriss

Jegliche Übersetzung dieses Buches, in Auszügen oder einzelnen Sätzen in die russische Sprache ist vom Autor ausdrücklich untersagt. Dieses Verbot gilt, solange ein Teil der Ukraine in ihren international anerkannten Grenzen von der Russischen Föderation (Russland) besetzt oder kontrolliert bleibt.

© 2021 Mykola Bogdanov

Autor: Mykola Bogdanov

Korrektorat: Inna Tsvik; Stephanie Reinke-Bühler

Lektorat: Konstanze Messing

Foto: Aliaksei Basalai

Verlag & Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-347-29810-1 (Paperback)

978-3-347-29811-8 (Hardcover)

978-3-347-29812-5 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1. Wie wichtig es ist, kundenorientiert zu arbeiten

Jeder mag Geschichten. Es gibt aber Geschichten, die keiner mag. Woran das wohl liegt?

Thema

Figur

Gefühle

Das Geheimnis einer fesselnden Geschichte

Kapitel 2. Was ein Schauspieler alles leisten muss

Hingucker

Handlungslogik

Realitätstheorie

Spannung

Die Figur begreifen

Kapitel 3. Mit System gewinnt man nicht nur im Lotto: Sieben Ecksteine des Schauspiels

Ereignis

Handlung

Handlung durch Sprache

Konflikt

Problem

Ein offenes Ende

Beeinflussung

Sackgasse des Gefühls

Kommt man hier aus der Sackgasse heraus?

Aktivitätsmodi

Entscheidungen

Kapitel 4. Einstellungen. Langweilig aber unabdingbar

Man zeigt, was man kann

Sein vs. Schein

Kurzum

Neu Lernen

Glossar

Literaturverzeichnis

Kapitel 1

Wie wichtig es ist, kundenorientiert zu arbeiten

Was erwarten wir, was erhoffen wir uns von einem Kinooder Theaterbesuch? Die Antwort liegt meist irgendwo zwischen leichter Unterhaltung und tiefer Ergriffenheit, je nach Lust und Laune. Zum Glück bietet die darstellende Kunst eine Palette an Genres, bei der für jeden Geschmack etwas dabei ist. Dennoch müssen diese unterschiedlichen Erwartungen doch irgendeine Gemeinsamkeit haben. Was kann es sein, das so unterschiedliche Wünsche einschließt und vielleicht sogar für die Existenz der darstellenden Kunst verantwortlich sein könnte? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: Zwei Urbedürfnisse — Erleben und Erlernen.

Sehen wir mal genauer hin. Wir Menschen und nicht nur Menschen, sondern auch andere höhere Säugetiere müssen immer wieder etwas Neues erleben, sonst wird uns langweilig, sonst erschlafft uns die Lebenslust, sonst quälen wir uns so sehr, dass es im schlimmsten Fall zu psychischen Störungen führen kann. Wir brauchen also regelmäßige Stimulation, einen Nervenkitzel, um Emotionen und Verstand auf Hochtouren zu bringen. Dieses Bedürfnis begleitet uns ein Leben lang und es scheint gleich, ob die Aufregung positiv oder negativ ist, oder ob der Mensch abenteuerlustig oder verschlossen ist. Sogar diejenigen, die ihre Ruhe brauchen, wollen sie nicht um ihretwillen, sondern um in dieser Ruhe das tun zu können, was ihnen Spaß macht, sprich, sie stimuliert. Nicht von ungefähr ist die Einzelhaft eine der härtesten Strafen, die es gibt. Dieses Bedürfnis nach Aufregung lässt sich natürlich auf unterschiedlichste Weise befriedigen. Warum fällt die Wahl so oft gerade auf einen Film oder ein Theaterstück? Was unterscheidet den Film oder die Theatervorstellung von einer Sportveranstaltung, einem Clubbesuch oder einem guten Buch?

Es ist doch so, dass wir in einer Theater- oder Filmvorstellung zu Zeugen einer Geschichte werden. Wir erleben sie mit, hier und jetzt. Da liegt auch der Unterschied zum Buch. Beim Lesen sehen wir die Geschehnisse und die Figuren mit dem inneren Auge, sie sind in uns, wir gestalten und kreieren dadurch im Grunde die Geschichte mit. Das macht das Lesen so verlockend. Im Theater spielt das Geschehen vor uns. Nicht nur das, es sind auch andere Zuschauer dabei und durch dieses gemeinsame Erleben wird unsere Wahrnehmung ausgetrickst und die Geschehnisse auf der Bühne werden — besonders an den starken Stellen — fast als real eingestuft. Dass Menschen einander mit Ideen, Wahrnehmungen, Sichtweisen und Emotionen anstecken, ist längst kein Geheimnis mehr. Diese Synergie der erlebten Gemeinsamkeit ist überwältigend stark. Klar, nicht alle Zuschauer fühlen sich gleichermaßen einbezogen. Ich persönlich kann zum Beispiel keine Horrorfilme ansehenen, für mich ist es zu viel, ich kann mich nicht weit genug vom Geschehen abstrahieren. Es gibt aber eine Armee von Horrorliebhabern, die nicht nach jedem Aderlass auf der Leinwand am ganzen Leib schlottern. Dennoch scheint es mir, dass uns genau dieser magische flüchtige Moment ins Kino oder ins Theater zieht, in dem eine Geschichte zum Teil unserer Realität wird.

Freilich stellt sich sofort die Frage, für was sind denn Geschichten gut? Haben wir nicht genug Stress im realen Leben? Manchmal schon. Dann steht uns eben nicht der Sinn nach noch mehr Drama und wir ziehen uns lieber eine Komödie rein.

Wozu braucht ein Mensch überhaupt Geschichten? Zu meinem Erstaunen, fiel mir nach einigen Überlegungen die etwas pathetische Antwort auf die Frage ein: Weil wir Menschen sind! In der Tat, was ist eine Geschichte? Es ist eine Sammlung einiger zusammenhängender Vorkommnisse, deren jemand ein Zeuge gewesen war und sie so bedeutsam empfand, dass er sie weitererzählen musste. Wenn man eine Geschichte erzählt, gibt man eine persönliche Erfahrung weiter. Auch wenn diese nicht direkt vom Erzähler gemacht wurde, sondern nur auf einer Überlieferung beruht, so steht am Anfang der Kette immer eine persönliche Erfahrung. Sogar eine komplett erfundene Geschichte besteht aus Teilen, mögen sie auch ganz klein sein, die der Autor unter unterschiedlichen Umständen selbst mal erlebt oder gehört hatte. Eine Geschichte ist also vorrangig eine Erfahrung. Und die menschliche Spezies giert nach Erfahrungen, sowohl nach persönlichen als auch nach jenen von anderen. Wir lernen so, mit der Welt klarzukommen, uns in der Welt zu behaupten. Lernen ist uns angeboren und nur dadurch sammeln wir nützliche Überlebens- und Erfolgsstrategien. Schließlich sind Menschen nichts anderes als „verrückte Affen“, die ihr Wissen kodieren und speichern können und das ist wohl die deutlichste Grenze zwischen menschlicher und tierischer Welt. Über unzählige Generationen bedienen wir uns des gespeicherten Wissens und häufen neues Wissen für unsere Nachkommen an. Diesen Speicher nennen wir Kultur.

So beschreibt Mihaly Csikszentmihalyi, Professor für Psychologie an der University of Chicago, der den heutzutage weit verbreiteten Begriff flow eingeführt hat, in seinem Buch Kreativität:wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden:

Wenn man mehrere Personen auffordert, aus einer Liste eine Beschreibung auszuwählen, die am besten wiedergibt, wie sie sich bei ihrer Lieblingsbeschäftigung fühlen — sei es Lesen, Bergsteigen oder Schachspielen —, ist die am häufigsten angekreuzte Antwort: »Etwas Neues entwickeln oder entdecken.« (…) Durch zufällige Mutationen müssen einige Individuen ein Nervensystem entwickelt haben, bei dem die Lustzentren im Gehirn stimuliert werden, wenn etwas Neues entdeckt wird. So wie einige Individuen mehr Vergnügen am Sex und andere am Essen haben, wurden offenbar auch einige Menschen geboren, denen es höchsten Genuss bereitete, etwas Neues zu lernen (…) Falls das stimmt, haben unsere Vorfahren den Wert neuer Entdeckungen erkannt und alle Individuen beschützt, die Freude an der Kreativität hatten. Weil sie begeisterte Forscher und Erfinder in ihrer Mitte hatten und von ihnen lernten, waren sie besser auf unkalkulierbare Überlebensbedrohungen vorbereitet. Bis heute verfügen wir über die Fähigkeit, jede Tätigkeit zu genießen, vorausgesetzt, wir können etwas Neues dabei entdecken oder erschaffen.1

Natürlich gibt es mittlerweile verschiedenste Arten von Wissen, die voneinander unabhängige Strukturen mit eigenen Symbolen und Regeln bilden. Wir reden hier über die Kunst und sie unterscheidet sich von den Naturwissenschaften darin, dass sie ein System darstellt, in dem der Künstler keine objektive, sondern seine subjektive Erkenntnis weitergibt; etwas, was mit der menschlichen Psyche zu tun hat, etwas Intimes, was aus dem Spannungsfeld Ich und die Welt entsteht. Das gilt selbstverständlich auch für Geschichten, die im Kino oder im Theater präsentiert werden.

Erlebnisse und somit erworbene subjektive Erfahrungen haben in einer Gruppe einen sehr hohen Stellenwert. Wie oft hören oder sagen wir: „Mir ist heute was ganz Verrücktes passiert!“ Von Erzählungen am Feuer über mythische Helden und ihren Abenteuern über mehrbändige Romane und kurze Tweets, all das sind Mitteilungen eigener und gemeinsamer Erlebnisse. Schauen wir das Wort Mitteilung genauer an: Es verdeutlicht die Notwendigkeit, die eigenen Erfahrungen mit der Gruppe zu teilen. Nur so erhöhen sich der Status eines Menschen und sein Eigenwert. Deswegen machen viele so gerne Selfies und veröffentlichen sie stolz in ihren Social Media-Profilen. Es spiegelt das Bedürfnis nach einem erfüllten und erfolgreichen Leben (sprich nach einem hohen Status). Auch wenn die Fotos oft genug mehr Schein als Sein sind, sollen sie beweisen, dass ihr Autor etwas Besonderes erlebt hat.

Noch ein Beispiel aus der Theaterszene. Es gab in der UdSSR einen berühmten und bejubelten Schauspieler und Sänger. Er hatte eine sehr raue Stimme und dementsprechend ein Bad-Boy-Image. Seine Kollegen erzählten, dass seine Stimme so einnehmend war, dass selbst sie erst nach einer Szene oder nach der gesamten Vorstellung einschätzen konnten, ob er gut gespielt hatte. Dieses Phänomen lässt sich durch die starke Verbindung zwischen Emotionen und Stimme erklären. Große emotionale Umbrüche wirken sich auf die Stimme aus; die raue Stimme eines Menschen suggeriert uns, dass er oder sie wohl viel durchgemacht haben muss. Und umgekehrt, deuten wir eine helle, klare Stimme, als ein Zeichen von Jugend, Unverdorbenheit, sprich Unerfahrenheit. Besagter Schauspieler selbst nahm es mit einem gewissen Humor. Er erzählte, dass er nach seinem Stimmbruch an einem Konzert teilnahm, bei dem er mitbekam, wie ein Zuschauer aus der ersten Reihe seinem Nachbarn zuflüsterte: „Der Kleine scheint aber viel zu saufen.“ Selbstverständlich entsprach das nicht der Wahrheit, er war ja erst 14.

Jeder mag Geschichten. Es gibt aber Geschichten, die keiner mag. Woran das wohl liegt?

Eine Geschichte ist demnach eine Aneinanderreihung kausal verbundener menschlicher Erfahrungen. Natürlich ist nicht jedes Geschehnis und jede Erfahrung von gleich hohem Wert. Es gibt genug belanglose Erzählungen, die dem Zuhörer die Zeit rauben und, je nach Aufdringlichkeit des Sprechenden, sogar lästig sein können. Es gibt aber auch großartige Erzählungen über kleine und zunächst nichtig scheinende Fakten, die auf unerklärliche Weise bis zur letzten Sekunde fesseln. Worin liegt ihr Geheimnis? Schließlich wollen alle die spannenden Geschichten hören, sowohl das Publikum als auch die Künstler selbst. Wir Theaterschaffenden müssen dieses Geheimnis lüften. Oft konfrontiere ich meine neuen Schüler zu Beginn des Schauspielkurses mit der Frage: Was macht eine Geschichte für uns interessant? Üblicherweise folgt zuerst eine lange Pause, dann sagt der/die Mutigste: „Wenn ich ein Bezug zum Thema habe oder mich mit der Figur assoziieren kann.“ Manchmal ergänzt eine Schülerin: „Wenn es mich emotional berührt.“

Thema

In der Tat, wenn wir uns nicht mit der Geschichte identifizieren können, schalten wir ab. Uns interessiert nur das, was wir in unsere persönliche Welt integrieren können, was uns von Nutzen ist oder sein kann. Dabei ist Nutzen nicht unbedingt als Profit zu verstehen. Zum Beispiel, kann die Geschichte uns auf ein Problem in uns hinweisen und vielleicht einen Ausweg aufzeigen. Im Grunde nimmt man eine Erzählung, als Verhaltensmodell wahr, als eine Möglichkeit, als eine Gelegenheit, eigene zurückgestellte oder unterbewusste Wünsche stellvertretend zu erleben oder noch unentwickelte, vielleicht auch inaktive Fähigkeiten zu aktivieren. Die Sehnsucht nach Entfaltung, das vertretbare Kanalisieren verbotener Begierden oder vielleicht einfach das Bedürfnis, eigene Gefühle durch erkannte Ähnlichkeit zu erklären und zu sortieren, sind starke Motivation, oft stärker als der rein praktische Nutzen. Csikszentmihalyi fasst es so in Worte:

Durch Beschreibung realer oder fiktiver Ereignisse bringt der Schriftsteller den vergänglichen Strom der Erfahrung zum Stillstand, indem er die Elemente benennt und sie mit Worten festhält. Wenn wir einen Vers oder eine Prosapassage lesen oder rezitieren können wir die Bilder und ihre Bedeutungen auskosten und dadurch besser verstehen, wie wir fühlen und denken. Worte verflüchtigen Gedanken und Gefühle eine konkrete Gestalt. In diesem Sinne eröffnen Gedichte und Erzählungen neue Erfahrungen, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten. Sie führen uns zu höheren Ebenen der Komplexität.2

Vor einiger Zeit besuchte ich zusammen mit zwei Kolleginnen eine Vorstellung in einem kleinen Münchner Theater. Gegenstand des Stücks war ein Monolog eines modernen Menschen, dem seine Vorliebe für Reisen in arme Länder sowie die zufällige Lektüre eines Buches von Karl Marx das schöne und sorgenfreie Konsumentenleben zerstörten und seinen Alltag in einen albtraumhaften Gewissens- und Klassenkampf verwandelten. Ein schonungsloser, witziger, dramaturgisch gut aufgebauter Text, ein starker Schauspieler und gleichzeitig Regisseur, dessen hervorragendes Verständnis von Stil und der erforderlichen künstlerischen Provokation den Abend zum Genuss für den Theaterkenner machten. Trotz all dieser guten Voraussetzungen konnte ich die Vorstellung für mich nicht als Erfolg bezeichnen. Den Grund dafür hat eine Zuschauerin treffend formuliert, deren Gespräch mit ihrer Freundin ich zufällig mitbekam. Sie sagte: „Fantastisch! Schade nur, dass es denen vorgeführt wurde, die eher nichts haben.“ Tatsächlich, keiner der Zuschauer machte den Eindruck, im Überfluss zu leben. Die ganze Gesellschaftskritik, die das Thema der Vorstellung ausmachte, war hier eigentlich fehl am Platz.

Außerdem war der Anfang der Vorstellung meiner Meinung nach falsch konzipiert, was ihn sogar langweilig machte. Meine Kolleginnen empfanden es genauso. Zu Beginn der Aufführung schilderte die Figur, verwoben mit den etwas kafkaesken Nachtszenen, sein schönes großbürgerliches Leben. Trotz der präzise und gut eingesetzten Abwechslung von Licht, Spielorten und Tempo und des unbestrittenen schauspielerischen Könnens, zog die Vorstellung an sich nicht an. Dazu trug unter anderem ein stilistisches, bewusst vom Schauspieler eingesetztes Mittel bei, nämlich, um die Belanglosigkeit des Konsumentenlebens zu unterstreichen, das Geschehene als Banalität zu spielen. Das heißt, „unwichtige“ Inhalte wurden noch unbedeutender dargestellt. Warum sollte das dann noch den Zuschauer interessieren? Des Weiteren waren alle Tagesszenen schnell, alle Nachtszenen dagegen langsam, rhythmisch gleich gestaltet. Dieses Prinzip war schnell durchschaut und etwas Aufregendes war immer weniger zu erwarten. Erst, als das Weltbild der Figur zu bröckeln begann, entstand ein bis zum Ende anhaltendes Interesse, das der Theatermacher kraft- und stilvoll ankurbelte. Schade, dass ein solcher Meister die wichtigen Komponenten unterschätzte.

Figur

Neben dem Entwicklungs- oder Lernnutzen gibt es ein weiteres starkes Bedürfnis, sich mit einer Geschichte oder einer Figur zu identifizieren: das Bedürfnis nach Anerkennung. Bei allem, was wir tun und was wir sind, messen wir uns in der Tat an anderen Menschen. Sogar eine winzige Bestätigung reicht aus, um zu erkennen, dass wir richtig handeln und für unsere Bezugsgruppe doch gut genug sind. Durch dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem daraus resultierenden Verlangen nach Bestätigung entstehen so viele und unterschiedliche Kulturen und Subkulturen, formt sich unser Selbstbild, ja sogar die Mode. Sinngemäß werden unsere Vorlieben für Genres, Stilistik und Helden-Typen maßgeblich davon geprägt. Die Figuren einer Geschichte sind unsere Avatare, die für uns ein ordentliches Leben führen und dadurch vielleicht in der Realität einen ähnlichen Weg für uns bahnen. Aus diesem Grund müssen eine Geschichte und deren Figuren glaubwürdig sein, sonst ist eine Identifizierung nicht möglich — eine Tatsache, die Schauspielkunst ungeheuerlich erschwert. Zu Beginn des Buches haben wir bereits erfahren, dass ein Leser die Welt der Erzählung mitkreiert; dadurch wird diese Welt „gezwungenermaßen“ für einen selbst stimmig. Dagegen braucht es bei einer Geschichte, die dargestellt wird, viel Überzeugungsarbeit, um das Publikum glauben zu machen, dass sie wahr ist. Das ist die erste Hürde, die jede Vorstellung überwinden muss. Dieser Anspruch muss nicht unbedingt zum Naturalismus führen. Biene Maya ist keinesfalls wirklichkeitsgetreu, hat aber durchaus Züge, die menschlich sind. Hinzu kommt, dass sie so gezeichnet ist, dass die Größenverhältnisse ihrer Körperteile den Verhältnissen eines kleinen Tieres entsprechen. Das reicht aus, dass Millionen von Kindern sich mit ihr identifizieren können. Die Logik ihrer Handlungen ist den Kindern verständlich, ihr Verhalten ist nachvollziehbar, deswegen bleiben Kinder an der Geschichte dran — ihnen könnte das auch passieren.

Im Grunde geht es bei der Glaubwürdigkeit ums Andocken an die Welt des Wahrnehmenden, die grundsätzlich auf zwei Polen basiert: Die „greifbare“ physische Realität und die seelischen Abläufe. Ich würde behaupten, dass die seelischen Abläufe ganz eindeutig wichtiger sind, wenigstens für das Publikum. Tatsächlich nach dem Einführung der Computereffekte in die Filmproduktion, hat die physische Realität an Substanz eingebüßt. Im Theater erreichte man solche Abstraktion viel früher, nämlich mit einem einzigen Licht-Spot auf einer sonst leeren, dunklen Bühne. Einen glaubwürdigen Raum zu schaffen, ist wohl kein Problem; so sind besonders in der Filmbranche einige der Meinung, dass ein ganz natürliches Verhalten der Darsteller für die Glaubwürdigkeit der Geschichte reicht. Mag sein, aber es schützt nicht vor einem langweiligen Schauspiel. Dokumentarfilme etwa sind in der Regel keine Kinohits. Nichtsdestotrotz ist ein Schauspiel ohne Glaubwürdigkeit eine Qual. Ich definiere sie als ein Versprechen. Allein das Wort Glaubwürdigkeit deutet auf etwas Mögliches hin, auf etwas, was den bekannten Regelmäßigkeiten entspricht, aber dadurch nicht eingeschränkt ist. Man nimmt das Gezeigte an, glaubt in diesem Moment daran und schaut gleichzeitig in die Zukunft, was da alles noch auf einen zukommt.

Für den Schauspieler sind diese zwei Pole der Glaubwürdigkeit genauso wichtig, wie für das Publikum. Es ist das erste, was ein Schauspieler erreichen bzw. erlernen muss. Die gespielte