Schecks kulinarischer Kompass - Denis Scheck - E-Book
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Schecks kulinarischer Kompass E-Book

Denis Scheck

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Beschreibung

Ein geistreicher Genießer plaudert aus der Küche: Ob er von seiner Lieblingsknäckebrotsorte schwärmt oder erklärt, wie man die perfekte Bouillabaisse kocht – Denis Scheck lässt einem mit seinen köstlichen Geschichten das Wasser im Munde zusammenlaufen. In seinen kulinarischen Anekdoten erzählt er uns von seiner Leidenschaft für Essen und Trinken, mischt Literarisches und Persönliches, verrät Rezepte und Restauranttipps. Mit Sprachkunst und Witz schimpft er über Glühwein, Quälfleisch und die Scheußlichkeiten industriell hergestellten Fertigfutters oder berichtet von Luxusrestaurants, wo es Damenkarten ohne Preise gibt. Ein Muss für alle Feinschmecker, Waldmeistereisfans und Foodies. Ein Buch, das Appetit aufs Leben macht – nose to tail!

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Der Autor dankt Anne Petersen vom Magazin Salon im Verlag Gruner und Jahr, wo seit Gründung 2015 seine Kolumne »Schecks kulinarischer Kompass« erscheint. Einzelne Texte dieses Buchs wurden dort, im Feinschmecker und in der Neuen Rundschau veröffentlicht.

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: Cornelia Niere

Coverillustrationen und Textteil: Torben Kuhlmann

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Vorwort

Eigener Herd

Du Lauch!

»Trinken … aber … sehr vorsichtig …«

Baghwan und Backwahn: Knäcke!

Arche kakon!

Jules Verne

Ein Tisch für sich allein

Die Freundlichkeit Fremder

Woke kochen!

Speisekartenprosa

»Dich will ich loben, Häßliches«

Tandaradei!

Immer der Nase nach!

Viel Rauch um nichts

Die Diva

Ice Ice Baby!

Gegengift

Geheimtipps

Zaubertrank

Mundpropaganda

Sein und Zeit

»Rübe, Rübe, Weiße Rübe …«

»Conditum Paradoxum«: Eine unbequeme Wahrheit über Glühwein

Muffel!

Der Nudelneid

Der Stolz des Jura

Boxelemehl

Eindrücke eines Lobbyisten

»Pure Vernunft darf niemals siegen«

Zu Gast bei Drachen

Seeigel

Von Topfguckern und Küchennachläufern

So, wie sich’s ghörd!

»Ich bin in der Bouillabaisse geboren!«

Oeufs en meurette

»Sirene, Irene, Helene«

Essen Enten Enten?

Setting und Terroir

Austern

Pizza

E. Dehillerin

Georg Bernardini, der Schokoladentester

Trou normand

Hygge from hell!

Zu Tisch bei Kapitän Nemo

Streetfood

Hennes’ Finest

Omakase

Die unterirdische Bibliothek

Seelenheimat

Bottarga

Alles ganz einfach …

»A Eitrige mit an Krokodü und an 16er-Blech«

Ganz schön: Wild!

Ferment it, Baby!

Reste

Fischmarkt Tokio

Der Trüffelfluch

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Ganz anders interessiert mich eine Frage, an der mehr das »Heil der Menschheit« hängt als an irgendeiner Theologen-Kuriosität: die Frage der Ernährung.

Friedrich Nietzsche, Ecce Homo

Kartoffelbrei und Goethe sind eins, Palatschinken und Mozart, Hamburger und Rihanna.

Doris Dörrie, Die Welt auf dem Teller

Die Basis des Satzes »Kochen ist wie Alchemie«? Der Mittelpunkt für die Alchemie als Wissenschaft vom Leben ist der Mensch, er ist das Abbild der Welt, der Mikrokosmos im Makrokosmos. Für die Alchemisten ist der Mensch ein Dreifaches: der Körper, der Wille und das Leben. Die Kochkunst und die Küche dienen der Erhaltung des Körpers, der Befriedigung des Willens und sind Essenz des Lebens. Das bedeutet im übertragenen Sinn: »Kochen ist pure Alchemie.«

Eckart Witzigmann

Vorwort

Warum koche ich?

Es wäre nicht ganz ehrlich, einfach zu antworten: weil ich Hunger habe.

Kochen ist die einzige handwerkliche Tätigkeit, für die ich ein klein wenig Talent zu besitzen glaube und bei der ich mich nicht anstelle wie jemand, der fünf Daumen an der Hand hat. Zudem genieße ich das Einkaufen. Die Sinnlichkeit eines Gemüsestands. Das Ausknobeln eines Menüs. Wenig entspannt mich mehr, als wenn ich Gemüse schnippele, Spargel schäle, das Heu aus Artischocken kratze oder für eine Parmigiana Auberginen mit Salz entwässere und dabei eine Tomatensoße zubereite. Kochen lässt mich Schönheit erfahren.

Ich bin fast die Hälfte des Jahres auf Reisen und verbringe dabei oft nur sehr kurze Zeit an einem Ort. Der Besuch eines Marktes, eines Spezialitätengeschäfts, eines Imbisses oder eines Restaurants ist für mich ein Zugang zur Welt, lässt mich einen Ort erleben, macht ihn mir buchstäblich erfahrbar. Kochen ermöglicht mir zudem, jenseits aller Sprachgrenzen, mit der Welt in Kontakt zu treten: Wie oft habe ich mit meiner Frage nach einer lokalen Spezialität oder Zubereitungsart Stolz und spontane Begeisterung in meinem Gegenüber ausgelöst: Ach, das kennen Sie? Dafür interessieren Sie sich? Das wissen Sie zu würdigen?

Am Herd schärfe ich mein Selbst. Gewinne wieder meine Fasson. Meditiere. Trainiere meine Wahrnehmung. Öffne meine Sinne. Lerne, den Blick auf scheinbar Nebensächliches zu lenken und von der unablässigen Priorisierung in meinem Leben abzusehen. In meiner Küche werde ich mir meiner Vergänglichkeit bewusst und erlebe im Alltag jene magische Verwandlung, die mich seit meiner ersten Begegnung mit Ovids Metamorphosen fasziniert.

Dass wir in der Lage sind, unser Essen friedlich miteinander zu teilen, ja sogar in fröhlicher Runde Vergnügen daran finden, unterscheidet den Menschen von den meisten Tieren. Das Kochen und Verzehren gemeinsamer Mahlzeiten hat uns nach Ansicht vieler Evolutionsbiologen überhaupt erst zu modernen Menschen gemacht. Mein Hund kann das jedenfalls nicht – so sehr er mir, was seinen Geruchs- und Geschmackssinn anbelangt, auch überlegen ist. Für diese Fähigkeit, unser Essen und Trinken miteinander zu genießen und dabei in Austausch zu treten, können wir nicht dankbar genug sein. Sie steht mit Platons Symposion am Beginn der abendländischen Philosophie. Gemeinschaft macht klug – auch und gerade in kulinarischer Hinsicht.

Mit Claude Lévi-Strauss weiß ich zudem: Der Weg vom Rohen zum Gekochten ist das älteste Narrativ der Welt. Kochen ist eine Art, eine Geschichte zu erzählen. Man kann auch den Teller lesen. Jedes Gericht, das man zubereitet, folgt in seiner Struktur einer Heldenreise samt all ihren Stationen: von der Berufung über die Prüfungen, der Begegnung mit der Transzendenz, Versuchung, Versöhnung, Gefahr und Rettung, der Rückkehr nach Hause und dem Versuch, das neu gewonnene Wissen in unseren Alltag zu integrieren. Warum also noch zögern? Lassen Sie uns aufbrechen! Das Abenteuer wartet.

Eigener Herd

Kochen heißt warten. Ich warte gern. Zum Beispiel auf die Reifezeit von Aprikosen oder Birnen. Auf den Beginn der Spargelsaison. Oder auf den ersten Maibock. Auch im Restaurant zähle ich nicht zu den Meckerern, wenn es mal etwas länger dauert, bis das Essen auf den Tisch kommt: Kreatives Kochen mit frischen Zutaten erfordert manchmal eben etwas mehr Zeit als bloße Erwärmungsvorgänge im Konvektomat oder in der Mikrowelle. Anders sieht es hingegen beim Trinken aus: Ein leeres Glas ist ein Verbrechen am Gast und obendrein geschäftsschädigend für jeden Wirt. Leider haben sich diese ebenso menschenfreundlichen wie betriebswirtschaftlich sinnvollen Grundsätze der Gastronomie nicht überall herumgesprochen. So saß ich unlängst im Restaurant eines schmucken Hotels in Mecklenburg über eine geschlagene halbe Stunde auf dem Trockenen, nachdem ich leichtsinnigerweise den als Aperitif angebotenen Champagner ausgeschlagen und um die Weinkarte gebeten hatte. Abgestraft und dürstend fand ich reichlich Zeit, darüber nachzugrübeln, warum die deutsche Sprache mit »satt« zwar ein Wort für den gestillten Hunger besitzt, nicht aber eines für den gelöschten Durst. Das aus einem Wettbewerb der Duden-Redaktion Ende der 90er-Jahre als Sieger hervorgegangene Kunstwort »sitt« konnte sich bislang jedenfalls nicht durchsetzen. Bald fiel mir Friedrich Nietzsche ein und dessen tiefsinnige Erkenntnis: »Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Dies macht unmoralisch.« Und gerade, als ich heftig nickend am tiefen Grund meiner Unmoral angelangt war, materialisierte sich wie aus dem Nichts doch noch der junge Sommelier, der meine Beschwerde mit einem souveränen Lächeln und der internationalen Zauberformel zur Pazifizierung nörgelnder Männer auskonterte: »Sie haben recht.« Und siehe, alles war gut.

Warten, bis man schwarz wird: Diese schöne bildliche deutsche Redensart stammt aus der Zeit, als im Mittelalter die Pest in Deutschland wütete. Der Schwarze Tod lieferte reichlich Anschauungsmaterial für sich länger hinziehende Verwesungsvorgänge. Mir wurde vor einigen Jahren eine Lektion im Warten erteilt, die sich still und leise in ein spannendes kulinarisches Abenteuer verwandelte.

Im Jahr 2017 habe ich 14 Wochen darauf gewartet, dass mein Herd repariert wird. In Deutschland wird generell viel gejammert, am liebsten aber über unzuverlässige Handwerker. In dieses Klagelied wird nur einstimmen, wer noch nie Klempner in Großbritannien, Elektriker in Italien oder Dachdecker in Frankreich kennengelernt hat. Ein dreifach Hoch auf das deutsche System der dualen Ausbildung, das für Kompetenz und Zuverlässigkeit im Handwerk hierzulande sorgt! Nur leider nicht immer.

Bei einem Besuch in der Küche von Jean-Claude Bourgueil im Schiffchen in Düsseldorf-Kaiserswerth hatte ich mich in dessen Lacanche-Herd verliebt. Natürlich entsprang diese Liebe dem klassischen Trugschluss, das Werkzeug mache den Meister. Leider ist das reiner Kokolores. Monsieur Bourgueil könnte wahrscheinlich auch auf einem Puppenherd, einem Campingkocher oder selbst der Flamme eines Einwegfeuerzeugs köstlichere Kreationen zaubern als ich. Dennoch hatte der Lacanche mein Herz erobert: Es war einfach Liebe auf den ersten Blick, so wie sich manche Menschen in ein Riva-Boot, eine Perazzi-Flinte oder einen Jaguar E-Type verlieben. Mein Lacanche ist eine bullige Schönheit in Rot und Messing und macht schon gute Laune, wenn man morgens in die Küche kommt und das Prachtstück erblickt. Dennoch kann er absolut nichts, was andere Herde nicht auch können. Nur sieht er dabei eben sehr, sehr gut aus. Und das reicht im Leben ja nicht selten schon. Man kann nicht Maria Callas zur Geliebten haben wollen und dann gebügelte Hemden erwarten.

Drei Jahre leistete mir meine französische Schönheit verlässlichen Dienst. Anfangs konnte ich nicht genug bekommen von allem, was sich auf der Edelstahlgrillplatte zubereiten ließ: hauchdünn geschnittene Kartoffelchips in Minutenschnelle frittiert und mit Piment d’Espelette bestreut, glasig gebratene Carabineros, also tiefrote große Wildgarnelen, saftige Auberginenscheiben oder knackiger, mit einer Prise braunem Zucker bestreuter Fenchel. Irgendwann ließ der Reiz des A-la-Plancha-Kochens aber nach, traditionellere Zubereitungsweisen kehrten zurück, und Küchennormalität hielt Einzug.

Bis eines schönen Märztages mit einem Blitz und einem Rauchwölkchen die ganze Herdherrlichkeit zu Ende und der Ofen fürs Erste buchstäblich aus war: Mein Lacanche hatte einen Kurzschluss! Alle Kochfelder, Backofen samt Vorwärmschrank und Stahlgrillplatte ließen sich nicht mehr benutzen. Ich rief kurz vor Ladenschluss beim Händler an, der mir die Nummer des Kundendienstes nannte – und damit nahm das Drama seinen Lauf. Ein schon ab Fabrik defekt geliefertes Ersatzteil, einige falsch zusammengesteckte Kontakte, ein offenbar missinterpretierter Schaltplan sorgten dafür, dass ich über ein Vierteljahr allein auf eine noch am selben Abend erworbene Zweiplatten-Kochstelle angewiesen blieb. Die technischen Einzelheiten dieser Handwerkeroper sind uninteressant, nicht aber die daraus gewonnene Erkenntnis: Manchmal liegt das größte kulinarische Glück in der Abrüstung.

Über Jahrzehntausende hinweg hat der Mensch immer nur auf einer Feuerstelle gekocht. Die Zwangseinschränkung meiner technischen Möglichkeiten führte zur Entdeckung der Langsamkeit in meiner Küche. Aufwendige Schmortöpfe ließen sich auch auf dem Campingkochfeld realisieren. Ob Boeuf bourguignon, ein vegetarisches Stifado, Lamm- und Rinderbraten, Coq au vin oder ein zünftiges Gulasch: Die meisten Schmorgerichte gewinnen durch längere Garzeiten gewaltig an Geschmack. Zum anderen frischte ich meine Bekanntschaft mit der weiten Welt der Rohkost auf. Wie hatte ich nur vergessen können, was für ein Hochgenuss Radieschen, Mairübchen, gestiftelter Stangensellerie oder Möhren mit pfiffigen Dips sein können? Auch der Kosmos der Carpaccios und Sashimis hat sich mir durch mein Herddesaster ganz neu erschlossen. Warum nicht mal ein Carpaccio von Artischocke und Steinpilz, Gurke oder Roter Bete? Oder ein Sashimi von Wolfsbarsch, Schwertfisch oder Makrele? Ganz zu schweigen von mit originellen Zutaten gepimpten Salaten mit Ananas und Birnen, Avocado, Cedri-Zitronen, Fenchel, Nüssen und Sprossen, Granatäpfeln und, wer’s denn mag, mit Gänseleber oder Hummer.

Am Ende des Wartens auf meinen Herd begriff ich zum ersten Mal den Sinn der mir bis dahin dunkel gebliebenen Verse meines schwäbischen Landmanns Friedrich Hölderlin aus seiner Hymne Friedensfeier. Erst über 150 Jahre nach ihrer Niederschrift wurde 1954 eine vollständige Handschrift des bis dahin lediglich in Fragmenten überlieferten Gedichts bekannt. »Auch wär’ uns, sparte der Gebende nicht/Schon längst vom Segen des Herds/Uns Gipfel und Boden entzündet.« Worauf warten wir noch?

Du Lauch!

Lange habe ich Gurken für den vierten Aggregatzustand von Wasser gehalten. Fenchel galt mir als langweilig. Das Überstreifen der Einweghandschuhe erschien mir noch das Spannendste bei der Zubereitung von Schwarzwurzeln oder Roten Beten. Heute denke ich genau umgekehrt, Teltower Rübchen, Mönchsbart oder Topinambur sind aus meiner Küche nicht mehr wegzudenken, immer öfter lasse ich die Sau raus, und es fällt mir wie Schuppen von den Augen: Ich war Opfer einer klassischen Konditionierung. Meine angebliche Geschmacksvorliebe für Fleisch war Ergebnis einer früh einsetzenden Gehirnwäsche namens Erziehung. Als Angehöriger der sogenannten Kriegsenkelgeneration steckten mir dank transgenerationaler Weitergabe die Kriegserlebnisse meiner Eltern und Großeltern tiefer in den Knochen, als ich lange wahrhaben wollte. Und zu diesen traumatischen Erfahrungen zählten eben auch die Hungerwinter im Ersten Weltkrieg, die Armut durch Inflation und Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik, die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg, Flucht und die erneuten Hungerwinter nach 1945. Meiner Mutter und meiner Großmutter gelang es, ihre eigene Ernährung nach der Fresswelle der 50er-Jahre recht bald wieder umzustellen, den Fleisch- und Fischanteil zu reduzieren und insbesondere auf das im Garten selbst gezogene Gemüse zu setzen. Nicht aber den Männern der Familie. Nun gut, von gelernten Metzgern war das auch nicht unbedingt zu erwarten. Ihre Haltung als Karnivoren bringt recht gut das Gedicht Auf der Höhe der Zeit des großen Robert Gernhardt zum Ausdruck:

Auf der Höhe der Zeit

Ich verzehre so gut wie kein Fleisch mehr.Außer, natürlich, beim Essen.Aber zwischen den Mahlzeitenkann ich alles Fleisch glatt vergessen.

Ich trinke so gut wie kein’ Wein mehr.Außer, natürlich, wenn’s Spaß macht.Und mir macht es eigentlich immer Spaß,wenn der rote Wein in dem Glas lacht.

Ich habe so gut wie kein’ Sex mehr.Außer, natürlich, mit Frauen.Auf der Basis Steak plus ’ne Flasche Bordeauxkönnen die schwer auf mich bauen.

Ich kenne fast keine Scham mehr.Außer, natürlich, beim Schreiben.Bevor ich den Leser mit mir konfrontier,lass ich das Schreiben glatt bleiben.

In der Psychologie versteht man unter Selbstwirksamkeit die Annahme, durch Glauben an die eigene Kompetenz Dinge ändern zu können – zum Beispiel mit dem Rauchen aufzuhören oder abzunehmen. Selbstwirksamkeit kann aber auch dazu beitragen, über die eigenen frühkindlichen Prägungen Rechenschaft abzulegen und seinen ach so felsenfest stehenden »persönlichen Geschmack« noch einmal kritisch zu reflektieren. Wie viel von dem, was uns schmeckt oder eben nicht schmeckt, haben wir in Wahrheit buchstäblich mit der Muttermilch eingesogen?

Natürlich gelingt es niemandem, seinen Geschmack durch Reflexion und Selbstanalyse von einem Tag auf den anderen zu verändern. Aber Jürgen Dollase, heute Deutschlands bekanntester Gastrokritiker, ist ein gutes Beispiel dafür, wie viel eine Mischung aus sozialem Druck, persönlichem Leid und Selbstwirksamkeit in einem Menschen bewirken kann. Bis zu seinem 35. Lebensjahr ernährte sich der im Ruhrgebiet aufgewachsene Dollase, der zunächst eine Karriere als Krautrocker in der Band Wallenstein und als Maler machte, hauptsächlich von Wiener Schnitzeln, Frikadellen oder Kalbfleisch. Schon der Gedanke, in Frankreich ein feines Restaurant zu betreten, löste Schweißausbrüche in ihm aus: Geflügel, Fisch, insbesondere Meeresfrüchte und Schnecken, aber auch Innereien – all das und noch viel mehr hatte er in seine persönliche Ekelzone verbannt. Und dann kam der Tag, an dem ein befreundeter Maler im Elsass ihn bei einem Atelierfest auf eine knoblauchgeschwängerte Garnelensuppe einlud. Es war für Dollase eine lebensverändernde Erfahrung: »Und hinterher dachte ich mir: Mein Gott, was gibt es denn da alles? Das habe ich ja bislang gar nicht wahrgenommen!«, erzählte er mir einmal im Gespräch. »Das ging blitzschnell. Ich überlegte mir: Da existiert eine ganze Reihe von Dingen, die sind ja wunderbar, und dabei hast du bisher noch nie etwas davon essen wollen. Und jetzt hast du eines davon probiert, und es schmeckt selbst in einer schlechten Fassung noch köstlich!«

Es hat natürlich eine gewisse Zeit gedauert, meine alberne Fleischfixierung zu überwinden. Aber heute freue ich mich über ein Essen im Seven Swans in Frankfurt am Main, Deutschlands erstem veganen Sternerestaurant, oder Stephan Hentschels vegetarischem Restaurant Good Friends in Berlin weit mehr als über einen Besuch in jedem Steakhaus. Und wenn mich unbedingt jemand ohne Rücksicht aufs Budget zum Essen einladen möchte, wünsche ich mir einen Tisch in Alain Passards Pariser Restaurant L’Arpège in der Rue de Varenne, der sich schon 2001 von der fleischlastigen Küche seiner Anfänge lossagte, eigene Gärten anlegte und zum Bauern wurde. Bis heute unvergessen ein säuerliches Rote-Bete-Tartar mit Meerrettich, das ich dort einmal essen durfte, nur getoppt von der Erinnerung an Passards getrüffeltes Zwiebelgratin mit Haselnuss: angenehm schmelzig, perfekt in der Aromenbalance zwischen süßlich und säuerlich!

Einen eigenen Garten haben auch Andree Köthe und Yves Ollech vom Essigbrätlein in Nürnberg. In meinen Augen sind sie Deutschlands sensibelste Gemüseköche. Teller wie »Fenchel mit Gurken und Zitrone«, ein Türmchen von in Sahne und Wasser leicht pochierten Fenchelscheiben und Gurkenplatten, Zitronencreme, Gurkensaft und getrockneten Zitronen, begeistern mich immer wieder. Genauso wie »Gurken mit Dillblüten und Salzzitronen«, die herausragenden »Karotten mit Mohn und Orangencreme« oder die nicht nur schiere Augenlust, sondern auch Gaumenkitzel versprechenden »Mit Minze, Kartoffeln und Pistazien gefüllte Kaiserschoten mit Mayonnaise«. Nicht zuletzt hat mich der Brite Nigel Slater auf den Geschmack gebracht. Sein in zwei Bänden erschienenes Gemüsekochbuch Greenfeast ist eine nie versagende Inspirationsquelle. Allein für den Tipp, halbe Rosenkohlsprossen mit heller Misopaste zu würzen und dann in heißem Erdnussöl goldbraun zu braten, oder im Frühling eine »Bohnengelage« genannte Suppe aus dicken Bohnen, weißen Bohnen, Zucchini, Lauch, Erbsen und Frühlingszwiebeln zu kochen, lohnt sich die Anschaffung.

»Du Lauch!« war eine Zeitlang eine beliebte Beleidigung in Proll-Deutschland. Wer die Finessen dieses Gemüses im Risotto oder im Mirepoix, als Quiche, im Gratin, als Suppe oder als sensationeller Teamplayer zusammen mit schwarzem Trüffel erfahren hat, wird anders denken. Steuerte ich früher beim Einkaufen oft als Erstes den Metzger an, führt mich heute mein erster Weg zum Gemüsehändler. Allein schon diese kleine Verhaltensänderung bewirkt oft, das Gemüse aus seiner Nebenrolle als »Beilage« zu befreien und zum Star auf dem Teller zu machen. Selten gehe ich dort übrigens heute ohne eine Schlangengurke weg. Denn hielt ich es früher mit dem großen Dr. Samuel Johnson, der für Gurken den berühmten Rezepttipp gab, man möge sie in Scheiben schneiden, mit Pfeffer und Essig würzen und dann wegwerfen, so habe ich heute meinem Gurkenverstand ein Upgrade verordnet. Hat die Welt Köstlicheres hervorgebracht als ein englisches Gurkensandwich?

»Trinken … aber … sehr vorsichtig …«

Manchmal ist mir Äthiopisch, Burmesisch, Chilenisch, Tibetanisch oder Thai einfach nicht exotisch genug. Manchmal möchte ich getreu der alten Star Trek-Devise »to boldly go where no man has gone before« einen Schritt weiter hinaus in den kulinarischen Kosmos wagen. Manchmal habe ich Appetit auf extraterrestrische Küche und Durst auf ein Romulanerbräu, einen klingonischen Blutwein, eine Blaumilch oder einen »Vurguzz – nur echt mit dem eingelegten sechsbeinigen Siriusfrosch«. Letztgenannte Drinks finden sich in Raumschiff Enterprise, Star Wars und Perry Rhodan. Den ultimativen Science-Fiction-Drink hat aber Douglas Adams für Per Anhalter durch die Galaxis ersonnen: den »Pangalaktischen Donnergurgler«. In seinem Reiseführer zu den Sternen beschreibt Adams die Wirkung eines Pangalaktischen Donnergurglers mit jener unsterblichen Formulierung, die mich schon über manchen Katerschädel hinweggetröstet hat: »als werde einem mit einem riesigen Goldbarren, der in Zitronenscheiben gehüllt ist, das Gehirn aus dem Kopf gedroschen«.

Mehr noch, Douglas Adams enthüllt in Per Anhalter durch die Galaxis auch das präzise Rezept für diesen Lieblingsdrink des interstellaren Jetsets: »Man nehme den Inhalt einer Flasche Alten Janx-Geist […]. Man füge einen Teil Wasser aus den Meeren Santraginus V hinzu […]. Man lasse drei Würfel arkturanischen Mega-Gin in der Mischung zergehen (sie muß gut gefroren sein, sonst verfliegt das Benzin darin). Nun lasse man vier Liter fallianisches Sumpfgas hindurchperlen […]. Über einen umgedrehten Silberlöffel lasse man nun ein Teil qualaktinischen Hyperminz-Extrakt tröpfeln, der nach allen dunklen, zu Kopf steigenden qualaktinischen Zonen duftet: zart, süß und mystisch. Man werfe den Zahn eines algolianischen Sonnentigers hinein. Schaue zu, wie er sich auflöst und sich die Feuer der algolianischen Sonne tief im Herzen des Drinks verteilen. Ein Spritzer Zamphuor. Zum Schluss eine Olive. Trinken … aber … sehr vorsichtig …« Danke, Douglas Adams, für die Warnung! Diese hat Bartender weltweit freilich nicht davon abgehalten, ihre irdischen Versionen des Pan Galactic Gargle Blasters auf die Karten zu setzen. Der Pangalaktische Donnergurgler ist so zu einem Pendant der Sachertorte geworden: überall präsent und überall anders.

Der großartig skurrile Kingsley Amis hat mit New Maps of Hell nicht nur eines der klügsten Bücher über Science Fiction geschrieben, sondern auch das beste mir bekannte Buch übers Trinken. Inzwischen überstrahlt der literarische Ruhm von Kingsley Amis’ Sohn Martin den seines Vaters, mit dem ihn eine von beiderseitigem Neid und Eifersucht bestimmte Beziehung verband. Aber Kingsley Amis hat zeit seines Lebens nie einen langweiligen Satz zu Papier gebracht, und so ist denn sein On Drink von 1972 die beste mir bekannte Säuferbibel. Aus ihr lässt sich nicht nur erfahren, dass ein Flug mit einer Propellermaschine, Sex oder Tschaikowskys Sinfonie Pathétique gegen einen Kater helfen, sondern auch, dass Trinken, Lachen und das freie Gespräch das Fundament jeder menschlichen Gesellschaft bilden. Die deutsche Übersetzung trägt den ironischen Titel Anständig trinken. Allerdings gelang Amis das zunehmend schwerer, sein Alkoholismus nahm so bedenkliche Formen an, dass er Ende der 70er-Jahre angeblich tausend Pfund für Scotch ausgab – im Monat!

Vermutlich liegt es an meiner literarischen Sozialisation mit Märchen, Comics, Science Fiction und Fantasy, dass sich meine kulinarischen Gelüste nicht aufs mundane Hier und Jetzt beschränken wollen. Wer hat als kleines Kind nicht ab und zu von einem Schlückchen Zaubertrank geträumt? Oder von einem karamelligen Butterbier aus J. K. Rowlings Harry Potter-Romanen? Und nie kann ich einen Rucksack für eine Wanderung schnüren, ohne mir etwas Lembasbrot zu wünschen, jene fabelhafte Wegzehrung der Elben aus J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe. »Sie waren aus Mehl gemacht, das beim Backen außen leicht braun geworden war, aber innen die Farbe von Sahne hatte«, beschreibt Tolkien das Wundergebäck und lässt seine Elben erklären: »Wir nennen die Waffeln lembas oder Wegbrot, und sie sind stärkender als alle von Menschen gemachten Lebensmittel … Esst wenig davon auf einmal, und nur, wenn es nötig ist. Denn diese Dinge sollen euch dienlich sein, wenn alles andere versagt. Die Kuchen werden viele, viele Tage frisch bleiben, wenn sie nicht angebrochen sind und in ihrer Blätterverpackung bleiben, wie wir sie euch gebracht haben. Einer davon wird einen Wanderer einen anstrengenden Tag lang auf den Beinen halten.« Ich habe mir Lembas immer als eine Art Mittelerde-Knäckebrot vorgestellt, nur eben sehr viel nahrhafter.

Wann immer mein kulinarisches Fernweh unzähmbar wird, greife ich zu Cooking Out of This World. 1973 hat die für ihre Drachen-Romane heiß geliebte Anne McCaffrey diese Anthologie mit Lieblingsrezepten von über fünfzig Science-Fiction-Autorinnen und -autoren zusammengestellt. Neben allerlei zeittypischen kulinarischen Bizarrerien wie einer »kosmischen Minestrone« oder einem »Everything«-Hackbraten enthält das Buch auch Rezepte von Ursula K. Le Guin, der bedeutendsten US-amerikanischen Fantasy- und Science-Fiction-Autorin des 20. Jahrhunderts. Die immer wieder für den Literaturnobelpreis gehandelte Le Guin steuert unter anderem ein köstliches Rezept für Dungeness-Krebse mit Tillamook-Cheddar und Wildreis bei. In ihrer Literatur verstand es die 2018 hochbetagt in Oregon verstorbene Le Guin, souverän Feminismus mit Fantasy zu versöhnen und dem Genre gewitzt allen inhärenten Chauvinismus auszutreiben. Sechs Romane schrieb sie über ihre Archipel-Welt »Erdsee«, die von Menschen und Drachen bevölkert wird und in der alle Zauberei Wortmagie ist – nur wer den wahren Namen eines Dings oder eines Wesens kennt, erhält Macht über es. In einer der eindrücklichsten Szenen fragt die junge Schwester eines Magiers, die Proviant für eine lange Reise zusammenpacken soll: »Eins verstehe ich nicht: Du und mein Bruder, ihr seid beide mächtige Magier, ihr macht eine Handbewegung und murmelt dazu, und fertig ist die Laube. Warum bekommt ihr dann Hunger? Wenn es auf See Zeit zum Abendessen wird, warum sagt ihr dann nicht: Fleischpastete! Und die Fleischpastete erscheint, und ihr esst sie auf?« Le Guin lässt ihren jungen Meistermagier antworten: »Das könnten wir natürlich tun. Aber wir wollen nicht nur Worte essen. Fleischpastete ist schließlich bloß ein Wort … Wir können ihm einen Duft geben und Geschmack, sogar eine Füllung, aber es bleibt ein Wort. Es täuscht den Magen und spendet dem Hungrigen keine Kraft.« Le Guin führt diese kulinarische Reflexion mit dem schönen Dialog zu Ende: »Magier sind also keine Köche«, sagte Lumme (…) »Und Köche sind leider keine Magier.«

Wann immer ich statt Essen ein Narrativ vorgesetzt bekomme, muss ich an diese Passage aus Ursula K. Le Guins Erdsee-Romanen denken. Der Mensch lebt nicht vom Wort allein.

Baghwan und Backwahn: Knäcke!

Mindestens so wichtig wie Urvertrauen ist intellektuelles Selbstvertrauen. Früh legt sich der Samen des Genies. Oder zumindest der des gefühlten Genies. Ablehnung, Hohn und Verlachtwerden sind die Regel. Selten aber sind Anerkennung, Ermutigung, Zuspruch – also die Nährstoffe, die das zarte Pflänzchen Selbstvertrauen wachsen lassen. Das macht Souveränität, das Zutrauen in die eigenen geistigen Fähigkeiten, zur kostbarsten Ressource überhaupt. Zugegeben, insbesondere bei Männern kann dieses Selbstvertrauen mitunter übersteigerte, ja fast schon toxische Formen annehmen. Da hilft die Erinnerung an Gerhard Schröders polternden Elefantenrunden-Auftritt 2005 in der Nacht der Wahlschlappe gegen Angela Merkel. Das war der Abend, als sich der Begriff Fremdschämen fürs englische »to cringe« im Deutschen einbürgerte.

Aber ich spreche hier von kulinarischer Souveränität. Jene Fähigkeit, breitbeinig wie Tim Mälzer in Kitchen Impossible einem Sternekoch gegenüberzutreten und dabei jenes Selbstbewusstsein auszustrahlen, das der große Robert Gernhardt einmal in einem seiner unnachahmlichen Gedichte so schön auf den Punkt brachte:

»Lieber Gott, nimm es hin,daß ich was Besond’res bin.Und gib ruhig einmal zu,daß ich klüger bin als du.Preise künftig meinen Namen,denn sonst setzt es etwas. Amen.«

Für den im Deutschen ausschließlich ironisch gebrauchten Begriff Schnellmerker kennt das Österreichische das wunderbare Wort Blitzgneißer. Ein Blitzgneißer ist ein Mensch, der ein bisschen länger braucht, um das Offensichtliche zu begreifen. Mein Erweckungserlebnis in Sachen kulinarischer Souveränität hatte viel mit einem Blitzgneißermoment und mit Knäckebrot zu tun. Von frühen Kindesbeinen an bestand mein Lieblingsfrühstück aus einem weichen Ei mit einer Scheibe gebuttertem Sesamknäckebrot. Nur war, wenn die Butter morgens direkt aus dem Kühlschrank kam, so ein Sesamknäckebrot für die Hände eines ohnehin eher ungeschickten Achtjährigen höllisch schwer zu buttern. Immer blieb die harte Butter in den Vertiefungen kleben. Und beim Versuch, sie aus diesen fiesen Butterfallen wieder herauszuholen und zu verstreichen, brach die Knäckebrotscheibe entweder unweigerlich entzwei, oder ich blieb mit dem Messer an den aufgestreuten Sesamkörnern hängen, glitt ab und saute mich dabei dermaßen ein, dass ich gleich ein frisches Hemd anziehen musste. Wer beschreibt daher meinen Jubel, als ich irgendwann auf den Trichter kam, dass man, statt der mondoberflächig verkraterten Oberseite der Knäckebrotscheibe auch einfach die relativ glatte Unterseite buttern konnte? Quasi Knäckebrot invers? Ich glaube, an dem Morgen, als ich auf diese Idee kam, aß ich zwei Knäckebrotscheiben mehr. Mindestens.

Seit dieser Zeit habe ich eine Schwäche für Knäckebrot. Und keineswegs nur für die eher langweiligen rechteckigen Scheiben in unseren Supermarktregalen. Früher war für mich Knäcke gleichbedeutend mit Wasa; seit die Schweden 1999 an den italienischen Lebensmittelkonzern Barilla verkauft wurden, habe ich mich unter kleineren Produzenten in Schweden umgetan. Und davon gibt es jede Menge. Ich liebe große, kreisrunde und möglichst dünne Brote wie etwa von Pyramid oder Leksands, und – für mich die besten – die wunderbaren langen, schmalen Knäckestreifen mit Sesam von Vilmas Swedish Organic.

Auf die Idee, Knäckebrot selbst zu backen, bin ich erst in Zeiten der Pandemie gekommen. Zählten Baghwan-Jünger zur Signatur der 70er, prägen die Verkünder des Backwahns unsere Corona-Zeiten. Nie wurden mehr Teige gerührt, Formen gefettet und Kuvertüren conchiert als heute. Der Gipfel war für mich erreicht, als mir ein Freund erzählte, in der Schweiz gäbe es Sauerteighotels, in denen man sein Anstellgut für die Dauer längerer Urlaube oder Geschäftsreisen in Obhut geben könne. Allein schon das Wort: Anstellgut. Ich habe nicht überprüft, ob es sich bei den Sauerteighotels um die nackten Realien oder um einen Mythos des Alltags handelt. Die Wirklichkeit macht einem oft die schönsten Geschichten kaputt. Zu schön die Vorstellung, mit Grabesstimme und Leichenbittermiene ein Telefonat in irgendeiner internationalen Hotellobby zu führen, um dann an der Bar einen doppelten Whisky zu bestellen, weil man gerade erfahren hat, dass das jahrzehntelang umhegte Anstellgut es einfach nicht geschafft hatte …

In Teilen Deutschlands heißt so ein potenziell unsterblicher Sauerteigansatz aus unerfindlichen Gründen »Hermann«. Was für Menschen verfallen auf die Idee, ihren Teigen männliche Vornamen zu geben? Offenbar hat sich in den 80er-Jahren im Umfeld der Friedensbewegung der Brauch eingebürgert, einen solchen Teigansatz zusammen mit einem sogenannten »Hermann-Brief«, in dem steht, wie man mit dem Ansatz umgeht und was man daraus backen kann, zu verschenken.

Lange hielt ich mich von allen Öfen fern. Bäcker und Konditorinnen sind für mich hochgradige Spezialisten, in deren Kompetenzbereich mich einzumischen ich ebenso wenig Lust verspüre wie in den von Kernphysikerinnen oder Gehirnchirurgen. Aber dann war ich in Lübeck im Günter-Grass-Haus und knabberte dort in der Teeküche ein wenig von einem unfassbar leckeren Knäckebrot, dünn wie Briefpapier. Am nächsten Morgen stand ich vor der Tür des Freibackhauses um die Ecke, Glockengießerstraße 42, angeblich Deutschlands älteste kontinuierlich betriebene Bäckerei seit 1293. Flugs raffte ich zwei Kilo des köstlichen Körnerknäckes zusammen und saß zu Hause wie der Drache Smaug auf meinem köstlichen Hort. Aber irgendwann war die letzte Scheibe aufgefuttert, in Deutschland regierte das Virus, und ich hatte plötzlich jede Menge Zeit. Also warum nicht einmal selbst Knäckebrot backen?

Es ist viel leichter, als man denkt. Mein Grundteig besteht aus 100 g Mehl, 80 g Haferflocken und 250 ml Wasser. Salzen, pfeffern, zwei, drei Minuten in der Küchenmaschine verrühren und möglichst dünn auf ein Blech mit Backpapier streichen. Nach zehn Minuten bei 180 Grad mit einem Pizzaschneider rändeln, damit man die Scheiben nach weiteren 30 Minuten im Ofen leicht brechen kann. Oder, falls es Ihnen asymmetrisch lieber ist, brechen Sie einfach Stücke ab, gerade so, wie Sie’s mögen. Nach dem ersten Erfolg wird sogleich der Wunsch nach Verfeinerung einsetzen. Vielleicht doch ein Anteil Sauerteig? Manche nehmen sogar Hefe. Statt Wasser ganz oder teilweise Buttermilch? Oder Olivenöl? Honig? Saatgut wie Sonnenblumenkerne, Leinsamen, Chiasamen, Mohn, Kürbiskerne oder Nüsse? Warum nicht auch Kräuter und Gewürze – die Schweden sind ganz verrückt danach: Anis, Kümmel, Fenchel, Koriander, Rosmarin, Oregano, Thymian, Chili, Paprika? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Ich ertappte mich gerade beim Spiel mit dem Gedanken an ein Knäckebrot mit Thunfisch-Bottarga.

Alles eine Frage Ihrer kulinarischen Souveränität.

Arche kakon!

Es sind schon ganze Bibliotheken darüber geschrieben worden, warum der Toast immer mit der gebutterten Seite auf dem Boden landet. Weshalb stets dann ein Küchengast ungefragt die Backofentür aufreißt, wenn ein Soufflé darin sein empfindlichstes Stadium kurz vor der Vollendung erreicht und es jeder Luftzug in sich zusammensacken lässt wie einen Ballon, aus dem die Luft entweicht. Oder wieso es unweigerlich die Flasche alter Bordeaux und nie der günstige junge Spätburgunder ist, der einem beim Rückweg aus dem Weinkeller aus der Armbeuge glitscht und auf den Treppenstufen zerbirst. Aus unserer Zeit im Kindergarten und in der Schule wissen wir alle, dass Gustav Gans und Pechmarie keine Erfindungen sind, sondern Glückspilze und Sonntagskinder ebenso real existieren wie Unglückswürmer und Pechvögel. Und die meisten von uns besitzen mit zunehmendem Alter auch eine intuitive Ahnung, zu welcher Gruppe sie zählen.

Ich bin über 50 und weiß längst, dass ich ein Trottel bin. Das ist nicht weiter schlimm, weder für mich noch für meine Umwelt. Gefährlich sind Trottel für sich und andere nur, wenn sie dieses Stadium der Selbsterkenntnis noch nicht erlangt haben und aus falsch verstandenem Wagemut die Hand heben, wenn eine im Alpenschnee verirrte Wandergruppe einen neuen Führer sucht, der Kapitän beim Atlantiktörn über Bord gegangen ist oder ein neuer CDU-Vorsitzender gebraucht wird. Der erfahrene Trottel weiß, wann der Moment gekommen ist, einfach mal den Mund zu halten. Was nicht gleichbedeutend damit ist, schicksalergeben »Born to loose …« vor sich hin zu summen und es bei der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeiten zu belassen. Natürlich gilt es, nach wie vor energisch gegen diese anzukämpfen und jeden Tag darum zu ringen, ein besserer Mensch zu werden. Der springende Punkt ist vielmehr die Einsicht, dass große Missgeschicke oft kleine Ursachen haben.

Neulich im Urlaub zum Beispiel. Nach zehn entspannten Tagen voll kulinarischer Hochgenüsse zwischen Sancerre und La Charité-sur-Loire auf dem canal latéral an der Loire war der Tag der Bootsrückgabe im Hafen von Briare gekommen. Das Boot war geräumt, ich ging noch einmal zurück, um einen letzten Blick durch ein Bullauge zu werfen, ob auch wirklich alle mitgebrachten scharfen Messer aus der Pantry wieder eingepackt waren, da glitt mir der Autoschlüssel aus der Hand und verschwand mit einem leisen Platschen in der zehn Zentimeter breiten Lücke zwischen Reling und Landungssteg im Hafen. Nur wer einmal das winzige Luftbläschen eines auf Nimmerwiedersehen versinkenden Autoschlüssels auf der Wasseroberfläche zerplatzen sah, weiß, wie sich wahre Verzweiflung anfühlt. Und doch kennt wohl jeder dieses sich langsam vom Magen ausbreitende Gefühl, dass in so einer Sekunde nicht nur etwas Blödes passiert, sondern ein echtes Verhängnis hereinbricht – der arche kakon, wie das so schön im Altgriechischen heißt, der Anfang des Schlamassels, der Beginn allen Übels, die Mutter aller Katastrophen. Arche kakon, das war Paris’ Raub der Helena, in dessen Folge Troja zerstört wurde. Odysseus’ Beleidigung des Meergotts Poseidon, die ihm eine zehnjährige Irrfahrt durch alle Winkel der bekannten und unbekannten Welt eintrug. Und mein Autoschlüssel im Schlick des Hafenbeckens von Briare.

In der Küche wie im Leben ist entscheidend, wie man mit dem arche kakon umgeht. Helfen kann einem dabei wie gesagt die durch Lebenserfahrung gewonnene Einsicht, ein Trottel zu sein. Inzwischen nehme ich auf längere Reisen immer einen Zweitschlüssel mit. In der Literatur der Antike definiert der Umgang mit dem arche kakon den Unterschied zwischen einem normalen Menschen und einem Helden. Odysseus wächst an seinen Aufgaben, seine Gefährten hingegen zerbrechen daran. Der Umgang mit unvorhergesehenen Katastrophen macht auch den Unterschied zwischen einem normalen Restaurant und einem Spitzenrestaurant.

Vor noch gar nicht langer Zeit war ich mit guten Freunden zum Wochenausklang im Kölner Zwei-Sterne-Tempel Le Moissonnier verabredet. Ich kam nach einigen Tagen harter Arbeit direkt aus dem Zug, gab dem Patron Vincent Moissonnier meine ziegelschwere Aktentasche und stürzte mich in das verlässliche Vergnügen, das die gleichermaßen verspielte wie felsenfest im Meer verankerte Küche von Eric Menchon in so sublimer Perfektion bietet, dass sie mich jedes Mal aufs Neue befeuert und zu eigenen Küchenabenteuern inspiriert. Muss ich erwähnen, dass wir nach vielen begeisternden Tellern und vielen guten Flaschen die Letzten waren, die das gemütliche Jugendstilbistro in der Krefelder Straße 25 verließen? Am Ausgang stand Vincent Moissonnier mit den Mänteln und einer schwarzen Aktentasche. Nur war es leider nicht meine, sondern die eines anderen Gasts, der im Eifer des Gefechts offenbar unsere zugegeben recht ähnlichen Taschen verwechselt hatte. Bei aller kulinarischen Beseligung war ich schlagartig wieder nüchtern, als mir weit nach Mitternacht klar wurde, dass geschehen war, was nicht geschehen durfte: mein Handy, mein Laptop, mein Terminkalender, das Buch, das ich bis übermorgen lesen musste – und die Kamerakarten mit dem letzten Interview mit Philip Roth –, alles war in der Tasche. Kurz wurde mir schwarz vor Augen: arche kakon!

Ich weiß nicht, woher Vincent Moissonnier seine unerschütterliche Seelenruhe in solchen Krisensituationen nimmt. Wahrscheinlich ist ihm schon öfter der Toast auf die gebutterte Seite gefallen, ein Soufflé zusammengestürzt oder ein alter Bordeaux aus der Armbeuge geglitscht. Vielleicht hat er auch nur ein gutes Auge für Trottel. Jedenfalls entließ er mich in die Nacht mit einem Glas wunderbarem alten Calvados und der Versicherung, meine Aktentasche werde morgen in aller Herrgottsfrühe zu Hause bei mir abgeliefert. Und genau so kam es auch.

Wie er das geschafft hat? Keine Ahnung. Wenn ich das wüsste, wäre ich kein Trottel. Wahrscheinlich, weil er genauso zaubern kann wie Eric Menchon in seiner Küche.

Jules Verne

Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Manchmal lassen sie aber auch Menschen zu Bestien werden – so geschehen in einem Sternelokal in Paris. Das Jules Verne ist eines jener Restaurants, das aufgrund seiner Traumlage sämtliche kulinarische Alarmglocken in mir Sturm läuten lässt: Es befindet sich nämlich im zweiten Stock des Eiffelturms und verfügt über eine eigene Sicherheitsschleuse und einen eigenen Aufzug. Diese erlauben es seinen Gästen, selig lächelnd an den insbesondere im Sommer riesigen Touristenschlangen vorbei, direkt zum Eingang des Jules Verne in einem der Beine des Turms zu gehen. Noch eindrucksvoller, wenn man mit dem eigenen Auto vorfährt und die Schlüssel lässig dem herbeieilenden Wagenmeister zuwirft. Zugegeben, das Jules Verne ist nichts für Freunde des gepflegten Understatements. Im Gegenteil: Das Jules Vernehat durchaus etwas von einem Angeberladen und ist folglich eher ein Tummelplatz für protzsüchtige Windbeutel. So wundert es denn auch nicht, dass Emmanuel Macron dort vor einigen Jahren mit Donald und Melania Trump essen ging.

Erstaunlicherweise war die Küche des Jules Verne aber nicht so, wie man es in einer Touristenhölle wie dem Eiffelturm erwarten würde. Mir hatte ein Pariser Freund den Tipp gegeben, meine Aversion gegen in Türme gelegene Restaurants zu überwinden. Das Jules Verne glänzte mit Gerichten wie geröstetem Blumenkohl mit Kaviar, Kartoffelcreme und Anchovis, Steinbutt mit gefüllter Zucchiniblüte auf einer Zitronenemulsion oder Seebrassen auf Seegras. Das lag an Alain Ducasse, der sich schon als kleiner Junge in dieses Restaurant verliebt hatte und es, koste es, was es wolle, seinem weltweiten, mit 21 Michelin-Sternen ausgezeichneten Gastronomie-Imperium hinzufügen wollte. 2007 kam Ducasse endlich zum Zug und machte zusammen mit dem Koch Alain Soulard das Jules Verne zu einem der angenehmsten Orte in Paris. Umgeben von gerahmten Illustrationen aus der legendären Voyages extraordinaires-Buchreihe des Hetzel-Verlags, der im 19. Jahrhundert Jules Vernes berühmte Reiseromane in prächtigen roten Leinenbänden mit Golddruck im Original veröffentlichte, konnte man die ins Lokal integrierten riesigen Schwungräder des Aufzugs bestaunen und sich mit dem herrlichen Blick über die Stadt fühlen, als wäre man Phileas Fogg oder hätte soeben die 500 Millionen der Begum geerbt. Die leichte, ganz auf die Qualität von Meeresfrüchten, Fisch und Gemüse setzende Saisonküche Soulards tat zusammen mit einer guten Flasche Champagner ein Übriges, um sich hier wie Gott in Frankreich vorzukommen.

Doch wie sagt der Dichter, in diesem Fall Robert Gernhardt: »Das Schöne schwindet, scheidet, flieht,/fast tut es weh, wenn man es sieht.« Zehn Jahre währte die Schönheit des Jules Verne im Eiffelturm, dann verlor Alain Ducasse 2018 ein Bietergefecht um die Verlängerung des Mietvertrags und wurde von Frédéric Anton und Thierry Marx aus dem Jules Verne verdrängt. Nun sind Anton und Marx ebenfalls Sterneköche, und das Mittagsmenü für 105 Euro angesichts des exklusiven Zugangs zum Eiffelturm und der atemberaubenden Aussicht immer noch ein Schnäppchen. Außerdem wusste Ducasse sich durch die Eröffnung von Ducasse sur Seine, eines schwimmenden Restaurants am Port Debilly vor dem Trocadéro mit Blick auf den Eiffelturm, zu trösten.

Unvergesslich geblieben ist mir Alain Ducasses Jules Verne aber nicht wegen seiner genialen Küche – obwohl: Der marinierte Froschschenkel, den ich dort einmal als amuse bouche verzehren durfte, war sicher der beste Froschschenkel meines Lebens … – und auch nicht wegen seines einmaligen Paris-Panoramas. Unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeprägt hat sich das Jules Verne wegen eines hässlichen und fast bis in eine Schlägerei eskalierenden Streits, eines echten Küchendramas, einer fast schon opernreifen Darbietung nackter menschlicher Emotion, aufwallenden Bluts, geballter Fäuste und aus den Augen funkelnder Mordlust, begleitet von einer Symphonie aus Geschrei, wüsten Beschimpfungen und derben Flüchen. Großes Kino in jeder Beziehung also. Auslöser war ein Tütchen Madeleines.

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