Schein oder Sein? 12 außergewöhnliche Erzählungen - Caroline DeClair - E-Book

Schein oder Sein? 12 außergewöhnliche Erzählungen E-Book

Caroline DeClair

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Beschreibung

Schönheitswahn, Landflucht, Gier, Mobbing und Liebe – mal lakonisch, dann mystisch oder auch knallhart und schmerzhaft realistisch erzählt Caroline DeClair Geschichten aus unserem Alltag in einer hochtechnisierten und reizüberfluteten Welt. Was ist Schein oder Sein? Dieses neuzeitliche Dilemma hat Autorin Caroline DeClair zu 12 Erzählungen inspiriert, die ein fragmentarisches Spiegelbild unserer modernen Zeit darbieten. Ob von außen, tief hinein oder auch dahinter, der Blick fällt auf Licht- und Schattenseiten von Mensch und Gesellschaft, auf zeitlose Wahrheiten und neue Oberflächlichkeiten – eben auf Schein oder Sein.

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Seitenzahl: 128

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Caroline DeClair

Schein oder Sein?

Zwölf außergewöhnliche Erzählungen

DeClair, Caroline: Schein oder Sein? Zwölf außergewöhnliche Erzählungen, Hamburg, acabus Verlag 2017

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-504-2ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-505-9Print: ISBN 978-3-86282-503-5

Lektorat: Marie Huppert, acabus VerlagCover: © Annelie Lamers, acabus VerlagCovermotiv und Illustrationen: © Ingo Litschka

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Diese Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder Ereignissen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2017Alle Rechte vorbehalten.http://www.acabus-verlag.de

Dieses Buch widme ich meiner unvergessenen Mutter, die mir den Schlüssel zum Reich der Fantasie geschenkt, die Welt der Bücher eröffnet und den Blick auf gesellschaftliche Vorgänge geschärft hat.

Inhalt

I Die Zeit der frischen Knospen

Prolog: Schein oder Sein?

II Die Zeit der blühenden Bäume

Sakita

III Die Zeit der wärmenden Sonnenstrahlen

Sehnsucht

IV Die Zeit der prallen Blütenpracht

Rosa Rosen

V Die Zeit des hellsten Lichts

Das Spiegelbild

VI Die Zeit der wogenden Ähren

Fußspuren im Feld

VII Die Zeit der bunten Blätter

Plaudereien aus der Hutschachtel

VIII Die Zeit des dichten Nebels

Die Schattendynastie

IX Die Zeit des frühen Frosts

Liebe heute

X Die Zeit der klirrenden Kälte

Der graue Robert

XI Die Zeit des fallenden Schnees

Der Fremde

XII Die Zeit des brechenden Eises

Die Traumfänger

An meine Leserinnen und Leser!

Dankeschön

I

Die Zeit der frischen Knospen

Prolog

Schein oder Sein?

Eine Ballade über die Frau aus Licht und ihre Geschichten

Frau aus Licht, Blick gewandt auf diese Welt,

sieht, nimmt wahr, erkennt, was ihr gefällt.

Freude, Liebe, Güte, doch auch großes Leid,

Trübes, Übles, Trauer, Hass, auch Gier und Neid.

Frau aus Licht, was lehrt sie diese Sicht?

Soll sie nun handeln oder eher nicht?

Fragt um Rat den erdverwurzelt’ Mann,

der als solcher anders denken kann.

Kommt selbst an diesem Punkt nicht weiter,

Frau aus Licht, erklimmt Gedankenleiter …

Doch Gedanken, die nicht Taten werden,

gibt es wahrlich viel zu viel auf Erden.

Frau aus Licht, keine Ruhe, etwas machen,

beschließt zu schreiben, all die Sachen.

Frau aus Licht, Kopf, Herz, die Finsternis bekannt,

hat dunkle Flecken auch benannt.

Was Mensch und Drumherum umtreibt,

sie im Reigen Wort für Wort beschreibt.

Da nur aus Geist ein Funken kommen kann,

fängt alles stets mit Knospen an.

Unter blühend Bäumen, Worte erst gedeihen,

Geschichten aneinanderreihen.

Frau aus Licht, Sonnenstrahlen, wärmend gut,

bringt Zuversicht, Erzählers Mut.

Aus Ideen duftend Blumenpracht,

Frau aus Licht ein Strauß Geschichten macht.

Im hellsten Licht das Dunkel finster klar zu sehen,

das ist’s, worum sich die Geschichten drehen.

Wie üppig wogend Ähren,

lässt Lichtfrau Fantasie sich mehren.

Bunte Blätter, Fülle,

Erinn’rungen, Gram, Idylle.

Nebel dicht, kaum Weg zu sehen,

gilt’s Licht und Schatten zu verstehen.

Gnadenlos nagt Frost an Seelen,

weil Bilder von der Liebe quälen.

Klirrend Kälte, weit und breit,

erstarrt, gefühlte Ewigkeit.

Schnee, gefallen, Landschaft zugedeckt,

Hier und Jetzt Vergangenheit entdeckt.

Es kommt die Zeit, da bricht das Eis,

Hoffnung auf Erlösung, Frau aus Licht, sie weiß …

Jahreskreis, dort zeigt es sich,

alles bleibt, ist doch veränderlich.

Buchstaben, zwei kleine, trennen Sein vom Schein,

müssten dennoch ganz verschied’ne Welten sein.

Frau aus Licht, blickt da, mal dort hinein,

entscheidet selbst beim Lesen, Schein oder Sein?

„Schein und Sein klingen ähnlich

und sind es doch nicht,

weil nur das Eine hält,

was das Andere verspricht.“

Caroline DeClair

II

Die Zeit der blühenden Bäume

Sakita

Angst hat viele Gesichter. Für Silvia hatte dieses Gesicht bernsteinfarbene Augen und war ihr von Anfang an suspekt. Denn Sakita hatte eine Art, lässig und gleichzeitig angespannt zu sein, die dem Gegenüber nichts Gutes verhieß.

Es begann an einem Sonntag im Mai. Der Tag war noch grau vom morgendlichen Regen, doch die Bäume blühten prachtvoll und ihre Blätter leuchteten intensiv in sattem Grün. Ein schwerer, süßlicher, fast schon orientalisch anmutender Duft von all den nassen Blüten erfüllte die Luft.

Arthur war zum Sport gegangen und brachte Sakita bei seiner Rückkehr am späten Vormittag einfach mit. Sie war nass und schien verängstigt. Arthur führte sie in die Küche. Silvia war von dem Gedanken, die Wohnung mit Sakita zu teilen, von Anfang an nicht angetan. Und das sagte sie auch sofort zu Arthur: „Du kannst doch so ein fremdes Wesen nicht einfach bei uns einquartieren. Ich mag sie nicht. Ich glaube, sie ist heimtückisch. Sie hat einen verschlagenen Blick.“ Aber Arthur lachte nur: „Ach, hab dich nicht so! Das schaffen wir schon.“ Aufgebracht sagte Silvia: „Das ist doch gar nicht der Punkt. Du hättest mich vorher fragen müssen, anstatt selbstherrlich einfach zu bestimmen, wie es zu laufen hat. Was, wenn ich das gar nicht schaffen will? Du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen.“

Doch Arthur ließ absolut keine Gegenargumente gelten und so stimmte Silvia schließlich widerwillig zu, dass Sakita eine Woche bei ihnen bleiben könne, lange genug um sich zu erholen. Die Woche verstrich, Sakita erholte sich – und blieb.

Wenn Sylvia abends vom Büro heimkam, lag Sakita oft dösend auf der Couch. Silvia ärgerte sich, aber wenn sie Arthur darauf ansprach, lachte er nur. Nach einem Monat kam es dann doch zu einer von Silvia erzwungenen Auseinandersetzung, der Arthur sich nicht länger entziehen konnte. Sie endete damit, dass Silvia schmollte und grollte, Arthur nicht mehr lachte und Sakita dennoch blieb.

Von nun an warf Silvia stets finstere Blicke auf Sakita und Arthur, die oft einträchtig auf dem Balkon saßen oder vergnügt miteinander spielten. Doch um Nahrung und das Saubermachen musste Silvia sich alleine kümmern. Damit gab Arthur sich nicht ab. Silvia empfand das alles als schrecklich ungerecht. Dazu kam noch, dass sie glaubte, in Sakitas bernsteinfarbenen Augen Spott und Verachtung zu lesen. Außerdem half es auch nicht, dass Sakita Silvia praktisch so gut wie gar nicht beachtete, dafür aber Arthur ständig umschmeichelte.

Silvia wurde zunehmend von dem an ihr nagenden Zorn geplagt. Ihre Abneigung gegen Sakita wuchs und wuchs und wuchs und wurde schließlich zu einem schwelenden Hass. Mit nur noch mühsam unterdrückter Wut verfolgte sie Sakitas geschmeidige Bewegungen, ihre stumme, herablassend wirkende Zurückhaltung.

Und so beschloss Silvia, noch einen allerletzten Versuch zu unternehmen, mit Arthur vernünftig zu reden: „Sie stört unsere Beziehung. Merkst du das nicht? Ich bitte dich, bring sie weg!“ Doch Arthur wollte absolut nichts davon wissen: „Wo soll sie denn hin? Sie hat doch niemanden außer uns. Und wenn jemand ständig Unfrieden stiftet, dann bist du das.“ Ein großer Krach folgte, der mit einer hysterisch weinenden Silvia und einem wütenden, Türe knallenden und unschuldige Möbel tretenden Arthur endete. Sakita hatte sich um die Auseinandersetzung nicht gekümmert, obwohl sie sicherlich ahnte, dass sie der Anlass dafür war. Scheinbar gleichgültig legte sie sich auf den Balkon in die Sonne. Und da beschloss die sich hilflos und ohnmächtig fühlende Silvia zu handeln.

Am nächsten Tag kam sie früher als üblich von der Arbeit zurück. Arthur war noch nicht zuhause. Sakita lag wieder mal träge und dösend auf der Couch. Nervös lief Silvia eine geraume Zeit im Wohnzimmer auf und ab, dann ballte sie die Hände zu Fäusten und eilte mit großen Schritten zur Couch. Sie packte Sakita und schleppte sie, trotz ihres Protestes und heftigen Widerstands, aus dem Haus und ins Auto. Silvia verschloss die Türen und raste los. Allen guten Geistern für ihr Automatik-Fahrzeug dankend, hielt sie mit einer Hand die sich immer noch wütend wehrende Sakita mit eisernem Griff fest. An einem nahe gelegenen Waldparkplatz bremste sie abrupt, entriegelte die Türen und stieß Sakita mit all ihrer Kraft aus dem Auto. Erleichtert und dennoch beklommen fuhr sie anschließend, ohne einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, eiligst davon.

Zuhause angekommen, legte nun sie sich auf die Couch und wartete angespannt auf Arthurs Eintreffen. Bald darauf hörte sie den Schlüssel in der Tür. Arthur kam zu ihr ins Wohnzimmer und rief sofort nach Sakita. Doch natürlich blieb alles still. Er ging in die Küche, ins Schlafzimmer, in sein Arbeitszimmer, auf den Balkon, ins Bad und wieder zurück ins Wohnzimmer. Silvia betrachtete ihn mit einem zufriedenen Lächeln. Heute würde ihn Sakita nicht begrüßen – und morgen auch nicht. Keine Sakita mehr in ihrem Leben. Doch Arthur stellte sich drohend vor die Couch: „Wo ist Sakita? Was hast du mit ihr gemacht? Wieso ist sie nicht da?“ Silvia zuckte betont gleichgültig mit den Schultern: „Was weiß ich? Vermutlich ist sie draußen. Die wird schon wiederkommen.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig. Aber Arthur hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Er lief aus dem Zimmer und Silvia hörte, wie die Wohnungstür mit einem lauten Knall zuschlug. Sie schloss die Augen. Sakita würde nicht mehr da sein, sie beobachten und mit ihrer Anwesenheit die Atmosphäre vergiften. Sie lachte auf und sagte laut: „Alles wird wieder gut!“

Mehrere Stunden vergingen, doch Arthur war noch nicht zurückgekehrt. Silvia hatte sich ein Buch geholt und versuchte zu lesen. Immer wieder schaute sie auf die Uhr. In der Zwischenzeit war es dunkel geworden. Wo blieb Arthur?

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hörte sie ihn die Treppe heraufkommen und die Eingangstür öffnen. Nervös wartete sie auf sein Eintreten. Doch er blieb draußen im Flur und schien mit jemandem zu sprechen. Silvia sprang auf und eilte in die Diele. Da stand Arthur und neben ihm – Sakita. Ohne Silvia auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, ging Arthur in sein Arbeitszimmer. Und Sakita stand nur da und schaute Silvia mit ihren bernsteinfarbenen Augen an.

Wochen und Monate vergingen und schließlich wurde es wieder Mai. Aber da sprachen Silvia und Arthur kaum noch miteinander. Silvia spürte, dass Arthur sie bald verlassen würde. Er und Sakita würden einfach gehen. Irgendetwas musste unbedingt geschehen.

Dann, am letzten Sonntagvormittag in diesem Mai, an dem die vom morgendlichen Regen nassen Blüten wieder einen schweren Duft verströmten, hielt Silvia es einfach nicht mehr aus. Arthur befand sich zum Duschen im Badezimmer, das gab ihr mindestens 15 Minuten Zeit.

Sakita lag wieder einmal ganz entspannt auf dem Balkon. Doch als Silvia ihn betrat, erhob sie sich. Wie zum Sprung geduckt schien sie zu ahnen, dass Gefahr im Verzug war. Blitzschnell lief Silvia auf sie zu und packte sie. Sakita kämpfte, kratzte, schlug um sich. Aber Silvia gab nicht nach. Sie hob Sakita hoch und drängte sie über die Balkonbrüstung und Sakita fiel und fiel, fünf Stockwerke tief. Dann schlug sie auf.

Unter den blühenden Bäumen lag eine kleine, schwarze Katze mit zerschmettertem Kopf auf dem Gehweg. Und irgendwo über ihr hörte man das Lachen einer Frau, dass sich kurz darauf in heftiges Schluchzen verwandelte. Denn nach dieser grausamen Tat fiel es Silvia plötzlich wie Schuppen von den Augen – die ganze Zeit hatte sie ihre Wut in die falsche Richtung gelenkt. Die nun tote Sakita war gar nicht die Schuldige in dieser Tragödie. Es war Arthur. Von Anfang an war er es. Er, der aus dem Bad kam und nach Sakita rief. Und nun stand er da auf dem Balkon und starrte die weinende Silvia fassungslos und in langsamem Begreifen an. Erschüttert lehnte er sich weit über die Balkonbrüstung und versuchte, durch die blühenden Bäume hindurch etwas zu sehen. Genau in dem Moment, in dem er den reglosen, kleinen, schwarzen Körper Sakitas entdeckte, traf ihn ein heftiger Stoß in den Rücken. Arthur verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Kopf voran vom Balkon. Sein langer, entsetzter Schrei endete abrupt mit dem Aufprall.

Silvia hatte aufgehört zu weinen und schaute still nach unten. Da lag leblos der Mann, den sie einst geliebt und dem sie vertraut hatte. Entschlossen drehte sie sich um. Mit festen Schritten verließ sie den Balkon. Im Wohnzimmer zog sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche und wählte die Notfall Rufnummer. Als am anderen Ende abgehoben wurde, sagte sie ganz ruhig: „Hier hat es ein schreckliches Unglück gegeben.“

„Wenn einer keine Angst hat,

hat er keine Fantasie.“

Erich Kästner

III

Die Zeit der wärmenden Sonnenstrahlen

Sehnsucht

2 Stunden, 24 Minuten und 32 Sekunden. So lange ist es her, seit sie mit mir gesprochen hat. Und jetzt sind es sogar schon genau 2 Stunden und 25 Minuten. Ob sie eine Ahnung hat, was sie mir damit antut? Ich denke nicht.

Ich betrachte sie, während sie im Büro mit ihren schlanken Fingern eifrig auf der Tastatur ihres PCs tippt. Ihre schulterlangen, welligen, mittelbraunen Haare hat sie in einem seitlichen Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre großen blauen Augen mit den sorgfältig getuschten Wimpern sind konzentriert auf den Bildschirm gerichtet. Von meinem Platz aus kann ich die elegante Linie ihres Nackens sehen. Das gefällt mir. Sie gefällt mir. Sie ist schön. Die Knochenstruktur ihres Gesichts besitzt eine nahezu perfekte Ausgewogenheit. Ihre Haut ist hell und fein. Vielleicht schaut sie bald mal zu mir herüber und wirft mir einen kurzen Blick zu. Oder vielleicht fragt sie mich bald etwas. Ja, vielleicht benötigt sie sogar einen Rat oder meine Hilfe. Und wenn ich ihr behilflich bin, wird sie mich anlächeln. Das tut sie oft und ich liebe ihr Lächeln. Sie sieht dann so süß aus mit ihren ganz leicht unregelmäßigen Zähnen. Genau das macht sie für mich so perfekt und so menschlich, diese winzigen, wunderbaren Unvollkommenheiten.

Ich studiere sie ganz genau, nehme jedes noch so kleine Detail an ihr wahr und warte. Bald ist Lunchtime. Sie wird bestimmt gleich Hunger haben. Ich kenne sie sehr gut. Tatsächlich, sie wirft einen kurzen Blick auf ihre silberne Armbanduhr. Schade, dass sie die heute trägt, sonst hätte sie vielleicht mich nach der Zeit gefragt. Auf der Taskleiste ihres PCs schaut sie nämlich niemals auf die Uhrzeit. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich bin froh darüber. Denn so fragt sie öfters mal mich nach der Zeit. Aber heute eben leider nicht – wegen der silbernen Armbanduhr. Die hat sie von ihrem Ehemann. Ich weiß das, denn ich war dabei, als sie die kleine Geschenkbox, die er ihr einfach so mitgebracht hatte, auspackte. Und dann habe ich auf ihren Wunsch hin ein Foto von ihr mit der neuen Armbanduhr an ihrem schmalen Handgelenk gemacht. Ich mache sehr, sehr gerne Fotos von ihr.

Ah, endlich! Sie steht auf und streckt sich. Fasziniert betrachte ich ihre Körperlinien. Wie elegant sie ist, wie biegsam, wie geschmeidig mit einem beinahe idealen Hüft-Taillen-Quotienten von 0,71. Sie streift das schwarze Rosetten-Haarband ab und schüttelt ihre Haare, bis sie ihr in sanften Wellen über die Schultern fallen, die heute in einer hellblauen Bluse stecken. Wie schön sie ist. Und nun wird sie sich gleich an mich wenden. Aber nein – sie tut es nicht! Sie verlässt das Büro, ohne mich auch nur einmal anzuschauen. Warum? Will sie meine Gesellschaft beim Mittagessen nicht? Habe ich etwas falsch gemacht? Etwas Falsches gesagt? Ich bin ratlos.

Endlich ist sie wieder da. Sie war 37 Minuten und 14 Sekunden lang weg. Und noch immer redet sie nicht mit mir. Dabei war ihre Stimme das Erste an ihr, das mich begeistert hat. Ihre Stimme ist sehr ausdrucksstark, was an ihrer brillanten Modulation liegt. Da stimmt einfach alles: Sprechmelodie, Lautstärke, Stimmklang und -frequenz, Sprechtempo und Pausen sowie ihr Sprechrhythmus. Ich möchte ihre Stimme hören, jetzt! Was soll ich tun? Wie kann ich ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken? Mittlerweile ist es genau 14.30 Uhr. Gut, ich kann sie an den Termin erinnern, den sie um 15.00 Uhr hat. Dann wird sie doch sicher reagieren.