Scherbensommernacht - Janne Loy - E-Book

Scherbensommernacht E-Book

Janne Loy

0,0

Beschreibung

Ein folgenschwerer schwül-warmer Sommerabend Mitte der 90er. Die fünfzehnjährige Imen wird nach einer Schulparty vermisst. Keine Zeugen, keine Spuren, keine Leiche. Imens Schwester Ella glaubt fest daran, Imen gegen Mitternacht noch vor dem Elternhaus gesehen zu haben. Ihre Familie zerbricht, Ella muss ihr Leben weiterführen, ihre Ausbildung beenden. Doch die Ungewissheit um das Schicksal ihrer Schwester lässt Ella nicht los.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 583

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Nach einer Scheunenparty in Münster verschwindet in den 90er Jahren die 15-jährige Imen, ein temperamentvolles, rebellisches Mädchen. Es gibt keine Hinweise, was mit ihr in dieser stürmischen Sommernacht geschehen sein könnte. Ihre Leiche wird nie gefunden. Ihre Familie zerbricht an diesem Verlust. Einzig Ella, Imens ältere Schwester, verliert auch Jahre später nicht ihren Mut, ihr Vertrauen in das Leben und den Glauben an die große Liebe. Obwohl es von Imen nach so langer Zeit immer noch kein Lebenszeichen gibt. Ständiger Begleiter ist ein gelber Luftballon, der immer wieder den Weg in Ellas Leben findet.

Die Autorin

Janne Loy, Industriekauffrau mit betriebswirtschaftlicher Weiterbildung, wohnt in der Nähe von Münster/Westf., wo sie in einem Institut der Uni arbeitet. Schon als Teenager kam bei ihr die Sehnsucht auf, selbst zu schreiben und eigene Charaktere in Geschichten auferstehen zu lassen. Manchmal sucht sie auch nach Widersprüchen in den Figuren, weil diese sie authentischer und greifbarer machen. Janne ist ein lebensfroher Mensch, der versucht, die Natur, Menschen und Kulissen mit allen Sinnen wahrzunehmen. Aus den Bildern, die sich dann im Kopf festsetzen, entwickelt sich manchmal eine richtige Geschichte. Janne ist ein Mensch, der oft zu viel in den Tag packt, wobei das Schreiben für sie Lieblingsbeschäftigung und Ausgleich zugleich ist.

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2022 Lauinger | Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Sonia Lauinger

Projektmanagement / Lektorat: Miriam Bengert

Korrektorat: Lisa Castea

Umschlagabbildung: Hintergrund: Blau Foto Science Fiction by Canva/ Mädchen by Khoa Võ, Vietnam, Pexels/ Red Moth Watercolor by maxpixel/ broken-glass-4024471 by matthewpriest, pixabay. Innenabbildung: watercolor-insects-fowers-clipart-trendy-png-elements by envato

Druck: Arkadruk, Warschau, Polen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

Der Titel ist bei Titelschutz.ch unter Hinweis auf § 5 Abs. 3 MarkenG (Deutschland) sowie § 80 UrhG, § 9 UWG (Österreich) in allen Schreibweisen und Darstellungsformen geschützt und im Online-Titelschutz-Anzeiger veröffentlicht worden.

ISBN: 978-3-7650-9154-4

eISBN: 978-3-7650-9155-1

http://www.lauinger-verlag.de

http://www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag

https://twitter.com/DKBVerlag

https://www.instagram.com/lauingerverlag/

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,und er verarmte in meinen Armenund wurde klein, und ich wurde groß.Und auf einmal war ich das Erbarmen,und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seinen Himmel gegeben, -Und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,und wir haben langsam einander erkannt.Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,kann er frei seine Flügel entfaltenund die Stille der Sterne durchspalten -.

Rainer Maria Rilke

Inhalt

Das Buch

Die Autorin

Erster Teil

Zweiter Teil Abwarten und hoffen, dass es irgendwann nicht mehr so weh tut …,

Dritter Teil - Viele Jahre später

Vierter Teil Der Drang, patent und in jeder Hinsicht moralisch gefestigt zu scheinen, bremst einen Menschen oft darin, es tatsächlich zu sein …

Fünfter Teil Nur der Bruchteil einer Sekunde …

Danksagung … und bevor ich noch vergesse, es zu erwähnen:

Erster Teil

Tage, an denen sie sich einbildet, soeben aus einem klebrigen Schlammloch gekrochen zu sein, aus dem sie sich in letzter Sekunde hat befreien können, sind nichts Außergewöhnliches. Sogar heute noch, viele Jahre später, fährt Ella ein eisiger Schauer in die Glieder, wenn sie die Geschehnisse von damals an ihrem inneren Auge vorbeiziehen lässt. Dann ist es, als geschähe all das Schreckliche noch im selben Moment, als wäre alles noch so gegenwärtig wie diese gemeine Sommernacht, in der ihre Schwester auf geheimnisvolle Weise verschwand. Weggeblasen. Ausgelöscht wie ein im Nu abgerissenes Haus.

Dieser verhängnisvolle Tag damals …

… war sehr heiß. Ella hatte sich mit ihren Freunden in der Stadt auf der Wiese am See verabredet. Dort wollten sie ein wenig plaudern und sich die Sonne auf ihre Gesichter scheinen lassen. Später hatten sie kurzerhand beschlossen, sich den gerade angesagten Actionfilm in dem vor einiger Zeit renovierten Kino im Kreuzviertel anzusehen. Es war Ellas Lieblingskino. Sie stand zwar nicht auf Filme dieser Art, wollte aber keine Spielverderberin sein. Sie war müde und heilfroh als die Vorstellung zu Ende war. Draußen wehte ein schwacher Wind und vereinzelte Regentropfen sorgten dafür, dass die Freunde sich nach dem Film rasch voneinander verabschiedeten. Alle waren mit dem Rad gekommen, nichts Ungewöhnliches für eine Stadt wie Münster, und wollten noch trocken nach Hause kommen. Ella blinzelte ein paar Mal vor Müdigkeit und seufzte kurz, ehe sie sich auf den Sattel schwang. Etwa zwanzig Minuten würde sie noch bis nach Hause radeln müssen. Sie freute sich auf ihr Bett.

Endlich angekommen, kramte sie den Schlüssel zum Schuppen aus ihrer Hosentasche, um dort ihr Fahrrad abzustellen. Das Haus lag zwischen Wiesen und Feldern an einer kleinen Zufahrtstraße, weit abgelegen von den übrigen, eher zusammengeballten Wohngebieten in dieser Gegend. Sie sah auf ihre Armbanduhr. 23.05 Uhr. Das alte Vorhängeschloss, das den Fahrradschuppen einst gesichert hatte, war schon lange kaputt. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Es schrammte ein bisschen auf den Waschbetonplatten, wie immer, wenn die schwere alte Holztür bewegt wurde. Das Schrammen der Tür war jedoch nicht das einzige Geräusch, das Ella wahrnahm. Von irgendwoher klangen noch andere Laute durch die Luft. Feenhaft auf ihre Art. Das zarte Summen erinnerte sie an eine Melodie, die ihre Schwester gerne hörte. Die Töne drangen zuerst sanft in Ellas Ohren, dann aber verwandelten sie sich in unfügsame morsche Klänge, die mit einem Mal erschlafften, als wären sie mit einem Hammer erstickt worden.

»Imen?«

Nichts rührte sich. Ella schloss ihr Rad ab. Das Licht im Schuppen funktionierte nicht. Sie wollte es morgen früh ihrem Vater sagen. Es war niemand im alten Schuppen, sonst hätte sie – wegen des Gerümpels, das hier herumstand – ein Rasseln oder Scheppern hören müssen. Die unirdischen Töne waren von draußen gekommen, so glaubte sie. Also sah sie sich dort um.

»Imen?«, rief sie noch einmal.

In der Ferne hörte man Donnergrollen. Ellas Müdigkeit befahl ihr, ins Haus zu gehen, aber sie zögerte noch, schüttelte unmerklich den Kopf. Sie hätte nicht schwören können, ob das Summen von Imen gestammt hatte. Es hatte nach ihrer Schwester geklungen und auch wieder nicht. Sie schaute vorsichtshalber noch einmal in den Schuppen, schob dann aber den Riegel mit dem defekten Schloss wieder vor. Ihre Schwester hätte sowieso längst zu Hause sein müssen. Sie war doch erst fünfzehn, zwei Jahre jünger als sie.

Ein sanfter Wind wehte ihr die Strähnen ihres braunen, stufig geschnittenen Haares durchs Gesicht. Mit einer schnellen Handbewegung strich sie sie hinter die Ohren. Einen kurzen Moment verharrte sie noch vor dem Schuppen und spähte in den sternenverhangenen Himmel. In ihrer Vorstellung waren Sterne Beschützer aller Lebewesen auf Erden, die sich ihnen zugetan fühlten.

Gebannt betrachtete sie einen langen weißen Streifen am Horizont. Ein Mondregenbogen! Davon hatte sie schon gehört, aber noch nie zuvor einen gesehen. Das Licht des Vollmonds fiel auf eine alte Holzbank und schimmerte in dem Weiher neben dem Hausgrundstück, als würde er sich darin erfrischen. Der grelle Schein beleuchtete plötzlich eine Silhouette ein paar Schritte links von ihr. Ella zuckte zusammen. Aber im selben Moment war der Schattenriss auch schon wieder verschwunden.

Sie war sich unsicher, ob ihre Müdigkeit ihr einen Streich spielte und sie Gestalten sah, wo keine waren. Sie rieb sich die Augen, kniff sie kurz zu, öffnete sie wieder – und schloss sie gleich noch einmal, denn alles um sie herum war weiß, unerträglich weiß, blendend weiß.

Die Nacht in diesem Juni …

… in den späten 90er Jahren war ungewöhnlich warm und voller Geräusche. In der Ferne dröhnten gedämpfte Bässe von Partymusik, die in Intervallen von der hohen scharfen Stimme einer Waldschnepfe überstimmt wurden. Aus einem der größeren Waldabschnitte drangen schauerliche Geräusche wie der heisere Schrei eines Fuchses und das schrille Kreischen eines Marders durch die Finsternis. Vereinzelt war Rehgebell zu hören, dazwischen der Ruf eines Uhus, vorübergehend sogar das Grunzen und Quieken von ein paar Wildschweinen. Es zischelte, flatterte, hallte und knisterte in dieser Nacht so lebhaft zwischen den alten Bäumen wie schon lange nicht mehr.

Auf dem dürren Ast einer Birke lauerte ein Bussard auf Beute, erspähte eine Maus und stürzte sich mit ausgebreiteten Flügeln von seinem Beobachtungsposten. Kleine Äste und Blätter wurden dabei vom Baum gerissen und fielen auf den Waldboden. Die Maus rannte um ihr Leben – vergebens. Unterdessen sendete eine Fledermaus aus ihrer Baumhöhle reflektierende Geräusche in die Nacht, deren Schallwellen von Laubkäfern zurückgeworfen wurden. So spürte die Fledermaus sie rasch auf. Ein Waldkauz, dessen Kuwitt-Kuwitt-Höii-Huuhuuu eben noch gespenstisch durch die Dunkelheit trieb, brach seinen Schrei ab und beendete ohne Umstände die Käfermahlzeit der Fledermaus, indem er lautlos auf sie herabstieß und sie vertilgte.

Der Uhu hockte im Gewölbe einer majestätischen Buche auf einem knorrigen Ast. Mit großen leuchtenden Augen beobachtete er im silbern schimmernden Mondlicht einen Fuchs, so, als erwäge er den Angriff auf diesen Widersacher der gefährlicheren Art. Ein Igel schnarrte und knusperte laut beim Zermalmen von Larven und Würmern. Dieses Geräusch lenkte den Uhu vom Fuchs ab und lockte ihn zum Igel, dessen stachelige Festung er blitzschnell und erbarmungslos mit seinen gewaltigen Krallen einnahm. Anschließend schälte er das arme Ding vom Bauch her aus und ergötzte sich am Igelfleisch. Um die leere Igelhaut und die vielen herabgefallenen Blätter kümmerten sich anschließend Würmer, Asseln und Bakterien und verwandelten alles pflichtgetreu in Pflanzennahrung.

Es war eine ganz besondere Sommernacht. Während im Wald ein einziger Augenblick darüber entschied, ob das Leben einiger seiner Bewohner erlosch und der immerwährende biologische Kreislauf seinen Gang fortsetzte, knutschte die fünfzehnjährige Imen Al Cham unter einer alten Eiche intensiv und fordernd mit Jimmy, dem schlaksigen, langhaarigen Jungen aus der Abi-Klasse, auf den sie schon länger ein Auge geworfen hatte. Für sie war diese Nacht bahnbrechend, eine Nacht, die nach Liebe duftete, nicht nach Tod. Und heute Abend auf der Party war endlich die Gelegenheit gekommen, sich mal mutig an ihn heranzumachen. Dass er drei Jahre älter war, kümmerte sie ganz und gar nicht. So wie es ihr auch wenig ausmachte, ihre Eltern mit ihrer Aufsässigkeit und ihrem ungezügelten Temperament nahezu in den Wahnsinn zu treiben. Für sie war jede Abweichung von der Norm willkommen, wollte sie doch keinesfalls so langweilig und vernünftig werden wie ihre Schwester Ella. Imen nutzte sämtliche Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die das Leben ihr bot, und hatte immer neue Einfälle, die sie glaubte, augenblicklich in die Realität umsetzen zu müssen. Das Testen der Wirkung verschiedener alkoholischer Getränke gehörte ebenso dazu, wie der zeitweilige Konsum von Zigaretten und selten auch mal Haschisch, wovon ihre Eltern bisher zum Glück noch nichts mitbekommen hatten.

Vor mehr als einem Jahr hatte sie auf einer nachmittäglichen Kellerparty eine alberne Wette verloren. Die endete damit, dass sie sich von zwei Freundinnen eine Glatze schneiden lassen musste, was ihr selbst gar nichts ausgemacht hatte. Ihre Mutter jedoch hatte der leidliche Anblick ihrer kahlköpfigen Tochter so hart getroffen, dass sie unmittelbar in Schnappatmung verfallen war und daraufhin mehrere Tage am Stück geheult hatte, wie jemand, der soeben Haus und Hof verloren hatte. Imens Vater hatte sekundenlang gar nichts gesagt, als Imen kahlgeschoren nach Hause geschlichen kam. Dann aber war sein Gesicht beinahe blaubeerfarben angelaufen. Er hatte sich ans Herz gegriffen, bevor er so laut zu toben begann, dass Imens Schwester Ella, die sich in ihrem Zimmer gerade Modezeitschriften mit Schnittmustern ansah, verängstigt aufsprang und die Hausärztin anrief. Niemals zuvor hatten die Mädchen ihren Vater dermaßen aus der Haut fahren sehen. Selbst die in Tönen zwischen Grün und Blau wechselnden Haarfarben, die Imen gern mal ausprobierte, hatte er immer nur kopfschüttelnd und mit zusammengekniffenen Lippen zur Kenntnis genommen. Inzwischen waren Monate vergangen und Imens Haare wieder gewachsen. Sie präsentierten sich zwar in einem artigen Honigblond, allerdings fielen ihr jetzt die Locken der rechten Kopfhälfte wild auf die Schulter, während sie das Haar auf der linken Seite raspelkurz trug. Ein zusätzlicher Aufreger für ihre Eltern war der – in Imens Vorstellung – unnötige Elternabend im Gymnasium, der vor kurzem stattgefunden hatte. Hier kam heraus, dass Imen in den letzten Wochen regelmäßig Schulstunden geschwänzt hatte, um sich mit zwei Freundinnen aus der Nachbarklasse in einer Eisdiele zu treffen. Die Entschuldigungsschreiben mit gefakter Unterschrift ihrer Mutter und allerlei erfundenen Krankengeschichten hatten den Schuldirektor jedoch nicht ganz überzeugen können und hatte er auf dem Elternabend die Bombe platzen lassen. Den auf diesen neuerlichen Schreckschuss folgenden Hausarrest hielt Imen durch, zumindest unter der Woche, das Ausgehverbot am Wochenende jedoch nicht. Sie sehnte sich nach ihrer Clique, sprang am späten Abend aus dem Fenster ihres Zimmers. Wobei sie sich ernsthaft hätte verletzen können, denn ihr Zimmer lag über dem Eingang zum Innenhof. Sie traf sich wie gewohnt am Samstagabend mit ihren Freunden und ließ es, ebenfalls wie gewohnt, krachen. Für ihre geplagten Eltern war sie oft ein Rätsel, für das es keine perfekten Maßnahmen zu geben schien. Nach dem abendlichen unerlaubten Ausflug wurde Imens Hausarrest um einige Tage verlängert und das Taschengeld für vier Wochen auf ein schmerzhaftes Minimum reduziert. Schon aus diesem Grund hatte sie keine Lust mehr, sich am Wochenende im Jugendtreff zu verabreden, konnte sie sich dort doch nicht mal mehr eine Cola leisten. An diesem Samstag aber war die Qual endlich überstanden. Ihre Eltern hatten ihr erlaubt, an der Mittel- und Oberstufenparty des Gymnasiums teilzunehmen, die bei einem Schulkameraden in einer Scheune stattfand. Der Hof lag in der Bauernschaft Häger, zwischen Münster-Kinderhaus und Altenberge. Ihre Eltern hatten sie und ihre Freundin Milena am frühen Abend hingefahren. Und es war vereinbart worden, dass Milenas Eltern die Mädchen um 22.00 Uhr abholen und nach Hause bringen sollten.

»Imen! Nicht! Ahoa!« Jimmy stöhnte laut auf, als Imen flink und ungeniert den Reißverschluss seiner Jeans öffnete und ihre Hand frech durch den Hosenschlitz regierte.

»Hab dich nicht so, Süßer.« Imens Flüstern war keck und zärtlich zugleich. Sie drückte Jimmy zurück an den dicken Baumstamm. »Zeig mir, was du draufhast.« Resolut dirigierte sie seine linke Hand – seine rechte steckte immer noch in ihrem BH und befingerte den kleinen Busen – unter ihren knallgelben Minirock. Dann jedoch, als Jimmy vorsichtig und etwas unentschlossen seine Finger von oben in ihr Höschen schob, zog sie seine Hand vorsichtig beiseite.

»Hey, was ist jetzt?« Irritiert stoppte Jimmy seine Expedition, fasste sich aber schnell wieder und nahm Imens Gesicht zwischen beide Hände. »Wir müssen das nicht tun, Imen.«

»Müssen wir nicht. Aber wir könnten es tun.« Imens Blick war im Halbdunkel noch verführerischer. Ihre großen braunen Augen schienen zu glühen. Sie zog Jimmy zu sich heran und schob ihre Zunge leidenschaftlich in seinen Mund. Als sie sich wieder von ihm löste, warf sie den Kopf zurück und knöpfte ihre Bluse ein kleines Stück weiter auf. Unmittelbar darauf packte sie seine Lenden, während ihre vollen Lippen sich zu einem aufreizenden Lächeln verzogen. »Was meinst du, soll ich ein bisschen über deine Glocken pusten, Süßer?«

Jimmys Augen weiteten sich, was jedoch nur bedingt mit Imens Vorschlag zu tun hatte. Rasch zerrte er sie dicht an sich heran, presste seinen Mund an ihr Ohr und hauchte: »He, pass auf. Ruhig. Gaanz ruhig.« Sein Ton hatte etwas Beschwörendes. Er hob die rechte Hand, als wolle er auf etwas zeigen. »Da vorne ist was. Ich glaube, ich habe schon eben so etwas wie ein Grunzen gehört.«

Imen hob den Kopf von Jimmys Brust und wendete ihn dann sehr langsam in die Richtung, in die Jimmys Finger zeigte. Ihr Mund stand offen. Von ihrer gewohnten Kühnheit war nichts mehr zu spüren. »Sind die gefährlich?«

»Wenn sie sich angegriffen fühlen. Nicht rennen, keine schnellen Bewegungen!« Jimmy drehte sich vorsichtig um. Blickte hoch. »Da hinauf, Imen! Räuberleiter.« Er deutete auf den stattlichen Baum, der seine dicken Äste schützend über sie breitete. Jimmy formte seine Hände zu einer Kuhle. Imen kletterte wortlos auf den ersten dicken Ast, den sie erreichen konnte und hangelte sich von dort auf den nächsthöheren. Jimmy tat es ihr gleich. Da hockten sie nun zwischen den Ästen und sahen herab auf eine kleine Wildschweinhorde. Die Wildschweine grunzten und grabschten mit den Schnauzen über den Waldboden und traten nach einer Weile friedlich den Rückzug an.

»Scheiße, ich hab gar keine Uhr dabei. Wie spät ist es eigentlich? Nicht, dass Milena schon an der Laterne auf dem Hof wartet. So wars abgemacht, damit uns ihre Eltern dort abholen und uns nicht im Getümmel noch suchen müssen.« Imen klang beunruhigt. Sie wollte Milena und ihre Eltern nicht unnötig warten lassen. Sie fühlte selbst, dass sie es mitunter etwas übertrieb mit ihrem Aufbegehren und ihrem Selbstbestimmungsdrang, und es tat ihr in diesem Augenblick leid.

»Wir haben gerade mal 22.16 Uhr«, antwortete Jimmy mit Blick auf seine Armbanduhr. »Was ist denn los? Wirst du jetzt schon abgeholt? Oder warum fragst du?«

»Ach, lass mich! Verflucht, so eine Hühnerkacke! Also, das wars jetzt leider für heute. Ich muss los!« Imen war deutlich in Aufruhr. und kletterte eilig vom Baum. »Tut mir leid, ich hab's eilig. Muss rennen. Hoffentlich warten Milenas Eltern noch auf mich. Das kann sonst heiter werden!«

Jimmy sprang auch vom Baum und packte Imens Arm. »He, warte!«

Imen schüttelte ihn ab. »Nein. Warte du! Hier! Wenigstens noch einen kleinen Moment. Du kommst am besten ein paar Minuten später auf dem Hof an. Es muss nicht gleich jeder mitkriegen, dass wir uns von der Party ins Wäldchen verzogen haben, schon gar nicht die Eltern meiner Freundin. Und Milena hab ich auch nichts davon gesagt«, schnaufte Imen und rannte davon.

In ihrer Hast stolperte sie über einen am Boden liegenden Zweig, raffte sich aber wieder auf. Jimmy blieb wie angewurzelt zurück. Zwei, drei Minuten vielleicht, dann sammelte er sich und setzte sich in Bewegung. Er war achtzehn und reif genug, um zu wissen, dass man eine Frau nicht nachts allein durch den Wald rennen lässt, ob sie es so wollte oder nicht. Und schon gar nicht, weil ihnen die Wildschweine begegnet waren, ein eher seltener, aber nicht ungefährlicher Augenblick. Also stürzte er ihr hinterher, rief nach ihr, hörte und sah sie aber nicht mehr. Von dem Plätzchen im Wald, wo beide ihr aufblühendes Sexleben kräftigen wollten, war man im Normaltempo, sofern man den ausgewiesenen Waldspazierweg nahm, in zehn Minuten wieder am Hof. Es bestand aber auch die Möglichkeit, querfeldein zu laufen, mitten durch Gestrüpp und widerspenstiges Buschwerk, welches der kürzere, aber, in Anbetracht der vorhin gesichteten Wildschweine, auch der weitaus riskantere Weg war. Jimmy war sich sicher, dass Imen diesen Weg genommen hatte, beherzt genug dafür war sie, jedenfalls kam es ihm so vor. Nicht, dass ihm etwas an dem Mädchen lag – sie war attraktiv, aber im Gegensatz zu ihm fast noch ein Kind –, doch die Art, wie sie ihn auf der Party angemacht hatte, hatte ihm gefallen. Warum hätte er sich nicht darauf einlassen sollen? Nur für einen Abend. Das war schon okay. Und für sie bestimmt auch.

Vor einem Stapel gefällter Baumstämme zog er seine Jeans ein Stück hinunter und pinkelte auf das Holz. Derweil dachte er daran, hier in Ruhe den Joint zu rauchen, den Imen vorhin hinter der Partyscheune für sie beide gedreht hatte. Er hatte sie jedoch mit dem Kiffen auf später vertröstet, da er zuerst mit ihr in den Wald wollte, um dort ungesehen mit ihr zu knutschen. Nun war sie allein auf dem Weg zurück. Das beunruhigte ihn tatsächlich – mehr als geahnt. Und so widerstand er dem Reiz des Joints und rannte durch ein struppiges Waldstück zum deutlich breiteren Weg, der auf den Hof führte. Als er zwischen Büschen und Ästen einige Meter entfernt ein größeres Maisfeld erblickte, auf denen zwei sich bewegende Umrisse zu erkennen waren, stoppte er abrupt. Trotz der Dunkelheit war er sicher, dass es sich hierbei wieder um Wildschweine handeln musste, zum Glück noch in ausreichender Entfernung. Er kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich auf das Bild vor ihm und kam zu dem Entschluss, dass die Tiere ein kleines Fotoshooting wert waren. In seiner Gürteltasche steckte fast immer seine kleine Sofortbildkamera – für alle Fälle. Und dies hier war so ein Fall. Ob die Fotos aus dieser Entfernung etwas wurden? Einen Versuch war es wert. Wildschweine nachts im Kornfeld am Waldesrand. Spannend! Er holte die kleine Polaroid hervor, schaltete den Blitz ein und drückte ein paar Mal auf den Auslöser. Die flirrende Lichtquelle machte die Tiere neugierig. Sie trotteten langsam näher. Nichts wie weg! Jimmy steckte den kleinen Fotoapparat eilig in die Gürteltasche zurück, schlug einen hasenartigen Haken und entschied sich für den Abmarsch auf der anderen Seite, durch das Dickicht. Zweige zerkratzten ihm das Gesicht. Er konnte im Unterholz kaum etwas sehen, tastete sich mehr mit den Händen vor als mit den Füßen. Als er wieder den normalen Waldweg erreichte, sprangen mehrere aufgescheuchte Rehe an ihm vorbei. Verwundert schaute er ihnen nach, stoppte und holte tief Luft. Dann lief er weiter und erkannte, dass dies genau der Weg war, der nur ein kurzes Stück von der schmalen Straße entfernt war, die wieder zur Partyscheune führte. Langsam trottete er in diese Richtung. Er machte sich jetzt keine Sorgen mehr, denn er war überzeugt, dass Imen inzwischen längst wieder auf dem Hof sein müsste. Wie irrig diese Annahme war, konnte er in diesem Moment noch nicht ahnen.

Noch immer war Ella vom Licht geblendet. Es kam ihr vor, als wäre sie darin eingehüllt. Das konnte nur wieder eins von Imens Spielchen sein. »Imen! Hör auf mit dem Humbug! Was machst du? Ich kann nichts mehr sehen. Was machst du denn, verdammt! Was hast du da für eine Lampe? Imen!«

Keine Antwort. Das grelle Licht, das Ella soeben noch gefangengenommen hatte, wurde milder. Sie bildete sich ein, eine Hand lege sich auf ihre Schulter, federleicht. Sie fuhr zusammen, drehte sich dann vorsichtig um. Und glaubte für einen Wimpernschlag, ihre Schwester in ihrem gelben Lieblingskleid vor sich stehen zu sehen.

Der laue Wind hatte sich inzwischen in einen ordentlichen Sturm verwandelt. Auf einmal blitzte es gewaltig, worauf prompt ein markerschütternder Donnerknall folgte. Die beiden Gießkannen und die Blumentöpfe auf der Gartenmauer stürzten zu Boden und schlagartig schüttete der Himmel einen Ozean über der Erde aus. Erschrocken blickte Ella sich um.

»Was machst du da draußen? Komm rein, Ella! Etwas ist nicht in Ordnung. Papa und ich wissen nicht, wo Imen ist! Wir machen uns Sorgen.« Ihre Mutter stand auf den Holzdielen des großzügig überdachten, jetzt hell erleuchteten Eingangsbereichs. Leichte Panik zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

»Wieso denn? Ich meine, ich habe sie gerade noch gesehen.« Ella drehte sich im Kreis. »Imen! Imen! Hör auf mit dem Unsinn! Das ist kein Spaß mehr!«

Die Dunkelheit und der Wolkenbruch machten es unmöglich, etwas zu erkennen. Der Regen prasselte in Ellas Bluse. Ein kühles Tropfenmeer floss über ihren Bauch in die enge Stoffhose. Sie strich sich das nasse Haar hinter die Ohren und lief mit großen Schritten auf ihre Mutter zu, die sturmgeschützt noch immer im Eingangsbereich stand, und sowohl bitter als auch überrascht fragte: »Was glaubst du, treibt Imen da wieder? Und wie soll sie nach Hause gekommen sein?«

»Ich hab keinen Schimmer. Sie war bestimmt gerade eben noch hier. Ich hab mein Rad abgestellt und dann irgendwas gehört und war dann auf einmal von diesem komischen Licht geblendet. Das kann nur von Imen gekommen sein. Ich bilde mir ein, ich habe sie kurz gesehen, aber plötzlich war sie weg. Ich bin mir nicht ganz sicher. Auf einmal krachte der Himmel los.«

»Imen war nicht zum verabredeten Zeitpunkt auf dem Hof, wo Milenas Eltern die Mädchen um 22.00 Uhr abholen wollten. Die Eltern haben noch eine Weile gewartet, denn sie hatten ja versprochen, Imen nach Hause zu fahren und wollten nicht ohne sie aufbrechen. Auch Milena hatte keine Ahnung, wo Imen sein könnte. Sie ist noch einmal aus dem Auto gestiegen und hat sämtliche Schulkameraden und die Eltern von Jörn, denen der Hof gehört, befragt. Alle hatten Imen zwar auf der Party gesehen, aber keiner wusste, wo sie auf einmal geblieben war. Danach sind Milenas Eltern zu uns gefahren, um sich zu vergewissern, ob Imen nicht vielleicht schon wieder zu Hause ist. Sie dachten, dass wir oder jemand anders sie möglicherweise abgeholt haben könnte. Als sie sie auch hier nicht vorfanden, waren sie fast so schockiert wie Papa und ich und machten sich Vorwürfe, nicht noch länger gewartet zu haben. Auf Imen ist einfach kein Verlass. Sie hält sich nie an das, was vereinbart ist. Es ist manchmal nicht auszuhalten!« Ellas Mutter fing an zu weinen. »Papa und ich drehen durch vor Sorge! Und wenn sie hier war, wie du sagst, wo ist sie denn jetzt hin?«, schluchzte sie.

»Ich weiß es auch nicht, Mama!« Ella strich ihr über den Arm. »Mama, ich hab Angst.«

Ihr Vater erschien in der Haustür. Er war aschfahl im Gesicht. Seine Haut glänzte und er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich fahr sie suchen«, sagte er mit zittriger Stimme.

»Papa, sie ist hier irgendwo. Irgendjemand war hier.«

»Das gibt es doch nicht! Das wäre eine Frechheit, wenn sie jetzt mit uns Versteck spielte!« Ellas Mutter hob den Kopf und lachte bitter. »Imen!«, brüllte sie dann. »Imen! Es reicht! Komm jetzt rein!«

Nichts rührte sich. Annika rannte wie besessen zum Schuppen. Tropfnass packte sie den Türknauf, zog daran. Noch einmal. Wieder. Die Tür gab nicht nach.

»Imen? Bist du da drin?«

Ella rannte ihr nach.

»So geht das nicht. Die Tür klemmt.« Annika warf sich vor das alte Holz.

»Was machst du denn da?«, rief Ellas Vater dazwischen.

»Die Tür geht nicht auf. Vielleicht ist Imen da drin. Imen!! Imen!!«

»Lass mich mal!« Mit einem kraftvollen Ruck zog Karim die Tür in seine Richtung. Offen. Er ging hinein und sah hektisch in alle Richtungen. Wieso funktioniert das verdammte Licht nicht?

»Papa! Sie muss doch hier sein. Hier war eben jemand!«

»Aber wie soll sie denn von Häger hierher gelangt sein? Zu Fuß etwa? Da hätte sie doch vom Hof aus, der mitten in der Bauernschaft liegt, vier oder fünf Kilometer laufen müssen?«

»Bestimmt ist sie bei irgendwem mitgefahren. Ich hab sie doch gerade gesehen!«, meinte Ella.

»Kann doch sein, dass du dir das einbildest, Schatz.« Ellas Mutter fasste sich nachdenklich ans Kinn. »Es ist dunkel, es regnet Katzen und Mäuse und du siehst wirklich müde aus.«

»Das bin ich auch. Trotzdem, es war nur seltsam. Alles vorhin war seltsam.«

»Wie dem auch sei. Ich fahr jetzt los.« Ellas Vater klang entschlossen.

»Warte! Ich will mitfahren«, sagte Ellas Mutter laut, sodass klar war, dass sie keinen Widerspruch zulassen würde. »Und du legst dich jetzt hin, Ella.«

»Mama!«

»Leg dich hin, Maus. Papa und ich kümmern uns.«

»Mama«, Ella stockte, ihre Augen weiteten sich. »Imens gelbes Kleid. Hatte sie das heute an?«

»Was redest du da? Nach Imens Mofa-Crash vorigen Sommer als sie sich zu diesem Jungen, Lars, vorne mit aufs Mofa gesetzt hatte …«

»… war das Kleid vorne so eingerissen, dass du es nicht mehr nähen konntest und wir es in Stofffetzen geschnitten haben, die man vielleicht noch einmal brauchen könnte.«

»Du bist müde und durcheinander wie wir alle.«

Ella wusste nichts darauf zu antworten. Sie registrierte, dass sich ihr Vater Karim seinen grauen Kapuzenpulli über den Kopf zog. Sein dunkles Haar klebte auf der Stirn, was bei ihm ein sicheres Zeichen höchster Aufregung war.

»Komm jetzt, Annika. Lass uns losfahren.« Er griff nach einer weißen Wetterjacke, die über dem Bänkchen nahe der Haustür lag, und half seiner Frau hinein. Der Regen stürzte weiter sintflutartig vom Himmel, bedrängt von vereinzelten Blitzen und gefolgt von lautem Donnerknall. Vorne an der schmalen Straße, die am Haus vorbei in verschiedene Feld- und Wiesenwege mündete, stand Karims seegrüner Volvo 850. Er hatte es immer wieder verschoben, für sein geliebtes Auto eine Garage dicht am Haus zu bauen. Denn dafür hätte er erst den alten Schuppen abreißen müssen, wozu er wenig Lust verspürte. Gerade dachte Karim, dass er sein heißgeliebtes Auto sofort verschenken würde, wenn er dafür Imen heil zurückbekäme.

»Ich hol dir schnell deine Regenjacke.« Annika wandte sich zur Tür.

»Nein! Annika, komm. Das muss so gehen. Der Regen ist mir egal.« Karim hielt Annika am Arm fest und wies sie an, unter dem großen Vordach ihres kleinen Rundbohlenblockhauses zu warten, bis er das Auto ein Stück herangefahren hatte. Aber seine Beine gehorchten ihm nicht und er musste sich an einem Holzpfosten abstützen. Er war so nervös, dass Annika ihm schließlich die Autoschlüssel aus der Hand nahm und den Volvo selbst zum Haus fuhr, um Karim dort einsteigen zu lassen. Als beide sicher im Auto saßen, riss Annika sich die nasse Kapuze vom Kopf, fischte ein weiches Haargummi aus dem Handschuhfach, zwirbelte energisch ihr langes blondes Haar im Nacken zu einem Knoten, kramte ihre Brille aus der seitlichen Ablage, setzte sie auf und startete den Rückwärtsgang.

Ella stolperte die Treppen hoch in Annikas Nähzimmer, um nach den gelben Stofffetzen zu suchen. Sie fragte sich, ob es womöglich wieder einer von Imens Ausrutschern war, einfach nicht nach Hause zu kommen. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen! Oder hatte sie mal wieder etwas angestellt und traute sich aus diesem Grund nicht nach Hause? Das erklärte dann aber noch immer nicht das Kleid. Es war zerrissen und später hatte es ihre Mutter zerschnitten! Ella war dabei gewesen!

Von Gefasstheit konnte keine Rede sein, als sie jetzt in der Wäschetruhe, in der ihre Mutter verschiedene Stoffreste aufbewahrte, auch die Überbleibsel des gelben Kleides fand. Ellas Kopflosigkeit dauerte nur kurz. Sie ermahnte sich eindringlich, ruhig zu bleiben, sagte sich, sie müsse sich vorhin geirrt haben. Schließlich war da dieses weiße blendende Licht gewesen, wo immer das auch hergekommen sein mochte. Sie hatte in Wirklichkeit gar nicht erkennen können, was Imen anhatte! Oder doch? Wahrscheinlich hatte ihre Mutter recht und sie war einfach übermüdet. Dennoch spürte sie Panik in sich aufsteigen, die sie zu ersticken drohte.

Was sie jedoch späterhin noch durchmachen und empfinden würde,übertraf alles, was sie sich in ihrer schrecklichen Angst im Moment ausmalen konnte.

Karim …

… wurde im Libanon geboren, genauer gesagt in Damur, einem Küstenort in der Nähe von Beirut. Er war das älteste von fünf Kindern. Mit seinen drei offenherzigen Schwestern, sorglose Frohnaturen wie seine Mutter, diskutierte er gerne und bedeutend lieber als mit seinem eher zugeknöpften Bruder. In diesem wohnte ein recht kämpferisches Gemüt und Karim schätzte Harmonie über alles. Die Eltern betrieben einen lukrativen Gemischtwarenladen, in dem alles Mögliche gekauft werden konnte, von kostbarer Seife über Lebensmittel bis hin zu Unterwäsche. Sogar eine kleine Auswahl an Goldschmuck wurde hier angeboten. Das Geschäft lief gut.

An Karims zwanzigstem Geburtstag umklammerte der Bürgerkrieg den kleinen Staat Libanon bereits seit längerem mit seinen grässlichen Armen. Jeder bekämpfe jeden: Starrsinnige politische Gruppen gegen junge politische Formationen, christliche Milizen gegen sunnitische, schiitische, palästinensische. Auch Syrien war schon in den Krieg involviert. Aus den ursächlich konfessionellen Ausschreitungen war Hass und Terror geworden, der die hier sesshaften Bürger um ihr Leben bangen ließ. Glaubensbekenntnisse waren zu Todesurteilen geworden. Das galt besonders für die Christen, die im Libanon zu dieser Zeit einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachten, der noch weiter zu wachsen schien. Es war abzusehen, dass die Aufstände und Übergriffe bald noch exzessivere Ausmaße annehmen würden. Und Karim, der handwerklich sehr geschickt war, träumte von einer respektablen und schönen Zukunft mit einer eigenen Schreinerei. Er wollte keine Minute länger in diesem von Gewalt geplagten Land verbringen und dachte immer öfter an Flucht. An Sicherheit. An eine Zukunft! Ungewiss war die Antwort auf die Frage, wohin er gehen sollte, wie er das bewerkstelligen sollte, und ob seine Familie ihn begleiten würde.

Eines Tages berichtete ihm sein bester Freund, er hätte von einer Lücke im deutschen Recht gehört, die eine Flucht von Ost- nach Westberlin ermöglichen könnte. Karim glaubte, sein Herz spränge ihm aus der Brust vor Anspannung und Eifer. Eindringlich versuchte er, seine Eltern und Geschwister von diesem Ausweg zu überzeugen. Vergeblich. Seine Familie weigerte sich mitzukommen, klammerte sich stattdessen an die Hoffnung, alles würde bestimmt bald wieder gut. Sie wollten die Wahrheit nicht sehen. Ihre störrischen Köpfe weigerten sich, den Gerüchten von bevorstehenden, noch schrecklicheren Ausmaßen des Krieges Glauben zu schenken. Schließlich, nach endlosen Diskussionen, witterte auch sein Bruder Tarik extreme Gefahr in Verzug und entschloss sich schweren Herzens, mit Karim und dessen drei Freunden aus dem Libanon zu fliehen. So schnell wie möglich wollten sie nach Deutschland aufbrechen, zunächst in die DDR, um von dort weiter nach Westdeutschland zu gelangen. Probleme gab es von Anfang an.

Der Flughafen in Beirut war wegen der Kriegsunruhen geschlossen. Und ob man sie überhaupt hätte fliegen lassen, das war sowieso fraglich. In den folgenden Wochen berieten und diskutierten sie und entwickelten schließlich einen Plan, der sie relativ sicher aus diesem Land bringen würde.

Im damals zweigeteilten Deutschland betrieb die DDR eine eigene Fluggesellschaft, die sich Interflug nannte. Diese flog längst nicht mehr nur die sozialistischen Länder in Europa an, sondern auch Städte im Nahen Osten und Nordafrika. Einer der Freunde besaß einen alten schlammbraunen Austin 1300. Zusammengequetscht fuhren sie mit diesem Auto rüber nach Ägypten.

Sie meisterten die beschwerlichen eintausendzweihundert Kilometer von Damur nach Kairo, wo sie nach zwanzigstündiger Fahrt endlich erschöpft am Flughafen ankamen. Sie hatten sich mit dem Fahren abgewechselt, dennoch war an Schlaf während der Autofahrt, allein wegen der Aufregung und dem Rausch der Fluchtsituation, für keinen der Männer zu denken. Völlig erschöpft bestiegen sie die von ihnen bereits Tage zuvor gebuchte Interflugmaschine, die sie in die DDR brachte. In Ostberlin gelandet, ließen sie sich unter Vorlage ihrer gültigen Reisepässe vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten ein Transitvisum ausstellen, welches ihnen gestattete, die DDR einmalig über den kürzesten Weg zu durchqueren. Sie mussten sich lediglich an den vorgegebenen Wegstrecken und die für den Transitverkehr zugelassenen Grenzübergänge halten. Und es gelang! Wie durch ein Wunder und dank ihrer Transitvisa konnten die Männer mit der S-Bahn aus der DDR nach Westberlin entkommen. Das also war der Schleichweg, der heimliche Durchschlupf, von dem Karims Freund immer und immer wieder gesprochen hatte. Der Weg aus der DDR heraus war ihnen als das größte Hindernis erschienen. Und über dieses hatten sie schlussendlich nur hüpfen müssen.

In Westberlin angekommen, verfrachtete die für Ausländer zuständige Behörde sie vorübergehend in eine alte stillgelegte Lackfabrik. Es roch dort widerlich, es mangelte an Waschmöglichkeiten und Toiletten. Privatsphäre gab es keine. Sie teilten sich mit fünfzig Personen einen Raum in der Größe eines Klassenzimmers, mussten hier zusammen essen und – auf versifften Matratzen – schlafen. Zwei Nächte lang. Am dritten Tag öffnete sich morgens die Tür und ein Beamter trat ein, der etwa dreißig Personen herauskommandierte, darunter Karim, seinen Bruder und seine drei Freunde. Wohin es gehen sollte, wussten sie nicht. Aber sie waren glücklich, fürs erste zusammenbleiben zu können. Vier Behördenmitarbeiter schubsten den ganzen Trupp in einen Zug, der sie in ein weiteres Flüchtlingssammellager nach Bayern schaffte. Auch in dieser Unterkunft – einer ausgedienten Weberei – waren die Zustände katastrophal und menschenunwürdig. Sie mussten sich mit unzähligen anderen Geflohenen einen verdreckten und kalten Raum teilen, der einmal ein großer Websaal gewesen war, mit nur zwei Dachluken, die wenig Licht durchließen. Toiletten gab es zwei. Doch die waren inzwischen vollkommen verstopft. Jegliche Notdurft musste irgendwo im Freien verrichtet werden. Nicht einmal ausrangierte schmutzige Matratzen waren hier Standard. Die meisten Insassen schliefen Tieren gleich auf dem nackten kalten Betonboden. Das Essen wurde mittags und abends mit einem Traktor herangefahren und in dreckverkrusteten Aluminiumschüsseln, die auf dem schmutzigen Anhänger transportiert wurden, gereicht. Morgens brachte ein heruntergekommener Bulli altbackenes Brot, Zwieback und Milch. Manchmal gab es kleine Plastikschälchen mit Marmelade, lieblos auf dem Boden neben der Eingangstür abgestellt. Der Ansturm darauf war groß und gipfelte häufig in Streit und Schlägereien.

Endlich, nach vier Wochen, nahte die Erlösung. Wieder wurde eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufgerufen, in diverse Busse und Züge verladen und auf verschiedene Städte verteilt. Diesmal wurde Karim von seinem Bruder und seinen Freunden getrennt. Das war gewiss schlimm, dennoch hatte er Glück. Man brachte ihn auf einen Bauernhof in einen kleinen Ort namens Neudrossenfeld, wo er als Hilfsarbeiter sein tägliches Brot verdienen sollte. Auf diesem Hof gab man ihm ein eigenes Zimmer, Verpflegung und liebevolle Obhut. Das Bauernehepaar und deren zwei Kinder hatten den gewissenhaften und höflichen Karim schnell ins Herz geschlossen. Er wurde wie ein Familienmitglied behandelt.

Der Sohn des Bauern, der einen Posten in der kommunalen Bezirksverwaltung bekleidete, konnte Karim einen Ausbildungsplatz zum Landmaschinenmechaniker beschaffen. Und Karim hatte das Angebot dankend und gern angenommen. Morgens und abends half er außerdem in den Ställen auf dem Bauernhof fleißig mit und erhielt dafür – neben Kost und Unterkunft – einen kleinen Bonus in Form von Bargeld, das er zusammen mit dem, was von seinem Ausbildungsgehalt monatlich übrig blieb, sparte. Irgendwann würde er dieses Geld brauchen, vielleicht um eines Tages eine eigene Schreinerei aufzumachen.

Nach Abschluss der Ausbildung erhielt Karim in dem Betrieb eine feste Anstellung und gönnte sich eine eigene Wohnung. Auch neue Freunde hatte er inzwischen gefunden. Mit seiner Zweitfamilie blieb er in engem Kontakt. Sie waren eben seine Familie in Deutschland und er war unendlich dankbar für alles, was diese Leute für ihn getan hatten.

Vier Jahre waren inzwischen vergangen. Von seinen Eltern, seinen Schwestern, seinem Bruder und seinen mit ihm nach Deutschland geflohenen Freunden hatte Karim bedauerlicherweise die ganze Zeit über nichts gehört. Irgendwann erreichte ihn jedoch eine furchtbare Nachricht. Es war ein Bekannter seiner Familie, ebenfalls nach Deutschland ausgereist, der ihm den grausigen Bericht erstattete.

Ein paar Tage nachdem Karim sein Heimatland verlassen hatte, hatten palästinensische Milizen Damur überfallen, die Stadt eingenommen, sie verwüstet, Leichen geschändet und jede Frau und jedes Mädchen, das sie erwischen konnten, vergewaltigt, so auch Karims Mutter und seine Schwestern. Rudelweise waren sie über die wehrlosen Frauen hergefallen, während sein Vater gezwungen worden war, zuzusehen. Seine Verzweiflungsschreie hatten die Barbaren brutal durch einen Schuss in seinen offenen Mund erstickt. Karims Mutter und seine Schwestern waren, aneinander gekettet mit anderen Frauen, zwischen die Trümmer einer niedergebrannten Kirche getrieben worden. Dort hatten sie sich hinknien müssen, bevor sie der Reihe nach mit Maschinengewehren erschossen wurden. Nach dem Massaker waren die Leichen von den Tätern zu einem Gruselgebirge aufgetürmt und verbrannt worden.

Karims Herz lag in Gips. Zunächst arbeitete er stumpf weiter in seinem Job, schraubte, schmierte, montierte – seelenlos und automatisiert wie ein Roboter. Er trank Wasser oder Tee, aß aber nichts. Gar nichts. Nur die ernstgemeinte Drohung seines Chefs, ihn ins Krankenhaus zu bringen, setzte dem Hungern ein Ende.

Karim trauerte fast drei Jahre lang. Er wollte nach der Arbeit am liebsten allein sein. Bis seine deutschen Kumpel ihn bedrängten, mit ihnen ein Volksfest im Nachbarort zu besuchen. Dort forderte er eine lebhafte junge Frau zum Tanzen auf: Annika, die Tochter des evangelischen Pfarrers aus dem Ort, ein Mädchen mit einem frechen blonden Fransenhaarschnitt und türkisblauen Augen, die immer zu lächeln schienen. Zwei Jahre später heirateten sie und bald darauf kam erst Eliza zur Welt, die von allen immer nur Ella genannt wurde, und später Imen.

Moritz …

… gefiel es überhaupt nicht, dass seine Lebensgefährtin dem Alkohol so viel abgewinnen konnte. Vor allem dann, wenn sie mit ihren Freundinnen unterwegs war, sie mit ihm zu einer Party ging oder sie anderweitig gemeinsam unterwegs waren. Patrizia hatte sich nicht unter Kontrolle, was ein angemessenes Verhältnis von Genussfreude zu Ausgefallenheit anbetraf. Ständig trank sie in Gesellschaft mehr als ihr guttat. Es war ihm peinlich, da sie sich in dieser Lage zuweilen zügellos verhielt und unangemessene Dinge sagte. Zudem setzte sie sich auch häufiger mal gänzlich unbekümmert alkoholisiert hinters Steuer. Diskussionen in dieser Sache ging er inzwischen aus dem Weg. Sie brachten nichts. Er verballerte damit nur seine Energie.

Patrizia war das genaue Gegenteil der Frau, die er wegen ihr verlassen hatte: Ingelore. Ein bisschen Wehmut flimmerte in seinen Augen, als er mit einer dampfenden Tasse Tee in der Hand zum Fenster seiner am Stadtrand gelegenen Altbauwohnung hinausschaute und Ingelore seine Gedanken durchkreuzte – was gerade in letzter Zeit häufiger geschah, als ihm lieb war. In seinem Kopf war sie immer noch seine Ingelore, eine außergewöhnliche Frau, die er mental nie ganz loszulassen vermochte. Dank seiner ausgeprägten Vorstellungskraft sah er sie mit allen Einzelheiten vor sich. Im Gegensatz zu Patrizia wirkte Ingelore immer natürlich, obwohl sie meistens geschminkt war, und wie sehr hatte er den Anblick ihres erdbeerrot angemalten Mundes geliebt! Patrizia war seiner Meinung nach einfach für vieles zu bequem, auch dafür sich ein bisschen zurechtzumachen. Und wenn sie es doch einmal tat, nun, dann meistens übertrieben oder mit zu aufdringlichen Farben oder … ach, Patrizia war einfach anders als die Frau, die er einst so liebte. Er zog die Augenbrauen hoch und seufzte hörbar. Dieses beruhigende Bild ungetrübten Friedens über den Dächern von Münsters Innenstadt, das er von seinem Fenster aus immer genoss, war vor Moritz’ geistigem Auge gerade wie mit Smog überzogen und wurde von einem schwermütigen Rahmen eingegrenzt. Ein Rahmen aus Erinnerungen, die aufdringlich herangestapft waren, darunter Situationen, in denen sich Patrizia derart despektierlich betragen hatte, dass es ihm immer noch zum Davonlaufen erschien. Sie hatte in der Tat eine etwas plumpe und taktlose Ader, wenn er es recht betrachtete. Und starrköpfig war sie auch. Wenn er zurückschaute, hatte doch Ingelores Auftreten niemals einen schlechten Nachgeschmack hinterlassen. Ihr ganzes Wesen war geschliffener, feiner. Sie war klar, empathisch, ehrlich. Und spontan.

Mit Patrizia war das Leben, als säße er mit ihr zusammen in einer segellosen Barke auf dem wogenden Meer und kein Land war in Sicht. Kein Ziel. Es fühlte sich oft für ihn so an, jedenfalls, was ihre ständige Unentschlossenheit betraf. Und ihr Misstrauen. Und ihre Zweifel an allem und jedem. Irgendetwas vernünftig zu organisieren, war mit Patrizia kaum möglich. Ständig wog sie ab, ob dies nun richtig war, oder jenes. Ob man nicht lieber … wäre es nicht doch besser, wenn.

Mit Ingelore hatte er in einem Kutter gesessen, dessen Segel gehisst waren. Ruhig und entspannt durfte er mit ihr auch auf hohen Wellen durch das Leben gleiten. Zurückhaltend wie sie war, hatte sie nie versucht, sich in den Vordergrund zu drängen. In Diskussionen verwandelte sie ihre Stimme nicht in ein lärmendes Knallbonbon, das außer engstirnigem Gerede – wie bei Patrizia – keine weiteren Gaben enthielt.

Verloren in seinen Selbstgesprächen führte er die linke Hand zur Brust und massierte damit sanft die Stelle, unter der sein Herz schlug.

Jahrelang war Patrizia nur eine gute Freundin. Und auf einmal brannte er für sie. Na ja, so etwas hörte man schließlich öfter. Er wollte Patrizia. Auch wenn sie zuweilen verdammt anstrengend war. Er flüsterte sich zu, dass es sein Wille war, sich für Patrizia zu entscheiden, hob hervor, dass er dazu natürlich stehe und sie noch immer liebe, weil er doch nicht einer von diesen … diesen …, na, …die nicht wissen, wen sie wollen oder letztendlich lieben. Er stand zu seinen Entscheidungen! Er würde Patrizia heiraten, so wie es abgemacht war!

Dass er sich selbst immer wieder daran erinnern musste, das auch durchzuziehen, was er sich vorgenommen hatte, war etwa so, als würde er sich auf seinem weiteren Lebensweg am hölzernen Geländer einer Brücke festklammern, um nicht zu schwanken und letztendlich zu fallen. Damit die Kontrolle über sich selbst gewahrt blieb und seine Überzeugung, Patrizia wirklich zu lieben, fortbestehen durfte. Doch das Holzgeländer war bereits ein wenig morsch.

Selbst nachdem er wegen Patrizia die Trennung wollte, war Ingelore verständnisvoll geblieben, traurig, aber verständnisvoll. Wie jetzt gerade hing er in letzter Zeit viel zu häufig seinen Fantasien nach, wie es wohl wäre, mit Ingelore alt zu werden statt mit Patrizia, die er in zehn Tagen heiraten würde.

Ingelore! Bereits mit siebzehn hatte er sich in die damals Dreißigjährige verliebt. Ihr fast immer lächelnder Mund, ihr welliges blondes, kinnlanges Haar, diese nachtblauen Augen mit dem sanftmütigen, eindringlichen Blick, besonders, wenn sie ihn angesehen hatte, fraßen sich seit einiger Zeit von Tag zu Tag mehr durch seine Gedanken. Er vermutete, dass es sich – so kurz vor der lebenslangen Bindung an eine Frau – um eine Art von Hochzeitspanik handeln musste und schüttelte heftig den Kopf, um die lästigen Gedanken loszuwerden. Doch es wollte ihm nicht ganz gelingen. Nachdenklich schlürfte er seinen Tee und sah dabei weiterhin aus dem Fenster, ohne irgendetwas da draußen wirklich wahrzunehmen.

Sie war seine Chemie- und Biolehrerin gewesen, seine Ingelore, und niemand hatte von dieser Beziehung gewusst oder es bemerkt. Sie waren richtig gut darin gewesen, alle an der Nase herumzuführen und sich bis zu Moritz’ Abitur heimlich zu treffen. Erst kurz bevor er seinen Zivildienst im Krankenhaus beendet hatte, gaben sie ihre Liebe allen Freunden und Bekannten preis. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er daran dachte, wie er damals ausgesehen hatte mit seinem markanten, an Jimi Hendrix erinnernden Lockenkopf. Zimtbraun wie damals waren seine Haare heute noch, aber seine Frisur hatte sich mit der Zeit in einen schicklichen lockigen Kurzhaarschnitt verwandelt. Wie bei Ingelore waren auch seine Augen von einem sehr dunklen Blau. Damals hatte er einen gepflegten Vollbart getragen. Heute rasierte er sich täglich zweimal. Ingelore hatte ihm oft genug gesagt, dass sie seinen gütigen Gesichtsausdruck liebe und er die verführerischsten Lippen habe, die sie je bei einem Mann gesehen habe, ach …

Ein zarter Glanz schlich sich in seine Augen.

Auf jeden Fall hatte er nicht damit gerechnet, sich nach all den wunderbaren Jahren mit ihr auf einmal in die spröde und laute Patrizia zu verlieben, mit der er über seine damalige Clique schon in der Oberstufe eng befreundet war. Mit vier Leuten aus dieser Gruppe, darunter auch Patrizia, war er vertraut und befreundet geblieben. Nur, dass er sich auf einmal von Patrizia so angezogen gefühlt hatte, dass er Ingelore prompt dafür aufgegeben hatte. Das war vor acht Jahren gewesen. Er war zu der Zeit achtundzwanzig Jahre alt, Ingelore einundvierzig. Nach vier für ihn stumpfsinnigen und ergebnislosen Semestern Kunstgeschichte an einer Uni im Rheinland war er nach Münster zurückgekehrt. Den Kontakt zu Ingelore hatte er währenddessen nicht verloren. Im Zoo wollte er eine Ausbildung zum Tierpfleger machen, zum einen, weil er Tiere sehr mochte, andererseits aber auch, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, was er nach dem öden Kunstgeschichtestudium nun tatsächlich und von Herzen gerne studieren wollte. Nach dem Abschluss der Ausbildung schrieb er sich für Zoologie und Biologie an der Universität Münster ein und diesmal war es die richtige Wahl. Er arbeitete jedoch weiterhin einige Stunden in der Woche als Tierpfleger im Zoo. Er liebte diese Arbeit und gab sie nicht auf. Auch dann nicht, als er nach seinem Diplom einen unbefristeten Vertrag als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni bekam, wo er nun mit seiner Doktorarbeit, Schwerpunkt Verhaltensbiologie, beschäftigt war.

Noch vor Abschluss seines Diploms hatte er sich von der lebensfrohen, unangepassten Ingelore getrennt, um mit der eher spießbürgerlichen Patrizia zusammen zu sein, die inzwischen schon eine kleine Tochter aus einer wilden Begegnung hatte, was Moritz nicht weiter störte. Möglicherweise war es Patrizias bestimmendes Naturell, das ihn auf einmal, nach so vielen Jahren simpler Freundschaft, angezogen hatte. Sie war ein bisschen kühl, vermittelte ihm aber Stabilität im Rahmen von festen Normen, Regeln und Verlässlichkeit. Plötzlich hatte sich etwas in ihm gerührt, das sich so wie Liebe anfühlte. Zu ihr, Patrizia. Gleichzeitig hatte das Gefühl für Ingelore nachgelassen. Dennoch ging der Kontakt zu ihr nicht verloren. Hin und wieder telefonierten sie. Einmal im Jahr trafen sie sich. Patrizia wusste Bescheid und regte sich nicht darüber auf. Das bewunderte er an ihr.

Acht Jahre mit Patrizia! Wenngleich auch in getrennten Wohnungen. Patrizia hatte das so gewollt. In zehn Tagen würden sie heiraten. Und dann würde sie endlich bei ihm einziehen. Zusammen mit ihrer Tochter, nunmehr seine Stieftochter. Groß genug war seine Wohnung schließlich.

»Ich kann, verdammt nochmal, deine ewige Fürsorge nicht mehr ertragen! Und noch was, bevor du die Tür hinter dir schließt, saug bitte den Eingangsbereich. Deine Schuhe haben da überall Erde verstreut«, hatte Patrizia ihm ins Gesicht geschrien. Dann war sie zornig davongerauscht. Sie wollte zur Abschiedsfeier einer Kollegin, die in Rente ging. Diese Feier fand in einer Kneipe im Münsteraner Vorort Sprakel statt. »Waldfeenhütte« hieß die Gaststätte, soweit Moritz sich erinnerte. Er selbst war noch nie dort gewesen. Patrizia wohnte in Nienberge, ebenfalls ein kleiner Vorort von Münster. Sie hatten den Nachmittag gemeinsam in ihrer Wohnung verbracht. Er hatte ihr angeboten, sie von der Feier abzuholen, damit sie nicht selbst nach Hause fahren musste und unbesorgt Alkohol trinken konnte. Aber sie bestand darauf, allein zu fahren und eine Kollegin abzuholen, so wie es unter ihnen abgesprochen war. Ob sie die Kollegin nach der Party auch wieder nach Hause bringen würde, hatte Moritz wissen wollen. Das würde sich ergeben, war Patrizias lapidare Antwort. Jedenfalls brauche sie keinen Betreuer.

»Ich mach mir nur Sorgen, dass dir unterwegs was passiert, Schatz«, hatte Moritz sie zu beschwichtigen versucht. »Oder, dass du deinen Führerschein loswirst. Dann darfst du morgens von Nienberge aus mit dem Rad in die City zur Arbeit fahren«, hatte er noch etwas sarkastisch hinzugefügt.

»Jetzt lass doch mal die Kirche im Dorf, Moritz! Du siehst ständig schwarz. Du gehst mir damit so was von auf die Nerven!« Dann war sie mit rollenden Augen und einem aggressiven »Boah, ey« ohne Umarmung oder Kuss davongestürmt, hatte sich in ihr Auto gesetzt und weg war sie.

Saugen?! Ha! Zwei Erdkrümel neben einer Yuccapalme! Den Teufel würde er tun. Dieser Putzfimmel von Patrizia war auch etwas, was ihm entsetzlich auf den Sack ging. Natürlich hatte er anfangs darüber hinweggesehen, eher noch darüber geschmunzelt. Allerdings fand er es mit der Zeit nicht mehr witzig. Gar nicht mehr.

Nach Patrizias Wutausbruch hatte er die Haustür und das Gartentörchen verschlossen und war zu seinem Auto gelaufen, das er vor einer der Garagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellt hatte. Mit zusammengekniffenen Lippen und gerunzelter Stirn hatte er sich noch einmal zu Patrizias Häuschen umgesehen, in dem sie jetzt noch zur Miete wohnte.

Er kam sich vor wie ein Schuft, weil er sie ständig mit Ingelore verglich. Dann war er zurück zu seiner Wohnung in die Stadt gefahren, wo er nun am Fenster stand und wieder an seine Verflossene dachte. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn. So viele großartige Attribute fand er für Ingelore. Zu wenige für Patrizia. Aber auch Patrizia besaß eine bemerkenswerte Persönlichkeit, die ihn nun mal eines Tages, ganz unerwartet und beinahe marktschreierisch zu ihr hingezogen hatte. Er hatte sie hübsch gefunden, nicht im üblichen Sinne, aber sie hatte das gewisse Etwas. Vor allem ihr rotes, glattes Haar, das er so bewunderte, obwohl sie immer wieder kokettierte, das meine er gar nicht wirklich und ihn wie einen Schwindler dastehen ließ. Es gab natürlich einiges mehr, was er an Patrizia schätzte. Ihre Verlässlichkeit war außergewöhnlich. Pläne, Projekte, Urlaubsentschlüsse wurden korrekt eingehalten. Allerdings versetzte jedwede noch so kleine Planänderung Patrizia auch komplett in Rage oder gar Panik. Bei allen Vorhaben bestand sie stets darauf, das jeweilige Konzept wie anfangs aufgestellt umzusetzen, vorausgesetzt, sie konnte sich nach ewig langem Abwägen des Für und Wider endlich entscheiden, ob, was oder wie sie etwas machen wollte. Dann war da noch ihr Lachen. Laut war es, durchdringend, so wie ihr ganzes Wesen. Diese Art von Präsentsein hatte Moritz gut gefallen, war er selbst doch von der leiseren Sorte Mensch. Und auf subtile Weise gewann er durch Patrizias laute Tonart selbst mehr Aufmerksamkeit. Und stur war Patrizia, eine, die andere gern gängelte, die sich andererseits aber – bis auf ihre zeitweiligen alkoholisierten Autofahrten – absolut regelkonform verhielt bei dem, was sie tat und dies konsequent auch von anderen einforderte.

Patrizia …

… lauschte unverhofft einem Gespräch im Flüsterton.

»Echt jetzt? Machst du Witze, Leonie?«

»Nonsens. Wieso? Die sind schon lange zusammen. Kannste mir glauben. Übernächste Woche heiratet sie.«

»Puh. Hätte ich nicht gedacht. Hab auch nicht gewusst, dass die ‘nen Typen hat. So mürrisch, wie die immer guckt; und ihre ewige Rechthaberei. Ich mag sie kaum ansprechen. Hab ein paarmal mitgekriegt, wie die ausflippt, wenn jemand anderer Meinung ist. Die scheint zu glauben, dass jeder ihr zustimmen muss, wenn sie ihren unpassenden Senf dazu gibt. Mensch, nee. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Mann bei der einen hochkriegt. Oh, sorry, Leonie, ich wollte niemanden beleidigen.«

»Alles gut, Gerrit. Du hast teilweise ja auch recht. Patrizia ist nicht einfach. Aber ehrlich, wenn du Hilfe brauchst, also sie um kleinere Gefälligkeiten bittest und sie kann etwas für dich tun, dann tut sie es. Voll okay. Und, egal wie verkorkst sie in ihren Ansichten ist, verlassen kannst du dich auf sie allemal. Sie meint halt nur ständig, dass ihre Regeln auch die von anderen sein müssen. Klar, nervt das.«

»Ich bin noch nicht lange genug bei euch, um sie wirklich beurteilen zu können, aber was ich von ihr so mitbekommen habe, ganz schön krass, ich mein …, also, wenn die nicht ewig so sauertöpfisch gucken würde, dann wäre sie vielleicht gar nicht so unansehnlich, aber so. Und warum sie immer diese biederen mausfarbenen Klamotten trägt und selbst jetzt im Sommer diese hochgeschlossenen braven Blusen, ist mir ein Rätsel, dafür ist sie doch viel zu jung, na ja, ist eben Geschmacksache.«

»Gerrit, jetzt hör auf!« Leonies Stimme wurde zu einem anstößigen Hauchen. »Komm, mach’s mir nochmal. Nochmal so geil wie gerade.« Diese unanständige Aufforderung stieg an der geschlossenen Toilettentür empor und hüpfte oben heraus, geradewegs in Patrizias aufgrund des soeben ungewollt mitgehörten Geflüsters ohnehin gepeinigte Ohren. Geschockt starrte sie auf die letzte Kabinentür, hinten links.

»Nochmal? Was, wenn ein …?« Dr. Mahlmanns Atem beschleunigte sich hörbar.

»Klappe. Mach schon!« Hastige, raschelnde Bewegungen, nicht überhörbares, übereiltes Aufreißen von Reißverschlüssen, unappetitliches Gestöhne.

Patrizia zog angeekelt die Mundwinkel herab. Wie abstoßend sie das fand! Eine Nummer hinter der Klotür. Wie widerwärtig konnte Leonie nur sein. Dieses laszive kleine Luder, welches bei ihr in der Buchhaltungsabteilung saß und sich mehr schlecht als recht um die Ausgangsrechnungen kümmerte. Das aber hätte sie nicht von ihr gedacht. Und dann ließ sie sich noch mit diesem arroganten neuen Mitarbeiter ein. Dr. Gerrit Mahlmann. Chemiker, frischgebackener Dr. rer. nat., seit vier Monaten zuständig für Agrarumweltmaßnahmen in der Landwirtschaftskammer. Patrizia hatte ihn von Anfang an nicht leiden können. Und wie sie gerade ungewollt mit anhören musste, schien er es zu mögen, Menschen schlechtzumachen. Patrizia fragte sich, ob er sich nur in Bezug auf sie so herablassend äußerte, oder ob er das auch über andere gerne tat. Aber sie würde sich nicht aufregen, schließlich hatte sie mit ihm arbeitstechnisch wenig zu tun. Trotzdem rotierten die Gedanken durch Patrizias Kopf. Nervös fuhr sie sich mit einer Hand über die Stirn, drehte sich zu den Waschbecken, um sich ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Mit einem Papiertuch trocknete sie ihre Wangen und holte einen Kamm aus der Tasche. Sorgfältig zog sie noch einmal den Mittelscheitel nach, der ihr knapp schulterlanges Haar in der Mitte akkurat teilte. Dann erst nahm sie die beiden Pissoire an der gegenüberliegenden Wand wahr. Verdammt! Sie hatte sich in der Tür vertan und stand in der Herrentoilette. Auch das noch. Nichts wie raus! Sie nahm noch ein Papiertuch aus dem Spender und legte dieses auf die Türklinke, bevor sie sie öffnete.

Verwirrt sah sie sich um, fand endlich die Damentoilette. Sie legte Toilettenpapier über den Rand der Schüssel, hockte sich darauf, leerte ihre Blase und setzte sich anschließend angezogen auf den Toilettendeckel. Ihr Herz pochte wild. Dr. Mahlmanns Urteil über sie hatte sie getroffen und seine Worte vollführten einen finsteren Tanz in ihrer Seele. Sie glaubte von sich selbst, kein besonders liebenswerter Mensch zu sein. Banale Dinge brachten sie oft aus der Fassung, machten sie aggressiv, obwohl es ihr so gut wie immer hinterher leidtat, Freunde, Kollegen oder auch Moritz, der es nur gut mit ihr meinte, vor den Kopf gestoßen zu haben. Sie fühlte sich nicht schön, das Kinn zu spitz, die Nase zu groß, die Augen grün. »Grüne Augen – Froschnatur. Von der Liebe keine Spur«, hatte ihr Vater immer gesagt, um sie zu foppen. Aber witzig war das für sie nie gewesen. Auch über ihre roten Haare hatte er gelacht. Hexenhaare. Gut, die könnte sie färben, aber sie fand, die Haarfarbe passte. Hexenhaare. Na und. Verachtet wie eine Hexe fühlte sie sich eh schon von jeher. Sogar von ihren Eltern. Sie konnte sich nicht an liebevolle Worte erinnern, die deren Zuneigung hätten belegen können. Streng waren die Eltern gewesen. Autoritär, selbstgerecht und unnachgiebig. Daran erinnerte sich Patrizia sehr wohl. Sie und ihre zwei Jahre jüngere Schwester sollten Vorzeigekinder sein. Sie sollten sich durch exzellentes Benehmen und gute Leistungen von anderen Kindern abheben. Das war das Ziel. Sie sollten perfekt sein. In allem. Die Kleidung stets sauber und möglichst faltenfrei, die Hausaufgaben ohne Fehler und jegliches Durchstreichen. Bei Tisch hatten Kinder nicht zu reden, jedem Erwachsenen musste die Hand gegeben werden, vor dem Essen wurde gebetet, es wurde gegessen, was auf den Tisch kam, die Teller wurden von der Mutter gefüllt und selbstverständlich leergegessen. Meckern, Brüllen, Widerworte waren zu keiner Zeit erlaubt. Die Strafen waren hart, wenn die Mädchen es wagten, ihren eigenen Kopf zu haben. Später, als sie zu Teenagern heranwuchsen, hatte ihre hübsche Schwester Doro zu rebellieren gewagt und dadurch immer mehr an Stärke gewonnen. Sie hatte gegen die Verbote und unsinnigen Regeln gekämpft, egal, wie viel Aufregung und Wut sie damit bei den Eltern auslöste. Mit einem Mal hatten die Eltern sie akzeptiert, Dinge, die zuvor nicht erlaubt waren, wurden geduldet. Doro durfte mehr als sie, Patrizia, die Ältere. Patrizia hatte sich lieber gefügt und sich schon früh in Zwänge geflüchtet, wie übertriebenes Putzen und eine unnatürliche Ordentlichkeit. Dass das nicht normal war, wusste Patrizia damals schon. Aber möglicherweise war es damals ein Ventil gewesen, das sich nun nicht mehr verschließen ließ. Alle Dinge mussten bei ihr auch heute noch symmetrisch ausgerichtet auf dem Schreibtisch liegen, Konserven und Bücher in den Regalen der Größe nach geordnet sein, gefühlte hundertmal am Tag musste sie sich die Hände waschen.

Das werde ich nie los. Ich bin anormal. Dazu noch überdreht, hysterisch, tollpatschig, unattraktiv …

Zu gerne hätte sie dem Mahlmann die Meinung gegeigt – und Leonie auch. Aber dann hätten die beiden gewusst, dass sie sich im falschen Moment in der Toilettentür geirrt hatte. Das konnte auch nur ihr passieren! Patrizia senkte den Kopf und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Zu allem Übel kam dann noch, dass sie nahezu in jedes Fettnäpfchen stapfte, das sich irgendwo versteckte. Sie fand es. Mit absoluter Sicherheit. Wie gerade eben.

Saskia, eine allseits beliebte Mitarbeiterin, hatte nun fast fünfunddreißig Jahre Arbeitsalltag in der Landwirtschaftskammer hinter sich, zuletzt im Ressort für Reinheits- und Keimfähigkeitsuntersuchungen von Saatgut. Nun würde sie in den Ruhestand gehen. Sie hatte eine wunderschöne Abschiedsrede vorbereitet. Im Anschluss daran hatte der Ressortleiter Saskia im Namen aller Mitarbeiter einen Reisegutschein für eine mehrtägige Reise nach New York überreicht, die sie, wie sie unter Freudentränen bekanntgab, mit ihrem Mann antreten wolle. Alle Mitarbeiter hatten einen kleinen Teil gespendet, der größte Batzen aber kam natürlich von der Unternehmensleitung. Die engsten Kollegen hatten Saskia außerdem ein riesiges, auf Leinwand gezogenes Foto geschenkt, welches in diesen Jahren noch ein kostspieliges Unterfangen war. Darauf zu sehen waren alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit denen Saskia über all die Jahre in engem Kontakt gestanden hatte. Das Foto war im Frühjahr während eines Betriebsausflugs auf der Insel Langeoog gemacht worden. Strahlend blauer Himmel, weiße Federwolken, Dünen und eine fröhlich jubelnde Menschenschar, im Hintergrund das im Sonnenlicht glitzernde Meer. Ein brillantes Foto war das und rechts unten in der Ecke war eine kleine Sprechblase, in der »Wir lieben dich« in Schreibschrift stand. Saskia hatte sich an mehrere Aufnahmen, die während dieses Ausflugs entstanden waren, gut erinnern können, aber von dieser hatte sie keine Ahnung gehabt und deswegen hatte sie sich umso mehr gefreut. Es war klar, dass das Bild in Vorbereitung ihres Abschiedsgeschenks bei einem konspirativen Treff aufgenommen worden war, insbesondere, weil sie nicht mit auf dem Foto war, und das rührte sie zutiefst. Mit zittriger Stimme hatte sie »Das gefällt mir super! Danke! Euch allen!« in den Raum gerufen. Und dann hatte sie dagestanden und für einen Moment nicht gewusst, was sie noch sagen sollte. Dafür hatte Patrizia etwas zu sagen gehabt: