Schicksalsmomente der Schachgeschichte - Michael Ehn - E-Book

Schicksalsmomente der Schachgeschichte E-Book

Michael Ehn

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Beschreibung

So wurde noch nie vom Schach erzählt! Vom ungelösten Rätsel des al-Suli über die Weltsensation „Schachtürke“ bis zu Kramniks Londoner Tragödie im Jahr 2013: Historisch präzise recherchiert und mit seltenem Bildmaterial ausgestattet, gibt dieses Buch einen chronologischen Einblick in schicksalhafte Momente aus über 1000 Jahren Schachgeschichte. Ein Muss für jeden, der Schach liebt!

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MICHAEL EHN • HUGO KASTNER

Schicksalsmomente  der Schachgeschichte

Dramatische Entscheidungen und historische Wendepunkte

Vorwort

Unter allen Spielen nimmt das Schachspiel in seiner Stellung zwischen Kunst, Wissenschaft und Sport eine besondere Position ein. Das Schachspiel entwickelte sich aus indischen Protoformen etwa im 6. Jahrhundert in Persien und gelangte zu Beginn des 9. Jahrhunderts nach Europa. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts spielt man es mit einigen Modifikationen in unserer heutigen Form. Sein Regelwerk bildet ein Zeichensystem von hoher Dynamik und Komplexität; auf semantischer Ebene repräsentiert es als Weltsymbol die Idee eines berechenbaren, mit den Mitteln der Vernunft beherrschbaren und zugleich unendlich spielbaren Kosmos. Wo immer es auftrat, erzeugte das Schachspiel ein enormes Echo in der Kunst und Literatur, in der Philosophie und in der materiellen Kultur der Menschen. Das „Königliche Spiel“ trägt diesen Beinamen zurecht, denn es wurde in seiner langen Geschichte auch zu einem völkerverbindenden Kulturgut. Die Zahl der Schriften über das Schachspiel geht in die Zehntausende, die Zahl der veröffentlichten Partien geht in die Millionen, die Persönlichkeiten, die dem Zauber dieses Spiels verfielen, liest sich wie ein Who is Who der Weltgeschichte, und doch ragen einige Momente aus diesem Ozean der Schachgeschichte wie Leuchttürme heraus. Diese Schicksalsmomente der Schachgeschichte in Wort und Bild einzufangen, ist das Ziel dieses Buches.

Es geht aber nicht nur um Wendepunkte der Schachgeschichte, sondern auch um den individuellen Schicksalsmoment, der im „Lebensentwurf Schach“ eine entscheidende Rolle spielt. Das können sein:

Ein einzelner Zug, der über das weitere Leben der Protagonisten entscheidet, wie in Carl Schlechters Lebensdrama im WM-Kampf gegen Emanuel Lasker 1910 mit der unvermeidlichen Frage, ob Schlechter seinem tragischen Ende durch einen einzigen besseren Zug in der letzten Partie entkommen hätte können.Eine einzige bahnbrechende Stellung wie im ersten Kapitel mit dem tausend Jahre alten Rätsel des al-Suli, das erst vor wenigen Jahren gelöst werden konnte. Oder die Endspielstudie des Surrealisten Marcel Duchamp, von der bis heute nicht klar ist, ob es überhaupt eine Lösung gibt, oder Nikita Plaksins monumentale Komposition, die die unfassbare Tiefe der Gedankenwelt im Schach dokumentiert.Eine Schachpartie. Wie die des Amateurs Philipp Meitner, der mit einer einzigen Remispartie Berühmtheit erlangte, oder Bobby Fischers „Partie des Jahrhunderts“, die er als 14-Jähriger spielte und die über Nacht um die Welt ging.Natürlich Kämpfe um die Weltmeisterschaft, etwa das Match 1960, in dem der junge „Zauberer“ Michail Tal den Analytiker Botwinnik besiegte, oder Fischers Sieg gegen Spassky im Match des Jahrhunderts 1972. Dann der „grausame“ Titelkampf Karpow – Kortschnoi 1978 auf den Philippinen und schließlich der ultimative Wettkampf „Mensch gegen Maschine“ Kasparow gegen Deep Blue 1997, der mit einer Niederlage des Menschen endete.Turniere, die historische Bedeutung haben, wie in St. Petersburg 1914, wo Weltmeister Emanuel Lasker mit Bravour den heranstürmenden José Raúl Capablanca abwehrte, oder die dramatische letzte Runde des Londoner Kandidatenturniers 2013.Aber auch ein einziges Buch, wie das des Königs Alfonso, der 1283 den Auftrag gab, das wunderbare „Buch der Spiele“ zu schreiben, in dem ein Großteil des arabischen Schacherbes enthalten ist. Oder das Werk des Lucena an der Wende zum 15. Jahrhundert, in dem mittelalterliches und neuzeitlich-dynamisches Schach noch gleichberechtigt vertreten sind. Oder Henri Rincks lebenslange Arbeit an einem Band über Endspielstudien.Es kann der kurze kometenhafte Auftritt eines Schachgenies sein, wie Paul Morphys triumphale Siege in Paris und London 1859, oder das Auftauchen des mysteriösen Inders Sultan Khan 1929, eines Weltklassespielers, der wenige Jahre später für immer verschwand.Es kann aber auch ein einziges Thema oder ein Gegenstand sein, mit dem sich jemand intensiv beschäftigt, etwa Ernst Grünfelds Entdeckung einer neuen Verteidigung mit Ewigkeitswert.Eine Leistung, welche die Grenzen alles Vorstellbaren sprengt, zum Beispiel Harry Nelson Pillsburys Blindsimultanvorstellungen gegen zwanzig und mehr Gegner Anfang des 20. Jahrhunderts; oder der Vorstoß der drei Polgár-Schwestern in die Männerdomäne „Schach“, insbesondere die Leistung Judit Polgárs, die als erste Frau in einem WM-Finale der Männer mitspielte. Oder der Aufstieg des norwegischen Schachwunders Magnus Carlsen, der jüngst alle Wertungsrekorde brach.Besondere Umstände, wie das Turnier in Baden-Baden 1870 während des deutsch-französischen Kriegs. Es wurde in unmittelbarer Nähe gekämpft und die Schachmeister mussten ständig damit rechnen, jederzeit in die Kampfhandlungen einbezogen zu werden. Oder das Schicksal des Jacques Mieses, der im Londoner Exil mitverfolgen musste, wie sein Lebenswerk durch die Nationalsozialisten ausgelöscht wurde und wie aus seinem „Lehrbuch des Schachspiels“ alle jüdischen Spieler entfernt wurden. Oder der seltsame Beginn der Schachkarriere des Paul Keres, der für einen kranken Freund Fernpartien zu Ende spielte, dadurch zu ambitionierterem Spiel animiert wurde und zu einem der besten Spieler aller Zeiten heranreifte.Die Erfindung neuer Ideen, die die Schachgeschichte entscheidend verändert oder bereichert haben, wie die des Sam Loyd, des amerikanischen Rätselkönigs, der enorm viel zur Entwicklung des Schachproblems beigetragen hat, oder der geniale Logiker Raymond Smullyan und seine Geschichten um Harun al Raschid und Sherlock Holmes. Aber auch Philipp Stammas Entwicklung der Notation, ohne die das heutige Schach kaum vorstellbar wäre. Oder Philidors Erkenntnis, dass die Bauern die Seele des Schachspiels sind. Dann der Schachautomat, dessen Bau die spielsüchtige Kaiserin Maria Theresia förderte; oder der Babson-Task, der für mehr als siebzig Jahre ein unlösbares Problem darstellte und den ein unbekannter Amateur schließlich knacken konnte.Oder schlussendlich, wenn Schach zu einem Stück Weltliteratur wurde. So in Stefan Zweigs „Schachnovelle“, die trotz ihres Pessimismus eine einzigartige Hommage an unser Spiel darstellt. Oder Gustav Meyrinks „Der Golem“, eine späte Würdigung des früh verstorbenen Schachgenies Rudolf Charousek.

Der Aufbau der „Schicksalsmomente“, 32 an der Zahl, symbolisch auf die Anzahl der weißen und schwarzen Figuren abgestimmt, mag zwar chronologisch sein, im Sinne einer möglichst weit gefächerten Thematisierung von entscheidenden Weichenstellungen der Schachgeschichte stehen die einzelnen Essays jedoch für sich. Zusätzlich zur Beschreibung der historischen Zusammenhänge sollen ein kurzer Vorspann und zahlreiche, teils unveröffentlichte Fotos den Leserinnen und Lesern einen guten Überblick und ein umfassendes Bild der jeweiligen Sternstunden im praktischen Spiel oder bahnbrechende Schachkompositionen geben.

Unser Dank gilt dem Verlag humboldt, insbesondere Herrn Eckhard Schwettmann für das Vertrauen, dieses kulturhistorische Thema in die lange Liste von Schachpublikationen aufzunehmen.

Michael Ehn & Hugo Kastner

für Irene und Marlene

Das Geheimnis des al-Suli

Ein uraltes Manuskript zeigt eine Aufgabe des berühmten al-Suli, die über viele Jahrhunderte nicht gelöst werden konnte. Ein wahres Kleinod der arabischen Schachkunst, das eine Brücke bis zur Gegenwart schlägt. Al-Suli nahm das Geheimnis seiner Inspiration mit ins Grab.

Eine rätselhafte Stellung, 12. Jahrhundert

Aus dem Manuskript des Abu’l-Fath Ahmad al-Sinjari, 12. Jh.

Schwarz ist am Zug, Weiß gewinnt

„Diese Aufgabe ist sehr alt und dennoch konnte weder al-Adli noch irgendjemand anderer sagen, ob sie unentschieden oder gewonnen ist. Noch hat sie irgendjemand erklären oder die Lösung zeigen können, weil sie so schwierig ist. Es gibt niemanden auf der Welt, der sie gelöst hat, außer, wenn ich es ihm gezeigt habe. Ich habe auch nie gehört, dass es irgendjemanden früher gegeben hätte, der dazu fähig gewesen wäre, denn hätte jemand diese Aufgabe gelöst, würde er die Lösung aufgeschrieben haben oder sie jemandem gezeigt haben.“ So zitiert Abu’l-Fath in seinem Schachmanuskript aus dem 12. Jahrhundert den Schachmeister al-Suli und gibt die ersten beiden Züge, die uns al-Suli verrät, als Hinweis zur Lösung an: 1…Kd5 2.Kb4 Kd6.

Wahrlich stolze Worte eines Mannes, der sich seines Wissens und Könnens wohl bewusst war. Aber klingen sie angesichts der harmlos wirkenden Stellung nicht wie eine maßlose Übertreibung? Wer war dieser al-Suli, der mit vollem Namen Abu Bakr Muhammad ibn Yahya ibn Abdullah ibn al-Abbas ibn Muhammad ibn Sul Tigin hieß und der vor mehr als tausend Jahren seinen Zeitgenossen ein Rätsel aufgab, das diese nicht zu lösen vermochten? Um diese Fragen zu beantworten, lassen Sie uns in die Zauberwelt des arabischen Schachs eintauchen.

Türkische Handschrift (undatiert), Forschungsbibliothek Gotha

Unter dem Schwert des Islam

In nicht einmal hundert Jahren nach dem Tod des Propheten Mohammed (ca. 570–632) hatten die arabischen Nomadenstämme ein Weltreich errichtet. Das halbe byzantinische Asien, ganz Persien, Ägypten und der größte Teil Nordafrikas bis nach Spanien wurden erobert. Diese geradezu explosionsartige Ausbreitung und religiöse Unterwerfung des halben Mittelmeerraumes durch das „Schwert des Islam“ kann als das außergewöhnlichste Ereignis der mittelalterlichen Geschichte bezeichnet werden. Von den Persern übernahmen die Araber etwa im 7. Jahrhundert unter anderem auch das Schachspiel und führten es zu ungeahnter Blüte und Popularität, da sich der Islam im Gegensatz zum Würfeln und anderen Glücksspielen zu diesem Spiel indifferent verhielt. Der Koran erwähnt das Schachspiel nicht explizit, ein Glücksfall der Geschichte, denn der Prophet beurteilte Spiele an sich als überflüssig und als ein Hindernis auf dem Weg der rechten Erkenntnis. In den folgenden Jahrhunderten bildeten sich aufgrund dieser Unsicherheit die gegensätzlichsten Urteile über das Schachspiel. Je nach konservativer oder liberaler Auffassung kamen die Exegeten zum Schluss, dass das Schachspiel verflucht, unbedenklich oder gar nützlich sei. Das half bei der schnellen Verbreitung des Schachspiels, allerdings erhielten die dekorativen Figuren der Perser in den vom Islam beherrschten Regionen abstrakte Formen. Bereits um die Mitte des 9. Jahrhunderts war die Institutionalisierung des Schachs so weit fortgeschritten, dass es regelrechte Kategorien für die Leistungsstärke von Schachspielern gab. Die Schachspieler wurden in fünf bzw. sechs Klassen eingeteilt, die besten Spieler waren in der höchsten Klasse („Aliyat“) versammelt. In dieser Klasse gab es nie mehr als drei Spieler gleichzeitig. Es scheint keine gesellschaftlichen Schranken in der Praxis des Spiels gegeben zu haben; Frauen, Vornehme und Sklaven spielten ebenso wie die Söhne der Kalifen. Es etablierten sich Berufsspieler, Schachtheorie und Manuskripte entstanden, Wettkämpfe, zum Teil um hohen Einsatz, wurden ausgetragen. Der legendäre, in Bagdad herrschende Kalif Hārūn ar-Rašīd (763–809), der sich mit einer glänzenden Schar von Dichtern, Wissenschaftlern und Künstlern aller Art umgab, wurde zu einem großen Förderer des Schachspiels. Mit ihm und unter seinen Nachfolgern entstand das goldene Zeitalter des arabischen Schachs. Die Namen der größten Meister dieser Epoche, wie al-Adli (800–870), ar-Razi (825–860), al-Lajlaj (900–970), und eben unser al-Suli (ca. 880–946) waren überall bekannt und populär.

Persische Miniatur (undatiert), London

Wenig wissen wir über das Leben al-Sulis. Er war ein „Nadim“, eine Mischung aus Gesellschafter, Sekretär, Vertrauter, Dichter und Schachspieler am Hofe der Abbasiden. Er gehörte zum Gesellschaftskreis des Kalifen Muktafi (875–908) und später zu dem seines Nachfolgers Muqtadir (895–932). Schließlich war er auch einer der Gesellschafter des Kalifen Radghi (907–940), nachdem er zuvor sein Lehrer gewesen war. Nach dem Tod Radghis fiel er in Ungnade und musste unter dem neuen Kalifen Muttaqi ins Exil nach Basra gehen, wo er in Armut starb, anderen Quellen zufolge sogar getötet wurde.

Er war als der herausragende Schachspieler seiner Zeit bekannt. Seine Fähigkeiten waren sprichwörtlich, und man sagte über einen hervorragenden Schachspieler noch bis ins 13. Jahrhundert: „Er spielt Schach wie al-Suli.“

Miniatur aus einer persischen Handschrift (undatiert), Paris, Nationalbibliothek

Kunstvolle Mansuben

Eine Schachpartie entwickelte sich damals wegen der im Vergleich zum gegenwärtigen Schach eingeschränkten Gangart der Figuren langsam und behäbig. Es dauerte gut zwanzig Züge und mehr, bis die Eröffnung absolviert war und sich ein interessantes Spiel ergeben konnte. Daher entstand schon früh die Idee, von einer bestimmten Eröffnungsstellung („tabiya“) aus weiterzuspielen, um Zeit zu sparen. Es sind ca. ein Dutzend dieser Eröffnungsstellungen namentlich bekannt, die zum Teil klangvolle Namen, wie „Mujannah“ (Flankeneröffnung), „Sayyal“ (Strom, Flut) oder „Saif“ (Schwert) tragen. Berühmte Meister analysierten Eröffnungen bis tief ins Mittelspiel, gaben strategische Ratschläge und verfassten Manuskripte. Gespielt wurde seit jeher um Einsatz, der von Geld und Gütern bis hin zu Gliedmaßen, Konkubinen und Sklavinnen reichen konnte. Das Matt war aufgrund der geringeren Kraft der Figuren ein seltenes Ereignis und wurde mit mehrfachem Einsatz belohnt. Daher blühte schon von Anfang an die Kunstform der Schachkomposition. Eine Schachaufgabe wurde „Mansube“ genannt, in der versteckte, feine Gewinnwege zum seltenen Matt führten. Natürlich wurden auch hier Wetten auf die Lösung abgeschlossen.

Persische Miniatur, 14. Jahrhundert, London, Royal Asiatic Society

Unser Diagramm zeigt eine der berühmtesten Mansuben. Um sie zu lösen muss man wissen, dass die Figuren andere Zugmöglichkeiten hatten als heute, wo dieses Endspiel ein völlig uninteressantes Unentschieden wäre. Der „Shāh“ (König) bewegte sich wie der moderne König ein Feld in jede Richtung, ausgenommen, wenn ein solches Feld von einem gegnerischen Stein beherrscht wurde. Der Wesir (Minister, Persisch „farzīn“), die zweite Figur in unserer Aufgabe, zog im Gegensatz zur heutigen Dame nur ein Feld diagonal in jede Richtung. Das Spiel war zu Ende, wenn der gegnerische König mattgesetzt wurde oder wenn er aller seiner Figuren beraubt war, aber nicht mattgesetzt werden konnte; dies war der „Beraubungssieg“.

Lösung eines Jahrtausendrätsels

Nachdem die Stellung viele Jahrhunderte als unlösbar galt, nahmen sich Ende des 20. Jahrhunderts wieder einige Schachforscher der Sache an. Doch erst dem russischen Großmeister Juri Awerbach, der viele Jahrzehnte als „Endspielpapst“ galt, gelang die Lösung, die mittlerweile durch Computerprogramme bestätigt wurde. Die Lösung wird möglich, indem man zwei Strategeme, Zugzwang und Dreiecksmanöver – beide eigentlich Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts – kennt und miteinander kombiniert:

Aus dem Manuskript des Abu’l-Fath Ahmad al-Sinjari, 12. Jh.

Schwarz ist am Zug, Weiß gewinnt

1…Kd5 2.Kb4 Sofortiges 2.Ka2? Kc4 ergibt nur ein Unentschieden, da entweder beide Wesire fallen oder der weiße vom schwarzen König ewig verfolgt wird. 2…Kd6 3.Kc4 Ke6 4.Kd4 Kf6 5.Kd5 Kf7 6.Ke5 Kg7 7.Ke6 Kg8 8.Kf6 Kh8 9.Kg6 Kg8 10.Wd2! Nachdem der König an den äußersten Rand des Brettes gedrängt wurde, gewinnt der Wesir ein wichtiges Tempo. 10…Kf8 Falls der schwarze Wesir versucht, mittels 10…Wb2 zu fliehen, folgt 11.Kf6 Wa3 12.Wc3 Kf8 13.Ke6 Ke8 14.Kd6 Kd8 15.Kc6 Kc8 16.Kb5 nebst 17.Ka4 und der Wesir wird erobert. 11.Wc1 Ke7 12.Kf5 Kd6 13.Ke4 Kc5 14.Kd3 Kb4 15.Kc2 Ka3 16.Kb1 und nun wird der schwarze Wesir erobert und die Partie durch Beraubung gewonnen. Etwas später wurde mit Computerhilfe eine hartnäckigere Verteidigung für Schwarz gefunden: 7…Kf8! 8.Kd6 Ke8 9.Kc6 Kd8 10.Kb6 Kc8 11.Kc5! Kd7 12.Kb5 Kc7 13.Kc4 Kd6 14.Kb4 Ke5 15.Ka3 Kd5 16.Kb3! Damit ist wieder die Ausgangsstellung – nach dem ersten schwarzen Königszug – erreicht, allerdings mit Schwarz am Zug. Nun verliert Schwarz nach 16…Kc5, da Weiß den Wesir nach c1 und den König nach b1 überführt: 17.Kc2 Kc4 18.Wd2 und 19.Kb1. Eine weitere Möglichkeit ist 16…Ke4 17.Ka2 Kd3 18.Wb4 Kc4 19.Wa3 und das Problem ist gelöst, da der schwarze König den weißen Wesir nicht mehr angreifen, gleichzeitig aber den eigenen nicht beschützen kann, sodass er fällt und Weiß durch Beraubung gewinnt. Selbst ein Meisterspieler der Gegenwart wird dieses Kleinod nicht auf Anhieb mit allen Verzweigungen durchschauen.

Juri Awerbach war, nachdem er die gesamte Lösung mit allen ihren Feinheiten präsentiert hatte, voll der Bewunderung für den alten Meister: „Erst als ich diese Mansube gelöst hatte verstand ich, dass al-Suli jeden Grund hatte, auf seine Analyse stolz zu sein. Es ist wirklich das Werk eines Genies! Ohne seine substanziellen Hilfestellungen konnten die Zeitgenossen des Meisters diese Mansube, die so einfach scheint, nicht lösen.“

Der russische Großmeister, der sich auch mit anderen Mansuben al-Sulis beschäftigte, meint, dass al-Suli diese Stellung nur dann als gewonnen einschätzen konnte, wenn er sie in all ihren Verästelungen und Feinheiten verstanden habe. Diese Aufgabe gilt zu Recht als der „Diamant des al-Suli“. Er funkelt mehr als tausend Jahre nach seiner Entstehung heller denn je.

Persische Miniatur 1468, London, British Museum

Literatur

Awerbach, Juri: The history of Shatranj. In: Holländer, Hans/Schädler, Ulrich (Hrsg.): Scacchia Ludus. Studien zur Schachgeschichte, Band 1. Aachen 2008, 11–68

Murray, Harold James Ruthven: A History of Chess. Oxford 1913

Wieber, Reinhardt: Das Schachspiel in der arabischen Literatur von den Anfängen bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Walldorf 1972

Das Buch der Bücher

Schlägt man den 1283 von Alfonso el Sabio verfassten, großformatigen Codex auf, weiß man, dass das „Libros de los juegos“ eines der schönsten Bücher der Welt ist. Alfonsos Werk ist aber nicht nur eines der wichtigsten Zeugnisse des spätmittelalterlichen Spiels, sondern auch ein Vermächtnis. Für einen kurzen historischen Moment schien die Utopie eines offenen, toleranten Europas zumindest im Spiel Realität.

Alfonso el Sabio, Sevilla 1283

König Alfonso X. von Kastilien und Leon (1221–1284) war wenig Erfolg beschieden. Seine politischen und wirtschaftlichen Projekte scheiterten kläglich, der aufstrebende Landadel drängte die Macht des Königs immer weiter zurück, sodass Alfonso in seiner Residenz in Sevilla in den letzten Lebensjahren eher das Leben eines Gefangenen als das eines Herrschers führte. In die Geschichte ist Alfonso daher nicht als Potentat, sondern als Förderer der Wissenschaften und der Künste eingegangen. In Sevilla entfaltete sich unter seiner Regierung eine einzigartige christlich-islamische Doppelkultur. Am Hofe Alfonsos, der den Beinamen „El Sabio“ (der Weise) erhielt, versammelten sich Gelehrte aus Europa, Nordafrika und Asien, aller Kulturen, Konfessionen und Fakultäten zu einem jahrzehntelangen Symposion. Es entstanden wichtige Übersetzungen und Enzyklopädien; die undogmatische, intellektuelle Atmosphäre in Sevilla war auch wie geschaffen für das Schachspiel, das vom Maghreb etwa im 10. Jahrhundert auf die Iberische Insel gelangt war.

Alfonso el Sabio diktiert das Spielebuch „Libros de los juegos“, Sevilla 1283

Spiel der Toleranz

Alfonso hatte in seinem Leben über vieles schreiben lassen, über die magischen Kräfte der Steine, über Marienlieder, über Jurisprudenz und Grammatik, doch sein letztes Buch, das „Buch der Spiele“, ist zweifellos das wertvollste. Im Escorial in Madrid liegt dieses Buch, das man nur dann sehen darf, wenn man geduldig danach fragt und besonders freundlich zu dem cerberusartigen Kustoden der Handschriftensammlung ist. Schlägt man dann nach langem Warten den großformatigen Codex auf, weiß man, dass das Werk „Libros de los juegos“ eines der schönsten Bücher der Welt ist. König Alfonso begann es 1283, knapp ein Jahr vor seinem Tod, in für ihn aussichtsloser politischer und persönlicher Lage zu diktieren und erlebte seine Fertigstellung nicht mehr. Das Buch enthält 150 wunderbar leuchtkräftige Miniaturen, die Spielszenen zeigen und den Text durch Schachdiagramme illustrieren. Wie Spielbretter sind die Diagramme zwischen den Spielenden aufgestellt und halten die aktuelle Position einer Mansube fest, deren Lösung im zweispaltig geschriebenen Text ausführlich diskutiert wird.

Drei Weise mit drei Arten von Spielen, „Libros de los juegos“, Sevilla 1283

„Gott hat gewollt“, schreibt Alfonso im Vorwort, „dass die Menschen untereinander auf natürliche Weise allerlei Freuden genießen sollen, damit sie, wenn ihnen Kummer und Sorgen zustoßen, diese leichter ertragen können. Deshalb suchen die Menschen mancherlei Wege, um diese Freuden auch gebührend zu genießen.“ Ein Königsweg zum Genuss der Freude ist für Alfonso das Schachspiel, das den größten Teil des Buches einnimmt.

Am Anfang steht eine philosophische Frage. Drei Weise beraten einen König, ob die Welt auf Zufall oder Vernunft oder einer Mischung aus beiden beruhe. Und sie veranschaulichen ihre Debatte durch drei Spiele: Das Schachspiel dient dem ersten Weisen als Modell für eine durch und durch vernünftige Welt, in der alles auf Kausalität beruht. Der zweite Weise sieht im Gegensatz dazu das Würfelspiel als bestes Symbol für die Welt, in der alles nur durch Zufall geschehe. Der dritte hingegen verweist auf das Trick-Track, eine Vorform des Backgammon, in der man zwar würfelt, aber auch durch kluge Züge zum Erfolg kommt, und versucht die Welt als Mischform von Zufall und Rationalität zu erklären.

Problem Nr.18 aus dem „Libros de los juegos“, Sevilla 1283

Die Kunst der Mansube

Der Schachteil des Spielebuchs enthält 103 arabische Mansuben, von deren Ästhetik heute noch viele Problemkomponisten zehren. Allerdings lösten im 13. Jahrhundert die sogenannten Bedingungsaufgaben die klassische Mansube immer mehr ab. Irgendeine trickreich erdachte Spezialbedingung erschwerte die Lösung, durch deren Kenntnis sich auch Geld beim Wetten verdienen ließ. Es wurden Einsätze gemacht, ob man ein bestimmtes Problem lösen konnte oder nicht. Die hohe Kunst der Mansube hatte also schon immer recht profane Wurzeln. Gespielt wurde ja nicht nur auf Königshöfen, sondern auch auf den Hinterhöfen, Marktplätzen und in den dunklen Schenken der mittelalterlichen Städte. Und gespielt wurde noch nach den alten arabischen Regeln. König, Springer und Turm zogen so wie im heutigen Schach. Der Fil (Läufer, im folgenden F) sprang über eigene und gegnerische Steine hinweg diagonal ins dritte Feld in alle Richtungen, der Wesir (im folgenden W) zog im Gegensatz zur heutigen Dame nur ein Feld diagonal in alle Richtungen. Der Bauer zog vertikal einen Schritt und schlug diagonal. Erreichte er die achte Reihe, wurde er ausschließlich zum Wesir, der aber in seinem ersten Zug einen Doppelschritt in alle Richtungen machen konnte. Die Rochade und das En-passant-Schlagen waren ebenso noch nicht erfunden wie der Doppelschritt des Bauern im ersten Zug. Die Partien entwickelten sich aus heutiger Sicht sehr langsam. Da sich Bauern nur in Wesire verwandeln konnten, war das Matt eine große Seltenheit. Als Gewinn wurden daher auch das Patt und der Beraubungssieg (Wegnahme des letzten Steines außer dem König) gewertet. Hier nun drei Beispiele aus dem berühmten „Buchjuwel“ aus dem 13. Jahrhundert.

Alfonso el Sabio, Libros de los Juegos 1283, Nr. 18

Weiß zieht und setzt in 19 Zügen auf dem Feld a1 matt

Weiß hat wegen der Drohung 1…Sxe3+ keine Zeit zu verlieren und muss mit Schachgeboten arbeiten. 1.Tc8+ Ka7 2.Tc7+ Kxa6 Falls 2…Ka8, so 3.Sb6+ Kb8 4.Tb7 matt. 3.Sc5+ Kb6 4.Tb7+ Kc6 5.Sd4+ Der König wurde aus seiner Ecke gelockt und beginnt nun eine Reise quer über das Brett. 5…Kd6 Der Sc5 wird durch den Fe3 gedeckt. 6.Td7+ Ke5 7.Sc6+ Kf6 8.Tf7+ Kg6 9.Se5+ Kh5 10.g4+ Kh4 Glücklich am rechten Brettrand gelandet, wird der König nun mit einem Bauernopfer in Richtung a1 getrieben. 11.Sf3+! Kxg4 12.Tg7+ Kf4 Natürlich nicht 12…Kh5 13.Tg5 matt. 13.Sxe6+ Ke4 14.Tg4+ Ff4 15.Txf4+ Kd3 16.Ff1+ Kc2 17.S6d4+ Kb1 18.Fd3+ Ka1 19.Sb3 matt. Eines der großen konstruktiven Probleme des arabischen Schachs!

Alfonso el Sabio, Libros de los Juegos 1283, Nr. 38

Schwarz zieht und setzt in 15 Zügen matt

1…Wb2+ Der Wesir macht den Weg frei für den mächtigen Turm auf a5, der Schach bietet. 2.Kb1 Ta1+ 3.Kc2 Tc1+ 4.Kd3 Tc3+ Der Turm jagt den König in einer geometrischen Linie über das Brett. 5.Ke4 Te3+ 6.Kd5 Te5+ 7.Kc6 Tc5+ 8.Kd7 Tc7+ 9.Ke6 Fc8+ Der Fil leitet die Gegenbewegung des Turmes ein. 10.Kd5 Tc5+ 11.Ke4 Te5+ 12.Kd3 Te3+ 13.Kc2 Tc3+ 14.Kb1 Tc1+ 15.Ka2 Ta1 matt. Ein vollendetes Beispiel arabischer Schachkunst.

Alfonso el Sabio, Libros de los Juegos 1283, Nr. 103

Weiß zieht und setzt in 11 Zügen matt

Die letzte Aufgabe des Schachteils, die durch die berühmte Szene eines arabischen Kriegers, der in einem Zelt gegen einen christlichen Ritter spielt, illustriert wird, setzt uns ein kniffliges Endspiel vor, für das es keine arabischen Vorbilder gibt. 1…f2+ 2.Kh1 f1W 3.Kg1 Wf3 Der umgewandelte Wesir durfte im ersten Zug einen Doppelschritt machen. 4.Kh1 Wg2+ 5.Kg1 Fd2 6.Kh2 Kf3 Der Beginn eines Dreiecksmanövers des schwarzen Königs, um seinem weißen Kollegen Tempo zu nehmen. 7.Kg1 Ke3 8.Kh2 Kf4! 9.Kg1 Kf3 Nach dieser feinen Vorbereitung folgt das Schlussspiel: 10.Kh2 Ff4+ 11.Kg1 h2 matt. Einige Endspielthemen des 20. Jahrhunderts, wie Opposition, Dreiecksmanöver und korrespondierende Felder, wurden hier erstmals vorweggenommen.

Spiel und Vermächtnis

Alfonsos Spielebuch kann aber auch als ein politisches Buch verstanden werden, es ist ein Vermächtnis. Die Miniaturen zeigen in leuchtenden Farben Spielszenen aller Art und spiegeln ein Klima der Toleranz, der Verständigung und Heiterkeit am Hofe Alfonsos wider. Dunkelhäutige Mauren spielen mit christlichen Rittern, diese mit Juden und diese wieder mit Mauren; Jünglinge sitzen mit Alten, reiche arabische Händler mit Armen und Frauen mit Männern am Brett. Beim Spiel waren Unterschiede des Glaubens, Geschlechts und der Herkunft außer Kraft gesetzt. Gleichnishaft ist die Tafel mit zwei Spielern im arabischen Zelt: Ein mohammedanischer Ritter bietet einem prunkvoll gekleideten Christen einen Trunk aus einem Becher. Dieser bedankt sich höflich, zwischen beiden ist eine Mansube aufgebaut, deren Lösung offenbar alle Aufmerksamkeit der Welt erfordert und keinen Raum lässt für Vorurteile und Rassismus. Beim Spiel scheint es weder Unterschiede des Glaubens noch der Herkunft zu geben. Alle sind sie im Spiel versunken und achten nicht darauf, ob sie vor einer Kirche, einer Synagoge oder einem Minarett sitzen. Ihre Gesichter zeigen bloß Aufmerksamkeit und Freude.

Auch wenn dieses Alfonsinische Bild der Toleranz in der europäischen Geschichte ein Traum blieb, so ist es doch ein schöner Traum, der durch das Schachspiel erzählt wird und der trotz aller Skepsis der Moderne bis heute währt. Für einen kurzen historischen Moment schien die Utopie eines offenen, toleranten Europas zumindest im Spiel Realität. Als Buch der Wertschätzung und des gegenseitigen Respekts ist der mehr als 700 Jahre alte Codex aktueller denn je.

Problem Nr.103 aus dem „Libros de los juegos“, Sevilla 1283

Literatur

Calvo, Ricard/Schädler, Ulrich: Alfons X. „der Weise“. Das Buch der Spiele. Wien und Berlin, LIT Verlag 2009

O‘Callaghan, Joseph F.: The Learned King. The Reign of Alfonso X of Castile. Philadelphia, University of Pennsylvania Press, 1993

Steiger, Arnald: Alfonso el Sabio: Libros de acedrex, dados e tablas. Das Schachzabelbuch König Alfons des Weisen. Mit 51 Miniaturen und Tafeln, Librairie E. Droz, Genf, Eugen Rentsch Verlag, Zürich-Erlenbach 1941

Liebe und Spiel in der Renaissance

Mit den schnellen Regeländerungen am Beginn der Neuzeit entwickelte sich das Schach in Europa rasch zu einem dynamischen Spiel. Aber woher stammen die neuen Regeln? Was lässt sich über den Übergang der alten zu den neuen Regeln sagen, die das königliche Spiel am Ende des 15. Jahrhunderts so radikal veränderten? Ein verschollenes Buch gibt die Antwort.

Lucenas Schachbuch, Salamanca 1496/97

Es ist der Stoff zu einem kulturhistorischen Thriller. Im Jahr 1496/97 veröffentlichte der jugendliche Luis de Lucena in Salamanca ein Werk, das heute als Rolls Royce unter den Schachbüchern gilt: „Repeticion de amores y arte de axedres con CL iuegos de partido“, eine Anleitung zur Liebe und zur Kunst des Schachspiels mit 150 Schachproblemen. Lucena widmete dieses erste gedruckte Schachlehrbuch dem Prinzen Don Juan III., dem einzigen Sohn Ferdinands und Isabellas. Es kann aufgrund der Widmung im Vorwort ziemlich genau datiert werden. Der Kronprinz starb, erst 20-jährig, am 4. Oktober 1497, woraus sich die Jahre 1496 oder spätestens 1497 für die Drucklegung des Werkes ergeben. Das Buch gehört heute zu den größten Raritäten der Schachliteratur. Nur elf Exemplare haben die Jahrhunderte überstanden.

Luis Ramirez de Lucena: „Repetición de amores e arte de axedres”, 1496/97

Damiano de Odemira: „Questo libro e da imparare giocare a scachi et de le partite”, Rom 1512

Spur nach Valencia

Über den Autor wissen wir nur wenig mehr, als er uns in seinem Buch mitteilt, dass er nämlich Sohn des „hochgelehrten Doktors Don Juan Ramirez de Lucena“ sei und auf Reisen durch Spanien, Frankreich und Italien alles, was er über Schach finden konnte, aufgezeichnet habe. Vermutlich begleitete Luis de Lucena seinen Vater, der sich als Botschafter in Frankreich und Italien aufhielt. Der Schachhistoriker Antonius van der Linde konnte nachweisen, welche Manuskripte Lucena eingesehen und verwendet haben muss, so an erster Stelle den „Bonus Socius“ in Florenz. Lucena stammte aus einer Familie von „Conversos“, die unter Ferdinand und Isabella von Spanien vom Judentum zum Christentum konvertierten. Juan Ramirez de Lucena, Vater des ersten Schachbuchautors und Botschafter König Ferdinands, musste aufgrund dieser Tatsache kurzfristig vor der Inquisition nach Portugal flüchten. Es gibt einen dramatischen Brief aus dem Jahr 1504, in dem er den Monarchen an all seine Verdienste der Vergangenheit erinnert. Sein Sohn, Luis de Lucena, schrieb 1496/97 das erste, noch erhaltene Schachbuch, dessen Inhalt für den Zeitgeschmack und die Obrigkeit offensichtlich attraktiv genug war, um es vor der Vernichtung zu bewahren, welches Schicksal ihm andernfalls im Hinblick auf die problematische Situation der Familie des Verfassers zweifellos gedroht hatte. Ricardo Calvo geht davon aus, dass der Verfasser für seine Darstellung des neuen Schachs Material aus früheren Werken benutzte, die von Valencia ihren Ausgang genommen hatten. Hier ist das aus Valencia stammende Manuskript „Scachs d’amor“ von 1475 zu nennen und vor allem das verlorene Buch des Francesch Vicent aus dem Jahr 1495.

Der Weg in die Neuzeit

Lucenas „Repetición“ ist die erste Quelle, die von den neuen europäischen Regeln im Schach erzählt. Statt des arabischen Wesirs, der nur einen Schritt diagonal in alle Richtungen ziehen konnte, erscheint bei Lucena die neue, alles dominierende Dame am Schachbrett. Aus dem hüpfenden Alfil mit seiner beschränkten Wirkungskraft wird hier der moderne langschrittige Läufer. Auch die Rochade und der Doppelzug des Bauern waren noch neu. Inmitten der Renaissance hatte sich das mittelalterlich-arabische Schach zum modernen, dynamischen Spiel entwickelt; „alla rabiosa“ wird Damiano 1512 das neue Schach nennen. Bei den Spieleröffnungen enthält das Buch des Lucena auch heute noch oft gespielte Anfangszüge, so die italienische, russische, skandinavische und französische Partie, deren Namen aber erst in späteren Jahrhunderten entstanden sind. Wenig Aufschluss erhalten wir von Lucena selbst, woher die neue Spielweise stammen könnte. Er unterscheidet das Spiel nach alter Art – „del viejo“ – und das neuer Art – „de la dama“. Sie stehen fast gleichberechtigt nebeneinander. Das alte und das neue Schach ergänzten sich in dieser Anfangsphase insofern sehr gut, als auf dem Gebiet des Problems und der Endspiele das alte Schach durch den großen, Jahrhunderte alten Vorrat an arabischen Mansuben dominierte, während an dem noch in den Kinderschuhen steckenden neuen Schach vor allem die Eröffnung und die praktische Partie faszinierten. Das neue Schach barg durch die große Reichweite der Figuren schon in den ersten Zügen gewaltige Gefahren. Es ist offensichtlich, dass mit dem modernen Schach die Partie und deren Analyse in den Vordergrund treten mussten. Es ist auch kein Zufall, dass gerade die Eröffnung, die fälschlicherweise mit Damiano 1512 in Verbindung gebracht wird, im neuen Schach zuerst Begeisterung erweckte, lange Analysen nach sich zog und auch zeigte, wie wenig gefestigt das neue Regelwerk noch war:

1.e4 e5 2.Sf3 f6? Im mittelalterlichen Schach ein solider Zug, im neuen Schach ein katastrophaler Fehler. 3.Sxe5! Heute trivial, vor 500 Jahren ein frappierendes und elegantes Opfer. 3…fxe5 4.Dh5+ Damit kommt die langschrittige Dame zum ersten Mal ins Spiel, und das mit verheerender Wirkung. 4…Ke7 5.Dxe5+ Kf7 6.Lc4+ Auch der neue langschrittige Läufer kommt bereits zur Geltung, indem er den König weiter hinaus ins offene Feld treibt. 6…d5 Eine Notmaßnahme, um die weiße Dame von f5 fernzuhalten. Nach 6…Kg6 7.Df5+ Kh6 8.d4+ g5 9.h4 wird Schwarz bald matt. 7.Lxd5+ Kg6 8.Dg3+ Damiano empfahl in seinem 1512 erschienen Lehrbuch das bessere 8.h4. 8…Kf6? Beschleunigt das Ende ungemein. Mit 8…Dg5 konnte sich Schwarz länger halten. 9.Df4+ Kg6 (Diagramm 1)

Diagramm 1

10.Df7+?? Die erste Merkwürdigkeit: Weiß konnte hier mit 10.Lf7 sofort und problemlos mattsetzen. Es scheint einfach ein Versehen zu sein, doch steckt viel eher eine Verwechslung der Regelsysteme dahinter: Das Übersehen ist dadurch zu erklären, dass Lucena plötzlich den Läufer wieder für den alten springenden Alfil ansah, den auf f7 zu postieren natürlich sinnlos wäre, daher sein Damezug, denn die Dame ist ja auf f7 nicht nur durch den neuen Läufer, sondern auch durch den alten Alfil gedeckt! 10…Kg5 Etwas länger benötigt Weiß zum Mattsetzen nach 10…Kh6 11.d3+ g5 12.h4 11.d3+ Kg4 oder 11…Kh4 12.h3! Ld6 13.g3+ Lxg3 14.fxg3+ Kxg3 15.Df2 matt. 12.Df3+ Noch schneller ginge 12.h3+ Kh4 13.g3 matt. 12…Kh4 13.g3+ Kh3 14.Dh5+? Jetzt setzt 14.g4+ Kh4 15.Dg3 am schnellsten matt. 14…Kg2 15.e5 matt (??). (Diagramm 2)

Diagramm 2

Eine bemerkenswerte Stellung! Hier glaubt Lucena in ästhetischer Weise Schwarz mitten im weißen Lager mattgesetzt zu haben. Er hat also den langschrittigen neuen Läufer wieder als solchen erkannt, vernachlässigt jetzt aber die Tatsache, dass die neue Dame auf d8 diesen Läufer schlagen kann. Sie ist in Lucenas Augen offensichtlich wieder zum alten kurzschrittigen Wesir mutiert. Nach Antonius van der Linde ist „diese Gärung des alten und neuen Schachs in Lucenas Kopf psychologisch interessant“ (van der Linde 1881, 234). Wenn innerhalb eines einzigen Buches und sogar innerhalb einer einzigen Partie keine klare Anwendung der Spielregeln erfolgte, kann man ermessen, wie groß die Verwirrung um die Schachregeln in der Anfangsphase des neuen Schachs gewesen sein musste.

Tricks und Fallen

Bemerkenswert sind die praktischen Tipps des Lucena, die beweisen, dass Schach seit jeher um Geld gespielt wurde und dass sich die Tricks im Laufe der Jahrhunderte höchstens verfeinert haben. So empfiehlt er das Gambitspiel und Fallenstellen, um möglichst schnell hohe Gewinne einzustreichen. Er schlägt vor, den Gegner gegen das Licht zu setzen und sich selbst an einen Platz, der das Brett gut beleuchtet. Auch solle man sich des Weingenusses enthalten, während man den Kontrahenten dazu ermuntern solle. Schließlich sei es empfehlenswert, am Anfang nicht zu hoch zu setzen, um den Gegenspieler nicht zu verschrecken. Obwohl das Werk viele Druckfehler enthält und nach Antonius von der Linde geradezu die „kindlichste Stufe“ des Übergangs vom alten zum neuen Schach repräsentiere, hatte es bahnbrechende Wirkung und großen Einfluss auf Zeitgenossen und spätere Autoren.

Das verschollene Buch

Mit den Regelveränderungen entwickelte sich das Schach in Europa rasch zu einem dynamischen Spiel moderner Prägung. Seitdem beschäftigt dieser „Fall“ die Geschichtsforschung: Woher stammen die neuen Regeln? Was lässt sich über den Übergang der alten zu den neuen Regeln sagen, die das königliche Spiel am Ende des 15. Jahrhunderts so radikal veränderten? Bereits im 19. Jahrhundert hatten Schachforscher im Kloster von Montserrat einen wertvollen Fund gemacht, einen Katalogeintrag, der auf ein Buch des Katalanen Francesch Vicent aus Segorbe hinwies. Das „Libre dels jochs partits dels schacs en nombre de 100, ordenat e compost per mi Francesch Vicent“, wurde 1495 in Valencia gedruckt, also nur ein, höchstens zwei Jahre, vor dem Buch des Lucena. Das Buch freilich blieb verschwunden. 1811 wurde das Kloster von den Franzosen zerstört, mit seiner Bibliothek ging wohl das letzte Exemplar des geheimnisvollen Buches des Vicent verloren.

Der spanische Schachhistoriker José A. Garzón hat vor einigen Jahren den Fall nach Vorarbeiten der Schachhistoriker Alessandro Sanvito und Ricardo Calvo neu aufgerollt. In Perugia und Cesena fand Garzón Manuskripte, die dem „spanischen Meister Francesco“, dem Schachlehrer der Lucrezia Borgia zugeschrieben wurden. Dieser war niemand anderer als Francesch Vicent, ein sephardischer Jude, der Spanien verlassen musste und in der Emigration in Italien gelebt hat. Eine genaue Analyse des Manuskripts von Cesena brachte zu Tage, dass es sich um eine Abschrift des gesuchten und verlorenen Buches des Vicent handelt. Mehr noch zeigt Garzón, dass das Cesena-Manuskript nahezu identisch mit dem Buch des Lucena ist, das nun nur noch als Übersetzung oder Bearbeitung des Buches von Vicent erscheint. Dies wieder führt Garzón zur erstaunlichen These, dass Vicent niemand anders war als Lucena selbst, ja dass sogar hinter Damiano, dem Autor des dritten, in Rom 1512 gedruckten Schachbuches, Vicent stecke. Aus den verschiedenfarbigen Buchstaben des Wortes „Questo“ auf dem Titelblatt der zweiten Auflage interpretiert Garzón eine versteckte Botschaft: „QSO“: Quis Scriptor Operum? (Wer schrieb diese Werke?) und „VSO“: Vicent Scriptor Operum (Vicent ist der Autor der Werke).

Vicents Buch selbst bleibt freilich weiterhin verschollen, doch kennen wir nun zumindest seinen Inhalt. Die Suche nach dem Ursprung des modernen Schachs führt mehr denn je ins spanische Valencia.

Damiano de Odemira: „Questo libro e da imparare giocare a scachi et de le partite”, 2. Auflage, Rom 1518

Literatur

Calvo, Ricardo: Valencia – Geburtsstätte des modernen Schachs. In: Schach-Journal 3/1992, 34–46

Garzón, José A.: The Return of Francesch Vicent. The History of the Birth and Expansion of Modern Chess. Valencia, Generalitat Valenciana 2005

Linde, Antonius van der: Geschichte und Litteratur des Schachspiels, 2 Bände. Berlin, Springer 1874

Linde, Antonius van der: Quellenstudien zur Geschichte des Schachspiels. Berlin, Springer 1881

Sanvito, Alessandro: Il maestro di scacchi spagnolo di Lucrezia Borgia. In: L’Italia Scacchistica 1999, 392–393.

Ein Wanderer zwischen den Welten

Bahnbrechend war Philipp Stammas Erfindung der algebraischen Notation. Zudem nahm er großen Einfluss auf die Schachkomposition. Dieser seit dem späten Mittelalter völlig vernachlässigte Zweig des Schachspiels wurde durch ihn wieder zum Leben erweckt. In seiner Person und durch sein Buch werden Morgen- und Abendland im Schach endgültig versöhnt.

Die Neuerfindung des Schachproblems, Paris 1737

Sein Name und Schicksal sind kaum bekannt, und doch war der aus Aleppo in Syrien gebürtige Araber Philipp Stamma eine der wichtigsten Persönlichkeiten für die Entwicklung des Schachspiels in Europa. Stamma hatte, vertraut man den wenigen Dokumenten, die es über ihn gibt, kein langes (ca. 1705–1755), aber ein entbehrungsreiches Leben. Er soll ursprünglich Fathalla, Sohn des Safar Shtamma, geheißen haben und einer syrisch-katholischen Oberschichtfamilie entstammen. Aus seinem Leben sind nur wenige Nachrichten überliefert. Als erwachsener junger Mann wanderte er nach Europa aus und dürfte sich um 1730 in London, dann aber längere Zeit in Paris aufgehalten haben, um ein Auskommen als Übersetzer und Schachspieler zu finden.

Philipp Stamma (1705–1755)

Noch ziemlich unbekannt schrieb er in Paris 1737 seinen „Essai sur le jeu des échecs“, ein Lehrbuch des Schachspiels mit 100 eigenen Schachkompositionen, das unzählige Auflagen in allen wichtigen europäischen Sprachen erlebte und bis ins 20. Jahrhundert nachgedruckt wurde. Im Jahr 1745 erschien in London eine verbesserte Ausgabe dieses Werkes, das zusätzlich noch 74 Eröffnungen enthielt. Stamma hatte sehr prononcierte Ansichten über das Schach. So stellte er in seiner Vorrede fest, dass Schach aus dem Morgenlande stammen müsse, nicht nur, weil die Bezeichnung der Figuren arabischen Ursprungs sei, sondern weil Schach auch überall im Osmanischen Reich begeistert gespielt werde: „… haben es die Einwohner Syriens zu ihrem Leibspiel erwehlet, besonders aber die in Aleppo, meiner Vaterstadt. Und eben alldort ist es, wo man so viele geschickte Schachspieler antrifft, ja ich glaube, dass es deren in Europa wenige gebe, welche mit den morgenländischen in Vergleichung könnten gestellet werden.“ (Stamma 1754, Vorrede)

Er fand auch, dass in seiner Heimat besser Schach gespielt werde als in Europa, und dies aus einem Grund: „Eine andere Ursache dessen ist, dass in unserem Lande die Spieler sich rathen lassen und ein jeder gemeiniglich sich zum Spiel einen Beystand erwählet, dahingegen in England, Italien, Frankreich und anderen Ländern, so ich gesehen habe, ein jeder nach seinem Gutdünken spielen und nicht leyden will, dass man ihm in sein Spiel rede.“ (Stamma 1754, Vorrede)

Philipp Stamma: „Essai sur le jeu des echecs“, Paris 1737