Schießt nicht auf die MörderMitzi - Isabella Archan - E-Book

Schießt nicht auf die MörderMitzi E-Book

Isabella Archan

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Beschreibung

Mitzi und Agnes auf Verbrecherjagd – Gänsehaut und Lachfalten garantiert. Nicht mal auf einer romantischen Schiffsreise hat die Mitzi ihre Ruhe – das Verbrechen ist ihr immer dicht auf den Fersen. Diesmal befindet sie sich mitten auf der Donau, als die erste Leiche auftaucht. Während Inspektorin Agnes Kirschnagel noch mit den kriminalistischen Fakten beschäftigt ist, stürzt sich Mitzi mit ihrer Vorliebe für böse Buben schon kopfüber in die Mördersuche. Und ziemlich schnell wird's sehr brenzlig ...

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Isabella Archan wurde 1965 in Graz geboren. Nach Abitur und Schauspieldiplom folgten Theaterengagements in Österreich, der Schweiz und in Deutschland. Seit 2002 lebt sie in Köln, wo sie eine zweite Karriere als Autorin begann. Neben dem Schreiben ist Isabella Archan immer wieder in Rollen in TV und Film zu sehen.

www.isabella-archan.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich ein Glossar und ein Rezept.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Bob Pool

Umschlaggestaltung: nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-049-5

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Wie tötet man die Furcht, frag ich mich. Wie schießt man einem Gespenst durch sein Herz, schlägt ihm das Gespensterhaupt ab, packt es an der Gespenstergurgel?

Joseph Conrad, »Lord Jim«

Glück allein kann’s nicht sein. Denn wer sich nur aufs Glück verlässt, fliegt auf die Schnauze.

I.

KrapfenUnheil

Brandneu am Start – der Krimi-Vierteiler um 20:15 Uhr im Fernsehen: »Die seltsamen Verbrechen der Mitzi Schlager«.

Teil 1: »MörderMitzi« wird sie seit ihrer frühesten Kindheit gerufen. Der unglaublich gemeine Spitzname hat damit zu tun, dass ihre Eltern und ihr kleiner Bruder Benni bei einem Feuer umgekommen sind, da war Mitzi sieben. Und leider nicht ganz unschuldig an diesem schrecklichen Unglück.

Dass sie ihr Trauma so gut überstanden hat, ist ihren Großeltern zu verdanken, die sie aufgezogen haben. Mitzi ist eine absolut liebenswerte Person, aber mit kleinen Macken. Sie lebt in einer Welt der Geschichten, Bücher und Filme, sehr zurückgezogen und eigenbrötlerisch. Zusätzlich hat sie eine eigentümliche Mission: Sie will nämlich die bösen Buben und Mädels dieser Welt bekehren, will sie auf den rechen Weg zurückführen.

So auch den Auftragskiller Sam, einen durch und durch raffinierten und kaltblütigen Menschen, mit dem Mitzi zusammentrifft, als sie einen Mord auf der Innbrücke in Kufstein beobachtet. Sie wird Hauptzeugin und gefährliche Mitwisserin in einer Person. Das kann nicht gut ausgehen – oder?

Im Laufe der Ermittlungen lernt Mitzi ihre beste und bisher einzige Freundin kennen, die Tiroler Inspektorin Agnes Kirschnagel.

Also, Teil 1 heute im TV – nicht verpassen!

1

Warum der Robert, der sich als Fake-Namen für die Diebesbande Burschi ausgesucht hat, in den Sekunden, bevor ihn die Kugel trifft, an einen Krapfen denken muss, ist ihm selbst unerklärlich.

Trotzdem ist es so. Ein herrlich gelber und flaumiger Krapfen mit Staubzucker oben, einem perfekten weißen Ring in der Mitte und mit Marillenmarmeladenfüllung im Inneren.

Das Bild schießt ihm durch den Kopf.

Wobei jetzt und hier das Wort »schießen« eindeutig zweideutig zu verwenden ist. Denn es hat gerade jemand auf ihn geschossen. Gezielt und abgedrückt.

Hier draußen auf der Mariahilfer Straße, ein paar Meter vom Eingang des Juwelierladens entfernt, auf dem Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone, steht ein Mensch mit einem Strumpf über dem Gesicht und einer Pistole in der Hand.

Es ist früh. So früh, dass noch eine graue Dämmerung über der österreichischen Hauptstadt liegt.

Grau ist auch der, der geschossen hat. Auf den Robert.

Graue, lange Hose, graues, weites T-Shirt, graue Handschuhe und graue Strumpfhose über Haar und Gesicht. Weiblein oder Männlein ist nicht zu erkennen bei all den ineinanderfließenden Grautönen. Nur die Waffe ist schwarz. Ebenso das Loch, aus dem das Projektil abgefeuert wurde.

Und die Pistole ist kein Spielzeug, wie dem Robert seine eigene, mit der er eben noch dem Juwelier und seiner Frau Angst gemacht hat. So viel scheint klar zu sein. Alles andere liegt im Dunkeln.

»Los, los, alles ins Sackerl«, hat er das Paar vor nicht einmal fünf Minuten angeschrien, und sie haben ihm gehorcht.

Das war zu erwarten gewesen.

Aber was sich danach abgespielt hat, ist unvorstellbar, unglaublich und ungeachtet dessen trotzdem wahr. Hier vor der Tür des Ladens hat ihnen jemand aufgelauert. Ihnen vieren, der Bande, die aus dem Robert, genannt Burschi, dem Langen, dem Radi und dem Estragon besteht. Diese Fake-Namen haben sie sich gegeben, damit sie sich während der Überfälle ansprechen können, aber keinem ungewollt ein richtiger Vorname über die Lippen kommt.

Der Robert ist eben der Burschi. Bisher hat ihm der Name gefallen.

Sein Vater hat ihn immer so genannt. In den liebevolleren Momenten, die selten waren, darum umso kostbarer. Deshalb hat er für sich diese Anrede gewählt. Jedes Mal wenn einer von den anderen »Du, Burschi« zu ihm sagt, denkt er an den Vater, den Papa, der schon lange unter der Erde liegt und ihm nach einer saftigen Watschen oder auch einer Tracht Prügel als Wiedergutmachung immer einen Schilling zugesteckt hat. Der kleine Robert alias Burschi hat diese minimalistischen Reparaturzahlungen in einem Krug gesammelt. Nach Papas Beerdigung hat er ihn ausgeleert und der Mama davon einen Tischventilator kaufen können. Immerhin.

Jahrzehnte ist das her. Inzwischen ist er selbst Vater, leider auch kein guter.

Die Erinnerung verblasst, die Kugel kommt näher.

Ein unheimlicher Vorgang, der sich entgegen den Gesetzen der Physik in die Länge zu ziehen scheint. Das Projektil, das der Robert mit seinen Augen verfolgt, bewegt sich unerklärlicherweise in einer Art Schneckentempo auf ihn zu. Einer Filmsequenz ähnelnd, wie man sie oft in Actionszenen sieht. Der Hauptdarsteller gerät in Lebensgefahr, und alles um ihn herum beginnt sich zu verlangsamen. Was heute Morgen, im gegenwärtigen Moment, dabei fehlt, ist allerdings eine dramatische Filmmusik, ein Anschwellen von Geigen, ein Trommeln und ein Knall.

Es hat nicht geknallt, noch so eine Seltsamkeit.

Ein zweiter Schuss folgt.

Der Robert kann es sehen. Ganz genau. Das Paradigma der Geschwindigkeit bleibt aufgelöst, wird zum Paradoxon. Aus Zehntelsekunden entsteht nun gefühlt eine kleine Ewigkeit. Wieder kein Knall, sondern ein Fauchen oder Sirren. Mehr nicht.

Und die Zeitlupe des Geschehens macht dem Robert gerade unerwartet Lust auf etwas Süßes. Ein Krapfen soll es sein.

Den kann man nicht nur zum Fasching essen, nein, das ganze Jahr über ist Krapfenzeit. Ob im Café Central, im Café Am Hof, im Dommayer, im Hawelka, im Landtmann und wie sie alle heißen. Dort sitzen, Kaffee trinken. Mit jemandem ins Gespräch kommen, vielleicht Karten spielen. Sich dazu einen Krapfen gönnen.

Aber nicht zwei Kugeln zusehen, die sich in Slow Motion auf die eigene Brust zubewegen.

Denn das Ziel der Geschosse ist klar.

Sie fliegen direkt auf den Robert zu, auf seine Brust. Gleich, oder vielleicht auch viel, viel später, werden sie auftreffen und einschlagen. Was dann folgt, kann nur den Tod bedeuten.

Jessas, sagt er, ohne Ton. Sakra, setzt er hinterher. Dann: Scheiße, zu hoch gepokert diesmal!

Dass die Waffe auf ihn gerichtet wurde, er die Zielscheibe ist, wundert ihn eigentlich nicht. Erst kürzlich hatte der Robert so eine Ahnung, dass sein Versuch, doch noch ein guter Vater zu werden, gründlich schiefgegangen ist. Dass seine Reue zu spät kommt, seine Fehler unumkehrbar sein würden.

Trotzdem hat er es versucht. Das zumindest rechnet er sich selbst als etwas Gutes an.

Das graue Wesen mit der schwarzen Waffe scheint dem Robert seine Gedanken erraten zu haben. Es nickt. Oder senkt es nur den Kopf, weil dem Robert sein Ende mit den beiden Schüssen besiegelt ist? Wer steckt hinter dem Grau?

Niemand außer ihnen vieren und dem Auftraggeber, dem Oberboss, sollte von dem geplanten und heute durchgezogenen Raubüberfall wissen. Zumindest hat der Robert es niemandem erzählt. Für die anderen kann er zwar nicht die Hand ins Feuer legen, aber er selbst wollte sich erst nach diesem letzten Coup der Polizei stellen. Das eine Mal noch abräumen, dann Spielschulden begleichen, damit keiner seiner Liebsten nach seiner Verhaftung noch etwas zurückzahlen muss. Oder gar in Gefahr gerät.

Die Kugeln nähern sich. Egal, wie langsam und zäh alles abläuft, irgendwann ist das Ende erreicht.

Der Robert dreht seinen Kopf. Da stehen der Estragon und der Lange. Er kann nicht hinter ihre Wollmasken sehen, aber meint, auch bei ihnen eine Fassungslosigkeit zu erkennen. Der Lange hat das Sackerl mit den teuren Uhren in einer Hand, in der anderen schwenkt er eine Perlenhalskette offen zwischen seinen Fingern, hat die Handschuhe bereits ausgezogen. Dieser Idiot. Wenn die Kette reißt und bloß eine Perle zu Boden fällt, sind seine Fingerabdrücke darauf.

Er, der Robert, der Burschi, wollte Verantwortung für seine Taten übernehmen, aber seine Kumpels dabei nicht verpfeifen. Deshalb sollte der Lange bei der Kette Obacht geben.

Hinter ihnen steht das Auto, in dem der Radi sitzt und darauf wartet, dass die drei hineinspringen, damit er losrasen kann. Doch noch sind der Estragon und der Lange wie erstarrt. Also haben auch sie niemals mit einem bestrumpften Fremdling in Grau gerechnet, der mit einer echten Waffe um sich schießt.

Nein, der schießt nicht um sich. Der hat gewartet, gelauert und schließlich direkt auf den Robert gezielt.

Der Oberboss. Oder? Eine andere Schlussfolgerung ist unmöglich. Oder? Wie hat der …? Woher weiß der …?

Es gibt keine Antworten, genauso wie es keinen Krapfen gibt, in den der Robert im Moment so gern hineinbeißen würde. Einzig die Kugeln existieren, die am Ende aller Zeitlupen ihr Ziel nun doch erreicht haben.

Die Projektile schlagen ein wie vom Robert vorhergesehen, genau in seine Brust. Kugel eins, dann Kugel zwei. Es fühlt sich an, als würde ein Zeigefinger hintereinander auf die Stelle tippen. Ein Finger, der den Robert ermahnt, nicht auf die schiefe Bahn zu kommen. Dafür ist es allerdings längst zu spät.

Ein Brennen folgt. Dass der Schmerz nicht größer ist, verdutzt den Robert nun doch. Möglicherweise nimmt auch der erst in gemächlichem Tempo seinen Anlauf.

Der Robert senkt den Kopf, sein Kinn geht nach unten. Er wundert sich gleich wieder, denn was er sieht, verstärkt die Analogie zu einem Krapfen. Außen an seinem Hemd kann er ein dunkles Loch sehen, nein, zwei. Die Löcher gleichen den Stellen, an denen die Marillenmarmelade in fertige Krapfen gespritzt wird. Wenn man dort hineinbeißt, quillt die Marmelade heraus und vermischt sich mit dem Geschmack des Teigs und des Staubzuckers.

Aus dem Robert seiner Brust quillt es jedoch nicht orange hervor, sondern rot. Das ist der farbliche Unterschied zwischen Marillenmarmelade und Blut. Er geht in die Knie, sein Oberkörper kippt nach hinten. Schließlich landet er hart auf dem Kopfsteinpflaster. Wieder tut es kaum weh. Die sichtbare Welt dreht sich.

Dann plötzlich knallt es. Waren die Kugeln schneller als der Schall? Nein, denn der einzelne Knall ist in Wahrheit der Klang einer Autotür, die einer hinter sich zugeschlagen hat. Ein Motor heult auf.

Als würden diese Geräusche die Zeit erschrecken, rast sie wieder voran. Roberts Atem geht schneller, seine Beine zucken wild. Er wäre viel lieber geflüchtet als gefallen.

Der Robert sieht von unten und verkehrt herum Füße in dunklen Sneakers neben sich auftauchen, dann das Strumpfgesicht, das sich kurz über ihn beugt, bevor der Graue ebenfalls Fersengeld gibt.

Oberboss! Will der Burschi rufen. Sorry! Doch seine Stimme hat schon fast aufgegeben. Nur ein »Krpfn!« produziert sein Kehlkopf noch. Es könnte alles Mögliche bedeuten.

Andere melden sich stattdessen. Das frühe Wien erwacht mit einem Ruck.

»Oida!«, ruft jemand.

»So ein Scheiß«, ein anderer.

Der Sirenenton einer Alarmanlage kreischt los.

»Polizei! Hilfe! Überfall!«

Wieder wie in einem Actionstreifen beginnt das Gewusel um den Robert herum. Immer noch ohne passende Filmmusik, die nun einen tragischen Charakter haben würde.

Aber dem Robert ist das final egal. Nichts kann ihn mehr dazu bringen, vom Bürgersteig aufzustehen.

Sein letzter Blick ist nach oben gerichtet. Dort tummeln sich jetzt viele kleine weiße Wolken – ein Staubzucker-Krapfen-Himmel.

2

Das Chaos im Wagen war gigantisch.

Die drei Männer schrien durcheinander. Ein stetiges Piepen war zu hören, dabei krächzte der Motor immer noch im ersten Gang, als würde er unter Keuchhusten leiden.

»Was is mit dem Robert? Was is mit dem Robert?«

»Sakra! Was machen wir jetzt da?«

»Manfred, fahr einfach. Und schalt hoch, du Idiot.«

»Aber der Robert is angeschossen worden, Dustin. Der Robert is angeschossen worden.«

»Ja doch, Peppo.«

»Oder erschossen. Oder er is tot. Erschossen oder tot.«

»Wenn er erschossen worden ist, dann ist er ja tot.«

»Hör auf mit deiner Besserwisserei, Dustin.«

»Herrgott noch einmal, Manfred. Gib Gas.«

»Mach ich doch.«

»Pass auf. Die Ampel ist rot.«

»Ich bin doch net deppert. Du kriegst gleich eine Watschn.«

»Konzentriere dich. Fahr normal. Aber rase nicht. Achte auf den Verkehr. Wie immer. Verstehst du? Sonst fallen wir auf.«

»Schrei nicht rum, Dustin. Was soll denn ›wie immer‹ heißen? Nix is wie immer. Nix is wie immer.«

»Ja, wir alle haben gesehen, was mit Robert geschehen ist.«

»Der Robert! Der Burschi! Hin is er, hin.«

»Peppo, reiß dich zusammen. Wir sind nicht blind.«

»Was sollen wir tun? Was sollen wir tun?«

»Keinem ist es geholfen, wenn du alles zweimal sagst, Peppo.«

»Du Arschloch, du. Du Arschloch, du.«

»Soll ich dir vielleicht eine knallen?«

»Wir müssen die Rettung rufen. Wir müssen –«

»Nein, Peppo, nicht!«

Manfred und Dustin schrien gleichzeitig.

Peppo Preding ließ die Perlenhalskette, die er in der Hektik im Juwelierladen an sich gerissen hatte, achtlos auf den Rücksitz gleiten und zückte das anonymisierte Prepaidtelefon. Zugleich zog er sich die schwarze Wollmaske vom Kopf. Auf seinen Wangen hatten sich hektische rote Flecken gebildet. Sonst war sein Teint kalkweiß. Er sah aus wie ein verschrecktes Kleinkind, obwohl er an die zwei Meter groß und die Bezeichnung »der Lange« durchaus passend war.

Dustin Czeld, der neben dem fahrenden Manfred Husska saß, drehte sich blitzschnell um und schlug seinem Kumpel das Mobilteil aus der Hand. Es landete neben der Kette.

»Bist du wahnsinnig, Peppo?« Dustin befreite sich ebenfalls von der Maske. Schweißtropfen waren über sein gesamtes Gesicht verteilt. »Dann kannst du gleich die Bullen rufen, und wir ergeben uns. Und dann? Anklage, Gefängnis. Aus und vorbei mit dem Leben! Ist es das, was du willst, Peppo? Für dich und für uns?«

»Aber der Robert.« Peppo begann zu schluchzen. Tränen und Rotz schossen ihm aus Augen und Nase und tropften über seine Lippen. »Der Robert is totgeschossen worden.«

»Das wissen wir nicht.« Dustin packte mit beiden Händen Peppos Gesicht, nur um sich rasch wieder angeekelt zurückzuziehen und die Finger an seiner Hose abzuwischen. Am liebsten hätte er danach den Sack mit den teuren Uhren an sich gerissen, um ihn vor diesen Körperflüssigkeiten zu schützen. Wert der Beute diesmal um die dreihunderttausend Euro, wenn der Oberboss richtig informiert gewesen war. »Schnäuz dich, du schaust aus wie ein Volldepp.«

Das Piepen wollte nicht aufhören.

»Was ist das denn, verdammt?«

»Du hast dich nicht ang’schnallt«, warf Manfred ein. »Los, Estragon, dalli, dalli.«

Dustin, der sich in der Gruppe »der Estragon« nannte, weil diese Pflanze auch zur Senfherstellung verwendet wurde und ihn seine Ex-Beziehungen gern als extrascharf bezeichneten, hatte bisher als Einziger einen kühlen Kopf bewahrt. Er zog sich den Gurt um den Oberkörper, klinkte ihn ein, und das Piepen hörte endlich auf. »Wenigstens eine Sache, die wir unter Kontrolle haben, meine Jungs.«

»Ich bin nicht dein Junge, Dustin«, heulte hinten Peppo weiter. »Nicht dein Junge. Was, wenn das die Polizei war, die uns aufgelauert hat?«

»Niemals, Peppo. Blödsinn. Die hätten uns vor dem Überfall erwartet, überwältigt und sofort verhaftet.«

»Ich will nicht in’ Hefn!« Peppos Flennen wurde mächtiger.

Dustin warf einen Blick in den Rückspiegel, und weiterer Ekel erfasste ihn. »Wenn du dir nicht gleich dein Gesicht sauber machst, lass ich den Manfred anhalten und schmeiß dich aus dem Auto. Ich kann den Rest sogar ohne euch beide durchziehen. Ihr verpisst euch und gebt mir dafür einen Bonus von euren Anteilen. Ich mach mir nicht in die Hosen.«

»Wenn du fünf Kinder von zwei Frauen hättest, die alle von dir abhängig sind, würd’st nicht so reden, Dustin.« Manfred schnaubte.

Seine Wollmaske hatte er bereits zwischen seinen Beinen eingeklemmt. Er schien als Einziger nicht zu schwitzen. Vielleicht lag es daran, dass er nur noch wenige dunkle Haare auf dem Kopf hatte und seine hohe Stirn vollkommen kahl war. Dafür waren seine Augenbrauen umso buschiger.

»Keiner hat dich gezwungen, bei uns mitzumachen, Manfred. Oder gern Radi. Das passt, finde ich. Wer pudern kann, kann auch Juweliere ausrauben.« Dustin begann schallend über seinen Wortwitz zu lachen.

»Ich würd gerne z’rückfahren, um zu erfahren, was geschehen is.« Manfred blinkte. »Nur aus der Ferne. Schauen, ob die Rettung schon da is. Ob der Robert überlebt hat!«

Dustin griff Manfred ins Lenkrad. Der Wagen kam ins Schlingern. »Bist du irre? Natürlich sind die Bullen schon vor Ort. Den Alarm, hast du ihn nicht gehört?«

»Nein.«

»Stell die Lauscher auf.«

In einiger Entfernung waren tatsächlich Sirenen zu hören. Manfred drückte Dustins Hand weg und versuchte, das Auto wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Er beendete das Blinken und fuhr die vereinbarte Route weiter. »So was von schiach! Trotzdem sollten wir erst mal in der Nähe bleiben.«

»Niemals, Manfred. Die Polizei wird rasch eine Straßensperre errichten, die notieren die Kennzeichen, sondieren die Umgebung, befragen Lieferanten, die früh am Morgen in der Fußgängerzone die Geschäfte beliefern. Wir bleiben unauffällig und halten uns fern. Wobei unser auffallendstes Merkmal der Lange hinter mir ist.«

»Was kann ich dafür, dass ich groß gewachsen bin.« Peppo trompetete statt in ein Taschentuch in seine Maske hinein.

Dustin wurde vollends übel. »Du bist ein Schwein, Peppo. Dass dich nie auch nur eine einzige Frau rangelassen hat, wundert mich nicht.«

»Ich hab’s auch nie bei einer Frau probiert, das is kein Geheimnis. Ich bin meinem Ewald für immer verbunden, das weißt du genau«, schniefte Peppo zurück. »Du saublöder Piefke, du. Geh zurück nach Deutschland.«

»Du bist ein Depp, Peppo. Ich bin Österreicher. Nur väterlicherseits habe ich Kölner Blut in mir.« Dustins Vater stammte aus der Domstadt, obwohl das keine Rolle spielte, denn er hatte ihn nie kennengelernt. Dass er sich angewöhnt hatte, so gut es ging, hochdeutsch zu reden, war einfach ein Spleen von ihm. Der bestens ankam. Bei Weiblein und Männlein. Dustin mochte beide Geschlechter. »Ich bin gern halb und halb, Peppo. Damit kannst du mich nicht beleidigen.«

»Dann sag ich Estragonscheißer zu dir, wie gefällt dir das?«

»Besser, als du denkst. Ich bin über alle Schimpfwörter erhaben. Und jetzt komm, Peppo, lass uns wieder Freunde sein, ja?« Dustin warf Peppo eine Kusshand zu, der darüber unvermutet zu kichern anfing.

»Hey! Tut ihr zwei grad schon so, als hätt’s vorhin den Schuss nicht geben?« Manfred trat auf die Bremse. Dustins und Peppos Oberkörper wurden nach vorn gedrückt.

Als Nächstes betätigte der Radi demonstrativ die Warnblinkanlage. »Der Radi« – Manfred hatte sich nach einem Radieschen genannt, das unter der Erde, unsichtbar für alle oben, wuchs und gedieh. Ein wenig auch nach seiner Kopfhaut, die im Sommer wegen des schütteren Haarwuchses die Farbe dieses Gewächses annahm. Im Moment wäre er liebend gern in ein Loch gekrochen oder zu einem unscheinbaren Gemüse mutiert. Er dachte an seine aktuelle Geliebte, die nichts ahnend zu ihrer Mutter gefahren war und ihren liebsten Manfred auf einer Kumpelstour mit guten Freunden wähnte. Gute Freunde, das war ein Witz.

»Was ist denn, Manfred? Kaum hat sich Peppo beruhigt, fängst du an.«

»Ich beweg das Auto keinen Zentimeter mehr, bevor wir nicht übern Robert reden.«

Hinter ihnen hupte jemand.

»Manfred!« Dustin wurde wieder lauter und begann sich die erstaunlich vollen braunen Haare zu raufen. »Was tust du? Nicht auffallen. Nicht auffallen.«

»Wer wiederholt jetzt denn jeden Mist?« Auch Manfreds Stimmvolumen nahm zu. »Unser Burschi is womöglich schwer verletzt. Ein Irrer hat ihn überfallen. Am Ende hat der es auch auf uns alle abgesehen. Ich muss wissen, was los is.«

»Das war kein Irrer«, mischte sich Peppo ein. Er beugte sich weit zwischen Manfred und Dustin nach vorn, sein großer Kopf hatte etwas von einem Bernhardiner. »Das war einer in Grau.«

Die beiden vorne hielten synchron die Luft an.

»Du hast ihn gesehen?« Dustin fand als Erster seine Sprache wieder.

Mit einem Nicken lehnte sich Peppo zurück. »Nicht genau. Nur, dass er ganz in Grau angezogen war, dass er einen Strumpf über seinem Gesicht gehabt hat. Keine Wollmaske mit ausgeschnittenen Augen und Lippen, wie wir sie haben. Und dass er eine echte Waffe mit Schalldämpfer gehabt hat.«

»Das alles hast du bemerkt?«

»Genau. So einer hat auf den Robert gewartet.«

»Du meinst auf uns?«

»Nein.« Peppo schüttelte vehement den Kopf. »Ich war neben dem Robert, und mir is der Graue direkt aufgefallen. Die Straße war ja am Anfang sonst menschenleer. Er hat die Waffe gehoben und auf unseren Burschi gezielt. Nicht auf mich oder den Dustin. Bei meinem geliebten Ewald, ich schwör’s, der Graue hat es nur auf den Robert abgesehen gehabt.«

Manfred zog die Luft ein. »Meint ihr, es könnt, warum auch immer, der Oberboss –«

»So ein Schwachsinn.« Dustin fiel Manfred ins Wort. »Unser Oberboss würde nie einem von uns etwas antun. Der braucht uns wie wir ihn. Das wissen wir doch alle.«

»Vielleicht hat der Robert noch in anderen Schwierigkeiten gesteckt, von denen wir keine Ahnung haben«, mutmaßte Peppo.

»Das ist es.« Dustin nickte Peppo zu. »Du wirst recht haben, Langer. Denkt an Roberts Spielschulden, von denen er in der Gruppe erzählt hat. Keiner von uns weiß, mit welchen Typen er sich außer uns noch eingelassen haben könnte.«

»Aber woher wusste dieser Graue, dass wir heut in aller Herrgottsfrüh den nächsten Laden ausräumen?« Manfred sah von einem zum anderen. »Auf der Mariahilfer Straße. Um diese Uhrzeit. Woher?«

Weder Dustin noch Peppo hatten eine Antwort. Manfred stoppte die Warnblinkanlage und startete den Motor. Keiner von ihnen sagte in den nächsten Minuten ein Wort. Die Temperatur im Wageninneren stieg an.

Dustin kurbelte ein Fenster herunter. »Das nächste Mal klauen wir ein neueres Modell, eine Karre mit Klimaanlage. Keine mehr vom Schrottplatz, die der Manfred erst wieder fahrtüchtig machen muss.«

»Das nächste Mal?«, echote Peppo von hinten mit einem erneuten Aufschluchzen. »Das war’s, Leuteln. Es is vorbei. Es is vorbei.«

An der nächsten Kreuzung angekommen, begann das Prepaidhandy auf dem Rücksitz zu klingeln.

»Der Oberboss«, flüsterte Peppo und hob das Mobilteil zwischen der Perlenkette und der Wollmaske hoch, als wäre es ein gefährliches Reptil. Er reichte es nach vorn zu Dustin. »Red du.«

Dustin nahm das Handy zwischen Daumen und Zeigefinger. Er atmete einmal durch und nahm es ans Ohr. »Ja?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang trotz der Verzerrung hörbar wenig erfreut. Dustin lauschte, unterbrach nicht und setzte hin und wieder ein »Ja, klar!« dazwischen.

Manfred fuhr, Peppo stierte auf seine Maske und den Rotz darauf, der langsam eintrocknete.

Nach Beendigung des Telefonats herrschte eine gespannte Stille zwischen ihnen.

»Und?« Peppo brach das Schweigen.

»Es läuft schon über die Nachrichtenticker.«

»So a Schaas.« Manfred hustete. »Was jetzt?«

»Wir sollen uns verhalten wie immer. Der Plan wird nicht geändert.«

»Ehrlich?« Peppo blieb beim Flüstern. »Was is mit Robert? Was is –«

»Schweig, Peppo. Der Oberboss wird sich darum kümmern. Wie er sich bisher immer um alles gekümmert hat.« Selbst Dustin hatte jetzt eine gewisse Ehrfurcht in der Stimme.

3

In Wahrheit gab es einen unter den drei Räubern, der nicht aufgeregt war.

Dustin Czeld, der sich den Spitznamen Estragon ausgesucht hatte.

Natürlich hatte auch ihn der Schuss erschreckt, und das Niedersinken vom Burschi alias Robert Maler, dem verschuldeten Ex-Buchhalter und unbegabten Pokerspieler, war wirklich kein schöner Anblick gewesen.

Ob er tot war, fragte sich auch Dustin, während der Wagen durch Wien fuhr, um zur Anlegestelle zu gelangen. Oder nur schwer verletzt?

Schwer verletzt wäre scheiße. Denn schwer verletzt hieße, Robert könnte plaudern oder singen oder Namen ausspucken wie den seinen.

Dustin, Dustin, Dustin, meldete sich eine angenehm tiefe Stimme in seinem Kopf.

Dustin hatte seinen Erzeuger nie persönlich getroffen, sich aber immer vorgestellt, wie sein Dad zu ihm sprechen würde. In Köln sollte der Vater leben, dessen Familie wiederum angeblich aus Texas dorthin ausgewandert war. Mehr hatte Dustin seiner Mutter bis zu ihrem zu frühen Ableben nie entlocken können. Aber seit Dustin Alkohol konsumieren durfte, fragte er in Gaststätten und Bars als Erstes nach einem Kölsch. Manchmal hatte er Glück, und sie schenkten eines aus. Außerdem liebte er Texas-Steaks, schön blutig.

Dustin, sagte Gedanken-Dad jetzt, zwei Schüsse in die Brust überlebt keiner. Keep calm.

»Danke, Daddy«, hauchte Dustin so leise, dass die anderen es nicht hören konnten. Ja, der Burschi war ganz sicher mausetot. Einer weniger, mit dem Dustin teilen musste.

Die Hitze im Wagen und die Ausdünstungen der anderen setzten ihm zu. Sein Magen meldete sich, und er musste rülpsen.

Immerhin hatten sie heute zum zweiten Mal keine lange Fahrtzeit. Nicht wie bei den ersten beiden Überfällen: Die Strecken von Kufstein und Linz bis nach Wien hinein, mit damals noch drei Kumpels, die jedes Mal vor Angstschweiß stanken, waren keine Vergnügungstouren gewesen. Im Gegensatz dazu waren die ausgedienten Wägen, die Manfred stets in seiner Werkstatt in Ottakring repariert und mit neuen Nummernschildern versehen hatte, genauso perfekt für die Überfälle wie die Spielzeugpistolen, die Angst erzeugten, ohne gefährlich zu sein.

Nach jeder Tour landeten die Autos auf dem Schrottplatz, dann ohne Nummernschild und Möglichkeit der Rückverfolgung, und die Waffen in Manfreds Werkstatt in einer verschlossenen Kiste. Zusammen mit den Masken und der dunklen Kleidung. Leider alles bisher noch ungewaschen, was den Geruch jedes Einzelnen verstärkte. Dustin nahm sich vor, vor der nächsten Tour auf eine Reinigung zu bestehen, selbst wenn er jedes Teil mit der Hand auswaschen müsste.

Es würde ein weiteres Mal geben, da war er sich sicher. Nach dem Schrecken kam die Auszahlung. Letzteres würde Ersteres überdecken. Dieses geniale Spiel schrie nach einer Fortsetzung.

Peppo durfte diesmal nicht vergessen, die Uhren in dem vorgesehenen Beutel zu verstauen. Dem mit dem doppelten Boden. Letztes Mal wäre er um ein Haar mit einer Beute an Bord gegangen, die er einfach in seiner Reisetasche verteilt hatte. Nicht auszudenken, welche Kette an Katastrophen das hätte auslösen können, wenn jemand durch Zufall einen Blick hineingetan hätte. Oder wenn ihm die Tasche aus der Hand gefallen, umgekippt wäre, und die Markenuhren sich über den Boden verstreut hätten. Peppo war einfach zu nachlässig. Ein Angsthase, der schlampig war – eine schlechte Kombination.

Echte Profis waren sie alle nicht, wobei Dustin zumindest in die Kategorie Kleinkrimineller fiel. Die anderen drei waren Laienverbrecher, wenn es diese Bezeichnung überhaupt gab. In die Enge getriebene Männer, die durch ihren jeweiligen Leidensweg und selbst verschuldeten Abstieg keinen besseren Ausweg mehr wussten. Genau richtig also für den Oberboss.

Die Aufgaben waren klar verteilt. Manfred kümmerte sich um das Fluchtauto, Peppo nahm im jeweiligen Juwelierladen stets die Beute an sich und verstaute sie später. Bis Dustin diese übernahm und dem Oberboss zukommen ließ. Robert wiederum war für das Ausspionieren der Umgebung im Vorfeld zuständig gewesen. Das würde in Zukunft wohl auch Dustin übernehmen. Es mussten eine Aufgabenumverteilung und neue Planungen her.

Je länger Dustin während der Fahrt nun überlegte, desto besser fand er eine längere Pause statt eines nächsten Coups. Nicht nur wegen Robert. Die Medien veranstalteten ohnehin von Überfall zu Überfall mehr Tamtam. Die geschädigten Juweliere waren erst letzte Woche gemeinsam interviewt worden, die Polizei hatte mindestens drei Pressekonferenzen gegeben, um sich für ihre Fahndungsmisserfolge zu rechtfertigen und gleichzeitig den Personalmangel zu beklagen. Ja, die Journaille hatte jede Menge zu schreiben und zu schimpfen.

Journaille reimt sich auf Kanaille, erwähnte die Daddy-Stimme in Dustins Gedanken und lachte so laut, dass Dustin befürchtete, man könnte das Lachen sogar außerhalb seines Kopfes hören. Das Geräusch machte ihm Kopfschmerzen. Als wäre das nicht genug, begann sein Daddy auch noch zu singen: Elvis Presleys »Jailhouse Rock« – ausgerechnet dieser Song dröhnte durch Dustins Hirnwindungen.

Halt die Schnauze, Dad, keifte er zurück.

All I’m askin’ is for a little respect, intonierte daraufhin Daddy den Hit von Aretha Franklin, sogar eine Spur dröhnender.

»Schluss!«, rief Dustin laut.

»Was?«, fragte Manfred am Steuer.

»Ach, nichts. Mir ist übel.« Dustin winkte ab. Seine internalisierte Vaterfigur schwieg endlich.

Er kam bei seinen Überlegungen auf die Beute zurück. Diesmal war es noch einmal eine Menge mehr als sonst. Von Überfall zu Überfall wuchs sein Anteil. Der Laden war größer gewesen, die Anzahl der eingesackten Uhren wesentlich höher. Nachdem der Oberboss seinen Hauptanteil abgezogen hatte, würde den verbleibenden dreien auf jeden Fall eine hohe Summe zukommen. Dass sie alle von Roberts Ausfall oder Abgang profitierten, würden die anderen schon noch erkennen.

Komisch fand Dustin nur die Schalldämpferwaffe. Wozu? Robert war auf offener Straße erledigt worden, da hätten ein Knall oder zwei auch nichts mehr ausgemacht.

Weil der Graue die Zeit gebraucht hat, um sich aus dem Staub zu machen, Sohn, bevor das Chaos ausgebrochen ist. Gedanken-Dad war wieder da.

Logisch, Daddy.

Oder, Gedanken-Dad wurde süffisanter, weil der Graue versucht hat, euch andere so in Panik zu versetzen, dass ihr einen Fehler macht, die Flucht misslingt und ihr verhaftet werdet.

Blödsinn, Dad.

Ja, Bullshit, mein Sohn. Der Graue braucht euch. Dich ganz besonders. Du hältst die Truppe zusammen, du kümmerst dich um das Ganze. Du rekrutierst und organisierst. Der Graue ist auf dich angewiesen.

So ist es, Daddy. Der Graue ist der Oberboss. Das weiß nur ich. Ich ganz allein. Und der Schalldämpfer bedeutet nichts.

Statt Elvis oder Aretha intonierte Gedanken-Dad unerwartet das Höhner-Lied »Echte Fründe«.

Trotz der Schunkelmusik spulte sich in Dustins Kopf die Szene ab, wie der Graue Robert erschossen hatte. Kaltblütig war es schon gewesen. Brutal und gnadenlos.

Die Waffe, mit der Robert niedergestreckt wurde, war keine Plastikimitation wie die, die sie bei den Raubüberfällen den Opfern vor die Nase hielten. Täuschend echt, aber harmlos. Damit wollte der Oberboss sichergehen, dass nicht einer von ihnen vor Panik oder aus Versehen abdrückte und jemand verletzt wurde. Stehlen und die Ladenbesitzer in Todesangst versetzen war der Plan bisher gewesen. Das Töten war neu. Wenn auch unumgänglich.

Die warme Wiener Luft, die durchs offene Fenster ins Innere strömte, blies Dustin die Haare hoch. Sie fuhren an der Staatsoper vorbei. Ein Prachtbau mit seinen Bögen und Gängen, den verzierten Stucksäulen und dem grünen Dach. Gleich dahinter begann die nächste Fußgängerzone, die Kärntner Straße mit ihren Luxusläden und teuren Cafés, bis hin zum Stephansdom, dem Steffl.

Er mochte den Luxus und die Stadt. Wenn der Oberboss einmal genug hatte, alle Beute vertickert, das Geld verteilt und Gras über die Sache gewachsen war, dann würde sich Dustin eine Immobilie zulegen. Allerdings im dreizehnten Gemeindebezirk, Hietzing, den mochte er am liebsten. Schönbrunn und den Tierpark. Noch wohnte er in der kleinen Gemeindewohnung in Favoriten, die er von seiner Mutter übernommen hatte.

Als der Oberboss ihn vor einem halben Jahr in die Pläne eingeweiht hatte, für die er von der ersten Sekunde an Feuer und Flamme gewesen war, hatte Dustin noch vorgehabt, das Geld zu nutzen, um sich auf die Suche nach seinem Erzeuger zu machen. Dem Gedanken-Vater einen echten gegenüberzustellen. Sich in Köln niederzulassen und nach dem Mann zu forschen, dem er die vollen braunen Haare, seine graublauen Augen und sein markantes Kinn verdankte. Ebenso seinen schnittigen Körperbau.

Eine Kombination, die auf Frauen wie Männer unwiderstehlich wirkte. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr waren Ladys und Gentlemen hinter ihm her, er brauchte sich nie anzustrengen. Dass er bisexuell war, erleichterte die Sache ungemein. Jedes Geschlecht hatte so seine erregenden Vorteile.

»Ach, Dustin. Du bist männlich und energisch und doch beschützenswert. Ein Löwe, der gestreichelt werden will«, hatte seine letzte Ex-Freundin, die Resi, nach dem finalen Liebesakt vor der Trennung heulend und pathetisch gemeint. »Ich werd dich nie vergessen.« Ob sie ihm weiter so hinterhertrauern würde, wenn sie wüsste, dass sie bei Weitem nicht die Einzige gewesen war, wie er ihr in den paar Wochen Beziehung stets versichert hatte?

Gedanken-Dad meldete sich zurück. Dein Eroberungszwang hat mit dem Fehlen einer Vaterfigur zu tun. Eine Lücke, die nie geschlossen wurde.

Daddy, bitte, lass das Klugscheißen.

Vielleicht wärst du dann auch nie auf die schiefe Bahn geraten. Wobei sich schiefe Bahn lustig anhört.

Die Stimme begann wieder laut zu lachen. Dustin stimmte einfach mit ein. Er stellte sich eine Scheibe vor, die kippte, und derjenige, der darauf balancierte, würde in ein Nichts stürzen. Es war doch vollkommen egal, warum er der war, der er eben war.

»Geh scheißen!«, sagte Manfred in der realen Welt im Auto. »Eine Baustelle! Mit Ampel. Das hass ich.«

Ein unerwarteter Stau im früh beginnenden Berufsverkehr hielt sie auf. Manfred beschwerte sich weiter lautstark, und Peppo auf dem Rücksitz hatte wegen Roberts Tod wieder zu heulen begonnen.

Dustin hätte ihnen sagen können, dass Robert zuerst mehr als seine fünf Prozent von der Beute verlangt und damit den Oberboss wütend gemacht hatte, um dann plötzlich sein Gewissen seiner Tochter gegenüber zu entdecken. Dustin hätte seinen Kumpels erzählen können, dass der Oberboss durch ihn, den scharfen Estragon, erfahren hatte, dass Robert dabei gewesen war, sie alle zu verpfeifen. Und wenn er den beiden Männern zuflüstern würde, dass er mehr über den Oberboss wusste, ja ihn sogar nackt gesehen hatte, würden die zwei Idioten sicher ausflippen.

Der Graue vorhin mit der echten, tödlichen Waffe war der Oberboss, Jungs, hätte Dustin eröffnen können. Wer sich gegen ihn wendet, der endet wie Robert.

Doch diese Geheimnisse behielt Dustin für sich.

Gerissen und grausam und doch auf eine vollkommene Weise gesellschaftlich angepasst. Das war der Oberboss. Und mit ihm auch Dustin. Hatte Resi Dustin einen Löwen genannt, könnte man den Oberboss als Hyäne bezeichnen.

In einer Naturdokumentation im ORF hatte Dustin neulich einen Bericht über diese Tiere gesehen. Ihr Gebiss war im Verhältnis zur Körpergröße das stärkste unter den Säugetieren, sie waren verschlagener als die leicht zu durchschauenden Großkatzen. Ihre Art zu jagen war aggressiv und gnadenlos. Hyänen hetzten Tiere bis zur totalen Erschöpfung. Dass sie auch Aas fraßen, passte ebenfalls. Für Tarnung und Deckung war der Oberboss zu allem bereit, auch Scheiße zu fressen.

»Heut geht aber auch alles schief. Verfluacht no amol eini!«, keuchte Manfred, über das Lenkrad gebeugt wie ein alter Mann. Obwohl er seit über zwanzig Jahren in Wien lebte, hatte er immer noch seinen Tiroler Dialekt beibehalten, der ihn beim Reden spucken ließ. Die Tröpfchen landeten auf der Windschutzscheibe.

Ekelhafter Bullshit, stellte Gedanken-Dad fest. Da kann einem nur schlecht werden. Dustin stimmte seinem imaginären Vater zu. »Was regst du dich so auf, Manfred?«

»Ich würde nie diese Strecke fahren, Dustin. Nie sinnlose Umwege.«

»Aber jede Route ist festgelegt. Vom Oberboss.«

»Wie spät is?«, fragte Manfred.

»Vielleicht zu spät für uns. Vielleicht zu spät für uns.« Peppo begann hinten wieder mit seinen Wiederholungen. »Zu spät.« Diesmal sogar dreimal.

»Reg dich ab.« Dustin sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass sie stehen geblieben war. Er musste grinsen. Im Sack mit der Beute hätte er Dutzende Uhren, die ihm die Zeit anzeigten. Er legte Manfred die Hand auf die nackte hohe Stirn, die eiskalt war. »Macht euch keinen Kopf. Wir haben Zeit genug. Für alles. Wie immer, Manfred. Peppo, alles easy. Wir sollen doch ohnehin nicht vor fünf nachmittags an Bord gehen.«

»Wieso immer fünf? Wieso immer fünf? Wie–«

»Hör auf, Peppo! Keine Ahnung. So steht’s in den Anweisungen.«

Peppo zog die nächste Portion Rotz hoch. »Wir stehen alle noch unter Schock. Ich brauch dringend einen Schluck Alkohol.«

»Nichts trinken, Peppo.« Dustin drehte sich fauchend um. »Keinen einzigen Tropfen, ist das klar? Noch sind wir nicht durch. Ab zur Werkstatt, dann weiter im Plan.«

Der Verkehr bewegte sich. Manfred atmete mit einem Ächzen aus, Peppo seufzte laut.

Als das Auto vom Opernring auf den Burgring wechselte, streckte Dustin seinen Kopf aus dem Fenster und stieß ein gackerndes Lachen aus. In seinem Kopf intonierte er zusammen mit Dad lautstark »Satisfaction« von den Stones.

4

Unter all den Veränderungen, die Mitzi bis zu diesen sonnigen Junitagen in der letzten Zeit durchlebt hatte, waren die folgenden am aufregendsten.

Erstens: Ihre Therapiestunden, die sie seit ihrem dreißigsten Lebensjahr bei Dr. Rannacher in Wien regelmäßig absolviert hatte, machten sich deutlich in ihrer Psyche bemerkbar.

Sie hatte das Gefühl, ihr altes Trauma, den Tod ihrer Familie, als sie sieben war, endlich loslassen zu können. Damit auch die Schuld, die sie seither in ihrem Herzen mit sich herumschleppte wie einen schweren Anker, der sie am Hafen einer tiefen Traurigkeit festgehalten hatte.

Mama, Papa und Mitzis kleiner Bruder Benni waren und blieben tot. Ob nun damals die kleine Mitzi an dem Feuer, das dem Unglück vorausgegangen war, eine Teilschuld trug oder nicht, spielte keine Rolle, wie Dr. Rannacher stets betonte. Auch wenn Mitzi weiterhin unbedingt die wahren Umstände erkunden wollte, konnte sie sich nun leichter den Raum und die Zeit gönnen, bis sie einen erneuten Anlauf zur Klärung unternehmen würde.

Zeit war das Schlüsselwort. Mitzi schenkte sich selbst die Geduld, die ihre verletzte Seele brauchte. Die Anhaltspunkte, die sie hatte, waren ohnehin dürftig. Ein paar Fetzen Erinnerungen an die Explosion und den Brand, die in Alpträumen wiederkehrten. Ein Bekannter ihrer Eltern, der angeblich am Tag der Katastrophe auf deren Grundstück zu Besuch gewesen war. Allerdings handelte es sich bei dem Kerl um einen waschechten Ungustl, einen unsympathischen Menschen, der mit Mitzi nichts zu tun haben wollte. Noch dazu war Mitzis Großmutter Therese als letzte noch lebende Verwandte, die vom Unglück um die vierköpfige Schlager-Familie erzählen konnte, letztes Jahr verstorben.

Es blieb Mitzi nur zu hoffen, dass es tatsächlich in der Zukunft einmal eine Möglichkeit geben würde, Licht in das Dunkel um den Schicksalsschlag ihrer Kindheit zu bringen. Dass sie mit diesem Glauben und einer neu entwickelten inneren Stärke ihr jetziges Leben mehr und mehr genießen konnte, fühlte sich aber schon wie ein geknackter Jackpot an. Der einzige Wermutstropfen dabei war das Auslaufen der von der Krankenkasse bezahlten Therapiestunden. Privat konnte sie sich Dr. Rannacher nicht leisten.

An zweiter Stelle der guten Entwicklungen stand für Mitzi, dass sie vor drei Monaten endlich umgezogen war.

Bisher hatte sie in Salzburg bei ihrem Ex-Freund Freddy gewohnt, nun aber ein WG-Zimmer im noblen Stadtteil Nonntal bezogen. Die Minni, eine Studentin, die Mitzi in einem Café kennengelernt hatte, war zu einem Auslandssemester in Queensland aufgebrochen und hatte Mitzi ihr winziges Zimmer spontan untervermietet. Wegen der Namensähnlichkeit und weil Mitzi und Minni beide schräge Typen waren. Minni trug stets ein auffallend großes Amulett um den Hals, um sich vor Geistern und Flüchen zu schützen, was Mitzi absolut klasse gefunden hatte.

Das Mehrparteienhaus lag an der Nonntaler Hauptstraße schräg gegenüber dem Café »Die Tortenmacher«, wo man leckeren Kaffee trinken und handgemachte Torten bestellen konnte. Mitzi unterhielt sich dort gerne mit der Kellnerin, die wie Mitzis beste Freundin Agnes einen Hamster als Haustier hatte.

Die beiden Mitbewohner waren ebenfalls ein Student und eine Schauspielerin mit Stückverträgen am Landestheater. Beide hatten die Lösung mit der Untervermietung akzeptiert. Wie es danach weitergehen würde, darüber wollte Mitzi zurzeit nicht nachdenken, erst mal war sie glücklich über die neue Bleibe.

Mitzis neues Zimmer war zwar das kleinste in der Wohnung, aber das Appartement samt Wohnküche und Gemeinschaftsraum lag unterm Dach und bot eine berauschende Aussicht auf Altstadt und Festungsburg. Auch konnte sie von ihrem Fenster in einen Innenhof sehen, von dem ein Drittel jedoch abgedeckt war. Lotte und Hansi Schiefenbrunner, wie das Ehepaar von unten hieß, kümmerten sich nebenbei um das Haus, in dem penible Ordnung und Sauberkeit herrschten.

Genau hier zeigte sich eine Besonderheit in Mitzis Umgang mit sich und der Welt, die sich nicht verändert hatte: Sie vermutete ein unentdecktes Geheimnis.

Genauer gesagt ein Verbrechen, vielleicht sogar einen Mord.

In Mitzis bisherigem Leben hatte es einige Turbulenzen und Beinahe-Katastrophen gegeben, die stets mit Delikten zu tun hatten. Von ihren eigenen Schuldgefühlen getrieben, hatte sie immer wieder versucht, Menschen, die vom rechten Weg abgekommen waren, zum Guten zu bekehren. Was ihr manchmal leider eher schlecht als recht gelungen war. Sie war in Schwierigkeiten geraten, und zwar so tief, dass sie schon einige Male diese schöne, aber mitunter auch grausame Welt fast verlassen hätte. Zum Glück war sie noch jedes Mal dem Sensenmann von der Schaufel gesprungen, einmal im wahrsten Sinn dieses Spruches.

Das besonders Gute daran war, dass sie dabei ihrer besten und einzigen Freundin, Inspektorin Agnes Kirschnagel, begegnet war. Die mit dem Hamster namens Jo. Eine waschechte Polizistin an ihrer Seite hatte Mitzi oft nötig gehabt.

Doch eigentlich hatte sich Mitzi vorgenommen, es mit dem Aufspüren und Nachspüren von Missetaten sein zu lassen. Die Betonung lag auf eigentlich, denn sie hatte nicht mit Lotte und Hansi gerechnet beziehungsweise mit dem spurlosen Verschwinden vom armen, vielleicht schon verwesenden Hansi.

Lotte war dabei Mitzis Hauptverdächtige.

Begonnen hatte es mit einer nächtlichen Beobachtung. Lotte hatte weit nach Mitternacht eine längliche, große Kiste unter die Abdeckung des Innenhofs geschleift. Weil Mitzi nicht schlafen konnte und am Fenster stehend die nächtliche Aussicht über Salzburg genossen hatte, war sie Zeugin des Vorgangs geworden. Die Größe der Kiste hatte Mitzi an einen Sarg erinnert.

Überhaupt waren Mitzi ab diesem Moment weitere Nachttätigkeiten von Lotte aufgefallen, wie das Transportieren von Säcken und Eimern, die mit Wasser gefüllt waren. Mitzi hatte einmal versucht, in den Innenhof zu gelangen, aber dafür hätte sie in die Parterrewohnung der Schiefenbrunners einbrechen müssen. Was eine Straftat gewesen wäre.

Ein anderes Mal hatte sie Lotte im nahe gelegenen Baumarkt gesehen. Die Einkäufe waren ziemlich obskur gewesen. Mehrere Packungen Steinwolle und eine Schaufel. Mitzi hatte lange gegrübelt, was diese Utensilien mit dem immer noch vermissten Hansi zu tun haben könnten, hatte allerdings keine Idee dazu gehabt.

Agnes hatte auf Mitzis dunkle Vermutung eher genervt reagiert. »Mitzi! Wenn dort unten eine Leiche liegen würde, würdest du es bis zu dir nach oben riechen. Wie sollte diese Lotte denn überhaupt ein tiefes Grab ausheben? Du sagst doch, es ist ein Innenhof. Da braucht sie keine Schaufel, sondern Presslufthammer und einen Bagger.«

»Was, wenn sie den toten Hansi mit Kalk abgedeckt hat?«, hatte Mitzi argumentiert. »Den kann man sich wie die Steinwolle im Baumarkt holen. Und ich hab nachgerechnet. Hansi Schiefenbrunner is seit genau vier Wochen und drei Tagen nicht mehr erschienen. Genau seit der Nacht, wo die Lotte, seine Frau, diese Kiste angeschleppt hat.«

»Du siehst zu viele Filme. In der Realität passiert so was niemals.«

»Aber was, wenn? Könntest du nicht?«

»Nein. Und nein.« Agnes’ Ablehnung war unmissverständlich gewesen. »Lass die Faxen, Mitzi.«

Also blieb Mitzi nur, an dem Fall des vom Erdboden verschluckten Hansi Schiefenbrunner dranzubleiben. Zumindest immer, wenn es ihre Zeit zuließ. Denn sie hatte kein eingegipstes Bein wie James Stewart in »Das Fenster zum Hof«, sondern eine kleine Patentochter.

Das Wunderbarste überhaupt. Das Kind von ebenjener Agnes. Zum Hamster Jo hatte sich das Baby Konstanze gesellt, könnte man sagen. Mitzi liebte die Kleine innig und war, so oft sie konnte, in Kufstein bei der kleinen Neufamilie. Deshalb zogen sich ihre privaten Mordrecherchen ziemlich in die Länge.

Abschließend und nicht zu vergessen, also unbedingt als drittens auf die Liste der Veränderungen zu setzen: Mitzi hatte eine neue Liebelei, stand am Rand einer neuen Beziehung und überlegte, ob sie den Sprung in die Liebe gänzlich wagen sollte.

»Was is das Leben schräg und schön, und alles zur selben Zeit«, erzählte Mitzi, als sie am Grab stand, ihrer eigenen Familie im Himmel.

5

»Sie nimmt ihre Zehen in den Mund, sie nimmt echt alle ihre Zehen in den Mund! Wie süß!« Mitzi johlte vor Entzücken auf.

Die kleine Konstanze, die Tochter von Agnes und Axel, lag auf einer weichen Decke im Gras. Bisher hatte sie versonnen mal dorthin und mal dahin geschaut, dazwischen mit ihren Fingerchen das Mobile über sich berührt und sehr zufrieden gewirkt.

Obwohl Mitzi versuchte, den Eltern ihrer Patentochter beim gemeinsamen Brunch im Garten Aufmerksamkeit zu schenken und sich in die Unterhaltung einzubringen, hatte bisher ihr Hauptaugenmerk auf dem Kind gelegen.

Bis zur Geburt war Mitzi fest davon ausgegangen, dass Agnes einen Jungen bekommen würde. Ein intensives Bauchgefühl hatte sie in dem Wissen bestärkt und hätte sie jede Wette darauf eingehen lassen. Als sie ihre Freundin dann, nur wenige Stunden nach der Geburt der neuen Erdenbürgerin, in der Hebammenpraxis in Innsbruck besucht hatte und das zierliche kleine Mädchen auf den Arm nehmen durfte, waren ihr all ihre Vorahnungen wie dumme Ideen erschienen.

Konstanze war perfekt und Mitzi die optimale Patentante. Maria Konstanze Schlager, so Mitzis voller Name, den sie immer gern bei einem ersten Vorstellen ausbreitete. Dass Agnes’ Tochter Mitzis zweiten Vornamen erhielt, setzte dem Glück die Krone auf.

Nach all den Verlusten, die Mitzi in ihrem Leben erlitten hatte, erschien ihr die Geburt der kleinen Stanzerl, so nannte sie das Mädchen liebevoll, wie der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Vollkommen verzückt war Mitzi dann, wenn sie beim Babysitten unterwegs als die Mutter angesehen wurde, weil Konstanze blonde Haare und grüne Augen hatte, eben wie ihre Patentante Mitzi.

»Jetzt schauts doch hin.« Mitzi klatschte in die Hände.

Konstanze auf der Decke hatte sich tatsächlich zu einer Kugel zusammengerollt und ihre beiden großen Zehen in ihren Mund gesteckt, was ihr außerordentlich zu gefallen schien.

Agnes, Mitzis beste und in all den Jahren immer noch einzige Freundin, gähnte. »Das macht sie schon seit drei Tagen, Mitzi.« Ihr war die Müdigkeit deutlich anzumerken. Seit sie wieder ihren Dienst bei der Polizei in Kufstein aufgenommen hatte, machte ihr der fehlende Schlaf schwer zu schaffen.

»Willst du dich hinlegen, Liebling? Noch bin ich da.« Axel, Freund von Agnes und Papa von Konstanze, würde nach dieser Zusammenkunft nach Deggendorf fahren. Dort würde er einen Auftrag für seine Kölner Privatdetektei erledigen, die inzwischen von seinem erwachsenen Sohn aus einer früheren Beziehung geleitet wurde. Axels Lebensmittelpunkt war jetzt Kufstein, er eigentlich in Elternzeit.

Durch eine glückliche Fügung war das wesentlich größere Appartement in Agnes’ Wohnhaus frei geworden, und Agnes war einfach nach unten gezogen. Von einem Zimmer mit einem Austritt hin zu einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Gartenanteil. Axel hatte hier eine Dependance aufgemacht und war mit der Hauptstelle in der Domstadt online verbunden. Trotzdem wollte er in Abständen persönlich nach dem Rechten sehen, abgesehen davon, dass er in seinem Beruf als Privatermittler ohnehin viel unterwegs war.

Agnes war länger als zuerst geplant bei ihrem Baby geblieben, eine für sie gewaltige Zeitspanne ohne Verbrechensaufklärung, bevor sie vor drei Wochen an ihre Arbeitsstätte zurückgekehrt war, das Kufsteiner Polizeirevier. Sie war mit Leidenschaft Polizistin, mit Hingabe und Ehrgeiz Ermittlerin. Höchste Zeit, sich wieder als Inspektorin Agnes Kirschnagel zu melden. Der Dienst hatte ihr gefehlt. Aber die Doppelbelastung forderte ihren Tribut.

Jetzt rieb sie sich die Augen, lächelte etwas gequält. »Ich bin fit.«

»Ich kann aufs Stanzerl aufpassen, wenn ihr euch beide vielleicht ausruhen wollt.« Mitzi wäre am liebsten zu der Kleinen hingestürzt und hätte sie wieder einmal so lange gebusserlt und gekitzelt, bis Konstanze einen ihrer wunderbaren Lachanfälle bekam. Wenn die Kleine lachte, war für Mitzi die Welt in absoluter Ordnung.

»Meine Eltern haben sich in einer Stunde angekündigt, Mitzi.« Agnes tätschelte Mitzis Handrücken. »Du bist ja ab sofort für deinen Urlaub auf der Donau freigestellt.«

Axel trank seinen Kaffee aus. »Mitzi, ich breche ebenfalls gleich auf. Und könnte dich bis Passau mitnehmen. Der Umweg ist ein Klacks.«

»Lieb, aber is nicht nötig, Axel.« Mitzi schüttelte den Kopf. »Ich geh in Wien aufs Schiff. Nach unserem Frühstück spazier ich zum Bahnhof und erledige die Strecke mit dem Zug.«

Zugfahren war eine weitere von Mitzis Leidenschaften.

Die Strecke zwischen ihrem Wohnort Salzburg und dem Kufsteiner Zuhause der neuen Familie fuhr sie stets mit der Bahn, immer ein Buch zur Hand. Sie war als Babysitterin bei den Eltern willkommen und hätte also ihr düsteres Hobby, die Verbrecherjagd, überhaupt nicht gebraucht. Im Moment drängte sie den Gedanken an Lotte und die Kiste wie auch an Hansi, den Verschwundenen, ohnehin weit nach hinten.

»Ach so.« Axel kratzte sich am dunklen Bart. Seit der Geburt hatten sich einige graue Fäden darin eingeschlichen wie bei Agnes tiefere Falten um die Augen.

»Das Schiff hat schon gestern in Passau abgelegt«, fügte Agnes erklärend hinzu. »Unsere Mitzi wollte vor der Abreise unbedingt noch Konstanze besuchen, deshalb meine Idee zum gemeinsamen Frühstück. Die Tage werden wir ja wirklich einmal komplett getrennt sein.«

Dann, nach einer minimalen Pause, fiel ein Satz, der Mitzi ab der Sekunde immer wieder beschäftigte. »Abgesehen davon ist es höchste Zeit, dass Mitzi und ich auch einmal eigene Wege gehen, sonst wird es wunderlich.«

Mitzi starrte zu Agnes hinüber, öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus. Es wurde wunderlich? Wie war das gemeint? Und wie passte diese Beschreibung zu ihrer innigen Freundschaft?

»Dann bist du nicht einmal eine ganze Woche auf dem Flussschiff?« Axel schnitt sich noch ein Brötchen auf und riss Mitzi aus ihrem Staunen.

Mitzi löste ihren Blick von Agnes und goss sich eine nächste Tasse Kaffee ein. Sie hustete. »Fast eine Woche ohne mein Patenkind. Das is eh schon fast zu lang.«

»Du steigst heute Abend zu?«

»Genau. Von hier aus fahre ich nach Wien und mit den Öffis an die Anlegestelle. Bis sechs muss ich dort sein, das schaffe ich locker. Die Österreichische Bahn is superpünktlich.«

»Ja, ja, im Gegensatz zur Deutschen.« Axel verdrehte die Augen. Damit zog Mitzi ihn regelmäßig auf. »Und was macht die Arbeit? Mit deinem neuen Korrektorat bist du durch, Mitzi?«

»Klar. Es waren gestern nur vier Beiträge. Ab heute nix mehr. Meine Auszeit hab ich angemeldet, das is okay.«

Mitzi verdiente ihre Brötchen mit dem Korrigieren von Texten. Eine auftragsmäßig schwankende freiberufliche Tätigkeit. Doch seit diesem Frühjahr war sie für eine Onlinezeitschrift tätig, die neu auf dem Markt war und für die Mitzi alle Artikel vor dem Erscheinen auf Rechtschreibung und Beistrichsetzung überprüfte. Damit häufte sie kein Vermögen an, aber die Miete und die Nebenkosten waren abgedeckt. Die Zugfahrten von Salzburg nach Tirol finanzierte ihr Agnes.

»Die neue Liebe mit Rudolfo läuft gut? Könnte da mehr daraus –«

»Axel«, Agnes schnitt ihrem Partner das Wort ab, »du verhörst unsere Mitzi regelrecht.«

Auf Axels Wangen zeigte sich eine leichte Röte. »Ich wollte nur auf dem Laufenden sein.«

»Schon in Ordnung.« Mitzi winkte ab. »Rudolfo hat mich auf die Reise eingeladen. Das hätte er nicht gemacht, wenn wir uns nicht super verstehen würden.«

Rudolfo Sommer war Mitzis neuer Freund. Er lebte in Lilienfeld in der Wachau, hatte dort in einer Ferienpension am Empfang eine Stelle als Nachtportier. Mitzi und er hatten sich unter dramatischen Umständen kennengelernt, an die sie ungern dachte. Das einzig Positive daran war Rudolfo gewesen.

Seither führten die zwei eine Fernbeziehung. Noch ein Umstand, der Mitzis Reiselust entgegenkam.

Rudolfo war aber nicht nur im Hotelwesen tätig, zwischendurch ließ er sich auf Flussschifffahrten als Pianist engagieren. Mitzi war begeistert davon und auch von seiner Einladung, ihn auf eine der Reisen zu begleiten.

»Ich kann dich beruhigen, Axel«, sie klopfte ihm auf die Schulter, »ich mische mich in keine fremden Angelegenheiten, sondern kümmere mich um mein Leben. Ganz spießig und stabil. Weit und breit keine bösen Buben, die ich bekehren will.«

Die Notlüge und kleine Schwindelei musste nun einfach sein.

Nach Mitzis Statement warf Agnes ihrer herzensguten, aber oft auch eigentümlichen Freundin Mitzi einen raschen Blick zu. Axel war in Mitzis Spekulationen Lotte und Hansi betreffend nicht eingeweiht.

Eine Weile schwiegen sie alle, selbst Konstanze auf der Decke gab keinen Laut von sich. Aus dem Wohnzimmer war das Rad zu hören, in dem Hamster Jo lief. Entgegen seinen Gewohnheiten als nachtaktives Tier war er heute bei Mitzis Ankunft aufgewacht. In seinem hohen Hamsteralter hatte er anscheinend einen leichten Schlaf bekommen.

Ein laues Lüftchen war zu spüren. Vögel zwitscherten, Bienen summten.

Agnes’ Handy, das zwischen Kipferl, Butter, Käse und Honig plus der Kanne Kaffee auf dem Frühstückstisch platziert war, klingelte und störte die Idylle.

Konstanze hörte mit ihrem Zehenspiel auf und begann direkt zu weinen. Axel und Mitzi sprangen gleichzeitig hoch, was Agnes wiederum zum Kichern brachte.

»Ich glaube, ich werde überhaupt nicht mehr gebraucht«, scherzte sie, während die anderen beiden Richtung Baby starteten.