Und täglich grüßt die MörderMitzi - Isabella Archan - E-Book

Und täglich grüßt die MörderMitzi E-Book

Isabella Archan

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Beschreibung

Spannung & Humor, Kaffee & Killer, Freundschaft & Lebensgefahr – ein absoluter Krimi-Hochgenuss! Ein Bogenschütze versetzt Kufstein in Angst und Schrecken. Agnes, mittlerweile Revierleiterin, steht unter Druck. Mitzi unterstützt sie bei den Ermittlungen und plant gleichzeitig, ein Café zu eröffnen. Doch ihr Leben gerät aus den Fugen, als sie mysteriöse Botschaften von ihrem tot geglaubten Bruder erhält. Ein Netz aus Verdächtigungen und Geheimnissen entfaltet sich – und die MörderMitzi steckt mal wieder mittendrin.

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Seitenzahl: 379

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Isabella Archan wurde 1965 in Graz geboren. Nach Abitur und Schauspieldiplom folgten Theaterengagements in Österreich, der Schweiz und in Deutschland. Seit 2002 lebt sie in Köln, wo sie eine zweite Karriere als Autorin begann. Neben dem Schreiben ist Isabella Archan immer wieder in Rollen in TV und Film zu sehen.

www.isabella-archan.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich ein Rezept, ein Glossar und eine Übersicht über die Schauplätze.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Martin Thomas Photography/Alamy/Alamy Stock Photos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Karte: shutterstock.com/Nook Hok

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-174-4

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Hass ist die furchtbarste, die einfältigsteund die gefährlichste Haltung der Welt.

Ferdinand von Schirach

Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich –aber dann kehrt man zurückmit gebrochenen Flügelnund das Leben geht weiter,als wär man nie dabei gewesen.

Ödön von Horváth, »Kasimir und Karoline«, 1932

Prolog

Er sah aus dem Fenster. Die Eisenstäbe ließen den blauen Himmel in feine Längsstreifen zerschnitten erscheinen.

Sam, dem Auftragsmörder hinter Gittern, war langweilig. Das Gefühl mochte er nicht.

Im Gefängnis zu sein, einzusitzen, machte ihm prinzipiell wenig aus. Er hatte sich schnell eingelebt. Nach seiner Verhaftung hatte es keine Woche gedauert, bis er die Spielregeln kannte und sich durchgesetzt hatte in der Hackordnung, die hier herrschte.

Sein Doppelleben als Killer und braver Familienvater vermisste er nicht. Diese Tür war zugefallen und würde wohl in der Form nie wieder aufgehen.

Er wünschte seiner – inzwischen – Ex-Frau und den Kindern, die mit dieser Enthüllung fertigwerden mussten, alles Gute. Wirklich und wahrhaftig und von Herzen. Die erste schwere Zeit hatten sie überstanden, irgendwann würde der Abgrund, in den sie gefallen waren, weit hinter ihnen liegen. Servus und baba, wie er die Verabschiedung in Österreich gelernt hatte. Und: Pfiat euch!

Was er allerdings vermisste, war eine kalte Dusche in der zurzeit herrschenden Hitzewelle. Im Waschraum wurde das Wasser nie richtig eisig, höchstens laukalt.

Laukalt, ein schönes Wort. Er sammelte Worte, kostete sie eine Weile aus, wandte sie bei Gelegenheit an. Das war geblieben.

Was ihn hingegen richtig schmerzte, war das abrupte Ende seiner Tätigkeit. Nicht das Töten fehlte ihm, sondern das Aufsteigen der Seelen aus der Körperlichkeit. So hatte er den letzten Atemzug jeder Zielperson genannt, wenn sie in seinen Armen darniedersank, den letzten Augenaufschlag, der ihm zu gelten schien. Das Ableben der anderen hatte er stets als heiligen Moment angesehen, sich regelrecht darauf gefreut.

Vielleicht hatte er deshalb so lange diesen Job ausgeübt. Denn eine bezahlte Arbeit war es. Darüber konnte man erzittern, sich ängstlich aufregen oder sogar Zeter und Mordio schreien, aber er hatte gearbeitet für sein Geld. Gezielt zu morden war nie ein Leichtes gewesen, es bedurfte der Organisation, Planung und Geduld, wenn man nicht direkt geschnappt werden wollte.

Nun, er war verhaftet worden. Zwar erst nach Jahren, aber letztendlich hatte es ihn doch erwischt. Ein Urteil war gefällt worden.

Jetzt hockte er hier.

Ein Spatz setzte sich außen auf den Fenstersims. Er pickte gegen einen der Gitterstäbe, was belustigend war.

»Ist dir auch laukalt, Vögelchen?«, fragte er und grinste.

Das zarte Geschöpf ließ ihn einmal mehr an Mitzi denken.

Mitzi vermisste er tatsächlich. Sie, die ihren Anteil an der ultimativen Wende in seinem Dasein gehabt hatte. Wenn er ehrlich war, hatte er ohnehin nie daran geglaubt, dass die Sache zwischen ihnen lange aufrechtzuerhalten gewesen wäre. Bedauern darüber, dass er sie nicht getötet hatte, empfand er erstaunlicherweise nie.

Höchstwahrscheinlich hatte er in Mitzi seine Achillesferse gefunden. Für unverwundbar und unangreifbar hatte er sich gehalten. Im Nachhinein schimpfte er sich für seine Arroganz einen unbelehrbaren Idioten.

Oder Deppen, wie Mitzi sagen würde.

Manchmal träumte er von ihr. Öfter noch sah er sich Fotos an, die ihm regelmäßig geschickt wurden. Ein Mann wie er schaffte es ziemlich rasch, sich im Gefängnis ein Netzwerk aufzubauen.

Eines der Bilder zeigte Mitzi auf einer Bank sitzend. Der Ort war nicht zu erkennen, nur die Frau mit den kurzen blonden Haaren, die ein wenig verwuschelt wirkten. Sie trug eine rote Bluse und eine ausgewaschene Jeans. An den Füßen Sneakers mit roten Streifen. Neben ihr der gelbe Rucksack. Gelb war ihre Lieblingsfarbe, erinnerte er sich. Den Kopf hatte sie leicht erhoben, die Augen aber geschlossen. Nicht wie eine schlafende Person, sondern wie jemand, der denkt oder jemandem zuhört. Die Farbe ihrer Augen war grün, das wusste er. Ein intensives Grün, das einem im Gedächtnis blieb.

Die Hände lagen gefaltet auf ihrem Schoß. Nicht zu einem Gebet, mehr so, als ob Mitzi um etwas bitten würde. Weder das eine noch das andere interessierte ihn. Nein. Faszinierend war der Ausdruck ihrer gesamten Haltung.

Entspannung drückte das aus. Wohlbefinden. Eine Ruhe, die er an ihr zu seiner Zeit nie gespürt hatte. Das Drängende, das Flatternde war verschwunden. Die Schuld, die sie stets umgeben hatte wie ein trauriges Mäntelchen, schien sie abgelegt zu haben.

Und doch. Eines war immer da und übte auf ihn eine Anziehung aus wie beim ersten Mal, als er sie getroffen hatte. Vor so langer Zeit. Wobei das Vergehen von Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und Jahren keine Rolle spielte. Laukalte Gefühle, die sich, einer spiegelglatten Seeoberfläche gleich, nicht änderten. In ihm gab es keinen Sturm, nicht den geringsten Windhauch, bloß die Gewissheit, dass er mit Mitzi noch nicht fertig war.

Er kannte den Tod in all seinen Facetten. Sie jedoch hatte etwas an sich und in sich, das Leben und Sterben verband, sie umschloss im Herzen das Zwischenstück.

Nicht umsonst waren er und Mitzi sich das erste Mal auf einer Brücke begegnet. Auf der Innbrücke in Kufstein. Nachts. Das Wasser des Inns war schwarz, der Sternenhimmel mit silbernen Glitzerscherben übersät gewesen. Die Verkörperungen von Leben und Tod, die sich getroffen hatten.

Schicksalhaft.

Der Spatz plusterte sich auf und flog im nächsten Moment davon.

In der Sekunde wusste er es. Es stand ihm glasklar vor Augen.

Er überlegte. Berechnete, kalkulierte, plante. War es möglich, dass er, wie eben der Spatz, einfach entflog? Entfloh war wohl das passendere Wort.

Ja und nein. Vielleicht doch. Einen Versuch wert. Zumindest würde es ein nächstes Unternehmen gegen die Langeweile sein. Sollte es klappen, dann, ja dann wäre er ein glücklicher und zufriedener Mann.

»Mitzi«, hauchte Sam.

Er blies seinen Atem, in dem ihr Name eingehüllt war, Richtung Fenster. Dort draußen war sie.

I.

PalatschinkenGräuel

Mitzi erinnert sich. Über fünf Jahre ist es her.

Kufstein in Tirol, nachts.

Der Inn, der durch die Stadt rauscht, kann ein wilder Fluss sein. In der besagten Nacht benimmt er sich wie ein wütender Stier. Sein tosendes Wasser wirkt schwarz unter dem Sternenhimmel.

Die Brücke, die über den Inn führt, liegt verlassen.

Nein, nicht ganz.

Im kreisrunden Licht einer der Laternen stehen zwei Männer. Auch das nicht ganz richtig. Ein großer Mann mit einem Cowboyhut steht. Der andere fällt. In das tiefschwarze, wütende Gewässer.

Später wird Mitzi erfahren, dass der Mann mit dem Messer – ja, er hat eines, und er hat es dem anderen in den Bauch gestoßen – ein Auftragskiller ist. Wahrhaftig.

»Sam.«

Immer wenn Mitzi seinen Namen ausspricht, klingt es so, als würde sie auf ein Stück Schokolade beißen, das süß und zugleich scharf ist. Dazu einen heißen, bitteren Nachgeschmack hat, der in der Kehle brennt.

»Sam.«

So heißt der Auftragskiller.

Mitzi kennt seinen Namen, weiß, wie es aussieht, was er getan hat.

Sie hat ihn begleitet, damals. Eine Weile hat sie an seiner Seite einen Abgrund in ihrer Seele ausgelotet. Eine innere Schlucht, an deren tiefster Stelle sie sich selbst fast geopfert hätte.

Das alles nur, weil ihr Spitzname MörderMitzi lautet.

Lang ist es her und doch wie eben erst – Himmel, steh ihr bei!

1

Die Spitze des Pfeils verschwand auf Herzhöhe in der Brust, als würde sie in Marmelade versinken. Der Körper als Zielscheibe begann kurz wild zu schaukeln, hin und her, her und hin.

Die Person auf der anderen Seite der Lichtung, abseits des Wanderwegs, hielt den Bogen gespannt und verharrte einen Augenblick regungslos, bis die Kraft in den Armen nachzulassen begann. Gänsehaut lief ihr über den Rücken, doch das Frieren kam eindeutig von den niedrigen Temperaturen. Spätherbst. Trübes Wetter in den Bergen um Kufstein, erste Nachtfröste. Auch heute zeigte sich die Sonne nicht.

Dem Ziel fehlten Kopf und Beine. Der Torso samt Armen war mit einem festen Seil um beide Achselhöhlen herum an einem stabilen Ast festgebunden. Das Bild ähnelte einer menschlichen Schaukel. Ein Szenario wie aus einem Horrorfilm. Jeder Vorbeikommende hätte nach dem ersten Schreck die Flucht ergriffen.

Ein »Wow« entkam hingegen dem Mund der Person, die geschossen hatte und den Bogen nun sinken ließ. Drei Versuche und einmal fast ins Herz getroffen.

»Nicht schlecht, nicht schlecht, nicht schlecht.« Ein dreimaliges Murmeln folgte, einer Beschwörungsformel gleich.

Die Person kam näher und blieb vor dem Ziel stehen.

Der kopflose Körper bewegte sich immer noch. Er baumelte weiter im Wind des späten Herbstes. Der Ast, an dem er hing, hatte – bis auf eines – alle Blätter verloren. Doch dieses eine leuchtete in einer tiefroten Farbe, die an dunkles Blut erinnerte.

Eine rote Flüssigkeit quoll auch aus dem durch den Pfeil entstandenen Einschussloch, tropfte über das karierte Hemd. Einzelne Tropfen liefen träge bis an den Bund der alten Jeans und verloren sich an der Knopfleiste. Dieses Rot war hell und dickflüssig. Eine geniale Mischung aus Ketchup und dem Lebenssaft einer toten Ratte.

Nun ja, ein paar Tropfen Rattenblut bloß, mehr hatte das Vieh nicht hergegeben, als die Person es zufällig tot in einer Ecke des Kellers entdeckt hatte. Aber es ging mehr um das Symbol des Blutens. Für den heutigen Tag reichte es aus.

»Wow«, wiederholte die Person lauter und staunte eine Weile über die eigene Fertigkeit. »Das haut mich um. Genial!«

Nach nur einem halben Dutzend Einzelstunden im Bogenschießen bei einer Trainerin in den letzten Wochen gelang das Zielen und Treffen wesentlich besser als erträumt.

Wobei die ersten beiden Versuche heute Fehlschüsse gewesen waren, das gehörte ebenfalls zur Wahrheit. Die Pfeile waren jedes Mal an dem Körper vorbeigesaust und auf dem kargen Waldboden der Lichtung gelandet. Sie wurden aufgesammelt und zurück in den Köcher über der Schulter gesteckt. Aber der letzte Abschuss hatte ins Schwarze getroffen, fast genau den Zielpunkt des Herzens. Ließ man das »fast« einfach weg, wurde die Übung mehr und mehr zum Triumph.

Eine Weile blieb die Person unbewegt stehen, konnte sich an dem finalen Erfolg kaum sattsehen.

»Alle Achtung!« Ein eigenes Schulterklopfen folgte. Dazu ein Streicheln über die eigene Wange. Das Material der Latexhandschuhe an den Händen fühlte sich seltsam an. Ein wenig so, als würde jemand Fremdes die Gesten des Lobes und der Zuneigung zuteilwerden lassen.

»Alle Achtung, alle Achtung.«

An der Zahl Drei schien ein Hauch von Magie zu hängen, wie es oft in Märchen beschrieben wurde. Denn auf den Tag genau vor drei Monaten war die Idee entstanden, und vor exakt drei Wochen hatten sich Schicksal und Gelegenheit ergeben, die Sache voranzutreiben.

Zumindest das Vorspiel. Dass noch eine weite Wegstrecke vor der Person lag, war hier und heute, nach dem erfolgreichen Testlauf, völlig in Ordnung. Zeit spielte eine untergeordnete Rolle. Magie und der Glaube an sich und das Vorhaben waren wichtiger.

Wegen der magischen Drei setzte sie auch ein weiteres »Wow!« in die kalte Luft ab. Der Atem stieg auf und hinterließ eine milchige Nebelspur, dem Aushauchen nach dem Zug an einer Zigarette gleich.

»Rauchen, das wär’s jetzt«, sprach die Person den kopflosen Körper an, der am Ast hing. Ein heiterer Klang kam in ihre Stimme, der nicht zum Szenario passen wollte. Heiter und ein wenig gemein hörte es sich an. Nein, sie lachte auf, sehr, sehr gemein. Hinterhältig geradezu. Was hier als Versuchsanordnung aufgebaut worden war, gefiel der Person auf eine perfide Weise ausnehmend gut. Ein wenig schade, dass es niemand sehen konnte.

»Ich hätte mir vorher eine Packung Zigaretten kaufen sollen, meinst nicht?«

Der Blick richtete sich auf die Brust des Torsos, weil es ohne Schädel ja kein Gesicht gab, das man hätte ansprechen können. Das Ganze erschien der Person wie ein genial-infernaler Witz.

»Dann zumindest was Süßes, wenn schon nicht rauchen. Einen Kakao mit Schlagobers. Bist einverstanden? Sag Ja, du Dummerl, du.«

Der leicht baumelnde Körper mit dem Pfeil auf Höhe des Herzens und den inzwischen geronnenen roten Tropfen auf Brust und Bauch gab keine Antwort.

Wie denn, haha. Dachte die Person und lachte wieder, diesmal lauter und länger. In der Stille des späten Herbsttages klang das Lachen eher rau, dem Krächzen eines Raben ähnlich. Auch ein schöner Vergleich. War nicht der schwarze Vogel ein Bote des Todes?

»Ein Kakao, ein Tschick und was Extrasüßes dazu.« Und nach einer kurzen Überlegung. »Du, Dummerl! Ich hab’s: Palatschinken. Das ist es. Genau. Wenn wir hier fertig sind, gehen wir Palatschinken essen.«

Wir, haha. Die Pointe schlechthin. Mit dem kopflosen Körper über der Schulter wären sie wohl eine makabre Sensation in jedem Lokal.

»Palatschinken mit Füllung! Schlag ein. Oder hast was dagegen, Dummerl?«

Natürlich kam kein Widerspruch. Die Person hob beide latexbehandschuhten Hände und stupste den Torso noch einmal an. Das Schaukeln nahm von Neuem Fahrt auf.

»Wir zwei. Ein bisserl noch üben, und wir sind wirklich perfekt. Oder?«

Von oben erfolgte ein lautes Krächzen. Echt diesmal.

Die Person zuckte zusammen. Die perfide Heiterkeit war schlagartig verschwunden. Sie drehte sich einmal im Kreis, ihr Herzschlag gewann an Tempo, und sie hob den Bogen über ihren Kopf, um damit zur Not zuschlagen zu können.

Tatsächlich flog ein Kolkrabe auf und wechselte vom obersten Ast des Baumes auf einen der unteren. »Scheißviech«, zischte die Person ihm zu. »Hau ab!«

Das Tier blieb, wo es war, nicht bereit, seine Position aufzugeben. Vielleicht erhoffte es sich Futter. Zum ersten gesellte sich ein zweiter Kolkrabe.

Die Person gab auf. Es war ohnehin an der Zeit, einzupacken und abzuziehen. Sie umrundete das Ziel, den kopflosen Körper, und zerrte am Stab des Pfeils. Was zur Folge hatte, dass doch noch etwas mehr von der dicken roten Flüssigkeit herauslief. Diesmal floss das Rinnsal über den Bauchbereich hinweg und sammelte sich auf dem Jeansstoff auf der Höhe, auf der das Knie gewesen wäre. Der Fleck dort breitete sich aus.

Und der Pfeil steckte mit der Spitze fest.

»So ein Mist!«

Krächzen und Flügelschlagen folgten, als wollten sich die zwei Vögel über die Bemühungen lustig machen. Ein Moment des Zögerns, dann legte die Person einen neuen Pfeil an, spannte den Bogen und schoss.

Es war ein lächerlicher Versuch. Das Wurfgeschoss sauste weit unterhalb der Kolkraben durch die kahlen Äste, wurde allerdings am Stamm abgelenkt und verschwand in einer Gruppe Sträucher, die hinter einem großen Stein aufragten. Rabe eins breitete daraufhin gemächlich seine Schwingen aus und erhob sich in den grauen Novemberhimmel. Rabe zwei sah die Person von seiner unerreichbaren Position aus mit seinen schwarzen Augen ungerührt an.

»Kruzifix! Der Teufel soll euch holen.«

Die Person blickte sich hektisch um. Der Pfeil war weg.

Also blieb nichts anderes übrig, als ihn zu suchen. Die Person bewegte sich über die Lichtung auf das Gebüsch zu. Einzelne vertrocknete Beeren hingen zwischen braunen Blättern. Steine am Boden, auf denen braunes Moos wucherte, sonst nichts zu erkennen.

Die Person stampfte mit dem Fuß auf und ballte die Finger zu Fäusten. Der Latex spannte sich über die Fingerknöchel. Aufräumen, sauber machen, einpacken, abziehen. Diese vier Schritte sollten jetzt folgen, kein Suchspiel in der Botanik.

Das Auto stand weit weg auf dem offiziellen Parkplatz, zur Sicherheit in der hintersten Ecke, um nicht aufzufallen. Allein das Tragen des Torsos im alten Koffer zur Lichtung hoch war schweißtreibend gewesen. Bogen und Pfeile mitsamt dem Köcher hatten zusätzlich Gewicht. Der Rückweg würde ebenfalls Kraft kosten.

All die Freude und der Stolz von vorhin waren verschwunden. Wegen zwei dummer Raben. Auch sie hätten den Tod verdient.

»Zigarette, Kakao und Palatschinken«, murmelte die Person, während sie sich gebückt und wegen des spitzen Geästs mit Vorsicht durch das Strauchwerk wühlte. Genau diese drei Genussmittel würde sie sich gönnen, wenn alles erledigt und verstaut war.

Nach ein paar Minuten weiterer frustrierender Suche entdeckte die Person mit einem leisen Jubelschrei die roten Federn am Ende des Pfeils. Ihn schließlich herauszufischen, gestaltete sich noch einmal schwierig. Es galt, sich durchzukämpfen. Einer der Latexhandschuhe riss ein. Fluchend, aber schließlich erfolgreich bekam die Person die Federn zu fassen.

Alles war wieder gut.

Leider nur fast. Wieder dieses vermaledeite Wort der Einschränkung.

Denn als die Person endlich unter dem Torso samt Pfeil in der Plastikbrust stand und am Seil zu ziehen begann, merkte sie nicht nur, wie ihr der Schweiß unter der Jacke über den Rücken lief. Auch brannte ein frischer Kratzer an der eingerissenen Stelle am Daumen. All die Vorsichtsmaßnahmen, was Spuren anging, konnten durch dieses Pech zunichtegemacht worden sein.

In dem Moment knackte es laut, nicht oben im Baum, sondern auf der anderen Seite der Lichtung.

Erneut fuhr ein Schrecken in das Herz der Person. Größer diesmal, intensiver. Eine gehörige Portion Angst kam dazu. Das Herz begann nun zu rasen, ein Brausen in den Ohren kündigte die schlechteste aller Optionen im Ablauf an.

Denn es waren keine Vögel, die neugierig störten, sondern tatsächlich ein Mensch auf dem Pfad vor dem Wäldchen, der sich seinen Weg bahnte. Eindeutig Schritte.

Gleich würde sich der Störenfried zeigen.

Die Person erstarrte. In ihrem Kopf aber startete das weitere Szenario.

Was war zu tun?

Sich zeigen und das Ganze zum makabren Scherz erklären war so gut wie ausgeschlossen. Obwohl es interessant gewesen wäre zu sehen, wie ein Fremder oder eine Fremde auf diese Inszenierung reagieren würde. Schreiend davonlaufen würde der zufällige Besuch, dessen war sich die Person sicher.

Denn alles wirkte, zugegeben, grausig.

Selbst weglaufen.

Die einzige verbleibende Möglichkeit.

Obwohl das hieße, dass der am Baum baumelnde Plastikkörper samt Pfeil zurückgelassen werden musste. Welche Konsequenzen würde das haben?

Auf jeden Fall weniger gravierende, als wenn der Mensch, der in den nächsten Sekunden auftauchen würde, die Person genau beschreiben könnte.

Herrgott, sakra und alle Scheiße auf einmal, dachte die Person. Sie schulterte den Bogen, umklammerte den Gurt des Köchers und stieg beherzt einen Abhang auf der anderen Seite hinunter, der in ein Waldstück führte. Über einen weiten Umweg wäre der Parkplatz wieder erreichbar.

Noch bevor der oder die Wandernde den Schauplatz betrat, kam der erste Kolkrabe zurück. Setzte sich auf den obersten Ast, krächzte dem zweiten zu.

Es schien, als würden die beiden den weiteren Verlauf mit Interesse verfolgen.

2

Mitzi hatte das Mädchen schon die ganze Zeit über beobachtet.

Es war erst vor knapp zehn Minuten in Linz am Hauptbahnhof in den Zug eingestiegen und lief nun bereits das vierte Mal durch das Abteil. Davor stand es jedes Mal aufs Neue an der Schiebetür und schien darauf zu warten, dass die Toiletten frei würden. Wenn einer der Mitreisenden gerade seinen Platz verlassen hatte, setzte es zur nächsten Durchquerung an.

Dann war es so weit. Schneller, als Mitzi ihn erwartet hatte, startete der versuchte Diebstahl.

Ein Mann, der sich entweder die Beine vertreten, auf Toilette gehen oder sich einen Kaffee holen wollte, hatte seine Tasche auf dem Nebensitz liegen gelassen. Unklugerweise, musste man sagen. Denn das Mädchen setzte sich, wie selbstverständlich, genau dort auf die Kante, zog rasch den Reißverschluss auf und spitzte hinein.

Mit drei großen Schritten stand Mitzi neben ihr. »Suchst du was?«

Draußen war es ziemlich neblig, was die vorbeiziehende Landschaft in ein undurchsichtiges, fremdes Gebiet verwandelte. Sie fuhren nicht mehr durch Oberösterreich, sondern die Bahn hätte auch Avalon durchqueren können. Oder Mittelerde. Ein Gedanke, der Mitzi gefiel. In Linz hatte sie sich gestern Abend ein Theaterstück angesehen, dann im Hostel übernachtet. In der Inszenierung des »Sommernachtstraums« von Shakespeare hatten ebenfalls magische Gestalten die anderen Figuren beeinflusst.

Das Mädchen sah hoch. Ihre Augen waren grün wie Mitzis eigene. Ihr Haar allerdings dunkelbraun und nicht blond. Mitzi schätzte den Teenager auf maximal fünfzehn, wenn nicht jünger.

»Nix. Wollt mich nur einmal setzen. Steig gleich in St. Valentin aus.« Kein Erschrecken im Gesicht, keine Furcht, nur eine minimale Irritation war der Kleinen anzumerken.

»Gehörst du zu dem Herrn, der eben kurz weg is?«

Der Zug ruckelte. Mitzi hielt sich an der Sitzlehne fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie hatte sich vor den Zweiersitz gestellt, sodass das Mädchen nicht aufspringen und die Flucht ergreifen konnte. »Brauchst du was dadraus? Gehört die Tasche am Ende dir?«

»Nein. Weder noch.« Langsam wurde das Mädchen sichtlich nervöser. »Ich hab mich bloß hing’setzt. Mehr nicht.«

»Und der Reißverschluss?«

»War schon offen.« Es fuhr sich durch das dunkle Haar. »Darf ich bitte wieder aufstehen? Ich möchte raus.«

»Nicht hudeln.« Mitzi dachte nicht daran lockerzulassen. »Bist du allein unterwegs?«

»Im Speisewagen sitzt die Mama. Dort will ich hin.«

»Ich hab gedacht, du steigst gleich aus?«

»Ja, eh.« Der Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Belästigen Sie mich nicht. Sonst ruf ich.«

»Wen? Den Schaffner?«

»Nein. Nur so. Ich hab eine laute Stimme, wissen Sie.«

Mit einem Augenzwinkern beugte sich Mitzi zu der Kleinen hin. Ohne sie anzufassen, aber ganz nah an ihr Gesicht. »Wetten, dass ich lauter sein könnte.«

Erst jetzt entdeckte Mitzi die Bauchtasche, die der Teenager sich unter der Jacke um die Hüften gebunden hatte. »Hör mir zu. Ich bin die Mitzi. Und du?«

»Sag ich nicht.« Das Mädchen zog die Mundwinkel nach unten. »Woher weiß ich denn, ob Mitzi überhaupt Ihr Name is?«

»Maria Konstanze im Ganzen. Mitzi im Kurzen. MörderMitzi als Nickname.«

Das brachte die Kleine zum Schmunzeln. »Wie Sie reden, is komisch. Auch, was Sie sagen.«

»Stimmt. Aber jetzt du.«

»Okay. Ich bin die Lilly. Aber Ihnen zuhören is blöd. Mag ich nicht.«

»Das is mir ziemlich wurscht.« Mitzi wechselte zu einer gewissen Strenge. »Wenn ich dir ganz kurz und knapp was sagen darf, Lilly. Danach kannst du gehen, ohne dass ich selbst den Zugbegleiter verständige. Okay?«

Lilly sah auf ihre Knie und zeigte nun einen Schmollmund, nickte aber.

»Pass auf.« Mitzi holte Luft. »Als ich sieben war, hab ich den Campinggasherd im Blockhaus meiner Familie aufgedreht. Ich wollte Spaghetti kochen für uns alle, dann aber hat mich eine Spinne erschreckt. Ich bin weggelaufen, das Gas is ausgeströmt. Es hat eine Explosion gegeben, ein Feuer, und alle sind gestorben. Mama, Papa und mein kleiner Bruder Benni. Meine Schuld.«

Lilly hob den Blick wieder. Er drückte Skepsis aus. »Was, echt? Wild.«

»Ja, echt. Und voll wild.« Mit einem Seufzen machte Mitzi weiter. Bis zur nächsten Station blieben ihr nur wenige Minuten. »In der Volksschule hat man mich deshalb MörderMitzi gerufen.«

»Klingt eher cool, würd ich sagen.«

»Nein. Überhaupt nicht, Lilly. Sondern bös. Ganz bös. Jedenfalls bin ich bei Oma und Opa aufgewachsen. Die sind inzwischen auch gestorben, nicht meinetwegen, Gott sei Dank. Aber darauf will ich nicht hinaus. Sondern dass ich glaube, dass jeder Mensch, auch nach Schicksalsschlägen, es in der Hand hat, wie sein Leben ausschauen soll. Ich hab oft total viel Blödsinn gemacht. Ich bin mit einem Auftragskiller quer durch Österreich gefahren.«

»Das denkst du dir aus.« Lilly duzte Mitzi, ohne es zu merken. Mehr und mehr schien sie Mitzis Geschichte in den Bann zu ziehen. »So was gibt es nicht.«

»Klar gibt es Auftragsmörder.«

»Das ja. Aber niemals, dass du mit einem unterwegs warst, Mitzi.«

»Ich schwör es dir, Lilly.«

»Der war nicht echt.«

»Oh, der war echt. Hat ein paar Menschen abgemurkst. Ich wollt ihn bekehren, ähnlich wie dich heut.«

»Mich? Ich stehl doch nur. Ehrlich!« Das Mädchen legte sich die Hand ans Herz. Eine rührende Geste, wie Mitzi fand. »Ich tu niemandem was.«

»Das brauchst du nicht extra zu erklären, Lilly. Das is doch klar. Aber vielleicht hat auch Sam – so heißt der – früher einmal bloß mit Stehlen angefangen, ich weiß es nicht. Am Ende wurde er jedenfalls verhaftet und verurteilt. Hat ebenfalls mit mir zu tun, wäre heut aber zu lang, um es zu erzählen. Kürzlich is er jedoch leider wieder ausgebrochen. Vielleicht sucht er nach mir. Gut möglich.«

»Die G’schicht haben Sie grad eben erfunden.« Unvermutet ging Lilly wieder zum Sie über. »Oder?«

Rasch hob Mitzi Zeigefinger und Mittelfinger zu einem V hoch. »Bleib ruhig beim Du, Lilly. Hoch und heilig schwör ich, meine Begegnung mit Sam is wahr.«

»Mega. Wow.«

»Dann aber hab ich meine beste Freundin kennengelernt. Die is Inspektorin.«

»Scheiße.« Lilly zuckte zurück und reckte den Kopf nach oben, um nachzuschauen, ob Mitzi vielleicht doch nicht allein war.

»Die is nicht im Railjet, keine Bange.« Mitzi winkte ab. »Hör mir zu: Agnes war der Anstoß, dass ich mich verändert hab. Zum Positiven. Ich wohn jetzt in Salzburg, arbeite als Korrektorin für eine Zeitschrift und hab einen Freund, den Rudolfo. Der lebt aber in Lilienfeld. Es is eine Fernbeziehung, was mir entgegenkommt. Dazu die Agnes in Kufstein. Drei wunderschöne Orte, zwischen denen ich pendle. Mir geht’s ziemlich gut. Also, wenn du Hilfe brauchst, weil du von jemandem gezwungen wirst zu stehlen, steig ich mit dir aus, und wir überlegen, was wir am besten tun.«

Ein Kichern von Lilly unterbrach Mitzis Rede. »Du bist ja lustig. Aber auch irgendwie nett. Nein, mir geht’s gut. Ich frisch hin und wieder mein Taschengeld auf. Verkauf was auf eBay. Nix Schlimmes is dadran. Bitte, verpfeif mich nicht, ja?«

»Darum geht es nicht, Lilly. Du musst damit aufhören.«

»Was, wenn nicht? Ich werd dich nie mehr wiedersehen, Mitzi.«

»Höchstwahrscheinlich nicht, Lilly. Aber du wirst an mich und meine Geschichte denken. Ab sofort jedes Mal, wenn du wieder was fladern willst. Ich wette, ab einem gewissen Punkt macht es dir keinen Spaß mehr.« Mit dem Zeigefinger deutete Mitzi Richtung Tasche. »Und niemand kann sagen, ob der Mann, der eben weg is und aus dem seiner Tasche du was stibitzen willst, nicht auch ein zweiter Sam is. Ein Killer eben. Ich wär vorsichtig.«

Die Durchsage ertönte. Der Zug wurde langsamer. Das Mädchen stand auf. »Ich muss wirklich raus.«

»Mach’s gut, Lilly. Servus und baba.« Mitzi gab den Weg frei.

Die Kleine huschte zurück Richtung Ausgang. Mitzi sah Lilly hinterher. An der Schiebetür traf das Mädchen auf den Mann, der gerade zurückkam. Er nahm Lilly überhaupt nicht wahr. Die drehte sich auch nicht mehr zu Mitzi um.

Mitzi setzte sich in Richtung ihres Platzes in Bewegung. Einmal in St. Pölten in den Bus umsteigen, noch eine Stunde fahren, und sie würde Lilienfeld erreichen.

Dort wartete ihr Freund, Rudolfo. Mit einer überraschenden Idee, wie er ihr getextet hatte. Mitzi freute sich auf ihn und seinen neuen Lebensplan. Es ging um ein Café, so viel wusste sie bereits.

Alles andere, was sie dem Mädchen erzählt hatte, stimmte haargenau. Weggelassen hatte sie, dass Rudolfo ein Springmesser besaß, von dem sie als seine Freundin nur durch einen Zufall wusste. Noch hatte sie ihn nicht danach gefragt, aber der Zeitpunkt würde kommen.

Und Sam? Mitzi hatte in den letzten Wochen mehrfach gegrübelt, ob sie sich auch eine Waffe zulegen sollte, falls der Auftragsmörder ein Wiedersehen mit ihr plante. Aber Mitzi mochte Waffen nicht, allein eine anzufassen, verabscheute sie.

Jemand fasste sie am Unterarm.

Erschrocken fuhr Mitzi zusammen. Doch es war nur eine ältere Dame, die eine Reihe vor dem Mann mit der Tasche ihren Sitz hatte.

»Ich hab gelauscht«, sagte sie mit einem unfassbar interessierten Gesichtsausdruck. »Das alles war erfunden, geben Sie’s zu. Oder?«

Mitzi schenkte ihr ein geheimnisvolles Lächeln, mehr nicht.

3

»Ich bin heilfroh, dass wir die Schlagzeilen nicht haben: ›Fassadenkletterer überfällt bereits viertes Ehepaar in Kitzbühel.‹« Bastian kam mit seinem iPhone zwischen den Fingern zu Agnes’ Schreibtisch hinüber. »Sie schreiben, dass die dortigen Kollegen massiv beschimpft werden. Nix geht weiter.«

Im Großraumbüro dominierte eine ziemliche Schwüle. Die Heizung war seit dem Morgen zum ersten Mal in diesem Spätherbst gestartet worden und ließ sich momentan nicht regulieren. Im Raum herrschten Sommertemperaturen.

Agnes wirbelte mit ihrem Drehstuhl einmal im Kreis, das verschaffte einen Hauch von Kühle. In der einen Hand hatte sie die Wochenzeitung für die Region Kufstein, mit der sie sich zusätzlich Luft zufächelte. »Dafür haben wir diese andere prekäre Nachricht, die zum Glück bisher nicht mit Kufstein in Verbindung gebracht worden ist. Aber die unserem Sepp nicht gefallen wird. Das vermasselt dem Chef noch die Abschiedsfeier.«

»Du bist der Boss.«

»Noch ist der Sepp nicht weg. Erst feiern wir, dann will er ein paar ungeklärte Fälle bearbeiten, und erst danach geht er in den Ruhestand. Bis du mich Chefin nennen kannst, wird’s noch dauern, Basti.«

Agnes fragte sich, ob es ein Problem sein würde, dass sie – a – mit Inspektor Bastian Klawinder bei ihrem Start am Kufsteiner Polizeirevier ein kurzes Gspusi gehabt und er – b – nicht die Leitung angetragen bekommen hatte, obwohl er länger Dienst tat als sie. Inständig hoffte sie, dass er und die Kollegenschaft es ohne Murren akzeptieren würden, dass die noch nicht einmal dreißigjährige Agnes Kirschnagel bald das Sagen haben würde.

»Darf ich dich auch Bossin nennen?« Bastian machte wieder einmal seine Scherze. »Vielleicht noch besser: Bossierende, haha.«

»Bastian. Es reicht. Lass uns zum Wichtigen kommen.«

Der immer noch brandaktuelle Ausbruch setzte Agnes zu.

Seit Wochen war der Auftragsmörder und Serientäter Hannes Delgau wieder auf freiem Fuß. Sam, wie er sich in seinen aktiven Zeiten genannt hatte. Sam war ausgebrochen aus der JVA in Köln, wo er einige Jahre eingesessen hatte. Lebenslänglich. Mit besonderer Schwere der Schuld. Zumindest war er dazu rechtskräftig verurteilt worden. Niemand hatte mit einer gelingenden Flucht gerechnet.

Der gefährliche Verbrecher, der in Kufstein verhaftet worden war, konnte nun überall sein. Zwar nahm Agnes nicht an, dass er sich erneut nach Österreich abgesetzt hatte, aber mit Sicherheit behaupten würde es keiner. Weder die deutsche Polizei noch das Landeskriminalamt in Wien, über das Agnes verständigt worden war. Ein internationaler Haftbefehl war ausgestellt worden, doch das bedeutete nicht viel.

Der Auftragsmörder, der unter dem einfachen Tarnnamen Sam durch die Lande gereist war und Dienste erledigt hatte, war jahrelang unter dem Radar der Behörden geflogen. Bis heute kannten die Ermittler nicht alle Identitäten, die er im Laufe seiner mörderischen Karriere verwendet hatte. Agnes ging davon aus, dass er direkt nach seinem Ausbruch eine nächste falsche angenommen hatte.

»Dass der Kerl g’schafft hat zu entkommen, is unglaublich, find ich. Wer hat da geschlampt?«, wiederholte Bastian die Frage, die sich nicht nur die Behörden stellten. »Im Netz wird wild spekuliert. Schon sehen wieder einige eine Verschwörung. Andere Korruption. Es gibt sogar welche, die bewundern solche Leut.«

Agnes drehte mit dem Sessel eine weitere Runde und verdrehte die Augen. »Er hat sich von einem Mitinsassen verletzen lassen und ist aus der Krankenstation verschwunden. Anzunehmen, dass er dort ebenfalls einen Helfer hatte. Aber die Ermittlungen laufen ja auf Hochtouren. Ich muss mich beherrschen, damit ich nicht ständig im Intranet der deutschen Polizei die neuesten Informationen abrufe.«

»Kruzifix.« Bastian stieß einen Fluch aus. »Wie in einem verdammten Actionfilm.«

Beim Stichwort Film musste Agnes an ihre Freundin Mitzi denken, die Filme aller Genres und Bücher aller Art liebte und wie keine Zweite darin versinken konnte. Nur durch ihre Mithilfe war es damals gelungen, Sam dingfest zu machen. Obwohl sich Mitzi immer noch mutig und angstfrei gab, war Agnes in Sorge um sie.

Dass Mitzi Verbrechen und Verbrecher anzog wie das Licht die Motten, war Agnes schon beim ersten Zusammentreffen schnell klar geworden. Doch bisher hatten sie beide es immer wieder geschafft, sich mehr und minder heil aus gefährlichen Situationen herauszuschaufeln.

Wenigstens hatte Mitzi viel dazugelernt und sich weiterentwickelt. Bei all dem Trauma, das sie seit ihrer Kindheit mit sich herumschleppte wie einen Rucksack voller Steine, ein kleines Wunder. Sich allerdings, jederzeit bereit, dem Unrecht entgegenzustellen und zu versuchen, die bösen Buben und Mädels dieser Welt auf rechte Pfade zurückzuführen, war immer noch Mitzis Passion, ja auch Berufung. Aber ihre Naivität hatte sich zum Glück in einen gesunden Selbsterhaltungstrieb umgewandelt.

Sollte sich also Sam wieder Mitzi annähern, wie er es schon einmal getan hatte, würde sie keine Sekunde zögern und die Polizei verständigen. Sprich: Agnes. Zumindest wollte Agnes fest daran glauben. Am besten, ihr Glaube würde nie unter Beweis gestellt und der entflohene Mehrfachmörder machte einen großen Bogen um Mitzi. Und um Kufstein ebenfalls.

Die Gedankenschleife endete wie die Drehung des Bürostuhls wieder vor Bastian.

»Ernsthaft, Basti. Zurück zu deinen witzigen Anwandlungen. Nenn mich nie Bossierende oder sonst was Komisches. Das untergräbt meine Autorität. Ich brauch von dir vor allem anderen Unterstützung.«

»Nur unter uns, BossHoss.«

»Hör auf. Sonst verdonnere ich dich dazu, mich zu siezen und mit Frau Inspektor anzusprechen.«

»Revierinspektorin Frau Kirschnagel … Du wirst nicht mehr bei uns im Großraumbüro hocken, sondern im Chefzimmer. Und ich werd anklopfen müssen, wenn ich dir was mitteilen möcht. Alles neu mit der Agnes.«

Es stimmte. Sepp Renner, ihr Noch-Vorgesetzter, hatte Agnes erst gestern erzählt, dass der Raum vor ihrem Einzug frisch gestrichen werden würde. Die Beförderung würde dazu eine Titeländerung mit sich bringen. Plus mehr Gehalt.

Nicht dass Agnes es wegen des Geldes machte. Ihr Ehrgeiz verband sich mit dem tiefen Bedürfnis, Kriminalfälle aufzuklären, das Recht über die Untat gewinnen zu machen.

Ihre Beförderung hatte sie bereits mit ihrem Lebensgefährten diskutiert. Erst danach zugesagt. Axel Brecht, der Vater ihrer kleinen Tochter, war Privatdetektiv. Für sie war er aus der Domstadt Köln in die Alpenregion gewechselt, sein Büro in Nordrhein-Westfalen hatte er seinem erwachsenen Sohn Patrick aus einer früheren Beziehung übergeben. Er arbeitete seither hauptsächlich von zu Hause aus, recherchierte im Netz und war dabei, sich auf Onlinebetrugsmaschen und deren Verfolgung zu spezialisieren.

Somit war die süße kleine Konstanze durch ihren Papa meist gut versorgt, während Mama ihren Dienst tat. Dazu kam Mitzi, die Patentante, die in Notzeiten jederzeit mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht bereit war, als Babysitterin einzuspringen.

Mitzi und ein weiteres Mal Mitzi – manchmal sinnierte Agnes mehr über Mitzi als über jede andere Person in ihrem Leben.

»Zurück zu diesem Sam.« Bastian schien fasziniert zu sein. Er scrollte durch das Netz und all die Tausenden Beiträge, die dort zu sichten waren. »Meinst, wir sollten unsere Truppe aufstocken? Drei oder vier mehr von uns? Wär nicht schlecht.«

»Keine Chance bei dem Budget. Einer oder eine höchstens, Basti. Sepp Renner hat es schon versucht die letzten Jahre. Fachkräftemangel und Sparmaßnahmen. Damit muss ich mich demnächst auch herumschlagen.« Mit einem Seufzen unterstrich Agnes die Mühen ihrer Beförderung, um bei Bastian jeden Neid im Keim zu ersticken. »Mehr Beamte prinzipiell und jederzeit gern, aber im Fall Sam würde es nichts bringen. Und zaubern, was neue Stellen angeht, können weder Sepp noch ich.«

»Schind kein Mitleid, Agnes. Du hättest die Beförderung ablehnen können. Jetzt bist du verantwortlich, wenn unter den Touristen vielleicht bald ein Auftragskiller herumschwirrt.«

»Bitte verschrei es nicht.« Sie klopfte auf das Holz der Schreibtischplatte. »Was mich zu der Sache bringt, die in unserer unmittelbaren Nähe geschehen ist.«

»Du meinst den Irren, der mit einem Pfeil die lebensgroße Puppe beschossen hat. Ohne Kopf und ohne Beine. So was hab ich auch noch nicht erlebt, seit ich hier bin.«

»Du warst ja dort oben im Wald. Wie schaut’s aus? Ich hab deinen Bericht nicht gefunden.«

»Weil ich ihn noch nicht geschrieben hab. Der Kollege aus Erl hat mich bei der Sache um Beistand gebeten, mit dem muss ich mich noch absprechen. Er hat sogar ins LKA nach Innsbruck eine Meldung abgegeben.« Er kratzte sich am Kopf. »Aber Folgendes, Agnes. Die Puppe war an einem Baum auf einer Lichtung befestigt. Abseits des Wanderwegs, unterhalb der Altkaser Alm. Weißt, der Aufstieg, der zum Spitzstein hochführt. Wo du über den Inn schauen kannst, den Chiemsee im Rücken.«

»Kenn ich. Ist sehr beliebt und meistens gut besucht. Kaum zu glauben, dass sich einer traut, dort ein solches Szenario aufzubauen.«

»Der oder die, falls es mehrere waren, was ich annehme, haben sich ein schön verstecktes Eckerl ausgesucht. Dazu is das Wetter im Moment nicht sonderlich gut zum Wandern. Da, die Fotos vom Tatort.« Er hielt Agnes sein Handy unter die Nase. »Du kannst auch selber hoch. Die Kollegen sind noch dabei, diese Installation abzuräumen. Wenn ich anruf, warten sie auf dich.«

»Unglaublich. Und ekelhaft.« Sie wischte über das Display. »Wenigstens ist niemand zu Schaden gekommen. Gibt es Zeugen?«

»So abseits wirken die Bäume und das hohe Gebüsch wie ein Sichtschutz. Die haben die Puppe mit dem Pfeil in der Brust und dem roten Sirup ganz unbemerkt aufhängen können. Ich tipp bei der Flüssigkeit auf Ketchup, riecht ein bisserl danach. Könnte aber auch Tierblut sein. Hoffentlich nicht von einem Menschen. Mal schauen. Eine Probe davon wird untersucht werden. Makaber, echt. Wenn sich nicht eine Wanderin hätte erleichtern wollen, ganz versteckt, wär es überhaupt nicht entdeckt worden.«

»Wozu überhaupt?«

»Ein Gag für ein TikTok-Video? Für ein schräges Selfie? Eine Challenge?« Bastian zog die Schultern hoch. »Ein alter Rollkoffer war auch noch da. Ich geh davon aus, dass sie gestört worden sind. Also, wenn es mehrere waren.«

»Du wirst recht haben, Basti. Warum sollte einer allein auf so eine Idee kommen?« Agnes schüttelte ihrerseits den Kopf. »Vielleicht wollten die alles wieder abbauen, bevor es jemand findet. Haben es nach einer Feier vielleicht spaßig gefunden, so was zu machen.«

»Denk ich nicht, Agnes. Zu viel Aufwand, als dass es spontan gewesen sein könnt. Auf jeden Fall war’s schaurig.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Der rote Sirup, aus was auch immer, war in eine Kapsel gefüllt, die im Brustkorb gesteckt hat. Deshalb hat es auch zuerst wie echtes Blut ausg’schaut. Die Wanderin hat den Schrecken ihres Lebens bekommen, weil sie gedacht hat, da hängt eine echte Person. Ich hab ihre Personalien und ihre Aussage aufgenommen und sie dann gehen lassen. Zu einem Arzt wollte sie nicht. Ihr Mann war bei ihr, der hat die Polizei angerufen. Jetzt sind die zwei in ihrer Unterkunft. Vielleicht war es doch nur ein Spaßvogel, der mit Absicht die Szene aufgebaut und sich dabei lässig g’fühlt hat. Es gibt mehr Spinner, als man denkt.«

»Und konnten schon Spuren gesichert werden?«

»Wie gesagt, die sind noch oben und arbeiten. Mit Fußabdrücken wird’s schwierig, weil es dort steinig is. Von der Puppe wissen wir nicht genau, wie lange die da schon gehangen hat. Lang nicht, weil die rote Flüssigkeit nicht völlig eingetrocknet war. Wir werden am besten alles herunterbringen. Eine Probe der Flüssigkeit und den kopflosen Körper mit dem Pfeil verfrachten wir nach Innsbruck. Ebenso den alten Koffer. In dem is die Puppe höchstwahrscheinlich transportiert worden. Auch wenn es sich nicht um ein wahres Verbrechen handelt, sondern nur um den Mord an einem Plastikmenschen.«

»So eine Inszenierung ist eine Straftat. Vandalismus. Erregung öffentlichen Ärgernisses. Sollte es Blut von einem Tier sein, werden wir gegen unbekannt wegen Tierquälerei ermitteln. Ganz abgesehen davon, dass wir die Puppe als illegal abgelegten Müll deklarieren können. Gut gemacht, Basti. Wenn du den Bericht fertig hast, lese ich ihn durch. Weil du ohnehin alles im Griff hast, muss ich nicht auch noch hinauf. Genauso wäre ich auch vorgegangen.«

»Danke, baldige Chefin. Den richtigen Ton hast du bereits drauf.«

»Ich wollte nicht …«

»Ach, Agnes. Dich kann man schön aufziehen.« Bastian kam spontan ganz nah zu Agnes hin und drückte ihr unerwartet einen Kuss auf die Wange.

Sie bog sich zurück. »Was war das jetzt, Basti?«

»Das Bussi ist für dein Töchterl, gib’s weiter.«

Auf Bastians Wangen zog ein rötlicher Glanz auf, er kehrte Agnes den Rücken zu und ging rasch Richtung Tür. »Ich muss zum Erler Kollegen, der wartet. Pfiat di, Agnes.«

»Tschau, Bastian.«

Agnes setzte zu einer dritten Drehung an. Und stoppte im Ansatz ab.

Wäre es möglich, dass diese Installation im Wald, diese Puppe mit einem Pfeil im Körper, etwas mit Sam zu tun hatte?

Nein, widersprach sie sich ohne Zögern. Ein dummer Streich eines sehr dummen Spaßvogels. Oder eben mehrerer Spaßvögel. Davon gab es auf der Welt genug.

Einmal mehr meldete sie sich im polizeilichen Intranet an, um einen möglichen Fortschritt bei der Fahndung nach dem Auftragsmörder nachzulesen.

Noch kein Erfolg.

Trotz der Schwüle im Zimmer fröstelte es Agnes auf einmal doch.

4

Es war nach sieben Uhr abends, als Agnes schließlich zu Hause ankam. Obwohl ihr Kollege Bastian Klawinder den merkwürdigen Fall der aufgehängten Puppe mit dem Pfeil in der Brust übernommen hatte, war sie wegen einer anderen Sache nicht bei Dienstschluss fertig gewesen.

Ein aufgewühlter Mann war im Revier erschienen und hatte steif und fest behauptet, er hätte oben auf der Festung, im Freiareal, einen Leoparden gesichtet. Das Handyfoto dazu war verschwommen, weil der Mann laut eigener Angabe stark gezittert hatte, und hätte auch die Abbildung einer aufgeplusterten Picknickdecke im Leopardenmuster sein können.

Agnes erinnerte sich an eine ähnliche Geschichte aus Deutschland im vergangenen Sommer. Da hatten ganze Hundertschaften an Polizeibeamten nach einer Löwin gesucht, die sich am Ende als Wildschwein herausgestellt hatte.

Es war allerdings die falsche Jahreszeit für eine Sommerloch-Story, und Agnes hatte sich sofort bereit erklärt, der Sache auf den Grund zu gehen. Auf eine Räumung hatte sie nach Rücksprache mit ihrem Noch-Chef, Revierinspektor Sepp Renner, verzichtet, um eine Panik wie auch einen Auflauf von Journalisten und Schaulustigen zu vermeiden.

Zwei Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr hatten Agnes begleitet. Kurz vor siebzehn Uhr waren sie mit der Panoramabahn hochgefahren. Beim Tiefen Brunnen, im Felsengang und auch im Nutz- und Kräutergarten waren die gefährlichsten Tiere ein paar Spatzen gewesen. Trotzdem waren sie mehrfach das Außen- sowie Innengelände samt den Museen abgelaufen. Nach über einer Stunde ohne Ergebnis waren sie wieder abgerückt.

Jetzt freute sich Agnes auf eine Dusche, auf einen Gute-Nacht-Kuss von ihrer Tochter und eine Umarmung von ihrem Lebensgefährten. Ruhe und Feierabendidylle.

Aus dem Garten drang fröhliches Quietschen von Konstanze, dazu Gelächter von einem Mann und einer Frau. Was bedeutete, dass die Abendroutine abgesagt war. Wer, wenn nicht Mitzi, würde sonst zu einem Überraschungsbesuch auftauchen!

Allerdings gab es einen zusätzlichen Laut, den Agnes mit Verwunderung wahrnahm: Hundegebell. Hatte sich Mitzi ein Tier zugelegt? Vielleicht, um sich von dem Gefängnisausbruch des Auftragsmörders abzulenken und gleichzeitig zu schützen. Doch davon hätte Agnes längst gewusst, Mitzi hätte kein anderes Thema mehr gehabt. Oder sie hatte auf dem Weg einen Streuner gerettet, was gut zu ihr passen würde.

»Was ist denn hier los?« Agnes schlug einen strengen Ton an, der im allgemeinen Lärm unterging. »Patentante Mitzi und ein fremder Hund?«

»Fremd? Er ist da, Liebling«, rief Axel, während Konstanze, bereits in ihrem Schlafanzug, auf Mitzis Arm freudig krähte und der Hund weiterbellte.

Er war ein schwarzes Knäuel mit ein paar weißen Flecken im Fell, einem stürmisch wedelnden Schwanz und dunklen Augen. Kläffend umrundete er die Dreiergruppe und versuchte an Mitzi hochzuspringen.

Axel strahlte. »Ich konnte Rio schon heute abholen. Zwei Wochen vor der geplanten Übergabe. Wir haben unseren Hund. Toll, oder, Agnes?«

»Und es steht fest: Ich werde Besitzerin eines Cafés«, eröffnete eine Sekunde darauf Mitzi mit einem Juchzer. »Ich werde es nach meiner Oma benennen: Café Therese. Was sagst du, Agnes?«

Plötzlich musste Agnes an den vermeintlichen Leoparden denken. Und an die Fotos von dem Torso am Baum mit dem Pfeil und dem Ketchup. Vor ihr drehte sich der Garten. Sie musste sich rasch auf einen der Gartenstühle setzen. Sofort kam der Hund zu ihr und leckte an ihrem linken Schuh.

»Liebling, alles in Ordnung?« Als Nächster war Axel bei ihr, kniete sich neben sie hin.

»Zu viel Information und zu viel Chaos.« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin ja noch nicht einmal ganz zu Hause angekommen.«

Der Hund. Natürlich. Länger schon hatten sie sich dazu entschlossen, beim Tierschutzverein einen für die kleine Familie zu suchen. Vor allem, nachdem Agnes’ geliebter Hamster Jo gestorben war. An Altersschwäche und nach einem langen, erfüllten Hamsterleben, aber tief betrauert von seinem Frauchen und auch von Mitzi.

Axel hatte die Suche nach einem neuen Haustier übernommen und war beim Tierschutzverein Tirol fündig geworden. Rio, ein einjähriger Mischlingsrüde, der abgegeben worden war, sollte der Richtige für sie sein. Dass er bereits heute in ihr Zuhause eingezogen war, war wirklich eine ziemliche Überraschung.

»Rio passt nicht zu ihm«, stellte Mitzi ohne Umschweife fest. »Der muss anders heißen.«

»Das habe ich auch überlegt.« Axel nickte. »Agnes soll den Namen aussuchen.«

Konstanze deutete erst auf den Hund, dann streckte sie die Arme nach ihrer Mutter aus. »Wau, wau. Mam. Hundi bellt, Mam.«

Nicht Mama, nicht Mami, sondern Mam. Trotzdem ein Wort, das Agnes, seit Konstanze es zum ersten Mal ausgesprochen hatte, mit Seligkeit erfüllte. Kaum auf Agnes’ Schoß, sah das Kind zu Mitzi hoch und sagte: »Mimi, Bussi.«

Mitzi klatschte. »Bussi, mein Stanzerl. Mam und Mimi. Auch ein guter Name für das Café.«

Drinnen begann Axels Handy zu klingeln. »Sorry, die Damen. Ich muss da kurz ran. Ein neuer Auftrag winkt.«

»Bringst du mir danach ein Glas Wasser mit?« Agnes war immer noch flau im Magen.

»Klar doch!« Axel rannte ins Haus, der Hund folgte ihm.

»Es wird sein Hund werden, Agnes«, stellte Mitzi fest und nahm neben ihrer Freundin Platz.

»Gut so, ich bin jeden Tag im Revier, die Arbeit wird nach meiner Beförderung sicherlich zunehmen. Rio passt perfekt zu Axel. Und zu Konstanze. Meine Schwester und ich sind auch mit einem Hund groß geworden. Das ist toll. Obwohl mir Jo immer noch fehlt.«

»Versteh ich. Er war höflicher im Umgang und nachtaktiv.«

Damit brachte Mitzi Agnes zum Lachen. »Du kannst einen Hund nicht mit einem Hamster vergleichen.«

»Was sagst du zum Café?«

So war Mitzi. Jederzeit konnte ein Themenumschwung stattfinden. Ohne Übergang.

»Ist es das Projekt, von dem Rudolfo dich nun doch überzeugt hat? Der brandneue Lebensplan?«