Die MörderMitzi und der Sensenmann - Isabella Archan - E-Book

Die MörderMitzi und der Sensenmann E-Book

Isabella Archan

4,0

Beschreibung

Die Mitzi und die Agnes auf Serienmörderjagd: skurril, spannend, witzig und warmherzig. Die Mitzi und der Tod – die zwei kennen sich schon lange. Denn Mitzi hat ein äußerst seltenes Talent: Sie zieht Mörder magisch an. Und als in Kufstein die sterblichen Überreste von lange verschollenen Ausreißerinnen entdeckt werden, ist sie wie immer an vorderster Front dabei. Gemeinsam mit ihrer Freundin, der Polizistin Agnes Kirschnagel, begibt Mitzi sich auf eine waghalsige Suche nach dem Täter, die sie einmal quer durch Österreich führt.

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Seitenzahl: 443

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Isabella Archan wurde 1965 in Graz geboren. Nach Abitur und Schauspieldiplom folgten Theaterengagements in Österreich, der Schweiz und in Deutschland. Seit 2002 lebt sie in Köln, wo sie eine zweite Karriere als Autorin begann. Neben dem Schreiben ist Isabella Archan immer wieder in Rollen in TV und Film zu sehen.

www.isabella-archan.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich ein Glossar, ein Rezept und eine Übersicht über die Schauplätze.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus mauritius images/Thomas Reicher/Alamy, Manfred Richter/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Karte: shutterstock.com/Nook Hok

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-899-3

Alpenkrimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Menschen, die Schlimmes erlitten haben, sind gefährlich,denn sie wissen, dass sie überleben können.

Josephine Hart

Man kann keinem Menschen ins Herz schaun; viel weniger in die Seel’, denn die steckt noch hinter dem Herzen.

Johann Nepomuk Nestroy

I.

GugelhupfSterben

Maria Konstanze Schlager, Mitzi genannt, träumt. Sie fliegt über das Schloss Schönbrunn, den Tiergarten und dann weiter die Lainzer Straße hoch. Wien an einem lauschigen Abend ist wahrlich traumhaft, und die Menschen unter ihr sehen allesamt zufrieden aus – was einem kleinen Wunder gleicht.

Sie weiß sogar im Schlaf, dass es sich beim Fliegen um eine Illusion handelt, aber sie genießt das Gefühl der Schwerelosigkeit.

Einmal noch dreht sie sich um die eigene Achse und sieht in der Ferne die Spitze des Stephansdoms. Wenn Mitzi wüsste, wie sie ihren Körper steuern könnte, wäre das ihr nächstes Flugziel.

Doch das Traumsightseeing verändert sich, und Mitzi kann spüren, wie sie nach unten gezogen wird. Tiefer und immer tiefer, bis sie auf dem Gehsteig landet. All die Menschen sind verschwunden, sie ist allein. Die Straßenbeleuchtung ist ausgefallen, aber vor ihr ist ein Geschäft hell erleuchtet. Fast wie zu Weihnachten, wobei es jetzt Sommer ist. Auch diese Tatsache ist ihr bewusst.

Der Laden ist eine Trafik. In der Auslage türmen sich Zeitschriften, Zigarettenpäckchen, Ansichtskarten und jede Menge Kramuri wie Wienaufkleber, Schlüsselanhänger und vieles mehr. Die Gegenstände erscheinen allerdings wie zweidimensionale Scherenschnitte.

»Trafik Miki«, steht über dem Eingang.

Wie magisch wird Mitzi angezogen. Sie geht durch den Eingang, ein Glöckchen klingelt. Ein Name huscht durch ihren Kopf: Mike Altwicker. Der Besitzer heißt so. Besser: hieß so.

Hier kippt der Traum in einen Alp.

Das Innere ist leer bis auf einen Tisch, an dem sitzt ein Mann in einer völlig unnatürlichen Haltung. Mitzi kommt näher, obwohl sie lieber wieder davonlaufen möchte. Der Oberkörper des Mannes ist nach vorn gebeugt. Es muss der Miki selbst sein, dem sie in der Realität nie persönlich begegnet ist. Sein Kopf liegt auf der Tischplatte. Nein, nicht richtig. Sein Gesicht ist in einem Dessert versunken, einer Sachertorte mit Schlagobers, genau gesagt. Links und rechts quellen an seinen Ohren die Schokoglasur und die Sahne hervor.

Mitzi muss fast lachen, obwohl ihr vor Schreck das Herz stehen bleibt. Selbst im Schlaf erinnert sich ihr Hirn, dass dieser Miki im realen Leben genauso gestorben ist.

»Hier bleib ich nicht«, ruft sie in den Traum hinein.

1

Vor zwölf Jahren

Gestern ist das Mädel fünfzehn geworden. Heute ist der Morgen nach seinem Geburtstag. Einen Festtag hat sich das Mädel gewünscht, aber natürlich war alles traurig und schrecklich, wie immer.

Vielleicht entschließt sich das Mädel deshalb, mit dem Mann zu reden und nicht sofort die Flucht zu ergreifen.

Oder weil es regnet. In Strömen. Ein Wolkenbruch. Vollkommen durchnässt hat das Mädel Schutz auf dieser Baustelle gesucht. Kalt ist es nicht, aber mit durchnässter Kleidung wollte es nicht den Daumen in die Höhe recken und in ein fremdes Auto steigen. Wenn der Regen nachlässt, will es sich wieder an den Straßenrand stellen. So ein Guss geht meistens rasch vorbei.

Hoffentlich hält dann endlich jemand.

Das Mädel hat die falsche Zeit gewählt, an einem Sonntag in aller Herrgottsfrühe zum Trampen aufzubrechen war doch keine gute Entscheidung. Wobei sich Trampen nach Urlaub anhört, doch so kann man diese Flucht, dieses Wegrennen nicht bezeichnen. Nicht das erste Mal, dass das Mädel abhaut, aber vielleicht das letzte Mal. Ankommen will es. Wo genau, darüber denkt es nicht nach.

Gern hätte es den Zug nach Innsbruck genommen, aber das Mädel hat vorhin kein Bargeld in der Wohnung gefunden. Bleibt also nur der Daumen. Mit einer Mitfahrgelegenheit hat es bei den anderen Weglaufversuchen immer geklappt, da war es freilich nie so früh oder so schlechtes Wetter.

Das Mädel hat sich unter das Gerüst gestellt und beim Warten die Brücke und den Fluss Richtung Innenstadt beobachtet. Die Festung über dem Inn ist in der beginnenden Morgendämmerung neblig verhüllt. Die Berge um Kufstein auch. Sau-Suppenwetter nennt die Mama so einen Nebel immer. Der Magen des Mädels knurrt. Natürlich war auch der Kühlschrank zu Hause leer.

Die dumme Kuh, denkt das Mädel über ihre Mutter. Die Wut, der Groll, der Frust – all diese schmerzlichen Emotionen kommen hoch, die das Mädel, schon seit es denken kann, in sich trägt.

Elendiglich, das Wort beschreibt das Leben bisher am besten. Einfach beschissen passt genauso.

Heute früh ist es auch nicht besser. Die Schultern schmerzen von dem prall gefüllten Rucksack. Die Füße brennen vom Laufen. Die Strecke von Kiefersfelden bis nach Kufstein ist das Mädel mit Tempo gewandert, eine gute Stunde Fußmarsch. Im Dunkeln noch dazu. Es hat sich gehetzt gefühlt, obwohl keiner es verfolgt hat.

Weil sich ohnehin keiner kümmert oder sorgt oder überhaupt wahrnimmt, dass das Mädel existiert. Schon gar nicht die Mama. Die schläft ihren Rausch von gestern aus. Dass die Tochter Geburtstag hatte, war ihr wurscht, vollkommen egal. Wie alles andere auch.

Und sonst? Freundinnen hat das Mädel keine, denn die Schule war schlimm, ist die zweite Hölle nach dem Zuhause gewesen. Das Mädel ist pummelig und hat schlechte Haut, es schämt sich andauernd. Trotzdem braucht es die Chips und die Schokolade, die Trost spenden.

Nix wie weg aus dem Dreck, lautet die Antwort auf die Frage nach Zukunftsperspektiven.

»Hey du«, hat der Bauarbeiter das Mädel eben angesprochen.

Zumindest geht das Mädel davon aus, dass der Mann in seinem Blaumann und mit dem gelben Helm auf dem Kopf zur Baustelle gehört. Einer, der Nachtwache gehalten hat. Oder einer, der die Baustelle frühmorgens kontrolliert.

»Bin gleich wieder weg«, antwortet das Mädel jetzt. Es bleibt an Ort und Stelle, läuft nicht davon. Stattdessen hebt es entschuldigend die Hände. »Wollt nur dem Sauwetter entkommen und mich kurz unterstellen. Die Bretter halten ein bisserl dicht.«

»Is schon gut.« Der Bauarbeiter im Blaumann lächelt freundlich. »Du kannst dich im Büro aufwärmen, wenn du magst. Und kurz warten. So ein Schauer geht immer flott vorbei.«

Daran hat das Mädel vorhin auch gedacht. Aber bei dem Angebot zögert es etwas. Obwohl der Bauarbeiter nicht so aussieht, als könnte er gefährlich werden.

Er winkt. Das Mädel folgt ihm. Das Trommeln der Tropfen auf den Holzbrettern über ihr hört sich wie Applaus an, was das Mädel lustig findet. Fast ist es froh, nach dem langen Marsch im Dunkeln endlich einem Menschen zu begegnen. Nach dem Überqueren einer Zufahrt erreichen der Mann und das Mädel einen Innenhof. Dort in der Mitte ist ein Containerbüro aufgebaut. Das Wellblechgebäude hat nur ein Fenster und eine Tür.

»Husch, husch«, ruft der Bauarbeiter und hält dem Mädel diese Tür auf.

Bedenken oder gar Angst hat das Mädel nicht. Wenn es unerwartet komisch mit dem Mann werden sollte, wird es sich wehren. Treten und spucken und um sich schlagen. Angriffe hat es schon früher erlebt, von dem einen oder anderen Mitschüler. Sich zur Wehr zu setzen hat eigentlich immer ganz gut funktioniert. »Deppertes Hendl« war der böse Spitzname für das Mädel, doch der ist schon längst Geschichte. Die Hauptschule ist ohnehin seit Sommerbeginn beendet, was weiter werden soll, darüber haben sich weder das Mädel noch die Mama Gedanken gemacht.

»Herein in die gute Stube.« Der Bauarbeiter lächelt wieder. »Nimm den Rucksack ab und stell ihn in die Ecke. Da, setz dich.«

Das Mädel ist erleichtert, im Trockenen zu sein. Das Containerbüro hält Regen und Feuchtigkeit fern. Der Klappstuhl, auf den der Mann zeigt, ist blau und eindeutig von Ikea. Drei weitere sind weiß lackiert. Einen ebenfalls weißen Tisch gibt es hier drinnen noch, gegenüber vom einzigen Fenster, vor dem ein schmaler Schreibtisch mit einem Telefon und einem Bildschirm darauf steht.

Den Rucksack abzunehmen tut den Schultern gut. Das Mädel lehnt ihn gegen eines der Tischbeine. Jetzt erst fällt ihm auf, wie erschöpft es ist. Das frühe Aufstehen, der Fußmarsch. Am liebsten würde sich das Mädel in der Ecke einrollen.

»Magst eine Limonade?«, fragt der Bauarbeiter. »Die macht munter. Kaffee hab ich leider keinen mehr.«

Dass der Mann etwas anbietet wie in einem Gasthaus, findet das Mädel ebenfalls lustig. Es nickt, und er holt zwei Flaschen aus einer Kiste neben der Tür.

»Ich nehm mir auch eine. Leider kein Almdudler.«

»Schon gut.«

Er hebt die Limonadenflaschen in die Höhe. »Wenn die hier kan Almdudler hab’n, geh i wieder ham.«

Mit dem Werbespruch bringt der Mann das Mädel zum Kichern. Obwohl es niemals zurück in sein Zuhause will. Niemals mehr »ham«. Soll die furchtbare und ständig besoffene Mama doch schauen, wie sie ohne ihre Tochter zurechtkommt.

Das Mädel schenkt dem Bauarbeiter nun auch ein Lächeln. »Danke!«

Er geht zum Schreibtisch und stellt die Flaschen kurz ab. Dann beginnt er in einer der Schubladen zu kramen. Das Mädel vermutet, dass er nach einem Flaschenöffner sucht. Er hantiert eine Weile, und seine Schultern bewegen sich unruhig unter dem blauen Stoff seines Overalls.

Draußen klatscht der Regen heftig gegen die Scheibe. Das Mädel registriert, dass das Fenster aus Plexiglas ist. Es überlegt, ob das Sauwetter wohl den ganzen Tag über bleiben wird. Plötzlich ist sich das Mädel nicht mehr sicher, ob das Abhauen wirklich eine gute Idee war. Vielleicht wird es umkehren, zurückgehen und an einem anderen Tag einen neuen Anlauf starten. Mit mehr Planung, wohin die Reise gehen soll.

»Schaust traurig aus«, stellt der Bauarbeiter fest. Er hat sich dem Mädel zugewendet und streckt ihm eine offene Flasche entgegen. »Prost.«

Das Mädel nimmt das Getränk. Der Mann stößt mit seiner Flasche an die des Mädels. Das dicke Flaschenglas gibt einen Laut von sich, der sich mehr wie eine Glocke anhört als ein Klirren. Der erste Schluck ist Erfrischung pur.

»Wo willst denn hin? In aller Herrgottsfrüh und bei dem Sauwetter.«

Der Bauarbeiter legt den Kopf schief. Sieht dem Mädel in die Augen. So freundlich ist sein Gesichtsausdruck. Und die Limonade schmeckt so tröstlich.

Unvermutet bricht das Mädel in Tränen aus.

»Aber geh, wer wird denn weinen?«, fragt der Mann sanft. Er setzt sich dem Mädel gegenüber, beugt sich vor und streicht ihm eine Strähne des nassen Haares aus der Stirn.

Das Mädel dreht den Kopf weg. »Is gleich wieder alles okay.«

»Magst mir sagen, was los is?«

Seine Stimme klingt so angenehm. Warm. Verständnisvoll.

Als wäre bloß diese minimale Zuwendung nötig gewesen, löst sich die Zunge des Mädels, und es redet. Erzählt diesem völlig Fremden im blauen Overall mit dem gelben Helm am Kopf von all dem Elend. Dem Scheißleben mit der alkoholabhängigen Mutter, der Geldnot, den Hänseleien. Dass es zu dick ist. Dazu noch ohne Taschengeld, das die Mama lieber vertrinkt, als der Tochter etwas zu geben. Dass das Mädel nie einen Papa gekannt hat. Dass die Mama mit dem Mädel bald umziehen will, wahrscheinlich sogar muss, in eine noch kleinere Wohnung. Dass es bis jetzt kein Handy hat, weil eben einfach nie ein Cent übrig bleibt. Und so weiter. Ein schreckliches Teenagerleben im andauernden Sau-Suppenwetter des Lebens.

»Geburtstag hat ich gestern auch, und die Mama hat’s vergessen«, endet das Mädel und wischt sich Tränen und Rotz mit dem Ärmel weg. Nimmt einen nächsten langen Schluck von der Limonade. Süß schmeckt die, zuckersüß.

Der Bauarbeiter hat die ganze Zeit geschwiegen und zugehört. Nun strahlt er übers ganze Gesicht. »Na, das is witzig. Mein Ehrentag war auch gestern.«

»Was? Echt?«

Das Mädel staunt, und das Staunen lässt es schwindlig werden. Mit der freien Hand umklammert es die Sitzfläche des blauen Klappsessels, mit der anderen führt es die Flasche wieder an die Lippen.

»Lass uns einfach nachfeiern«, erklärt er und steht auf. »Ich hab ein Stück Marmorgugelhupf in meiner Jausenbox, das teil ich mir mit dir. Als Tortenersatz.«

Wie lieb der is, denkt das Mädel.

Gefühlt nur Sekunden später hält der Mann dem Mädel ein Stück Kuchen unter die Nase. Fast wie bei einem Zauberkunststück. Es greift zu, beißt hinein. Wie der schmeckt. Der beste Gugelhupf, den es je gegessen hat. Es kichert, während es kaut. Die Gesichtszüge des Bauarbeiters scheinen sich zu dehnen, fließen auseinander. Blau und Gelb vermischen sich. Schon wieder lustig. Überhaupt scheint alles mehr und mehr komisch zu werden.

»Marmorgugelhupf!«, wiederholt das Mädel.

Das Wort bekommt ein Echo. Als ob man von einem der hohen Berge rufen würde, die Kufstein umgeben. Dann beginnt sich der Raum zu bewegen. Der Boden hebt sich, der Tisch wird schief, und das Plexiglasfenster biegt sich nach innen. Dem Mädel kommt es vor, als würden die Regentropfen nach oben rinnen.

»Was is mit mir?«

Die Frage bekommt ein Eigenleben wie in einem Comic. Sie formt sich zu einem Mund, der laut lacht.

Nein, das is der Overall, der schallend lacht. Nein, der freundliche Mann, der gute Zuhörer.

Aber irgendwas stimmt nicht. Ganz und gar nicht.

Das Mädel schaut auf die Limonade in seiner Hand. Ein winziger Rest schwappt noch am Flaschenboden. Fast leer getrunken ist die Flasche. Und das Getränk ist dem Mädel nicht gut bekommen, wie sich nun herausstellt.

»Was war da drin?« Eine nächste Frage, die sich selbstständig macht und quer durch den Raum springt. Nach oben, nach unten. Das Mädel versucht, ihr mit den Augen zu folgen, Bewegung jedoch löst noch mehr Schwindel aus. Dazu Übelkeit. Schlecht ist dem Mädel jetzt. Sogar der Appetit auf den Gugelhupf ist vergangen.

Es will sich übergeben, aber stattdessen rutscht es vom Klappstuhl nach unten auf den Boden. Das Hinterteil plumpst auf das Holz, ein dumpfer Aufprall. Die Flasche rollt aus den Fingern, das Glas und die Restflüssigkeit glitzern. Im Sichtfeld breitet sich eine Helligkeit aus, alle Möbelstücke wirken bestrahlt von einer unbekannten Lichtquelle.

Mama, denkt das Mädel oder spricht es laut. Mama, wo bist du? Magst mich nicht abholen und zurück nach Hause bringen?

Wenigstens ein Handy hätte das Mädel endlich gern, um jemanden anzurufen. Eben die Mama, besser noch die Polizei.

»Keine Angst«, sagt der Bauarbeiter, der zum Erstaunen des Mädels plötzlich vor ihr am Boden sitzt. Mit ausgestreckten Beinen. Er lächelt noch breiter als vorhin, und neben der Freundlichkeit meint das Mädel Wehmut in seinem Blick zu erkennen. »Tut nicht weh. Gar nicht.«

Hilfe. Das Mädel will rufen. Leider produziert der Kehlkopf keine Laute mehr. Es will sich hochziehen und Richtung Tür stürzen. Raus aus dem gleißend hellen Wellblechalptraum. Die Impulse aus dem Hirn erreichen die Muskeln nicht mehr. Speichel tropft über den linken Mundwinkel. Die Augenlider flattern.

Der Bauarbeiter sitzt weiter ungerührt vor dem Mädel. Der Mund des Mannes bewegt sich. Auf und ab, als ob er kauen würde. Vielleicht isst er das Marmorgugelhupfstück fertig.

Die Helligkeit nimmt zu, nimmt überhand. Schmerzhaft grell. Das Mädel würde gern die Augen schließen, aber auch das funktioniert nicht mehr. Alles fällt in dieses Licht, wird von ihm verschlungen. Das ganze Leben, die ganze Welt, einfach alles.

»Happy birthday to you! Happy birthday to you!«

Irgendwo singt jemand.

Is doch besser als nix, denkt das Mädel noch.

Fünfzehn und einen Morgen ist das Mädel und wird es bleiben. Diesen Sommer und diesen Herbst und diesen Winter und zu allen Zeiten, die da kommen mögen.

Ach, Mädel!

2

In seiner Erinnerung schien sich die eine Szene aus seiner Kindheit eingefräst zu haben: die Hand des Vaters, die dieser stets in quälender Langsamkeit senkte. Zeitlupentempo. Der Daumen war etwas weggestreckt, die vier Finger aneinandergepresst, dem Abbild einer Zange gleich.

Der Vater über dem Sohn, der damals noch ein Bub war. Und ein Gfrast, ein schlimmes, ein böses Kind.

Nach Ansicht des Vaters ein durch und durch ungezogener Junge. Ein Balg, das nicht gehorchen konnte und wollte, verderbt schon seit dem Tag der Geburt. Die Mutter war bei der Niederkunft gestorben, das Kind also da bereits mit Schuld behaftet. Seither machte der Bub einfach alles falsch, genügte nie. Seine bloße Existenz war dem Vater ein Gräuel. Der Sohn wurde der Sündenbock für misslungene Ereignisse, Unglück und Pech. War der Auslöser und die Ausrede für die sich wiederholenden aggressiven und sadistischen Handlungen.

Jemandem die Ohren lang ziehen hieß es im Volksmund.

So gestaltete sich auch die Maßregelung durch das verbliebene Elternteil. Dem Vater des Buben war allerdings nur eines von beiden Ohren lang zu ziehen schon genug. Diese einzige Art der Bestrafung schien er bis in alle Ewigkeit fortführen zu wollen. Selbst als der Bub längst auf dem Weg zum Teenager war, hatte die unerbittliche Zangenhand in ihrem Zeitlupentempo Angst und Schmerz verbreitet.

Eben stets das linke Ohr. Der Bub hatte eine Ohrfeige ersehnt oder eine Tracht Prügel auf das Hinterteil, aber vergebens. Die Finger des Vaters hatten jedes Mal den Rand des linken Ohrs gepackt, so fest wie nur möglich.

Dann gezogen. Gezerrt. Gerissen.

Nach vorne, bis das Kind auf die Knie sank und ihm das Wasser aus Augen und Nase schoss. Oder nach oben, bis der Bub auf Zehenspitzen stand und zu jaulen begann, einem Wolfsjungen gleich.

Dazu der Schmerz. Die Qual. Die Pein.

Beim tausendsten Mal tat es ebenso höllisch weh wie beim ersten, man konnte sich nie daran gewöhnen. Ganz im Gegenteil. Weil der Bub die nahende Folter ahnte, war es umso schlimmer, die Zangenhand des Vaters in ihrer grausamen Langsamkeit zu sehen. Zu wissen, dass es wieder brennen und stechen und schrecklich wehtun würde, furchtbar und allumfassend. Ein heißer Schmerz, glühend heiß, der sich vom Ohr über das Gesicht und den Hals weiter in den Nacken zog. Über die Schultern bis hinunter in den Steiß. Als ob die gesamte linke Körperhälfte überdehnt werden würde. Wieder und wieder dachte der Bub, dass der Vater diesmal das linke Ohr des Sohnes ganz abreißen würde. Solch roher Gewalt konnte doch der zarte Körperteil nicht ewiglich standhalten, oder?

»Du Gfrast, du elender Saubeutel, du!«

»Bitte, Papa, bitte, bitte. ’s tut mir leid. So leid.«

Der Vater schrie, und der Sohn schluchzte.

Allzu oft wusste am Ende der Bestrafung keiner von beiden mehr, aus welchem Grund der Vater das Kind misshandelte. Das Langziehen des linken Ohrs war längst ein Ritual geworden, dem sich beide unterwarfen, der Quäler und der Gequälte.

Wenn es schließlich vorbei war, schien die Luft wie gereinigt.

Der Vater verließ die Stube, meist pfeifend und sich keines Unrechts bewusst. Der Junge sackte zusammen, das Gesicht aufgequollen von Tränen, die Finger gefaltet zu einem Gebet.

Lass mein Ohr noch dran sein, lautete die stumme Bitte an einen Gott, der im Kopf des Buben dem Vater ähnlich sah. Nur mit gütigeren Augen und ohne Zangenhand.

Dieser Gott erhörte das Gebet des Jungen, aber den Schmerz nahm er ihm nicht. Ein stetiges Pochen, ein Trommeln im Ohr begleitete ihn für den Rest des Tages, meist noch bis zum Einschlafen und bis in die Träume hinein. Wenn der Bub in den Spiegel sah und sich zur Seite drehte, war das Ohr knallrot, später wurde es leicht lila, bis es endlich wieder seine rosa Farbe annahm.

Die Szene des Ohrenlangziehens blieb im Gedächtnis des Heranwachsenden, blieb präsent, auch nach dem Tod des Vaters. Verfolgte ihn in den Jahren danach, schob sich in den Vordergrund, ohne Rücksicht auf all die anderen angesammelten – auch vielen guten – Erinnerungen. Der qualvolle Ablauf spulte sich in regelmäßiger Wiederholung vor dem inneren Auge ab.

Es wäre ein Leichtes, dachte der Erwachsene später oft, seine Sünden und Vergehen auf dieses Trauma seiner Kindheit zu schieben, aber das wollte er gar nicht. Er hätte sogar viel darum gegeben, wenn ihm sein Tun Erleichterung gebracht hätte, doch auch das tat es nicht. Trotzdem war er seinen Handlungen wie ausgeliefert, schaffte es nicht, sich aus dem Strudel des Zwanges zu befreien.

»Du sollst nicht töten«, lautete das fünfte Gebot.

Er tat es. Dass ihm später, nach seinem eigenen Sterben, die Hölle gewiss sein würde, akzeptierte er.

Als Bub hatte er gebetet, später erschuf er sich seinen eigenen Pfad der Aufarbeitung. Seine gebrochene Psyche brauchte eine abgewandelte Art der Wiederholung, die sein Herz jedes Mal danach beweinte, sein Bewusstsein im Alltag aber vollkommen ausblendete. Bis sich erneut eine Gelegenheit ergab.

Seine Rechtfertigung, wenn es so etwas nach seinen Taten überhaupt geben konnte, war, dass er seinen Opfern nie wehtat. Er war nicht wie sein Vater, er erzeugte keinen Schmerz, er betäubte. Er schuf einen sanften Übergang. Sein spezieller Trank führte einen raschen Schlummer herbei. Der Schlaf war in seiner Vorstellung der liebevollere Bruder des Todes.

Doch eines musste sein: Am Ende gab es immer ein linkes Ohr, das er zwischen seinen Fingern halten konnte.

Dieses linke Ohr war einfach eine logische Folge von Ereignissen, die sich wie Perlen an einer Schnur aneinanderreihten und stets zum selben Ergebnis führten. Immer. Dass es dazu eine Leiche geben musste, war bedauerlich, jedoch unabwendbar.

3

»Grüß Gott.« Mitzi hob ihre Hand zum Gruß. »Mein Name is Maria Konstanze Schlager.«

Der ältere Mann in den dunklen Hosen, dem grünen T-Shirt und der orangen Halbweste fegte vor dem Eingang der Wallfahrtskirche am Frauenberg erst die einzelnen Stufen und im Anschluss das Trottoir. Er reagierte nicht auf Mitzis Gruß.

Mitzi blieb trotzdem stehen und wartete ab. Sie hatte eben die Kirche besucht und eine Kerze angezündet. Wieder einmal die wunderschönen Fresken und die Barockorgel im Inneren bewundert. Die Stille an einem Wochentag genossen – außer ihr waren heute nur zwei Besucher anwesend gewesen. Früher hatte sie mit den Großeltern öfter den Frauenberg aufgesucht. Ein beliebtes Ziel bei einem sonntäglichen Spaziergang auf einem der vielen kürzeren oder auch längeren Wanderwege mit sehenswerten Orten in der Südsteiermark.

»Hallo? Entschuldigung.«

Erneut keine Reaktion. Der Mann kehrte versunken vor sich hin. Mitzi überlegte, einfach weiterzugehen und sich später übers Internet schlauzumachen, aber in dem Moment hob er den Kopf. Sein graues Haar wurde von einer Windböe nach oben geweht.

»Wos gibt’s?«

Er benutzte den Besen nun als Stütze. Seine Wangen waren von der körperlichen Arbeit gerötet. Die Hitze an diesem Freitag in der ersten Augustwoche war drückend.

»Ich heiße …« Mitzi brach ab. Warum nur hatte sie stets das Bedürfnis, sich bei jedem mit ihrem vollen Namen vorzustellen? Sie brauchte eine Auskunft, mehr nicht.

»Hans, Hans Dietmar Ruprecht«, sagte er in dem Moment und brachte Mitzi damit zum Schmunzeln. Also noch einer, der sich gern vollständig bekannt machte.

»Aber mich nennen s’ alle den Herrn Hans. Ich kümmer mich um den Friedhof und die Kirche. Bin schon seit über dreißig Jahren im Dienst. Was kann denn der Herr Hans für Sie tun, Fräulein? Wenn ich Sie so bezeichnen darf?«

Auch dass der Friedhofsangestellte in der dritten Person über sich redete, amüsierte Mitzi. »Gerne doch, Herr Hans. Ich bin dann das Fräulein Mitzi.« Sie mochte die altmodische Anrede. Ihre Oma Therese hätte ebenso wenig etwas dagegen gehabt, und das, obwohl sie mit Opa verheiratet gewesen war.

»Die Fräuleins dieser Welt bleiben immer jung«, hatte sie einmal gesagt.

Sofort verschwand Mitzis Lächeln, zeitgleich versteckte sich die Sonne hinter sich auftürmenden Wolkenbergen. Eine nächste Böe ließ den Haufen aus Staub und Abfällen, den der ältere Mann zusammengefegt hatte, wieder auseinanderdriften.

Ein paar Sekunden konnte Mitzi nicht atmen. Ihre Großmutter war kürzlich erst verstorben. Tot und begraben. Kein Wunsch, kein Gebet, kein Wunder würde sie zurückbringen. Nach der langen Zeit im Heim, in dem Therese Schlager nur noch vor sich hin gedämmert hatte, schien es eine Erlösung gewesen zu sein, dass sie bald nach einer Herzattacke eingeschlafen war. Für Mitzi blieb Omas sanftes Hinübergleiten allerdings ein schwacher Trost.

Ihre Oma gab es nicht mehr auf dieser Welt. Unfassbar, doch unwiderruflich.

Therese Schlager war Mitzis einzige noch lebende Verwandte gewesen. Ihre Eltern und ihr kleiner Bruder Benni waren bei einem tragischen Unglück gestorben, als sie sieben gewesen war. Noch dazu durch Mitzis eigene Schuld. Bis heute für sie schwer auszuhalten.

Aus Versehen hatte das Mitzi-Kind damals an einem veralteten Campingherd das Gas aufgedreht und damit eine Explosion und ein Feuer ausgelöst. Drei der vier Schlagers hatte die kindliche Unachtsamkeit das Leben gekostet. Mitzi war nach der Tragödie von den Großeltern in Leibnitz liebevoll aufgenommen worden. Doch in der Schule und im Ort hatte Mitzi eine Zeit lang böse Hänseleien erlebt, was ihre Traumafolgestörungen noch verstärkt hatte. Oma und Opa hatten sie verteidigt und es mit jedem aufgenommen, der ihrer Enkelin Böses nachgesagt hatte. Bei ihnen hatte Mitzi Unterschlupf gefunden, sie hatten das Mädchen behütet und großgezogen. Jetzt lebte keiner der beiden mehr. Mitzi war die Letzte ihrer Familie.

Sie spürte wieder Tränen aufsteigen, zwang sich aber bewusst, an ihre beste Freundin Agnes zu denken. Das half immer.

Inspektorin Agnes Kirschnagel aus Tirol war Mitzi in der letzten Zeit, nach dem Versterben der Großmutter, die wertvollste Hilfe überhaupt gewesen. Zwar hatten Mitzis Ex-Freund Freddy und auch Agnes’ Partner Axel sie ebenfalls unterstützt, aber Agnes war Mitzis absoluter Lieblingsmensch. Ohnehin ihre einzige Freundin. Doch wer brauchte schon weitere, wenn er eine Kufsteiner Polizistin als Beistand hatte. Gemeinsam hatten die jungen Frauen tatsächlich schon einiges durchgestanden, waren in Gefahr geraten, hatten sage und schreibe drei Verbrechen aufgeklärt.

Also, Agnes hatte.

Mitzi war eher die gewesen, die in diese Untaten hineingestolpert war.

Jetzt sollten ruhige Zeiten anbrechen. Agnes war schwanger und Mitzi vernarrt in den Gedanken, dass sie in drei Monaten Patentante werden würde.

»Was gibt’s denn, Fräulein? Der Herr Hans muss weitermachen, der Besen bewegt sich net von allein.«

Mitzi schreckte aus den Gedanken hoch. Sie hatte den Friedhofsangestellten völlig vergessen.

Begraben war Oma am Friedhof St. Maria, der sich der Kirche anschloss. Mitzi war in den letzten drei Wochen mehrfach angereist, um Blumen in der Vase am Grab auszuwechseln und eine Kerze in der Wallfahrtskirche anzuzünden. Zwar war Oma immer in Mitzis Gedanken und Herzen, aber hier hatte sie das Gefühl, ihr besonders nahe zu sein.

»Herr Hans, vielleicht können Sie mir sagen, wo ich anfragen muss, wenn man auf ein Grab auch ein Vogelhäuserl stellen will? Ich hab außer Ihnen heut noch keinen gesehen, der mir wie ein Zuständiger ausgesehen hat. Und das Büro der Friedhofsverwaltung war nicht geöffnet.«

Er sah sie verdutzt an. »Ein Vogelhaus auf einem Grab?«

»Ein winziges. Das keinen Dreck macht.« Mitzi bekam einen bittenden Ton. Die Idee war ihr vorhin erst gekommen, sie stellte es sich idyllisch vor. »Meine Oma, die hat zu Lebzeiten immer so gerne die Zwitscherer gefüttert, und ich hab vorhin überlegt, ob sie’s im Himmel nicht freuen würde.«

»Also den Herrn Hans müssen S’ nicht überzeugen. Sie sind so eine fesche Person, der Herr Hans würd Ihnen alles durchgehen lassen, Fräulein.«

Er grinste und zeigte weiße, große Zähne, die in ihrem makellosen Strahlen überhaupt nicht zu seiner fleckigen Haut passten. Bei den riesigen Beißerchen musste es sich um ein Gebiss handeln. »Wenn S’ wollen, kommen S’ mit mir mit, wenn ich gleich fertig bin. Ich kann Ihnen den Zuständigen aufschreiben, an den Sie sich wenden müssen. Mein Chef is das. Wobei ich allerdings noch nie was von einem Vogelhaus als Grabstein gehört hab. Soll das angefertigt werden, oder was?«

»Nicht statt eines Grabsteins.« Mitzi schüttelte den Kopf. »Das Grab is fertig. Ich wollt einfach neben den Blumen noch etwas Besonderes machen, für meine Großmutter.«

»Wie hat sie denn geheißen, die Oma? Vielleicht hat sie der Herr Hans ja gekannt. Hat sie in Leibnitz gelebt?« Weiter sprach er von sich selbst in der dritten Person.

»Therese Schlager. Und ja, meine Großeltern haben hier gewohnt. Ich übrigens auch. Aber das Haus musst ich längst schon verkaufen, um Omas Heimaufenthalt zu bezahlen.«

»Schlager?« Der Mann holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit die Lippen ab.

Danach ließ er seinen Blick einmal über Mitzis Körper gleiten, was ihr ein unangenehmes Gefühl bereitete. Mitzi merkte, dass sich die Situation veränderte. Der Friedhofsangestellte erschien ihr auf einmal nicht mehr harmlos und sympathisch.

Typisch Mitzi. Voller Naivität stürzte sie sich ins Leben, erst viel später erkannte sie die wahren Gesichter hinter den Fassaden und Masken. Sie wollte an das Gute im Menschen glauben oder besser gesagt daran festhalten, dass eine positive Veränderung bei wirklich jedem möglich war.

»Genau, Schlager.«

»Sind Sie die Mitzi Schlager?« Er grinste jetzt noch breiter, dabei leckte er sich über die Vorderzähne. Mitzi überlegte, ob er sich das definitiv zu große Gebiss im Laden bei den Faschingsartikeln gekauft hatte.

»Ja, ich werde Mitzi gerufen.«

»Mitzi Schlager. Genau. Das Mädel, das die Holzhütten hat explodieren lassen. Damals. In Hartberg, oder? Is ewig her.«

»Es war ein Unfall. In Kalsdorf bei Graz.« Mitzi merkte, dass sie weiche Knie bekam. »Und es is wirklich Jahrzehnte her.«

»Aber der Herr Hans erinnert sich.« Er rülpste. »Stand mehrfach in der Zeitung, gell? Mein Chef hat Ihren Großvater gekannt. Fast glaub ich, der Herr Hans erinnert sich sogar an dich als kleiner Fratz. Hast Zöpf gehabt. Und bist jetztda groß g’worden. Keine Zöpfe mehr, dafür einen Busen.«

Der nahtlose Übergang vom Sie zum Du und der begehrliche Blick machten Mitzi sprachlos. Sie überlegte krampfhaft, wie sie rasch aus diesem Gespräch herauskommen konnte. Mit einem Finger deutete sie nach oben. »Uiii! Da braut sich was zusammen.«

Die Wolken hatten sich verdichtet, und es sah wahrhaftig nach einem sich nähernden Gewitter aus.

Der ältere Mann duckte sich wie unter einem Schlag. »Fräulein, wenn S’ gleich mitkommen in den Geräteschuppen, dann sind Sie vor Blitz und Donner sicher. Der Herr Hans wartet mit Ihnen, bis der Chef das Büro wieder aufsperrt.«

»Oh, danke, lieber Herr Hans, aber ich informiere mich lieber im Internet.«

»Das depperte Inzernet mag der Herr Hans gar nicht.« Seine Miene verfinsterte sich wie der Himmel. »Die jungen Fräuleins schauen einem nie mehr in die Augen, starren nur auf die Telefone.«

»Internet«, verbesserte Mitzi ihn und biss sich dafür auf die Zunge.

Er schnaubte. »Der Herr Hans sagt es so, wie’s ihm passt, Fräulein.«

Erste Regentropfen begannen zu fallen. Wie auf Kommando klemmte der Friedhofsangestellte den Besen unter seine Achsel.

Mitzi machte einen Schritt zurück. Sie zückte demonstrativ ihr Handy und checkte die Zeit. In einer Stunde würde der Bus losfahren, der sie von Leibnitz zurück nach Graz an den Hauptbahnhof bringen sollte. Von dort aus ging es weiter mit dem Zug nach Hause, nach Salzburg.

Wobei sie weder die Steiermark noch Salzburg als ihre Heimat bezeichnen konnte. In Graz war sie geboren, in Leibnitz erwachsen geworden, und seit einigen Jahren wohnte sie in der Mozartstadt. Ein wenig wie ein Korken im Wasser trieb sie umher, fasste nirgendwo Fuß, ließ niemand in ihr Herz. Doch, eine schon: Agnes.

Hier schloss sich der Kreis. Agnes hätte sich nie von einem seltsamen Friedhofsangestellten belästigen lassen.

»Kommen S’ mit mir mit, Fräulein.« Der Herr Hans stierte sie wieder an. »Mein Kaffee schmeckt jedem.«

»Nein. Kein Kaffee. Ich komme auch nicht mit Ihnen mit.« Mitzi versuchte ihre Stimme tiefer klingen zu lassen. »Dazu möchte ich, dass Sie mich Frau Schlager nennen.«

»Schon gut, net bös werden.« Er zuckte mit den Schultern, sein Blick hob sich über Mitzi zu den Wolkengebilden hin. »Vielleicht zerreißt es auch wieder.«

»Trotzdem danke, Herr Hans. Alles Gute und Wiederschaun.«

»Baba, Frau Schlager.«

Er ließ den Besen jetzt nach unten gleiten, fuhr mit dem Fegen nun fort. Das Geräusch bereitete Mitzi Unbehagen. Sie setzte sich in Bewegung und ließ die wunderschöne Wallfahrtskirche am Frauenberg hinter sich. Der Gedanke, dass sie von nun an nicht mehr hierherfahren würde, ohne sich nach dem sonderbaren Herrn Hans umzusehen, machte sie erneut traurig.

»Hallo!« Noch einmal der ältere Mann. Er rief ihr hinterher.

Mitzi blieb stehen. »Ja bitte?«

»Der Herr Hans erinnert sich ganz genau an dich. Nicht Mitzi, sondern MörderMitzi hat man dich gerufen, gell?«

Mitzi legte den Weg bis zur Bushaltestelle im Laufen zurück.

4

»Hallo und servus und griaß di, Agnes!« Inspektor Bastian Klawinder war die Aufregung übers Telefon anzuhören. »Du, ich komm gleich zur Sache: Wir haben eine Leiche.«

Agnes war sofort hellwach.

Die letzte Stunde hatte sie mehr oder weniger dösend an ihrem Schreibtisch im Großraumbüro der Polizeiinspektion Kufstein gesessen. Das Fenster vor ihr war geöffnet, und ein warmes Lüftchen strömte in den Raum. Sie war die Letzte hier oben, nur am Empfang und in den Räumlichkeiten im Erdgeschoss taten noch Kollegen ihren Dienst. In den Sommerhauch mischte sich ein Geruch nach Gebratenem. Irgendwo draußen grillten die Ersten in den Feierabend hinein.

Eigentlich hatte auch Agnes schon längst Schluss machen und sich in das Wochenende verabschieden wollen. Doch der letzte Bericht über einen Flitzer, der nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte, quer durch die Fußgängerzone gerannt war, war noch nicht fertig. Die Sache war eher belustigend als spannend, aber der Tourismusbeauftragte für die Stadt Kufstein hatte sich extrem echauffiert und eine Haftstrafe für den Nudistenfan gefordert, weil dieser die Besucher in der City verschreckt hätte.

Inzwischen stand die Identität des nackten Mannes fest, und er lag schnarchend, wieder mit einem Shirt und einer Hose bekleidet, die ihm die Polizei wie einem Kleinkind angezogen hatte, in der Ausnüchterungszelle im Erdgeschoss. Wegen der Hitze, hatte Erwin Straßinger angegeben, habe ihn nach zwei Flaschen Rotwein, die er beim Weinfest ersteigert hatte, das Bedürfnis überkommen, sich frei zu machen und ein wenig Schwung ins beschauliche Kufstein zu bringen. Er hatte sich dazu jeglichen Stoffs entledigt, nicht einmal Schuhe anbehalten – eine Schnaps- oder besser: Weinidee. Wo seine Anziehsachen abgeblieben waren, hatte der Flitzer Erwin nicht mehr gewusst.

Derart die Kontrolle zu verlieren erschien Agnes unglaubwürdig, aber sie hatte seine Aussage aufgenommen und tippte nun den Bericht dazu. Wobei sie in Wahrheit bisher mehr aus dem Fenster gesehen hatte und dabei leicht eingenickt war. Die Hitze dieses Monats setzte ihr immer mehr zu, je weiter ihre Schwangerschaft voranschritt. Ihr Bauch wuchs und in ihm das Baby.

Nach einer Phase des Aufblühens im Juni und Juli fühlte sich Agnes derzeit plump und aufgequollen. Zwar gab es glückselige Momente, in denen sie das Kind unter ihrem Herzen spürte, wie es gegen den Bauch trat oder sich drehte, ihren allgemeinen körperlichen Zustand empfand sie hingegen mehr und mehr als anstrengend. Drei Monate noch, dann würde sie den neuen Erdenbürger willkommen heißen. Ein herausforderndes und wunderbares Abenteuer, so die Worte ihrer Mutter, stand ihr bevor.

Doch zurzeit langweilte Agnes noch das Büroleben, denn kaum hatte ihr Chef, Revierinspektor Sepp Renner, von ihrer Schwangerschaft erfahren, war sie an den Schreibtisch verbannt worden. Kollege Bastian Klawinder übernahm alle Außeneinsätze. Das öde Berichteschreiben war für Agnes definitiv schlimmer als die hohen Temperaturen und die Wasseransammlungen in ihren Knöcheln.

»Eine Leiche?« Immerhin brachte Bastians Anruf Schwung in die Trägheit dieses Freitagnachmittags. »Ist Gefahr im Verzug?« Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte das Revier Richtung Mordfall verlassen. Wobei Bastian bisher nichts von Mord gesagt hatte.

»Nein. Es eilt nicht.«

Diese Ansage klang für Agnes seltsam. »Ein Unfall? Eine Straftat? Oder ist es nur der nächste Flitzer? Musstest du die Rettung rufen? Wo bist du überhaupt?«

»Du stellst in Sekunden mehr Fragen als ich in einem Jahr, Agnes.« Bastian zögerte auf einmal. »Willst mich nicht lieber mit dem Sepp verbinden?«

»Unser Chef ist wahrscheinlich längst zu Haus am Grillen.« Agnes wurde ärgerlich. »Und ich bin nicht plötzlich zu einer Mimose geworden. Sag, was Sache ist. Ich schicke dir gleich zwei Kollegen. Oder ich komm selbst und mach mich schlau.«

»Bloß nicht, Agnes.«

»Dann rede, Basti.«

»Es is so, Agnes.« Sie hörte ihn Luft holen. »Mein Spezi, der Arno Brandtner, hat mich um dringende Hilfe gebeten. Er betreibt die kleine Bar in der Münchner Straße, dort bei der Trafik Köhler. Im Nebenhaus hat doch im Juni die Physiopraxis zugemacht. Er hat die Räume im Parterre dazugekauft, zu denen auch der Keller gehört. Jetzt is er am Umbauen. Er hat einen Durchgang im Keller schlagen wollen und dafür eine Mauer halb eingerissen. Dabei is es passiert.«

»Also ein tödlicher Unfall?«

»Nix dergleichen. In der Wand is ein voller Plastiksack mit Klebeband umwickelt eingemauert gewesen. Ein menschengroßes Paket.«

»Was?« Agnes schnaubte.

»Genauso hab ich auch reagiert, als der Arno mich angerufen hat.«

»Weiter.«

»Er hätt eigentlich auf mich warten sollen, war aber neugierig. Deshalb hat er den Plastiksack herausgezogen aus dem Schutt und auf den Boden gelegt. Dann aufgeschnitten. Blöd, wie er is, hat er gedacht, dass vielleicht was Wertvolles drin sein könnt. Oder Drogen. Dieser Depp.«

»Es war aber ein Toter eingepackt, stimmt’s?«

»Herrje, lass mich ausreden, Agnes.« Bastian räusperte sich. »Ja, da war die vorhin genannte Leiche drin. Ich bin eben angekommen, aber das Schlamassel is bereits riesig. Der Körper schaut aus wie eine verhutzelte Mumie, und es stinkt höllisch. Ich hab den Arno aus dem Keller verbannt und nach oben geschickt. Hoffen wir, dass er nicht schon am Handy is und einen Rundruf startet. Er hat mir vorhin geschworen, dass er keine Fotos gemacht hat. Das in den sozialen Medien wär ein Desaster.«

»Wahnsinn. Wer bitte schön mauert einen Menschen im Keller ein?«

»Agnes, das weiß ich nicht. Aber bitte, verständige sofort den Sepp und schick mir die Kollegen. Ich brauch Verstärkung. Dann ruf bitte rasch den Dr. Wakowiak an, der hat heute Bereitschaftsdienst. Am besten gibst du zusätzlich im Landeskriminalamt Innsbruck Bescheid, die sollen Experten herschicken. Das is ja jetzt wohl ein Tatort.«

»Münchner Straße? Nebenhaus von der Trafik Köhler, sagst du?«

»Genau.«

»Ich bin dabei.«

»Du bleibst brav auf dem Revier. Deshalb lass ich dich ja alle Anrufe machen, damit du beschäftigt bist.« Bastian legte grußlos auf.

Agnes war perplex. Schwanger zu sein hieß nicht, krank oder verletzt oder schwach zu sein. Sie hasste es, wenn sie behandelt wurde wie ein Porzellanpüppchen.

Als wäre ein Stichwort gefallen, klingelte ihr Handy, und das Gesicht ihres Freundes Axel Brecht erschien auf dem Display.

»Axel, es ist gerade sehr schlecht.«

»Geht es dir gut, Schatz?«

Der Nächste, der Agnes mit seiner übertriebenen Umsicht nervte. »Bestens. Aber wir haben eine Leiche.«

»Mord?«

»Zu früh, um etwas sagen zu können. Noch dazu kein neues Verbrechen, sondern ein Körper, eingemauert.«

»Wow. Von so einem Fund hört man nicht alle Tage.«

Agnes konnte das gleiche Interesse bei Axel spüren, das sie eben empfunden hatte. Der Vater ihres ungeborenen Kindes war Leiter einer Detektei im fernen Köln, und neben seinen Aufträgen von Privatpersonen beriet er immer wieder die Polizei bei Ermittlungen. Bei einer solchen hatten sie sich kennengelernt und waren ein Paar geworden.

Aus einer früheren Beziehung hatte Axel bereits einen erwachsenen Sohn, Patrick, den Agnes großartig fand. Sie war sich inzwischen sicher, dass dieser Kölner Detektiv, geboren und aufgewachsen allerdings in der Eifel, für ihr Baby absolut der richtige Papa sein würde. Wenn ihnen auch die Entfernung Probleme bereitete, denn noch hatten sie keine Lösung gefunden, wie man Kufstein und Köln am besten verbinden konnte.

»Axel, ich muss hier weitermachen.«

»Pass auf dich auf.«

Das Gespräch beendete Agnes jetzt selbst ohne Abschiedsgruß.

Trotz der gebotenen Eile stand sie kurz auf, streckte die Arme in die Höhe und hob ein Bein nach dem anderen in die Luft. Ihr Rücken knackte. Das Kind in ihrem Bauch machte eine Seitwärtsbewegung. »Es wird spannend, Spatzerl«, murmelte sie. Agnes setzte sich wieder und strich sanft über ihre Rundung.

Ob es ein Bub oder ein Mädchen werden würde, wollte Agnes nicht wissen. Zusammen mit Axel hatte sie sich entschieden, sich überraschen zu lassen. Der errechnete Geburtstermin war der 31. Oktober. Bisher verlief alles problemlos, abgesehen eben von den Rückenschmerzen und den geschwollenen Knöcheln.

Agnes’ Freundin Mitzi tippte auf einen Jungen. Sie war sogar felsenfest davon überzeugt. Einen Namen für ihn hatte sie bereits vorgeschlagen. Anton Maria sollte der Kleine heißen, und Mitzi war selbstredend die Patentante. Auch das süße Wort »Spatzerl« hatte Agnes von ihr übernommen. Mitzis verstorbene Oma hatte Mitzi von klein auf so gerufen, was Agnes liebenswert fand.

Beim Gedanken an Mitzi huschte ein Lächeln über Agnes’ Gesicht. Nach ein paar Startschwierigkeiten und einigen ziemlich abenteuerlichen Verbrecherjagden waren sie und die strohblonde und grünäugige Maria Konstanze Schlager – »Aber alle sagen Mitzi zu mir« – ziemlich beste Freundinnen geworden. Mitzi war ein schräger, dabei jedoch herzensguter Mensch. Fünf Jahre älter als Agnes, im Herzen aber wie eine kleine Schwester. Oft neben der Spur und chaotisch, gleichwohl immer bereit, zu helfen und das Gute in den bösen Buben dieser Welt zu sehen.

Erst vor einigen Wochen hatte Mitzi in ziemlichen Schwierigkeiten gesteckt, aus denen sie Agnes, von Axel unterstützt, herausgeboxt hatte. Gern dachte Agnes nicht an den letzten großen Fall ihrer nun stockenden Karriere, lieber überlegte sie ernsthaft, ob sie nicht persönlich zu Bastian und dem brandneuen Tatort mit anscheinend uralter Leiche fahren sollte. Keiner würde ihr den Zutritt verweigern können.

Agnes war bewusst, dass die Nachricht von der eingemauerten Leiche bald in ganz Kufstein einen Aufschrei hervorrufen würde. Nicht nur in der Stadt und im Land Tirol – es war davon auszugehen, dass sich die Medien landesweit darauf stürzen würden.

Doch zuerst musste sie sich um die Verstärkung für Bastian kümmern. Sie schickte zwei Kollegen, die eine Etage tiefer gerade ins freie Wochenende wollten, auf den Weg. Dr. Wakowiak, dem Polizeiarzt, sprach sie auf die Mailbox mit der dringenden Bitte um Rückruf. Im Anschluss verständigte sie das Bestattungsunternehmen. Sie ließ sich an das LKA Innsbruck durchstellen und bat um Unterstützung, die ihr zugesichert wurde. Als Letztes holte sie Revierinspektor Sepp Renner aus dem Feierabend.

»Eine eingemauerte Leich?« Im Hintergrund waren Vogelgezwitscher und ein Zischen zu hören. Für Agnes die Bestätigung, dass Sepp tatsächlich im Garten grillte. »Wie lange schon tot?«

»Bastian hat den Körper als Mumie beschrieben, also definitiv lange. Gefunden wurde der Körper in einem Plastiksack. Mehr weiß ich zurzeit auch nicht. Basti ist vor Ort, Sepp. Ich hab vom Revier aus alles geregelt, was möglich war. Den Rest müssen wir uns anschauen.«

»Du nicht.«

»Sepp, es würde mir guttun, nach draußen zu kommen.«

»Dann geh spazieren, am Inn oder die Festung hoch.«

»Das meine ich nicht, Sepp.« Agnes wurde erneut ärgerlich. »Es ist keine Gefahr im Verzug, kein Täter weit und breit. Kein Hauch eines Risikos. Passt doch für mich.«

»Trotzdem.« Er legte auf. Heute war wohl der Tag der unvollendeten Telefonate.

»Das macht mich so grantig.« Agnes redete laut in dem ansonsten leeren Großraumbüro Richtung offenes Fenster. »Und ja: Ich werde spazieren gehen. An den Inn. Über die Brücke. In die Münchner Straße. Wehe, einer der Herren hält mich auf.«

Das Baby trat Agnes gegen die Bauchwand.

»Das nehme ich als dein Okay, mein Spatzerl. Du bist eben ganz die Mama.«

5

»Ich kann nicht jeden Menschen, den du eigenartig findest, polizeilich überprüfen lassen, Mitzi.«

Agnes war nun doch zu Hause, auf der Couch, die Beine hochgelagert, ihr Handy am Ohr.

Am Ende hatte sie sich noch einmal umentschieden und Bastian fürs Erste das Feld überlassen. Der Tatort war inzwischen abgesperrt, die Spurensicherung vor Ort und die Presse noch nicht darauf aufmerksam geworden. Zwar würde es nicht mehr lange dauern, aber jede Stunde, in der die Kollegen ungestört arbeiten konnten, war ein Gewinn.

Immerhin hatte sich Agnes von ihrem Chef zusichern lassen, dass sie für die Recherche am Schreibtisch zuständig sein würde, wenn die ersten Auswertungen eintrafen. Die Leiche selbst würde in die Rechtsmedizin Innsbruck überstellt werden, hatte ihr Dr. Wakowiak vor einer Viertelstunde mitgeteilt.

Jetzt war endlich Mitzi an der Reihe, die bereits mehrfach versucht hatte, Agnes zu erreichen. Anscheinend hatte die Freundin eine seltsame Begegnung am Friedhof etwas aus der Fassung gebracht.

»Nein, Agnes. Das will ich auch nicht.« Mitzi hörte sich immer noch leicht irritiert an. »Aber dieser Friedhofsangestellte, der Herr Hans, war echt gruselig. Ich fürcht mich schon, wenn ich wieder zur Oma ans Grab fahr. Meistens finde ich ja die Leut, denen ich begegne, sympathisch. Aber bei manchen hab ich eben ein blödes Gefühl.«

»Polizeiarbeit hat mit Gefühlen nur bedingt zu tun.«

»Bauchgefühl, Instinkt, der richtige Riecher – das sind alles deine Worte, Agnes.«

Agnes goss sich mit der freien Hand ein Glas Wasser ein und streckte dabei die Zehen aus. Es war ein herrlich entspannendes Gefühl. »Meine liebe Mitzi, stimmt, das habe ich gesagt. Trotzdem lebe ich in Kufstein in Tirol, und ein ältlicher Herr Hans auf einem Friedhof in der Steiermark ist nicht mein Revier.«

»Versteh ich. Is auch schon wieder gut. Nächstes Mal red ich mit keinem mehr dort. Die Idee mit dem Vogerlhaus geht ohnehin nicht, ich hab mich per E-Mail erkundigt. Schad. Das hätt die Oma gefreut.«

»Wie geht es dir denn mit deinem Verlust, Mitzi? Besser oder wieder schlechter?«

Seit dem Tod von Mitzis Großmutter schwankte Mitzi zwischen unendlicher Trauer und euphorischer Vorfreude auf ihre neue Aufgabe als Patentante. Beides versuchte Agnes abzumildern.

»Eigentlich gut, Agnes. Ich weine viel und denke oft an früher. Aber dann stell ich mir vor, dass die Oma mit meinen Eltern, meinem Bruder und dem Opa zusammen is. Irgendwo da oben. Das hilft.«

»Magst du mich bald wieder über ein Wochenende in Kufstein besuchen?« Ein Angebot, das Mitzi schon mehrfach angenommen hatte.

Doch diesmal zögerte sie. »Vielleicht. Ich hab hier in Salzburg noch viel zu tun.«

»Was denn?«

»Keine Sorge, Agnes. Ich mische mich in nix ein und suche nicht nach Verbrechen, wo keine sind.«

»Ich glaube dir, Mitzi.« Agnes trank das Glas Wasser in einem Zug aus und musste rülpsen.

»Hast du eben ein Bäuerchen gemacht, Agnes?« Mitzi kicherte.

Agnes stimmte ein. »Hör auf, mich aufzuziehen. Komm, erzähl mir lieber, was du alles vorhast. Ich hab grad Zeit.«

»Danke, Agnes. Also, zu meinen Plänen: Ich muss mich weiter um die Formalitäten und das Erbe von der Oma kümmern. Alles abschließen. Dazu werd ich sicher noch einmal nach Graz fahren müssen. Obwohl der Notar, den ich aufgesucht hab, vieles regelt. Wobei es eh kaum etwas zu erben gibt. Omas Haus is ja schon lang verkauft, und ihre wenigen Sachen aus dem Heim hab ich bei mir in Salzburg in ein paar Kisten. Es bleibt so wenig von einem Menschen zurück, ich könnt gleich wieder rean.« Nach dem Kichern folgte ein Schluchzen.

»Nicht weinen, Mitzi. Alles gut.« Agnes versuchte Mitzi zu trösten. Wieder einmal war der Gefühlswechsel ihrer Freundin rasant. »Lass uns lieber über dieses Grundstück reden, von dem du nichts gewusst hast. Bist du damit weiter?«

Der Teil des Erbes, der Mitzi völlig überrumpelt hatte. Erst nach dem Tod der Großmutter hatte sie erfahren, dass diese ein Stück Land in Niederösterreich besessen hatte.

»Ach so, ja, das Grundstück in Lilienfeld. Kommt mir immer noch eigenartig vor.«

»Weil du es nicht gewusst hast?«

»Na ja. Seit die Oma im Heim war, hab ich ihre Sachen geregelt. Aber eine Besitzurkunde oder einen Kaufvertrag hab ich nie entdeckt. Alles lag beim Notar.«

»Freu dich doch.«

»Mach ich eh, Agnes. Noch dazu, wo ich schon einen Käufer hab und damit unverhofft zu etwas Geld kommen könnt.«

»Du meinst diesen Severin Radl, den alten Bauern, nicht? Den, der deine Mama und deinen Papa noch gekannt hat.«

»Genau den.«

Severin Radl hatte Mitzi aufgesucht. Er hatte früher mit seiner Frau eine kleine Landwirtschaft betrieben. Der Hof grenzte an die Wiese und das ehemalige Wochenendhäuschen von Mitzis Eltern an. Dazu kam, dass es sich bei ihm um den Mann handelte, der nach dem schrecklichen Unglück der Familie Schlager als Erster die Rettung und Feuerwehr verständigt und die kleine Mitzi umsorgt hatte. Inzwischen war seine Frau verstorben, und der in die Jahre gekommene ehemalige Bauer lebte allein. Seit Ewigkeiten hatte Mitzi nicht mehr an ihn gedacht, bis er überraschend bei ihr in Salzburg aufgetaucht war.

»Ganz hab ich die Sache nicht mehr im Kopf, Mitzi. Entschuldige, aber im Moment muss ich vieles für das Baby vorbereiten.«

»Agnes, das Butzerl geht immer vor. Ich erklär es dir noch einmal.« Die Ablenkung war geglückt, Mitzi hörte sich wieder munterer an.

»Pass auf: Nach dem Unglück 1997 hat meine Oma das Stück Land, auf dem meine Eltern statt einer Wochenendholzhütte ein richtiges Haus bauen wollten, den Radls zurückgegeben. Und dafür das in Lilienfeld in Niederösterreich gekauft. Fast wie ein Tausch. Allerdings hat damals noch alles der Frau vom Herrn Radl gehört. Die is vor einem Jahr ihrem Krebsleiden erlegen. Alles richtig traurig.«

»Ich weiß, Mitzi.«

»Er will den Grund in Lilienfeld zurückkaufen. Es hat gedauert, bis er meine Nummer und Adresse in Salzburg ausfindig gemacht hat. Kurz vor Omas Tod war er dann ja bei mir.«

»Auch das weiß ich noch. Wie aber geht es weiter, Mitzi?«

»Die Geschichte is länger, als man denkt. Deshalb fang ich halt gern von vorne an.«

»Ich sitze auf meiner Couch und habe die Beine hochgelegt.«

»Perfekt.«

»Zwischenfrage von mir, Mitzi. Eigentlich hättest du doch schon damals den Grund in Kalsdorf von deinen Eltern erben müssen, oder?«

»Nein. Ja. Also, doch nicht.« Eine typische Mitzi-Antwort. »Meine Großmutter war es, die das Land ursprünglich gekauft hatte. Für meine Eltern und für Benni und mich. Durch das Testament meiner Eltern hat die Oma es dann wieder zurückgeerbt, könnte man sagen. Aber ihr war klar, dass ich nie wieder dort hätt leben wollen, deshalb kam es ein Jahr nach der Tragödie zu diesem Quasi-Tauschgeschäft. Von Kalsdorf zu Lilienfeld. Klingt kompliziert, is aber einfach.«

»Wenn du das sagst.« Agnes schmunzelte. »Warum möchte denn Severin Radl jetzt doch auch Lilienfeld wieder zurückhaben?«

»Weil er seine Zelte in der Steiermark ganz abbrechen will. Alles erinnert ihn an seine Frau, und die Arbeit is ihm inzwischen zu mühselig. Deshalb verkauft er seinen Hof und die Felder an eine Baufirma. Die werden in der Gegend wohl eine neue Wohnsiedlung errichten und brauchen Bauland. Er selbst will gerne ins Mostviertel ziehen. Genau dort liegt Lilienfeld. Mit einundsiebzig, hat er gemeint, hat man nicht mehr so viel Zeit. Er will an einem neuen Ort endlich zur Ruhe kommen, sich ein kleines Häuserl errichten lassen, eine letzte größere Veränderung wagen. Hört sich gut und ein bisserl traurig an.«

»Und du? Bist du denn wirklich einverstanden und wirst den Verkauf machen? Ich kenne dich, du klingst unschlüssig.«

Mitzi seufzte. »Ach, Agnes. Es is wahr. Ich kann mich nicht endgültig entscheiden. Morgen kommt Severin Radl nach Salzburg, und wir reden noch einmal über alles. Die Baufirma, die mit ihm das Geschäft machen wird, hat ihren Sitz nämlich hier in der Stadt.«

»Warum zögerst du?«

»Weil’s das Erbe von der Oma is. Vielleicht hat sie gewollt, dass ich das Grundstück behalte.«

»Aber du könntest das Geld gut gebrauchen.«

»Ja. Trotzdem fühl ich mich schlecht dabei. Ich denk, ich sollt einmal hinfahren und es mir anschauen, oder, Agnes?«

»Das ist eine gute Idee. Mach das.«

Eine kurze Pause trat ein. Agnes meinte fast, Mitzis Gedanken laufen zu hören.

»Jetzt aber Schluss mit meinem Kramuri und lieber zu dir, Agnes. Alles in Ordnung? Geht es meinem Patensohn gut?«

»Dass du dir so sicher bist, dass es ein Junge wird, erstaunt mich immer wieder.«

»Bauchgefühl.«

»Haha. Axel und ich, wir lassen uns überraschen. Er wettet übrigens gegen dich, Mitzi.«

»Er wird verlieren, dein liebster Detektiv. Is er denn da?«

»Nein, er hat viel zu tun in Köln. Und ich hab hier ja auch noch meinen Dienst.«

»Agnes! Jetzt, wo du’s sagst.« Mitzis Stimmer wurde höher. »Deshalb hab ich mich eigentlich gemeldet. In den Nachrichten wurde berichtet, dass sie bei euch in Kufstein eine Leiche gefunden haben. Eingemauert in einer Kellerwand.«

Nun stieß Agnes einen Seufzer aus. »Oje. Dann ist es doch nicht länger geheim geblieben.«

»Warum geheim, das is doch spannend.«

»Dass dich das brennend interessiert, Mitzi, wusste ich.«

»Klar doch.«

»Ich darf dir dazu keine Auskunft geben.«

»Geh, Agnes. Laut Presse soll die Leich ewig da drinnen versteckt worden sein. Uralt.«

»Alt nur, was das Verbrechen angeht. Die Tote ist weiblich und war, laut der ersten Totenschau, noch keine alte Frau.«

»War es Mord?«

»Mitzi, ich verrate dir schon zu viel.«

»Wer war sie?«

»Das wissen wir nicht. Noch nicht.«

»Spannend und zugleich unglückselig, einfach schlimm.«

»Oh ja, Mitzi. Einem Verbrechen zum Opfer zu fallen ist immer erschütternd, aber ein überraschender Leichenfund wie dieser berührt uns Ermittler genauso.«

»Nelly.«

»Wie bitte?«

»Ich denk, sie hat Nelly geheißen.«

Agnes war perplex. Mitzi konnte sie stets aufs Neue in Erstaunen versetzen. »Wie kommst du darauf?«

»Spontan und nur so. Jeder braucht doch einen Namen.«

6

Der alte Bauer sah etwas verwirrt aus. Augenscheinlich war er die Stadt mit all ihrer Hektik nicht gewohnt.

»Wollen S’ mich begleiten, liebe Mitzi? Ich hätt noch einen Termin, und dann können wir zwei plaudern.«

Sie hatten sich vor dem Haupteingang am Bahnhof in Salzburg verabredet.

»Aber gerne.« Mitzi war etwas besorgt um ihn. »In die Strubergasse müssen Sie, haben S’ gesagt, nicht? Beim Landeskrankenhaus. Bis dahin zu Fuß is es eine Viertelstund.«

»Ich lauf gern.«

»Und ich komm gerne mit Ihnen mit.«

Er nickte, und sie gingen los.

Mitzi war es gewohnt, zu Fuß unterwegs zu sein. Öfter auch nachts. Die stillen Straßen, die im Licht der öffentlichen Beleuchtung der Dunkelheit trotzten, fühlten sich für sie heimelig an. Außerdem half es gegen ihre wiederkehrende Schlaflosigkeit. Wenn sie zwei Stunden durch die Gegend gelaufen war, gelang es ihr leichter, Ruhe zu finden.

»Ich bring Sie bis vor die Tür, Herr Radl. Dann wart ich draußen.«