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Der junge Jakob Schiller erträgt die Bilder des Krieges nicht mehr und verlässt während der Grundausbildung seine Koblenzer Kaserne. Als Pilger verkleidet wandert er die Mosel entlang nach Trier zum Heiligen Rock. Er wird von den Feldjägern gesucht. Das Delikate an der Geschichte: Sein Vater ist General. Das Delikate auch, dass er sich auf seiner Wanderung in zwei Schwestern verliebt. Charlotte ist sanft, Caroline wild. Beiden macht er einen Antrag.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Personen und Handlung sind frei erfunden, Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit Namen rein zufällig.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Jakob Schiller verließ die Kaserne an einem Freitagabend im Juli. „Die Welt brennt an allen Ecken und Kanten“, murmelte er. „Ich ertrage es nicht mehr. Zerstörte Häuser, fliehende Menschen, Drohnen, Raketen, Bomben, nukleare Drohungen. Da soll ich mitmachen? Wo ist die Bereitschaft, aus der Geschichte zu lernen!?“
„So spät noch unterwegs?“ fragte der wachhabende Offizier.
„Es ist Wochenende“, antwortete Jakob. Ich habe Ausgang. Darf ich da nicht gehen, wann ich will? Die Eltern kommen heute erst gegen Mitternacht. Ich habe keinen Schlüssel vom Haus.“
„Na, dann schöne Grüße an Ihren Vater, den General. Sagen Sie ihm, er soll Ihnen mal einen richtig strammen Gruß beibringen. Gestreckte Hand an die Schläfe! Und richtiger Winkel! Sonst wird das nichts mit Ihrer Karriere.“
„Hier sowieso nicht“, dachte Jakob. „Es war ein Fehler.“
Von der Kaserne in Koblenz wanderte er zum Deutschen Eck, wo sich Rhein und Mosel treffen, setzte sich auf eine Bank unweit des Reiterstandbildes von Wilhelm I., um dort den Morgen abzuwarten. Unterwegs hatte er eine Melodie gesummt, wusste selbst nicht, woher das auf einmal kam. „Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät?“
Die Nacht war mild, warm. Eine Weile beobachtete er die Positionslichter der Lastkähne, die sich langsam stromaufwärts schoben. Die anderen, stromabwärts, zogen schneller an ihm vorbei. Den Abend hatte er im Gemeinschaftsraum seines Wohnblocks verbracht, vor dem Fernseher gesessen, die Bilder der Zerstörung gesehen, der Verzweiflung, der Flucht und des Todes. Da war er aufgestanden, hatte sich zu seinem Spind begeben, die Reisetasche gepackt, Pass und Bankkarte eingesteckt. Es war ein spontaner Entschluss. Sechs Wochen Grundausbildung waren genug. Nie mehr würde er sich bei einer Übung mit dem Spaten einbuddeln, den Schaft eines Gewehrs an die Wange legen, Männchen machen bei der Formalausbildung, sich zurechtweisen lassen in der politischen Bildungsstunde, die aus ihm einen Staatsbürger in Uniform machen sollte.
„Darf ich denn keine eigene Meinung haben?“ hatte er einmal gefragt. „Doch, dürfen Sie! Aber es muss die richtige sein.“
Dabei hatte alles am Anfang so logisch und vernünftig geklungen. „Mit so einem miesen Abiturzeugnis“, hatte der Vater gesagt, „Notendurchschnitt 3.8, kommst du hier an keiner Uni unter, wenn du Medizin studieren willst. Der Numerus Clausus liegt bei 1.0. Dir bliebe höchstens Afghanistan mit einem netten Bestechungsgeld oder du heiratest die Tochter des Dekans. Außerdem fällt es auf, dass du schon zwanzig bist und auf der Schule zwei Ehrenrunden gedreht hast. Aber ich weiß einen anderen Weg. Die Bundeswehr hat immer ein Kontingent an den Hochschulen für ihre zukünftigen Sanitätsoffiziere. Du musst dich nur für ein paar Jahre verpflichten.“
„Gute Idee, Vater“, hatte Jakob gesagt. „Das mache ich so. Ist doch egal, wo ich den Blinddarm rausnehme. In einem Lazarett der Bundeswehr oder einem allgemeinen Krankenhaus.“
Über die Verpflichtungszeit von 17 Jahren hatte er sich kaum Gedanken gemacht. Dann wäre er eben erst mit etwa 40 in die Freiheit der eigenen Handlung entlassen, könnte irgendwo auf dem Land eine Praxis eröffnen.
Sein Schlaf in dieser Nacht war unruhig. Die Gedanken fuhren Achterbahn. Öffnete er die Augen, fiel sein Blick auf das Reiterstandbild, das in einem fahlen Mondlicht wie ein steinener Gast seinen Schatten warf.
Nach Hause durfte er nicht. Die Feldjäger würden ihn suchen. Die Feldjäger, das war die Militärpolizei der Bundeswehr. „Ich werde verkleidet die Mosel entlangwandern“, beschloss er. „Als Pilger nach Trier zum ‚Heiligen Rock‘. Vielleicht auch weiter bis Santiago de Compostela. Ich werde am Vormittag in der City einkaufen. Andere Kleidung, Zelt, Isomatte, Schlafsack, Campingkocher, Rucksack, Topf, Becher, Löffel, Messer, Taschenlampe. Das Geld auf meinem Konto reicht dazu noch. Aber Mutter muss mir weiterhelfen.“
Seine Mutter, das war Juana, eine Spanierin, 38 Jahre alt. Der Vater, damals noch Oberst, hatte sie auf einer Natokonferenz in Madrid kennengelernt, wo sie für ihn als Dolmetscherin arbeitete, und er mag gedacht haben: „Lieber eine Hübsche im Bett als noch mehr Lametta am Rock.“ Aber die Heirat hatte seiner Karriere nicht geschadet. Im Gegenteil. Machte es zu Hause Freude, wirkte sich das auch positiv auf den Beruf aus. Mit 50 war er zum Generalmajor aufgestiegen, während seine Frau auch ihren Job hatte und für einen deutschen Verlag spanische und brasilianische Romane ins Deutsche übertrug.
Noch am frühen Samstagmorgen rief Jakob sie an.
„Juana“, sagte er, „können wir uns bitte in Koblenz am Bahnhof treffen. Es ist wichtig. Heute Nachmittag?“
„Was ist los, mein Junge? Du kommst am Wochenende nicht nach Hause?“
„Geht nicht. Ich brauche deine Hilfe.“
„Du hast etwas angestellt?“
„Könnte man so sagen.“
„Sag‘ mir, worum es geht! Du weißt, du kannst mir vertrauen.“
„Weiß ich, aber nicht am Telefon. Ich muss mit dir unter vier Augen sprechen.“
„Ay dios mío! Mein Kleiner hat mal wieder eine Überraschung. Na gut, um wieviel Uhr am Bahnhof?“
„Um Drei? Geht das?“
„Geht. Ich soll zwar deinen Vater zu einem Treffen begleiten, aber das hier scheint mir wichtiger zu sein. Ich gebe dir durch, mit welchem Zug ich ankomme.“
„Bring bitte deine Bankkarte mit! Und meine Gitarre.“
„Ay dios mío!“
Nach dem Anruf ging er in die City, hob am Marktplatz an einem Automaten sein letztes Geld ab. In der Altstadt, in einer kleinen Nebengasse, entdeckte er einen Jamaica-Laden, entschied sich für eine Rastamütze, in den Farben Schwarz, Gelb, Grün, schob die schulterlangen Haare darunter. Dazu kam ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck eines kleinen Kolibris in Herzhöhe. Hinten stand in weißem Aufdruck ‚Only Reggae‘. Weiter kaufte er eine bequeme olivgrüne Leinenhose und eine schwarze, leichte Freizeitjacke. Der Laden hatte auch Schuhe. Er probierte ein Paar Sneakers, türkisfarben wie das Wasser der Karibik, behielt sie. Die alte Kleidung ließ er in dem Laden, ging weiter auf Einkaufstour, fand oben in der Campingabteilung eines Kaufhauses alles, was er zum Zelten brauchte, und unten, im Parterre, gab es Sonnenbrille, Korkenzieher und Dosenöffner und in der Abteilung für Schmuck auch ein daumengroßes, silberfarbenes Kreuz, das er hinten an den Rucksack band. In einem Supermarkt deckte er sich mit Proviant ein. Kaffee, Baguette, Käse, Wasser, eine Flasche Wein und eine Dose Linseneintopf.
„Komme mit dem IC um 15.16 Uhr. Gleis 8“, hatte ihm Juana als SMS geschrieben.
Noch vor der Zeit war er im Bahnhof, durchstöberte den Buchladen, kaufte einen Wanderführer ‚Entlang der schönen Mossel‘ und eine Landkarte, ging dann auf den Bahnsteig. Wie würde das Treffen verlaufen? Würde sie ihm Vorwürfe machen, versuchen, ihn zur Rückkehr in die Kaserne zu bewegen? Schließlich stand eine Menge Ärger ins Haus. Weniger mit ihr. Aber der General wäre nicht über die Fahnenflucht begeistert.
Mit nur zehn Minuten Verspätung stieg sie aus dem Zug, kam in einem langen gelb-roten Kleid lächelnd auf ihn zu. „Na, mein Kleiner, bescherst du mir wieder ein Abenteuer?“ Sie umarmten sich, dann trat sie einen Schritt zurück, musterte ihn. „Wie siehst du denn aus!? Rastamütze, Rucksack! Was hast du vor?“
„Komm!“ sagte er. „Gehen wir erst einmal einen Kaffee trinken. Dann erzähle ich dir alles.“
Sie gingen zu einem Café vor dem Bahnhof, setzten sich draußen an einen Tisch, bestellten Kaffee, Jakob zündete sich eine Zigarette an. „Also“, sagte er. „Ich mache es kurz. Ich bin aus der Kaserne abgehauen und gehe nie wieder dorthin zurück.“
Sie legte die Stirn in Falten, lächelte. „Diego, das habe ich mir vorher schon gedacht. Dieser Weg ist nichts für dich. Und jetzt? Was hast du vor?“
„Die Mosel entlang wandern, zunächst bis Trier. Dann sehe ich weiter. Könnte sogar Spanien werden.“
„Du weißt, dass dich die Feldjäger suchen?“
„Ja, deswegen die Verkleidung. Übernachtung in einem Hotel oder einer Pension geht ab Montag wegen der Anmeldung nicht. Da beginnt meine Fahnenflucht, die unerlaubte Entfernung. Habe mir heute Morgen ein Zelt gekauft.“
Sie schüttelte den Kopf. „Diego, Diego! Was soll das werden? Wie sollen wir Kontakt halten? Telefon geht nicht. Wir werden bestimmt abgehört. Was machst du mit deinem Smartphone? Sie können deinen Standort ermitteln.“
„Ich weiß. Muss ich im Rhein versenken. Wenn es unter Wasser weiter funktioniert, müssen sie tauchen.“
„Nimm es nicht zu leicht, Jacobo! Das wird eine Menge Ärger geben. Vielleicht lässt, wenn sich der erste Zorn gelegt hat, dein Vater seine Beziehungen spielen. Dann kämst du mit einer glimpflichen Strafe davon. Es wird Gras über die Sache wachsen, und dann suchst du dir ein Studium und einen Beruf, der dir Freude macht. Du kannst ja nicht ein Leben lang mit Zelt unterwegs sein.“
Er musste ihr insgeheim recht geben. Fahnenflucht verjährt nicht. Ein oder zwei Jahre mit dem kleinen Zelt unterwegs sein, mochte gerade noch gehen. Aber ein Leben lang?
„Ich würde dir ja gerne mein Smartphone geben und mir ein neues kaufen“, sagte sie. „Aber die werden selbstverständlich auch mich abhören. Das geht also nicht. Lass mich überlegen, wie wir in Kontakt bleiben können, ohne dass du gefährdet bist. Aber da fällt mir im Moment noch nichts ein. Außer wir vereinbaren jetzt schon einmal ein Treffen. Die Feldjäger werden mich ja nicht heimlich verfolgen. Hoffe ich. Wieviele Kilometer wirst du am Tag gehen?“
„Zwanzig. Ich habe es nicht eilig.“
„Gut. Dann treffen wir uns in acht Tagen wieder und ich kann dir über den Stand der Dinge berichten.“
„Du machst dich zu meiner Komplizin“, wandte er ein.
„Was bleibt mir anderes übrig? Du bist mein Sohn.“
Sie nahm ihr Smartphone aus der Handtasche, legte es auf den Tisch. Er sah, wie sie sich bei Google Maps einloggte und suchte. „Also“, meinte sie schließlich, „wir treffen uns am Sonntag um Drei in Bernkastel. Das sind mit dem Auto etwa von Koblenz aus 110 Kilometer. Aber du gehst die Mosel entlang. Die hat viele Schleifen. Bis Bernkastel sind es dann etwa 130 oder 140 Kilometer. Ich kenne Bernkastel, war mal mit dem Vater zu einer Weinprobe da. Wir haben im Hotel ‚Moselblümchen‘ übernachtet. Dazu gehört auch ein Restaurant. Da kann man gemütlich draußen sitzen. Wann gehst du los?“
„Morgen. Heute nicht mehr.“
„Und wo bleibst du die Nacht über?“
„Weiß ich noch nicht. Auf irgendeiner Wiese. Oder noch einmal auf einer Bank am Rhein.“
„Quatsch! Du wirst ja noch nicht vermisst, kannst dich ruhig anmelden. Geh in ein Hotel hier. Ich denke, du wirst Geld brauchen. Wir gehen gleich an einen Automaten und ich hebe mit meinen Karten tausend Euro ab. Nachschub dann in Bernkastel. Ich schreibe dir noch die Adresse des Hotels auf. Um drei Uhr sitze ich draußen vor dem Restaurant. Bei Regen natürlich drinnen.“
Er stand auf, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, sagte: „Ich hab‘ dich lieb, Mutter.“
Das Ibis-Hotel lag ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Er checkte dort ein, ließ Rucksack und Gitarre auf dem Zimmer, Die Lyrics eines Songs aus dem Album ‚Optimus Prime‘ von Sören Vogelsang fielen ihm ein. ‚Große Freiheit‘. ‚Fürchte die Flaute, nicht den Sturm. Ganz egal, wie stark er weht. Was bringt dir schon dein Segelboot, solang es nur am Ufer steht.‘
„Was wäre aus Kolumbus geworden“, dachte Jakob, „hätte er keinen Mut gehabt? Eine Hafenrundfahrt! Kein Abenteuer, keine Entdeckung des Unbekannten.“
Es war früher Abend. In der Hotelbar setzte er sich an die Theke, bestellte einen Wodka. Neben den Vitrinen mit den Getränken leuchtete in einem hellen Grün das Schild ‚Bar Rendezvous‘. Er hatte die Rastamütze, unter der sich die Jesushaare versteckten, aufbehalten und trug das T-Shirt mit dem Kolibri, war fast alleine in der Bar. Bei dem heißen, sonnigen Wetter hielten sich die Leute lieber draußen auf. Außer dem Barkeeper saß hinter ihm an einem Tisch eine Dame, für die er beim Betreten der Bar nur einen flüchtigen Blick gehabt hatte. Sie schien etwas älter zu sein als er, schätzungsweise dreißig. Sie hatte kurze, kastanienbraune Haare, trug ein langes Kleid, leuchtend gelb wie Sonnenblumen. Er bestellte sich einen zweiten Wodka. Da kam sie, blieb zunächst neben ihm stehen, fragte: „Darf ich mich zu Ihnen setzen oder wollen Sie lieber alleine sein?“
„Nein, nein. Bitte! Ich freue mich über Gesellschaft.“ Er zog den Hocker neben sich, der eng an die Theke gelehnt war, ein Stück zurück, machte mit der Hand eine einladende Geste. Sie setzte sich, strich ihr Kleid glatt, sagte: „Verzeihen Sie, wenn ich neugierig bin. Was bedeutet das hinten auf Ihrem T-Shirt? Only Reggae.“
Er hob die Schulter, legte die Stirn in Falten, blickte in smaragdgrüne Augen. „Na ja, was schon!? Ich liebe diese Musik. Sie hat einen frischen, aufmunternden Rhythmus. Offbeat, 4/4-Takt.“
„Sie sind Musiker?“
„Ja und Nein. Hobbymäßig. Aber vielleicht kommt der große Auftritt noch.“
Sie zeigte ein charmantes Lächeln. „Sie sind wenigstens ehrlich“, meinte sie. „Andere hätten eher dick aufgetragen, eine phantastische Geschichte erzählt.“ Sie reichte ihm die Hand, sagte: „Ich bin Biggy, komme aus Mannheim, bin Modedesignerin, habe hier in Koblenz eine neue Kollektion vorgestellt.“
„Jakob. Aber meine Mutter nennt mich auch Diego.“
„Oh, das ist viel schöner! Und was machen Sie in Koblenz?“
„Müssen Sie das wissen? Ich bin auf der Durchreise.“
„Warum so geheimnisvoll?“
Er legte den Kopf in den Nacken, blickte an die Decke der Bar, überlegte einen Moment. „Na gut, verrate ich es Ihnen eben. Ich bin Pilger, gehe zum Heiligen Rock nach Trier, vielleicht auch weiter bis Santiago.“
Im Hintergrund lief in diesem Moment leise Musik. ‚Bakerman‘ von Laid Back.
„It′s too late to worry. Slow down. Take it easy. The night train is coming.”
Biggy bestellte sich auch einen Wodka, hob, als der Barkeeper es vor sie hingestellt hatte, das Glas an den Mund, trank aber nicht, blickte ihm über den Rand in die Augen, sagte:
„Bist ein interessanter Bengel. Ich mag Rasta-Typen. Hättest du Lust mit mir nach Mannheim zu kommen? Dann müssten wir uns aber vorher verloben. Wir nehmen eine Flasche Wein mit auf mein Zimmer und feiern dort.“
Jakob spitzte die Lippen, dachte: „Oh, hat die ein Tempo! Ja, warum nicht? Dann kann ich endlich mal wieder vögeln.“
„Du musst aber lange überlegen“, meinte Biggy. „Bin ich nicht attraktiv genug?“
„Ach was! Du bist sehr attraktiv. Aber warum erst verloben? Das können wir auch hinterher noch. Der Dichter Friedrich Schiller hat einmal gesagt: ‚Was du von der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück.‘“
Biggy legte die Stirn in Falten, dachte nach. Dann sagte sie, zu leise für den Barkeeper, aber laut genug für Jakob: „Bin ich ein anständiges Mädchen oder nicht? Ach was! Anständig sein kann ich später immer noch. Gehen wir auf mein Zimmer.“
Juana Schiller saß mit Sorgenfalten im Zug nach Köln. Es würde ein unangenehmer Abend werden. Ihr Mann, der General, wäre schockiert über Jakobs Entschluss. Fahnenflucht war kein leichtes Delikt. Eigentlich konnte man gut mit Berthold Schiller reden. Er erinnerte sie in Verhalten und Statur an Curd Jürgens in dem Film ‚Des Teufels General‘, verstand sich auf einen jovialen, freundlichen Umgangston. Aber in diesem Fall!? Eher nicht. Sie würde mit ihm reden müssen. Es würde nicht lange dauern, dann erschienen die Feldjäger im Haus, und er wäre unvorbereitet, was alles noch viel schlimmer machen würde. Sie musste ihn also aufklären.
„Na, meine Liebe“, empfing er sie. „Wie war es bei deiner Freundin?“
„Da war ich nicht. Es ist etwas anderes passiert. Ich war bei Jakob in Koblenz.“
„In der Kaserne?“
„Wir haben uns im Bahnhof getroffen und uns dann in ein Café gesetzt. Er hatte mir etwas zu erzählen.“
„Und warum ist er nicht mitgekommen?“
„Geht nicht. Er ist verhindert.“
„Hmm. Hört sich nicht gut an. Hat er wieder etwas angestellt? Der wird dich ja nicht ohne Grund getroffen haben.“
„Genauso ist es. Aber setzen wir uns bitte. Ich hole eine Flasche Wein aus dem Keller. Dann lässt es sich leichter reden.“
Der General legte die Stirn in Falten. „Hat er aus Versehen bei einer Übung jemanden erschossen?“
„Nein. So schlimm ist es nicht. Aber warte ab. Ich erzähle es dir gleich.“
Als sie sich dann mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern neben ihn gesetzt hatte, meinte ihr Mann, während er die Flasche entkorkte: „Nun erzähl schon! Spanne mich nicht auf die Folter. Was hat unser Sohn verbrochen? Stimmt es? Er hat dich um Geld gebeten.“
„Ja, das auch. Ich habe ihm tausend Euro mitgegeben. Du wirst es ja auf dem Konto merken.“
„Mitgegeben? Was heißt das?“ Der General sah seine Frau erstaunt an, goss unachtsam den ersten Schluck neben das Glas. „Mitgegeben?“ wiederholte er. „Was um Himmels Willen bedeutet das?“
„Er hat die Kaserne verlassen. Für immer. Er will nicht mehr zurück.“
Berthold Schiller sah sie entgeistert und ungläubig an. „Sag bitte, dass das nicht wahr ist. Er ist fahnenflüchtig?“
„Ja.“
„Oh Gott! Der Sohn des Generals! Du hast versucht, ihm diesen Unsinn auszureden?“
„Nein. Ich verstehe seine Gründe.“
„Dafür gibt es keine Gründe. Er bringt uns in Teufels Küche. Über kurz oder lang werden die Feldjäger ihn suchen und auch hier auftauchen.“
„Dann empfängst du sie in Uniform. Sie werden strammstehen und grüßen.“
„Die bestimmt nicht. Die Herren im roten Barett halten sich für die Elite der Truppe.“ Der General nahm einen kräftigen Schluck Wein, schüttelte den Kopf. „Sag bitte, dass das ein Scherz ist! Wo will er überhaupt hin?“
„Hat er mir nicht verraten. Er will inkognito bleiben.“
„Ich werde ihn anrufen, ihm die Flausen austreiben.“
„Geht nicht. Er hat sein Handy in den Rhein geworfen, damit er nicht geortet werden kann.“
„Er hat dir wirklich nicht gesagt, wo er hinwill? Der Junge hat doch gar keine Chance. Die finden ihn.“
„Er hat mir nicht erzählt, wo er hinwill, was er vorhat. Ich weiß es nicht.“
„Also haben wir keinen Kontakt zu Jakob. Hier anrufen wird er ja auch nicht. Unser Telefon wird sowieso überwacht. Entschuldigung, was du mir da erzählst, ist schlimm.“
„Denk nicht nur an dich! Wir müssen ihm helfen. Du hast doch bestimmt gute Beziehungen, damit er mit einer glimpflichen Strafe davonkommt.“
„Gute Beziehungen? Bei Fahnenflucht gibt es keine guten Beziehungen.“
Die Flasche Wein hatten Biggy und Jakob hinterher getrunken. Am frühen Morgen gegen Fünf. Es war eine schöne, zärtliche Nacht und Jakob dachte: „Die Flucht fängt gut an. Das ist die Belohnung für Verbotenes. Statt beim Stubendurchgang in der Kaserne stramm zu stehen und für nicht exakte Falten und unsichtbare Staubfuseln getadelt zu werden, liegt dir eine schnurrende Katze im Arm.“
Das Frühstück verpassten sie. Auch den pünktlichen Checkout aus dem Hotel. Aber an der Rezeption machten sie wegen einer Stunde Verspätung kein Theater. Er trank mit Biggy noch einen Kaffee am Bahnhof, brachte sie zum Bahnsteig, zum IC nach Mannheim, versprach, sobald wie möglich dorthin zu kommen.
Er wanderte zum Rheinufer, warf sein Smartphone mit einem weiten Schwung in den Rhein, bedauerte, dass er das Gurgeln des Wassers nicht hören konnte. Eine Weile überlegte er, links oder rechts der Mosel zu wandern, entschied sich für das linke Ufer, weil es hier mehr Orte gab, in denen er sich mit Proviant versorgen konnte, und überquerte den Fluss auf einer Brücke. Als erste Tagesetappe nahm er sich Winningen vor. Das waren nur zehn Kilometer. „So lernst du ein Stück deutscher Heimat kennen, die du bei einem Angriff verteidigen sollst“, dachte er. „Aber geht das überhaupt noch in den Zeiten des nuklearen Wahnsinns?“
Kurz vor Winningen stieg er einen Hang hoch, gelangte in die Nähe eines Flughafens, setzte sich an einem Weinberg ins Gras, hatte einen Ausblick auf die Mosel unter sich, wartete die Dunkelheit ab, um dass das Zelt aufzuschlagen.
Er zog eine Flasche ‚Grauen Burgunder‘ aus dem Rucksack, öffnete sie, füllte den Becher, ließ den ersten Schluck des trockenen Weins auf der Zunge zergehen, blickte auf die Mosel, das gegenüber liegende Weindorf Lay. Wie gerne hätte er Biggy jetzt bei sich gehabt! Die Dämmerung kam mit einem dunkler werdenden samtblauen Himmel. Die ersten Lichter in Lay flammten auf. Hinter der Silhouette der Weinberge schob sich die Sichel des Mondes empor, treu gefolgt von einer hell strahlenden Venus. Als sich am nordwestlichen Himmel die Konturen des ‚Großen Wagens‘ zeigten, schlug er das Zelt auf, entrollte die Isomatte, ließ den Schlafsack zugeschnürt. Die Nacht war warm. Er brauchte ihn nicht. So würde er meistens zelten. Mit einem freien Blick auf die Landschaft. Der Wald mit seiner Dunkelheit und den Geräuschen der Nacht wäre eher unheimlich. Denn irgendwo saß immer ein Jäger auf seinem Hochsitz. Im freien Feld gab es nur das heisere Bellen eines Fuchses oder den leisen Galopp eines Rehs.
Die Flasche ‚Burgunder‘ war leer. Er durchschlief die Nacht tief und ruhig, wachte mit der Morgendämmerung auf. Nur einmal hatte er im Traum geglaubt, Biggy läge neben ihm. Er hatte nach ihr getastet, aber da war nur das Tuch des Zeltes.
