Schlafender Drache - Matthias Fischer - E-Book

Schlafender Drache E-Book

Matthias Fischer

4,9

Beschreibung

Kaum hat Caspari seine neue Arbeitsstelle im BKA angetreten, wird in Bad Orb der Geschäftsführer eines Weltkonzerns ermordet. Zu allem Überfluss finden sich Fußabdrücke von Casparis Freundin Clara am Tatort. Ein alter ungelöster Fall bringt Casparis Privatleben schließlich endgültig ins Wanken …

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Matthias Fischer, geboren 1964 in Hanau, wuchs in Bruchköbel auf, studierte evangelische Theologie in Oberursel und Mainz und absolvierte sein Vikariat von 1992 bis 1994 in Wächtersbach. Seit 1994 ist er evangelischer Pfarrer in einer Gemeinde im Kinzigtal sowie in der Notfallseelsorge tätig und schreibt erfolgreich Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© eBook-Ausgabe: Emons Verlag GmbH 2016 Alle Rechte vorbehalten Erstausgabe: »Schlafender Drache«: Verlag M. Naumann, vmn, Hanau 2009 Umschlagmotiv: photocase.com/Mad Mike Umschlaggestaltung: Nina Schäfer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-96041-038-6   Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

IN MEMORIAMBERNHARD NAUMANN

DENN ALLE HOFFÄRTIGEN AUGEN WERDEN ERNIEDRIGT WERDEN, UND, DIE STOLZE MÄNNER SIND, WERDEN SICH BEUGEN MÜSSEN; DER HERR ABER WIRD ALLEIN HOCH SEIN AN JENEM TAGE.UND MIT DEN GÖTZEN WIRD’S GANZ AUS SEIN. DA WIRD MAN IN DIE HÖHLEN DER FELSEN GEHEN UND IN DIE KLÜFTE DER ERDE VOR DEM SCHRECKEN DES HERRN UND VOR SEINER HERRLICHEN MAJESTÄT, WENN ER SICH AUFMACHEN WIRD, ZU SCHRECKEN DIE ERDE.AN JENEM TAGE WIRD JEDERMANN WEGWERFEN SEINE SILBERNEN UND GOLDENEN GÖTZEN, DIE ER SICH HATTE MACHEN LASSEN, UM SIE ANZUBETEN, ZU DEN MAULWÜRFEN UND FLEDERMÄUSEN, DAMIT ER SICH VERKRIECHEN KANN IN DIE FELSSPALTEN UND STEINKLÜFTE VOR DEM SCHRECKEN DES HERRN UND VOR SEINER HERRLICHEN MAJESTÄT, WENN ER SICH AUFMACHEN WIRD, ZU SCHRECKEN DIE ERDE.SO LASST NUN AB VON DEM MENSCHEN, DER NUR EIN HAUCH IST; DENN FÜR WAS IST ER ZU ACHTEN?(Jesaja 2,11.18-22)

PROLOG

TIEFBLAU SCHIMMERTE DER KÖNIGSSEE, als das Schiff leise die Wasseroberfläche bewegte. Das Spiegelbild des Watzmann-Massivs zerfiel in viele kleine Wellen, die sich in der Weite des Sees verloren, je mehr sie sich vom Schiffsrumpf entfernten. Die roten Lärchenschindeln der Wallfahrtskirche St. Bartholomä leuchteten rot in der Frühlingssonne, während das Schiff auf die Halbinsel zusteuerte. Monika liebte diese atemberaubend schöne Landschaft, durch die sie wie im Traum zu schweben schien. Sie lebte in Bad Reichenhall, nur ein paar Kilometer von dieser gewaltigen Naturkulisse entfernt. Und doch gelang es ihr viel zu selten, sie ausgiebig zu genießen.

»Wohin geht’s denn?«, fragte der Bootsschaffner mit einem freundlichen Lächeln.

»Erst einmal auf die Wasseralm«, antwortete Monika. »Dann schau’n mer mal weiter.«

»Ja, auf die Wasseralm wirst’s schon schaffen. Heuer ist der Schnee schon früh weggangen. Aber rüber zum Jenner liegt noch viel. Und oben bei den Teufelshörnern liegt auch noch einiges. Da musst wegen Lawinen schon schau’n! Vorletzte Woche bin ich mit den Tourenski drüben gewesen. Da ging es grad noch so.«

Monika lächelte. Es war wohltuend, sich mit Menschen zu unterhalten, die vom Berg und vom Steigen etwas verstanden. Viele verwechselten die Touren, die sie ging, mit den breiten Wanderpfaden, die alljährlich unzählige Touristen in den Sommermonaten zu den Berghütten führten. Der Bootsschaffner gehörte zur Gemeinschaft derer, die mit den Bergen eng verbunden waren. Wer dazu gehörte, erkannte andere an der Art, wie sie über ihre Touren sprachen, oder vielmehr daran, was sie nicht darüber sagten. Die Wanderer erkannten sich an der Art zu gehen, den Rucksack zu tragen und daran, schweigen zu können, wenn der majestätische Anblick der Berge alles Fühlen und Denken an sich zog.

»Ich lass’ mich überraschen«, antwortete sie ruhig.

»Im Berg muss man halt auch immer ein bisserl Glück haben«, schloss ihr Gegenüber.

Dann kamen sie an der Anlegestelle bei der Saletalm an. Sie hob die Hand zum Abschied, als sie von Bord ging. An einer Bank in der Nähe schnürte sie sich ihre Stiefel und zog die Riemen des Rucksacks fest. Dann ging sie mit federnden Schritten los. Von der Alm drang Lärm zu ihr herüber. Schnell ließ sie das dem Stimmgewirr zufolge überfüllte Lokal hinter sich und lief zum Obersee.

›Wenn die Touristen alle Mittag essen‹, dachte sie, ›bevölkern sie nicht den Weg zur Röth.‹ Kaum jemand begegnete ihr auf dem waldigen Pfad um den Obersee, dessen blanke Oberfläche sie schon als Kind fasziniert hatte. Aus der Ferne sah sie einige Wanderer, die sich an der Fischunken-Alm ausruhten. Ruhig schritt sie den ansteigenden Pfad voran. Schusterblumen und Buntschuh waren willkommene Farbtupfer im satten Grün der Bergwiese.

›Wie schnell doch die Natur nach dem Schnee zum Leben erwacht‹, sinnierte Monika, als sie schon das Rauschen des Röthfalls hörte. Und dann war er da. Die junge Frau stand auf einer runden Lichtung, die an einer fast gerade aufragenden Bergwand endete. Der Röthsteig war von dieser Stelle wie immer kaum auszumachen. Dass er dennoch dort war, musste sie sich jedes Mal aufs Neue in Erinnerung rufen, wenn sie hier stand. Auf der rechten Seite stürzte der Röthfall in die Tiefe und ergoss sich in einen großen Teich. Auf der linken Seite sah sie einen viel kleineren, aber doch sehr aktiven Wasserfall, dessen Wasser in einem flachen Bett ebenfalls in den Teich floss.

Gierig trank Monika das kühle, frische Wasser und füllte ihre Flasche auf. Dann ging sie los, durch ein schmales Waldstück, das den Fuß der Röth säumte. Schnell fand sie den Pfad zur Wasseralm und folgte ihm. Feuchtes Laub lag auf dem schmalen Steig, der sich in Serpentinen die Wand hinaufschlängelte. Hier und da hatten Schneebretter Bäume mitgerissen, über die sie klettern musste. Nach einem guten Drittel des Weges teilte sich der Steig. Auf die linke Seite des Berges führte der Landsteig, der landschaftlich malerisch, aber dafür umso länger war als der Röthsteig, der nach rechts führte. Sie sah auf die Uhr. Sie hatte viel Zeit verloren und musste sich ranhalten, um nicht zu spät an der Alm anzukommen. Noch war dort die Saison nicht eröffnet. Der Hüttenwart würde erst in zwei Wochen dort oben das Regiment führen.

Heute würde sie allein dort sein. Sie musste selbst Holz und Wasser holen, Feuer im Herd machen und sich rundum selbst versorgen. Deshalb musste sie vor Einbruch der Dämmerung dort angekommen sein. Nicht, dass sie etwas dagegen gehabt hätte. Sie wollte es so haben, wollte in Ruhe über ihre zerbrochene Liebe nachdenken, endlich Frieden schließen. Sie war müde. Ihre Seele sehnte sich nach einer Auszeit, ihr Körper dagegen nach mehr Bewegung. Entschlossen lief sie den Röthsteig hinauf. Immer steiler wurde er, immer beschwerlicher, immer schöner. Ein blauer Enzian schimmerte im Gras. Schmetterlinge flatterten über die Pflanzen, die sich auf dem steinigen Boden alle Mühe gaben, mit ihrer Schönheit von den Strapazen des Aufstiegs abzulenken. Als sie nach zwei Stunden oben angekommen war, empfing sie eine geschlossene Schneedecke auf dem Plateau.

Mit geübten Handgriffen zog sie sich ihre Gamaschen an und stapfte durch den Schnee. Es war schon einige Jahre her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie kannte den Weg nicht auswendig, musste ihn mühevoll suchen. Der Schnee bedeckte die meisten roten Markierungspunkte auf dem weißen Untergrund. Vorsichtig ging sie über das trügerische Weiß. Weich war der Schnee von der Wärme des Frühjahrs und den Regenfällen. Hier und da brach sie mit einem Bein ein und musste sich mühsam wieder herausziehen. Nach einer weiteren guten Stunde war sie über viele Steigungen zu der Lichtung gelangt, die sie suchte. Sie stand neben einer Jagdhütte, vor der sich eine Murmeltierfamilie auf einem Holzstapel sonnte. Die Tiere hatten ihr Kommen schon lange zuvor bemerkt und mit ihrem typischen Pfeifen angekündigt. Sie beobachteten Monika mit einer amüsanten Mischung aus Vorsicht und Desinteresse. Monika richtete ihren Blick auf die Wasseralm, die hundert Meter vor ihr lag. Die Hütte war von zwei Bächen umgeben und lag malerisch schön auf der Lichtung. Hier würde sie nach all den schlaflosen Nächten, den zerplatzten Hoffnungen und zerstörten Träumen wieder zu sich selbst finden können, ganz allein und in Ruhe.

Doch als sie über die Brücke schritt, zuckte sie erschrocken zusammen. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Jemand war in der Hütte, im Winterlager, jetzt, um diese Jahreszeit. Sie blieb stehen. Sollte sie wieder umkehren? Schnell verwarf sie diesen Gedanken und ging auf die Hütte zu. Als sie vor der grob gezimmerten Eingangstür stand, hörte sie aus dem Aufenthaltsraum Männerstimmen. Mit festen Tritten klopfte sie den Schnee von den Sohlen und streifte ihren Rucksack ab. Sofort erstarben die Gespräche im Inneren. Während sie sich auf die in der Außenwand eingelassene Bank setzte und ihre Gamaschen auszog, kam ein junger Mann heraus. Monika gefiel er auf Anhieb. Er war schlank, die Bartstoppeln und das zerzauste Haar gaben seiner Erscheinung etwas urtümlich Männliches. Seine Bewegungen strahlten Vitalität aus. Sein Lächeln hingegen wirkte etwas gezwungen. Doch das tat in Monikas Augen seiner Attraktivität keinen Abbruch.

»Ich hätte nicht gedacht, dass noch jemand außer uns so verrückt ist, sich im Schnee hier hoch zu quälen«, sagte er, während er auf sie zukam.

»Und ich hatte mich auf Ruhe und Stille hier oben eingestellt«, erwiderte sie. »Seit wann seid ihr da?«

»Seit gestern«, antwortete er lächelnd. »War ein hartes Stück Arbeit, den ungeräumten Weg hier hoch zu kommen.«

»Für Flachlandtiroler allemal«, bemerkte sie grinsend. Dieser Kerl sah einfach zu gut aus. In seiner Stimme klang etwas mit, das sie seit Jahren vermisst hatte. Sie konnte es nicht lassen, mit ihm zu flirten.

»Wir sind zwar keine einheimischen Bergziegen, aber das ist nicht gerade unsere erste Bergtour«, wehrte er sich halbherzig.

Während sie redeten, setzten die Gespräche im Inneren der Hütte wieder ein, diesmal jedoch in gedämpfter Lautstärke. Monika konnte nicht ausmachen, wie viele Personen sich außer dem hübschen Jungen noch auf der Alm befanden. Als sie die Stiefelschäfte aufband, entwich ihr ein leises Stöhnen. Sachte massierte sie ihre Fußgelenke, bevor sie in die Hüttenschuhe schlüpfte, die sie mitgebracht hatte. Der Fremde sah ihr schweigend dabei zu.

»Ich hoffe, du magst eine etwas überladene Suppe.« Der Mann lächelte. »Einer der Jungs hat sich als Koch versucht und gleich drei verschiedene Fertigsuppen zusammen mit einigen Landjägern gekocht. Das Ergebnis ist so sättigend, dass noch reichlich übrig geblieben ist.«

»Das hört sich an, als ob es gerade das Richtige nach diesem Aufstieg wäre«, antwortete sie.

Durch die Eingangstür trat sie in den Hüttentrakt, in dem sich das Matratzenlager befand. Dreißig Personen fanden hier mühelos Platz.

»Die Betten im Erdgeschoss sind nicht zu empfehlen«, flüsterte ihr Gesprächspartner. »Ich sage es nur ungern, aber einige meiner Bergkameraden sägen nachts schlimmer als jeder kanadische Holzfäller.«

»Das hört sich nach einer Freikarte für das Dachgeschoss an«, antwortete sie.

Ein leichtes Prickeln kroch ihren Nacken hinauf. Wann hatte sie zuletzt mit einem Mann geschlafen? ›Vor einer halben Ewigkeit‹, dachte sie, während sie den Rucksack vor sich her auf der Leiter hoch hievte. Im Matratzenlager unter dem Dach lag nur ein Schlafsack. Sie konnte sich denken, wem der gehörte.

Als sie den Gemeinschaftsraum betrat, schlug ihr wohltuende Wärme entgegen. Das Feuer im großen Herd knisterte und zischte hörbar über die Stimmen der Männer hinweg. Da saßen sie, die Wanderer, die ihr ihren Traum von Abgeschiedenheit zunichtegemacht hatten. Sie selbst hatte allerdings ebenso den Eindruck, dass sie störte, auch wenn die Männer sich alle Mühe gaben, sich nichts anmerken zu lassen. Die sechs waren unterschiedlichen Alters. Einer von ihnen, ein Mann zwischen vierzig und fünfzig, schien der Chef zu sein. Und die anderen machten ihm diese Position offensichtlich nicht streitig. Sie gaben ihr einen Teller Suppe, die Monika tatsächlich überladen fand. Doch nach dem anstrengenden Aufstieg war sie ihr willkommen.

Eine Flasche Enzian machte den Abend über oft die Runde, und die junge Frau verabschiedete sich, als sie den Alkohol zu spüren begann. Kaum lag sie im Schlafsack, schienen die Gespräche der Männer wieder ernst zu werden. Sie sprachen leise, flüsterten fast. Gelegentlich zischte einer von ihnen, wenn ein anderer zu laut wurde.

Das leise Knarren auf der Stiege ließ Monika aufhorchen. Der Gutaussehende kam zu ihr hoch. Wie war sein Name gewesen? Sie hatten ihr alle ihre Vornamen genannt. Vielleicht war es dem Schnaps zu verdanken, dass sie sich keine Mühe gegeben hatte, sie zu behalten.

Der Schein seiner Taschenlampe streifte ihr Gesicht. Er entschuldigte sich gleich.

»Macht nichts, ich bin noch wach«, erwiderte sie.

»Politik, Politik. Wenn die sich nur darüber zanken können«, meinte er und zeigte mit dem Daumen nach unten. Sie lächelte.

»Dabei gibt es doch noch so viele andere Dinge, mit denen es sich zu befassen lohnt«, antwortete sie.

Er verstand, was sie meinte. Schweigend zog er seinen Schlafsack in ihre Nähe und schlüpfte hinein, ohne den Reißverschluss nach oben zu ziehen.

›Auch in langer Unterwäsche sieht er noch verdammt gut aus‹, dachte sie anerkennend. Monika wusste nicht, was auf dieser Alm in sie gefahren war. Im Grunde gehörte sie nicht zu jenen Frauen, die mit jedem Mann ins Bett gingen, der ihnen gefiel. Aber das über Monate unterdrückte Verlangen nach Zärtlichkeit brach sich in ihr Bahn. Sie blickte ihm noch einmal in die Augen, bevor er die Taschenlampe löschte. Als sie sich küssten, hörte sie, wie er den Reißverschluss ihres Schlafsacks aufzog.

Monika erwachte am nächsten Morgen später, als sie beabsichtigt hatte. Die Sonne, deren Strahlen durch das Dachfenster schienen, wärmte ihr Gesicht. Als sie sich aus ihrem Schlafsack zu schälen begann, fiel ihr ein, dass sie nackt war. Schnell zog sie ihr T-Shirt vor die Brust, doch dann erinnerte sie sich, dass sie im Halbschlaf leise Stimmen und Geräusche des Aufbruchs gehört hatte. Der Fremde, mit dem sie ihr Lager geteilt hatte, war fort. Eine Nacht hatte er ihr Freude bereitet und die Hoffnung geschenkt, dass die liebevolle und leidenschaftliche Verbindung zwischen ihr und einem Mann möglich war. Es war gut, dass er ohne ein Wort des Abschieds gegangen war. Noch war sie nicht so weit, sich wieder auf eine dauerhafte Beziehung einzulassen.

Als sie sich auf der Matratze abstützte, um sich aufzurichten, stach etwas in ihre Hand. Es war seine silberne Halskette mit dem Anhänger. Er hatte sie vergangene Nacht ausgezogen, weil sich der Anhänger abwechselnd in seine und ihre Haut gebohrt hatte. Sie zog sie an. Doch dann befiel sie ihr schlechtes Gewissen. Vielleicht hatte diese Kette für ihn eine besondere Bedeutung und ihr Verlust schmerzte ihn.

Sie stieg hinab in den Gemeinschaftsraum. Das Feuer im Herd brannte noch ein wenig. Nachdem Monika zwei Scheite nachgelegt hatte, nahm sie das Hüttenbuch und schlug nach. Alle Bergsteiger, die hier Schutz fanden, trugen sich darin ein. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Sie könnte diesen Anhänger an einen aus seiner Gruppe schicken. So käme er sicher wieder zu ihm. Doch als sie das Buch aufschlug, stutzte sie. Es gab keinen Eintrag der Männer darin. Monika konnte nicht glauben, dass sie nichts von dieser Pflicht wussten. Sie rüttelte etwas an der Geldkassette, die an die Wand geschraubt war. Sie war voller Scheine und Münzen. Wenn sie ihren Obolus für die Übernachtung und das Feuerholz gezahlt hatten, warum hatten sie ihre Namen nicht in das Hüttenbuch geschrieben?

Monika entschied, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern das Naheliegendste zu tun. Im eiskalten Wasser des Bachs wusch sie die Spuren der vergangenen Nacht ab. Nach einem kurzen Frühstück ging sie mit einer fast vergessenen Freude am Laufen zurück zum Röthfall. Der pappige Schnee machte ihr zwar die Besteigung der Teufelshörner unmöglich, aber die Berchtesgadener Alpen boten noch genug Möglichkeiten, die Seele aufzutanken.

GELNHAUSEN

Caspari holte Clara am Pfarrhaus in der Oberen Haitzer Gasse ab. Als er vor dem Haus hielt, kam sie sofort aus der Tür. Sie trug ein luftiges Sommerkleid, das dem Betrachter allzu aufdringliche Blicke verwehrte und doch ihre Figur dezent betonte. Sein Blick verfing sich darin wie der Falter im Netz der Spinne. Er liebte jede ihrer Bewegungen, die eher burschikos als elegant waren. Sie stieg in seinen Volvo, stieß ihm mit ihrem Ellenbogen leicht in die Rippen, neigte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Alter Lüstling! Wenn du alle Frauen so anstarrst, bekommst du Ärger mit mir.«

Danach strich sie eine Strähne ihres brünetten Haares aus der Stirn und gab ihm einen sanften Kuss. Caspari war in diesem Augenblick sehr dankbar für die Klimaanlage in seinem Wagen. Ohne sie wäre ihm bei der Hitze des Hochsommers und dem Temperament seiner Freundin der Schweiß in Strömen geflossen. Clara grinste ihn frech an.

»Willst du nicht losfahren? Vom Parken im Halteverbot bekommst du garantiert keinen Anzug.«

Er fühlte sich übertölpelt und startete unkonzentriert den Kombi. In der kommenden Woche würde seine ›kleine‹ Schwester Iris seinen alten Freund Benny heiraten. Clara würde die beiden als evangelische Pfarrerin an der Gelnhäuser Marienkirche trauen. Es war höchste Zeit für Caspari, sich einen Anzug zu kaufen.

»Ich verstehe nicht, warum wir wegen eines Anzugs und ein paar Sakkos extra zu dieser Kleiderfabrik fahren müssen. Anzüge bekommst du doch bei jedem Herrenausstatter«, beschwerte sich Clara.

»Das hatten wir doch schon einmal«, erwiderte Caspari. »Mir passt kein Anzug von der Stange.«

Clara ließ nicht locker.

»Jetzt gib nicht so an. Sakkos lassen sich ohne größeren Aufwand umarbeiten.«

»Das sieht aus wie gewollt und nicht gekonnt. So etwas hatte ich schon einmal. Bald fange ich als Kriminalrat beim Bundeskriminalamt an. Dort kann ich nicht mit schlecht sitzenden Sakkos rumlaufen!«

Caspari hatte bis vor Kurzem als promovierter Kriminalpsychologe und Hauptkommissar die Abteilung für Morde mit krankhaftem psychischem Hintergrund im Landeskriminalamt Hessen geleitet. Er und seine Mitarbeiter waren vor einiger Zeit vom Bundeskriminalamt abgeworben worden.

»Na gut. Es ist ja nur einer meiner seltenen freien Nachmittage, die ich dafür opfere«, murmelte Clara mit gespielt anklagendem Ton.

Caspari rollte die Augen. Für den Rest der Fahrt sparten sie dieses Thema aus, was hauptsächlich deshalb möglich war, weil Clara die Musik auswählen durfte. Sie entschied sich für eine CD mit kubanischer Musik, zu deren Rhythmen sie auf dem Beifahrersitz hin und her wippte. Caspari warf hin und wieder einen verstohlenen Blick zu ihr hinüber. Wie sehr er diese Frau liebte, besonders wenn ihr irisches Temperament mit ihr durchging. Kurzentschlossen setzte er den Blinker und bog ab in Richtung Herrenausstatter.

Wenig später schaute die Verkäuferin im Laden jedoch skeptisch, als Clara ihr klar zu machen versuchte, dass man einen Hünen wie Caspari in einen umgearbeiteten Konfektionsanzug stecken könnte. Sie bat Caspari, seine Sommerjacke auszuziehen. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, denn er kannte das Prozedere, das jetzt kommen würde. Die Verkäuferin betrachtete ihn von allen Seiten.

»Nein, das geht wirklich nicht!«, protestierte sie. »Die Länge wäre nicht das Problem, aber die starken Schultern und Arme. Damit passen Sie nur in einen Konfektionsanzug für einen sehr korpulenten Mann. Das Sakko müssten wir so stark taillieren, dass die Taschen auf der Jacke zu weit nach hinten rücken würden.«

Caspari genoss den Ausdruck der Kapitulation auf Claras Gesicht.

NANGANG

Der Schlag traf ihn ohne Vorwarnung. Wang Hao wurde von seiner Wucht zu Boden geschleudert. Eigentlich hätte er das Bewusstsein verlieren müssen. Doch er hatte einen harten Schädel, der auch einem Knüppel trotzte. Blut lief Wang Hao in die Augen. Mit zittrigen Bewegungen wischte er es weg.

»Geh endlich weg, alter Mann«, brüllte der Angreifer. »Das ist nicht mehr euer Land. Hier wird eine Firma gebaut, die mehr Menschen Arbeitsplätze geben wird, als jemals in eurem Dorf gelebt haben.«

»Diesen Boden hat schon mein Vater beackert, und davor sein Vater und auch dessen Vater. Ich gehe nicht!«, schrie der Alte halb aufgerichtet.

Der andere gab ihm eine schallende Ohrfeige, die Wang wieder auf die dunkle Scholle warf.

»Du wirst dieses Land nicht mehr besetzen. Ihr alle werdet eure Äcker räumen! Nächste Woche kommen die Planierraupen. Die werden euch unter eurem Ackerboden begraben, wenn ihr dann noch in euren Zelten darauf haust!«

Der Schlägertrupp verschwand so schnell, wie er gekommen war. Zurück blieben die Bewohner des Dorfes Nangang, die stöhnend am Boden lagen. Mit schmerzenden Gliedern schleppten sie sich in ihre Häuser und versorgten ihre Wunden. Am Abend trafen sich die Ältesten und deren Söhne in Herrn Wangs Haus. Er ahnte, was sie sagen würden: dass sie keine Kraft mehr zum Widerstand gegen diesen übermächtigen Feind hätten; dass ein Leben als Tagelöhner in irgendeiner Großstadt immer noch besser sei, als totgeschlagen zu werden. Doch so schnell wollte und konnte Wang nicht aufgeben. Einen Trumpf hatte er noch. Den wollte er unbedingt noch ausspielen.

Mit einem dicken Verband um den Kopf empfing er seine Nachbarn, alles Männer, mit denen er aufgewachsen war, und deren Söhne. Seine Frau servierte Tee, dann setzte sie sich schweigend neben ihn.

»Was können wir jetzt noch tun, Hao?«, fragte der alte Bo. »Der Provinzgouverneur ist korrupt bis auf die Knochen. Diese Rotzlöffel mit Knüppeln hat er uns geschickt.«

»Wir haben weder die Macht noch die Mittel, uns zu wehren«, stimmte Wang zu. »Also müssen wir uns an jemanden wenden, der uns helfen kann.«

»Aber Herr Wang«, meldete sich der junge Xiu, »wer könnte das denn sein? Die hohen Herren in Peking sicher nicht. Denen ist das egal.«

»Zu lange haben wir uns gewehrt wie Schafe gegen Wölfe«, erwiderte Wang. »Jetzt ist es an der Zeit, dem Drachen den Wolf zu überlassen.«

»Wie meinst du das?«, fragte der alte Chun.

»Einige von euch werden sich noch an meinen Bruder Li erinnern«, fuhr Wang fort. »Er war sehr stark und schnell, besuchte die Kung-Fu-Schule des ehrwürdigen Meisters Chen einige Kilometer von hier. Mein Bruder konnte als Zweitgeborener nur auf einen kleinen Teil des Erbes meines Vaters hoffen. So will es das Gesetz der Ahnen. Li und ich verstanden uns immer sehr gut. Er war nicht eifersüchtig auf mich und behauptete sogar, er habe das bessere Los gezogen, denn auf diese Weise sei er frei, in die Welt hinaus zu gehen und irgendwo sein Glück zu machen. Das ist ihm tatsächlich gelungen. Heute lebt er in Shanghai und ist dort ein sehr mächtiger Mann. Mehr weiß ich auch nicht. Li hat seine Heimat und seine Kindheit hier nie vergessen. Nangang ist immer in seinem Herzen, sagte er mir bei seinem Besuch vor vielen Jahren. Er gab mir eine Adresse, an die ich schreiben sollte, wenn meine Familie oder das Dorf in Schwierigkeiten käme. Seine Hilfe sei uns gewiss.«

An ergriff das Wort: »Verzeiht die Frage, Herr Wang. Welcher Art ist der Einfluss Eures Bruders auf die Politik?«

»Ich weiß es nicht genau. Mit Gewissheit kann ich nur sagen, dass Li ein einflussreicher Mann ist, auch weit über die Grenzen Shanghais hinaus. Sein Einfluss kann sehr schmerzhaft für jene sein, die er bekämpft.«

Das Schweigen in Wangs überfüllter Stube lag wie eine schwere Last auf den Ratsmitgliedern. Jeder, der über ein wenig Fantasie verfügte, wusste, worüber Wang sprach. Was An in seiner Naivität nicht begriffen hatte, war ihnen allen klar. Der Drache, von dem Wang gesprochen hatte, war kein mythisches Wesen. Er war real, und er war gefährlich.

Kang sprach schließlich aus, was alle dachten: »Recht und Gesetz haben uns in diesem Land nicht weitergeholfen. Wir haben nichts mehr zu verlieren. Was also spricht dagegen, Herrn Wangs Bruder um Hilfe zu bitten?«

Zögernd stimmten nach und nach alle zu.

Als sie gegangen waren, setzte Wang Hao sich an den Brief an seinen Bruder. Morgen würde er ihn selbst zur nächsten Poststation bringen – als Eilbrief. Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit.

WIESBADEN

Caspari saß im Büro von Johann Fuhr, dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes. Dieser eröffnete das Gespräch mit einer Entschuldigung: »Ich störe Sie nur ungern in Ihrem Urlaub, Doktor Caspari. Doch vor Ihrem Dienstantritt in zwei Wochen müssen wir schon jetzt über die Struktur Ihrer Abteilung sprechen. Welche Ausrüstung Sie benötigen, wie viele Beamte Ihnen unterstellt werden sollen, welche Ausbildung sie haben müssen et cetera.«

Caspari konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Entschuldigung. Ich musste eben nur an die kurze Leine denken, an die uns Herr Schlüter gelegt hatte.«

»Ja, der arme Kollege vom Landeskriminalamt. Er ist im Moment nicht wirklich gut auf das BKA und auf mich zu sprechen. Wie konnte ich mich auch erdreisten, Sie abzuwerben? Und dann bin ich noch zum Direktor befördert worden. Er dagegen hat Stress mit dem hessischen Innenminister, weil er Sie und Ihre ganze Abteilung an uns verloren hat. Dabei trifft ihn nur eine Teilschuld wegen der mäßigen Ausstattung Ihrer Abteilung im LKA. Die Vorgaben aus dem Innenministerium waren klar. Er musste sich auf die Terroristenfahndung konzentrieren.«

Caspari nickte.

»Das habe ich ja auch alles verstanden. Nur hätte ich mehr Rückendeckung von ihm erwartet. Und mehr Verständnis.«

»Nun, ich hoffe, ich werde Ihren Ansprüchen genügen«, meinte Fuhr lächelnd. »Die Wahrheit ist, dass wir Sie brauchen, wissen Sie. Ich meine, die Gesellschaft braucht Sie. Die Amokläufe in Deutschland nehmen zu, die Menschen mit psychischen Abartigkeiten werden gefährlicher und schlagen häufiger zu. Psychologen und Kriminologen, wie Sie es sind, müssen uns helfen, damit wir nicht die Kontrolle verlieren.«

SHANGHAI

›Hao würde nie wegen einer Belanglosigkeit schreiben!‹, ging es Li durch den Kopf, als er den Brief in der Hand hielt. Sein Bruder wusste zwar kaum etwas über die Quelle, aus der Li seine Macht schöpfte. Aber selbst in dem kleinen beschaulichen Dorf Nangang besaß ein Bauer genug Fantasie, ihn mit den Triaden in Verbindung zu bringen. Lange hatte Lis Weg an die Spitze von Sun Yee On gedauert. Er konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als er seine Sachen gepackt hatte und von zuhause weggegangen war, um in der Ferne sein Glück zu machen. Shanghai war das Ziel seiner Träume gewesen. Viel hatte er über diese lebendige Millionenstadt gehört und gelesen. Sie war für den jungen Mann wie eine Lampe für eine Motte gewesen. Unwiderstehlich hatte er sich von ihr angezogen gefühlt. Schnell war der arme Bauersjunge in ein Viertel geraten, in dem die Triaden das Sagen hatten. Und bei diversen Prügeleien konnte er das, was Meister Chen ihn gelehrt hatte, eindrucksvoll einsetzen. So wurde ein hochrangiges Triadenmitglied auf ihn aufmerksam. Ein paar Jahre hielt ihn die Triade in den unteren Stellungen. Er war Geldeintreiber, Türsteher, Leibwächter, Prügelknabe. Bald hatten die entscheidenden Leute Vertrauen zu ihm gefasst und bemerkt, dass Li ein heller Kopf war. Von da an waren die Aufgaben verantwortungsvoller geworden.

Heute war er das Oberhaupt von Sun Yee On, der Kopf des Drachens. Doch irgendwie war er auch immer der Bauersjunge aus Nangang geblieben, der nun mit wachsendem Zorn den Bericht seines Bruders las. Diese Provinzfürsten machten das Land mit ihrer Korruption kaputt, nicht die Triaden, wie immer behauptet wurde. Die ausländischen Firmen waren sich sehr wohl darüber bewusst, wie es beim Kauf von Bauland zuging: Der Löwenanteil der hohen Abfindung, die sie zahlen mussten, ging an den Gouverneur. Ein paar Brosamen warf der dann den Bauern hin. Stillschweigend wurde die Korruption von den Ausländern akzeptiert – zum Leidwesen der ohnehin nicht gerade reichen Landbevölkerung. Doch damit sollte jetzt Schluss sein. Die Menschen, mit denen er aufgewachsen war, sollte nicht dasselbe Schicksal ereilen wie viele vor ihnen. Wang Li hatte sich Sentimentalitäten abgewöhnt. Solche Gemütsregungen konnten tödlich sein im Kampf ums Überleben. Aber der Bericht seines Bruders weckte lange vergessene Gefühle von Vertrautheit und Heimat in ihm.

Er rief nach seinem treuen Gefolgsmann Ning. Der Alte kam müden Schrittes herein und machte eine leichte Verbeugung, der anzusehen war, dass sie ihm Schmerzen bereitete. Seit Jahrzehnten war Ning an Wang Lis Seite gewesen, hatte seinen Aufstieg begleitet und ihn aus einigen ausgesprochen unangenehmen Situationen herausgehauen. Li brachte es einfach nicht fertig, ihn auf das Altenteil zu schicken. Ohne Aufgabe würde der Alte binnen weniger Wochen sterben. In der Triadenzentrale war er mit seiner Erfahrung ein kluger Ratgeber und, wenn es darauf ankam, immer noch all denen ein gefährlicher Gegner, die versuchten, Li zu nahe zu kommen.

»Sie wünschen, Herr Wang?«

Der Alte blieb trotz der engen Verwebung ihrer Lebensfäden immer noch bei der förmlichen Anrede. Wang lächelte.

»Ich muss Lóng sprechen. Richte ihm aus, dass er sich beeilen soll! Ich habe eine Aufgabe für ihn, die er schnell in Angriff nehmen muss.«

GELNHAUSEN

›Der Hochzeitsmarsch aus der Symphonie ›Ein Sommernachtstraum‹, Mendelssohn-Bartholdy‹, schoss es Caspari durch den Kopf. Er hätte sich selbst am liebsten dafür geohrfeigt. Warum kam ihm dieser Gedanke ausgerechnet jetzt, in diesem feierlichen Moment? Musste er sich das Heilige dieses Augenblicks mit seiner Klugscheißerei vom Hals halten?

Der Organist der Marienkirche gab auf der hohen, kleinen Orgelempore sein Bestes, Casparis Schwester Iris sah im Brautkleid zum Weinen schön aus. Selbst Benny, der es manchmal genoss, die Rolle des emotionalen Vorgartenzwergs zu spielen, hatte eine Würde in seiner ganzen Haltung, die Caspari ihm nie zugetraut hätte. Und er selbst? Er musste ausgerechnet jetzt sein vokabelartiges Wissen über Musik hervorkramen.

Caspari schob diese Gedanken beiseite und schaute Iris an. Seine kleine Schwester hatte er doch erst gestern im Kinderwagen spazieren gefahren. Er selbst war mit einer kurzen Lederhose und Hemd bekleidet. Es war Sommer und das Anwesen, der Weiherhof zwischen Wittgenborn und Waldensberg, war erst zum Teil renoviert. Lange Tische und Bänke standen unter der alten Linde im Hof. Es war der Tag von Iris’ Taufe. Viele Verwandte machten fröhliche Gesichter und lobten den großen Bruder, wie der den Wagen mit seiner kleinen Schwester behutsam über das alte Kopfsteinpflaster schob.

Die Szenen aus dem alten, Schwarzweiß-Film seines Vaters waren ihm beim Anblick der Braut wieder gegenwärtig. Für einen Moment befiel Caspari so etwas wie Heimweh nach seiner Kindheit. Rührung drückte ihm Tränen in die Augen. Dann sah er zu Clara. Sie schritt vor dem Brautpaar in die Kirche. Auf ihrem schwarzen Talar lag eine weiße, mit bunten Motiven versehene Stola. Ihr Blick strahlte eine Ruhe und Heiterkeit aus, um die Caspari sie beneidete. Bei Gottesdiensten musste sie in sich ruhen, um sie zu leiten und ihre Botschaft glaubhaft vermitteln zu können.

Jemand zupfte an seinem Ärmel. Lukas, sein sechsjähriger Sohn, stand mit einem Blumenkorb in den Händen neben ihm und sah zu ihm hoch.

»Papa, die Iris sieht wie eine richtige Prinzessin aus«, flüsterte er. Caspari lächelte und nickte stumm.

Lukas lebte seit über drei Jahren bei ihm. Er war mit dem neuen Mann von Casparis Exfrau nicht zurechtgekommen. Die Situation war eskaliert, als Lukas’ Mutter ein weiteres Kind zur Welt gebracht hatte. Seither lebte Lukas bei seinem Vater und seinen Großeltern auf dem Weiherhof, einem alten, liebevoll restaurierten Hofgut.

»Papa«, flüsterte der Kleine erneut. »Wann heiratest du Clara?«

Caspari legte den Zeigefinger auf den Mund.

»Bald, mein Lieber. Jetzt musst du aber still sein!»

Lukas nickte mit ernstem Gesicht.

SHANGHAI

Chi Shu hatte in seinem bisherigen Leben schon so viele Namen gehabt, dass er es als Privileg betrachtete, sich an seinen wahren noch erinnern zu können. Den führenden Köpfen der Triade hingegen war durch seine ständig wechselnden Identitäten sein echter Name irgendwie abhanden gekommen. Deshalb hatten sie sich auf ›Lóng‹ geeinigt. Dieser Deckname war leicht zu merken, denn er bedeutete ›Drache‹, und war innerhalb einer Drachenbruderschaft, wie sich die Triaden auch nannten, so banal wie genial.

Chi Shu bekleidete offiziell einen hohen Posten in der Sicherheitsfirma Trans-Security. Das Unternehmen gehörte der Triade. Dort war Chi Shu für die Ausbildung des Sicherheitspersonals zuständig. Das war der Teil seines Berufes, den er sehr liebte. Den anderen Teil hingegen empfand er als Pflicht, die gründlich und präzise getan werden musste. Er war der perfekteste Auftragsmörder, den die Triade jemals hatte. Schon als Kind war er im Kranich-Kung-Fu unterrichtet worden. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten führten ihn zur chinesischen Armee, in der er sieben Jahre als Elite-Soldat diente. Durch Bao, einen Kameraden, lernte er einige Mitglieder von Sun Yee On kennen. Baos Vater gehörte zu dieser Triade. Die führenden Köpfe der Drachenbruderschaft waren von den Fähigkeiten der beiden jungen Männer beeindruckt und boten ihnen viel Geld und interessante Arbeitsplätze in ihrem Sicherheitsunternehmen.

Der Mittelsmann von Sun Yee On besaß keine Scheu, ihnen ihre geheimen Pflichten zu erläutern: Sie sollten unliebsame Personen eliminieren. Der Tod war den jungen Soldaten keineswegs fremd, und so hatten sie eingewilligt. Das war vier Jahre her. Bao hatte es im vergangenen Jahr erwischt. Er war in eine Falle getappt. Die Rivalen schickten seinen Kopf in einer sorgfältig gepolsterten Holzkiste. Seither spürte Chi Shu eine große Einsamkeit. Baos Mörder hatte er seinen Schmerz über den Verlust des einzigen Freundes spüren lassen. Sie waren nicht in Frieden von dieser Welt gegangen.

Nun stand er vor dem Kopf der Bruderschaft, Wang Li. Ein harter Knochen, unbeugsam und erbarmungslos.

»Sie haben mich rufen lassen, Herr Wang.«

Langsam wandte sich Wang Li von den Unterlagen auf dem großen Schreibtisch ab und blickte zu Chi Shu auf.

»Lóng. Gut, dass Sie so schnell kommen konnten.«

Chi Shu unterdrückte ein Lächeln. Hatte er eine Wahl, wenn ihn einer der mächtigsten Männer aus Asiens Unterwelt zu sich zitierte?

»Ich habe einen sehr dringlichen Auftrag für Sie!« Wang Li raffte die Unterlagen zusammen und legte sie in fast meditativer Ruhe in eine Mappe. »Unsere Leute von Trans-Security haben alle Informationen für Sie zusammengetragen.«

»Wann soll ich anfangen?«

»Sofort. Die Sache duldet keinen Aufschub. Studieren Sie die Unterlagen, und beginnen Sie dann unverzüglich. Richten Sie sich darauf ein, dass es diesmal eine sehr vielschichtige Aufgabe ist. Sie haben wie immer unbegrenzten Zugriff auf das Arsenal der Firma. Ihre neuen Pässe sind bereits in Arbeit. Sie werden Ihnen heute Abend vorbeigebracht.«

Chi Shu kannte Wang Li lange genug, um zu wissen, dass das noch nicht alles war.

»Sie arbeiten diesmal allein, Lóng. Ohne Rückendeckung. Sun Yee On darf damit nicht in Verbindung gebracht werden. Und frischen Sie Ihre Kenntnisse der deutschen Sprache auf. Die werden Sie brauchen. Wenn Sie alles erledigt haben, sollten Sie bei Doktor Xu vorstellig werden.«

Wang nahm einen Schluck aus seiner Teetasse.

»Das war alles. Passen Sie auf sich auf, Lóng.«

Die Gespräche mit Wang endeten fast immer so abrupt. Selten hatte das Oberhaupt ihm gegenüber mehr Worte verloren als nötig. Chi Shu glaubte, dass der Alte so eventuellen Zuhörern möglichst wenige Informationen liefern wollte. Das Eis, auf dem Wang sich seit Jahrzehnten bewegte, war sehr dünn. Ein falscher Tritt, ein Gesprächsfetzen, von Spitzeln aufgeschnappt, konnte seinen Tod oder sogar den Untergang von Sun Yee On bedeuten.

Chi Shu verbeugte sich und ging. Er widerstand der Versuchung, im Auto die Mappe zu öffnen. Bevor er losfuhr, suchte er mit wachsamem Blick die Gegend ab. Niemand durfte ihn sehen und später, falls etwas schief ginge, mit der Drachenbruderschaft in Verbindung bringen.

Chi Shu fuhr scheinbar ziellos durch Shanghai. Ein möglicher Verfolger würde nicht wissen, wohin er wollte. Wie zufällig bog er in eine schmale Seitenstraße ab und verschwand in einer alten Fabrikhalle, deren Eisentor sich sofort hinter seinem Wagen automatisch schloss. Wenig später verließ der Wagen die Halle wieder. Den Mann, der am Steuer saß, hätte man durch die getönten Scheiben und aufgrund der Sonnenbrille, die er trug, ohne weiteres für Chi Shu halten können. Doch der war bereits durch einige Verbindungstüren geschlüpft und einige Gebäude weiter in ein anderes Fahrzeug eingestiegen.

Dieses Katz-und-Maus-Spiel, organisiert, um mögliche Spione konkurrierender Organisationen oder der Polizei zu täuschen, machte ihm immer noch Spaß. Es war eigentlich nichts anderes als Schachspielen. Ständig wechselte er die Lagerhäuser, die für einen kurzen Zeitraum angemietet waren. Das Personal der Trans-Security war beim Verwischen seiner Spuren vor und nach den Besuchen in der Zentrale von Sun Yee On natürlich sehr hilfreich.

In seinem Büro angekommen, legte er die Mappe mit Bedacht auf den Tisch. Wie ein Tiger schlich er darum herum. Schließlich bestellte er bei seiner Sekretärin einen Tee. Als sie ihn servierte, gab er Anweisung, auf keinen Fall gestört zu werden. Ruhig goss er sich den China Gunpowder ein. Dann schlug er die Mappe auf. Auf den ersten Blick erkannte er die Dimension des Auftrages. Er sollte der Todesengel für zwei korrupte Chinesen sein. Das allein war nichts Außergewöhnliches, obwohl er sich fragte, auf welche Weise die beiden der Drachenbruderschaft Schwierigkeiten bereitet haben könnten.

Dann aber wurde es heikel: Er sollte nach Deutschland reisen und dort einige Topmanager liquidieren. Damit verstieß er gegen ein ungeschriebenes Gesetz. Angriffe der Triaden auf die Langnasen waren ausgesprochen unüblich und sehr selten. Man wollte nicht, dass sie sich in die Welt des asiatischen organisierten Verbrechens einmischten, also ließ man sie in Ruhe. Chi Shu wurde klar, warum der Alte ihm durch die Blume eine weitere Behandlung von Doktor Xu aufgetragen hatte. Der Doktor war ein Virtuose auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie. Mit kleinen, nicht weiter belastenden Eingriffen hatte er Chi Shus Gesicht schon einige Male verändert. Chi Shu akzeptierte die Schmerzen nach den Eingriffen als Sühne.

Die Verbindung zwischen den beiden Chinesen und den Deutschen ging aus dem Dossier nicht hervor. Bevor Chi Shu sie alle tötete, musste er aber eben diese ganz genau kennen. Was verband seine Delinquenten? Er begann, über das Internet zu recherchieren. Es war bereits Nacht geworden, als er die Antwort kannte. Aber was, um alles in der Welt, hatte das mit Wang Li zu tun? Vielleicht würde er die Antwort in der Ausübung seiner Aufgabe finden.

Er holte sich einen Bleistift und einen Block aus der Schreibtischschublade und stellte sich eine Liste von Dingen zusammen, die er besorgen wollte.

WEIHERHOF

Die tief stehende Abendsonne warf ein goldenes Licht auf den Weiher, an dessen Ufer das Schilf sanft im warmen Abendwind hin und her wiegte. Clara hatte sich bei Caspari untergehakt. Gemeinsam schlenderten sie auf dem Pfad, der um den Weiher führte. Von fern hörten sie das Lachen einiger Kinder, die im Wasser tobten. Auf der Wiese am gegenüberliegenden Ufer hatte jemand ein Lagerfeuer angezündet. Der Duft von Grillfleisch wehte zu ihnen herüber. Einige kleine Kuppelzelte waren dort auf dem wilden Campingplatz aufgeschlagen worden. Der Fürst von Ysenburg, dem der Weiher und der Grund auf der anderen Uferseite gehörten, hatte nichts dagegen. Clara hoffte, er würde seine Meinung niemals ändern. Sie liebte die Sommeridylle an diesem verzauberten Ort. Caspari zog genüsslich an seiner Zigarre und blies den Qualm andächtig aus. Sie spürte, dass seine Stimmung trotz seines Schweigens ein wenig euphorisch war. Auf seinen Augen lag ein seliger Glanz, was nicht allein dem Umstand zu verdanken war, dass er sich nach dem Kaffeetrinken eine halbe Flasche elsässischen Spätburgunders gegönnt hatte. In seinem maßgeschneiderten Anzug wirkte er sehr männlich und souverän, obwohl das Sakko schon längst auf einem Bügel hing. Selbst die aufgeknöpfte Weste und der gelockerte Krawattenknoten konnten diesen Eindruck nicht schmälern. Reumütig gestand sie sich ein, dass dieser wuchtig wirkende Mann in einem umgearbeiteten Konfektionsanzug nie so edel ausgesehen hätte. Das würde sie ihm natürlich niemals sagen. Nachdem er wieder eine Rauchfahne in die Luft geblasen hatte, schaute er sie an.

»Du bist so … so glücklich«, brach sie das Schweigen.

»O ja. Das bin ich. Meine kleine Schwester und mein alter Freund werden von der wunderbarsten Frau getraut, die mir je über den Weg gelaufen ist.«

»Du hast getrunken, Schatz«, erwiderte sie ironisch.

»Ich habe dich schon oft predigen hören, seit wir beide uns kennen«, fuhr er fort, als hätte er die kleine Spitze nicht gehört, »doch dass du zu so einem eindrucksstarken Gottesdienst fähig bist, habe ich nicht geahnt.«

»Nun ist aber gut«, frotzelte Clara. »Sonst überlege ich mir doch noch, das Gemeindepfarramt zu behalten und der Schule einen Korb zu geben.«

Caspari und sie wollten bald heiraten. Aber als Gemeindepfarrerin von Gelnhausen konnte sie nicht auf dem Hof zwischen Wittgenborn und Waldensberg wohnen. Sie musste in ihrem Pfarrhaus leben – so verlangte es das Pfarrerdienstgesetz. Die Vorstellung, dass Caspari und sein Sohn dieses wunderbare alte Hofgut am Weiher aufgeben und zu ihr ziehen mussten, konnte sie nicht ertragen. Die beiden gehörten hierher. Sie selbst war schon ein Teil des Lebens in dem hufeisenförmigen Anwesen geworden und wollte keine Stunde hier missen. Daher hatte sie sich entschlossen, ihre bisherige halbe Schulpfarrstelle am Grimmelshausen-Gymnasium in Gelnhausen zu behalten, die halbe Gemeindepfarrstelle allerdings aufzugeben.

Caspari schien ihr gar nicht zugehört zu haben. Er redete mehr mit sich selbst als mit ihr. Sie nahm es hin und genoss seine gute Laune.

»Ich bin glücklich! Eine wunderbare Frau ist an meiner Seite, ich bin Vater eines tollen Jungen, habe einen kleinen, aber sehr feinen Freundeskreis und komme nun auch noch beruflich in Sieben-Meilen-Stiefeln voran. Ich glaube, Gott liebt mich.«

Clara ließ diese Sätze unbeantwortet stehen. Sie wusste, wie er unter der Trennung von seiner ersten Frau und seiner eigenen Schüchternheit gelitten hatte.

»Komm, mein Großer«, sagte sie und bewegte ihn mit sanftem Druck zur Umkehr. »Wir müssen wieder zum Hof. Der Party-Service hat das Abendessen sicher schon aufgebaut. Trotz der Kuchenschlacht bekomme ich wieder Hunger. Außerdem hast du mir mehrere Tänze versprochen. Also trink bitte in Maßen. Der Tanzkurs soll nicht umsonst gewesen sein.«

»Ich kann gut tanzen«, wehrte sich Caspari. »Vor dir hatte ich allerdings noch keine Tanzpartnerin, die sich absolut nicht führen lassen wollte!«

»Pah! Nachher wirst du mit Tina tanzen und ich mit Mario. Mal sehen, ob sie dich für den Nurejew hält, den du in dir siehst.»

»Ich freue mich auf unsere Ehe!«, rief er lachend. »Das werden bestimmt keine langweiligen Jahre.«

FUJIN

Langnasen! Yueh Fei betrachtete seine Gäste während des Essens in einem der besten Restaurants der Stadt. Dieselben beiden Männer, die ihn vor zwei Monaten nach einem Baugrundstück für eine deutsche Fabrik gefragt hatten, saßen ihm nun wieder gegenüber. Diesmal allerdings stellten sie lästige Fragen. Etwa, warum der Bau noch nicht begonnen hatte. Die Baufirma hatte sich sehr nebulös bei der Beschreibung der Startschwierigkeiten ausgedrückt.

»Und Sie glauben, Herr Yueh, die Bauern lassen sich doch noch überreden, ihren Grund und Boden zu verkaufen?«, fragte der Blonde gerade.

»Aber ja, meine Herren. Der Preis, den Sie angeboten haben, liegt ja weit über dem tatsächlichen Wert der Ackerflächen. Die Bauern hängen halt an dem Boden, den ihre Vorfahren schon bebaut haben. Es ist mehr ein emotionales Problem.«

Yueh verschwieg natürlich, dass er nicht nur das Schmiergeld des Unternehmens eingesteckt hatte, sondern auch den Löwenanteil des Geldes, das die Bauern für ihr Land bekommen sollten. Er wusste, dass die Deutschen das sehr wohl ahnten und stillschweigend hinnahmen.

»In der kommenden Woche werden die Bauarbeiten beginnen. Das versichere ich Ihnen. Ich stehe sozusagen kurz vor dem Durchbruch in den Verhandlungen mit den Bauern.«

Der Blonde blickte skeptisch und sagte etwas zu seinem Begleiter, einem grauhaarigen, streng dreinschauenden Mann. Yueh konnte es sich nicht leisten, sie von dem Geschäft abspringen zu lassen. Er musste sie bei Laune halten. Vorsorglich hatte er die Mädchen für sie reserviert, die ihnen schon beim Vertragsabschluss Vergnügen bereitet hatten.

»Ai und Bi würden Ihnen gern mit einer Massage die Strapazen Ihrer Reise vertreiben«, sagte er mit einem verschwörerischen Lächeln. Der Grauhaarige fühlte sich sichtlich unwohl. Er war schlauer als der Blonde, der sich voll Vorfreude auf die Unterlippe biss.

»Später«, bestimmte der Grauhaarige. »Lassen Sie uns zuerst noch darüber sprechen, ob die Bauern nicht schneller zu einem Entschluss kommen, wenn wir den Grundstückspreis noch einmal von der Käuferseite aus erhöhen.«

Yueh wurde langsam ungeduldig. Zwei Langnasen kratzten an seiner Integrität, weil ein paar Bauern nicht begriffen, wo ihr Platz in dieser Welt war. Er dachte an seinen Sohn. Seine Frau würde ihn wohl um diese Zeit ins Bett bringen. Wegen dieses unsinnigen Geschäftsessens konnte er dem Kleinen nicht Gute Nacht sagen.