Tödliche Verwandlung - Matthias Fischer - E-Book

Tödliche Verwandlung E-Book

Matthias Fischer

4,7

Beschreibung

Mitten in Frankfurt wird ein erfolgreicher Musikproduzent ermordet, seine Leiche inszeniert wie eine Kreuzigung. Wenig später schlägt der Täter wieder zu. Für Hauptkommissar Caspari beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 592

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (16 Bewertungen)
11
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Matthias Fischer, geboren 1964 in Hanau, wuchs in Bruchköbel auf, studierte evangelische Theologie in Oberursel und Mainz und absolvierte sein Vikariat von 1992 bis 1994 in Wächtersbach. Seit 1994 ist er evangelischer Pfarrer in einer Gemeinde im Kinzigtal sowie in der Notfallseelsorge tätig und schreibt erfolgreich Kriminalromane.

Das ist ein Roman. Personen, Ämter und Berufe der Zeitgeschichte kommen darin vor, haben aber nichts mit der eigentlichen Handlung des Romans zu tun. Etwaige Übereinstimmungen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt. Die dargestellten Charaktere der Protagonisten sind ebenso wie die Handlung frei erfunden.

©eBook-Ausgabe: Emons Verlag GmbH 2016 Alle Rechte vorbehalten Erstausgabe: »Tödliche Verwandlung«: Verlag M. Naumann, vmn, Hanau 2007 Umschlagmotiv: photocase.com/Reppel Umschlaggestaltung: Nina Schäfer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-041-6 Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter

DEM GROSSMEISTER UND PHILANTHROPHANSHI ROLAND HABERSETZERZU SEINEM FÜNFZIGJÄHRIGEN KARATE-JUBILÄUM

DIE HEILIGE, VEREHRT VON DIESEM TEUFEL,HAT KEINE AHNUNG SEINER FALSCHEN GLUT;NICHT LEICHT FASST REINE SEELEN BÖSER ZWEIFEL,NUR VÖGEL, SCHON GELEIMT, SIND AUF DER HUT.

WILLIAM SHAKESPEARE, LUCRETIA, STROPHE 13

PROLOG

ALLEIN. NORMAN KLING GENOSS DIE RUHE, als er durch den Ostpark in Frankfurts Stadtteil Bornheim lief. Keine Menschenseele weit und breit an diesem Sonntag im März. Nur er war dort, ganz bei sich selbst, auf den Rhythmus seiner Schritte und seines Atems achtend. Er war ein Nachtmensch. Seine biologische Uhr tickte anders als bei den meisten Menschen. Seine kreative Phase hatte er in den letzten Stunden zwischen zehn Uhr abends und vier Uhr morgens gehabt. Jetzt brauchte er eine Stunde Jogging, um den ganzen überflüssigen Müll aus seinem Kopf zu werfen. Danach würde er müde genug sein, um schlafen zu können. Ihm war es recht. Als Musikproduzent musste er auf keinen Kollegen oder Chef Rücksicht nehmen. Er konnte arbeiten, auf welche Weise, wo und wie lange er wollte– Hauptsache er war erfolgreich. Erfolgreich! Im Leben bin ich wahrscheinlich ein Versager, schoss es ihm durch den Kopf. Wie anders ließ es sich erklären, dass er nicht in der Lage war, bei den Menschen zu bleiben, die ihm etwas bedeuteten. Etwas, das er nicht kannte, trieb ihn immer wieder weg. Die Liebe, die er erfuhr, trat er am Ende mit Füßen. Kling hätte sich selbst gute Argumente vorhalten können, warum es mit den Frauen nicht funktioniert hatte, mit denen er zusammen gewesen war. Aber das war Selbstbetrug. Der wahre Grund lag in seiner Bindungsunfähigkeit. Das wusste er. Und er hasste sich selbst dafür. Am meisten schmerzte ihn die letzte Trennung. Die Frau, auf die er immer gewartet hatte. Was von ihrer Beziehung übrig geblieben war, hatte sie in Worte gefasst, die zu lesen ihm einen körperlichen Schmerz bereitet hatte. Die Musik dafür zu schreiben war für ihn ein Ausdruck seines hilflosen Bedauerns gewesen.

Während er lief, überfielen ihn ihre Worte wie eine Brandungswelle, vor der man sich zu spät in Sicherheit bringt.

Auf einem großen Blumenbeet, an dem er vorbeilief, war der Krokus erblüht und erfüllte die Luft mit frühlingshaftem Duft. Kling war so in seine Gedanken versunken, dass er diesen Geruch gar nicht wahrnahm, ebenso wenig wie den Jogger, der ihm entgegen gelaufen kam. Erst spät bemerkte er den Mann. Als er fast auf gleicher Höhe mit ihm war, schnellte der Arm des Fremden nach oben. Kling sah ein langes, schlankes Messer in der Hand des anderen, dann spürte er einen brennenden Schmerz an seiner Kehle. Er hielt sich erschrocken die Hand an den Hals und begann zu taumeln. Verstört sah er den Mann an, der ihn verwundet hatte. Eine tiefe Genugtuung lag in den Augen des Unbekannten. Kling spürte, wie ihm die Beine wegsackten. Ein Gefühl von Panik ergriff ihn. Sollte sein Leben wirklich schon vorbei sein?

Als er jede Kontrolle über seinen Körper verloren hatte, fiel er in das Blumenbeet. Die Verwandlung des strahlenden Weiß der Krokusblüten in das tiefe Rot seines Blutes war das Letzte, was er in seinem Leben wahrnahm.

KAPITEL I

ER WAR DER RICHTIGE! Caspari war sich sicher, den Mörder endlich gefasst zu haben. Ihm gegenüber saß ein völlig unauffällig wirkender Mann, der mit seiner Verlobten ein zurückgezogenes Leben führte, einen sicheren Arbeitsplatz hatte und seine Nachbarn freundlich grüßte. Das hatte ihn aber nicht daran gehindert, vier Frauen zu ermorden und dann zu missbrauchen. Bei dem Gedanken an die Leichenfundorte meldete sich Casparis Mittagessen. In einem Zug leerte er das Glas Wasser, das vor ihm stand. Dieses Verhör war eine Herausforderung für ihn. In den zurückliegenden Tagen hatte der Mann alles abgestritten und sich selbst als unbescholtenen Bürger bezeichnet. Doch seit einer Stunde begann die Mauer, die er um sich herum aufgezogen hatte, zu bröckeln. Die psychische Belastung der täglichen Verhöre war ihm anzumerken. Seine Konzentration ließ allmählich nach. Caspari und seine Mitarbeiter nahmen ihn in einem neuen Anlauf in die Zange.

»Wie erklären Sie sich Ihre DNA-Spuren an jedem Tatort? Wie kommt es, dass Sie immer beruflich gerade in der Gegend zu tun hatten, in der die Frauen ermordet wurden?«, fragte Caspari in gereiztem Tonfall. Dieselben Fragen, dieselbe Prozedur.

»Das haben Sie mich in den vergangenen drei Tagen doch immer wieder gefragt. Ich habe Ihnen darauf meine Antwort gegeben«, erwiderte der Tatverdächtige.

»Ich möchte Ihre Antwort noch einmal hören. Die Erinnerung spielt uns manchmal einen Streich. Man muss ein Ereignis im Kopf mehrmals rekonstruieren, damit man sich an jedes Detail erinnert«, meinte Caspari ironisch.

»Ich bestreite ja gar nicht, dass ich Leichen gesehen habe. Es war wie verhext. Immer wenn ich irgendwo spazieren ging, stieß ich auf eine.«

»Warum haben Sie nie die Polizei gerufen?«, hakte Caspari nach, der an den Lügenbaron Münchhausen denken musste.

»Ich hatte Angst, selbst verdächtigt zu werden. Mit einem Mord will man doch nicht in Verbindung gebracht werden. Sie waren ja ohnehin schon tot.«

»Davon haben Sie sich dann noch schnell überzeugt, indem Sie die Toten im Schambereich begrabscht haben«, entgegnete Casparis Mitarbeiterin Tina mit sarkastischem Unterton. »Denn in diesem Körperbereich der Frauen haben wir Ihre DNA gefunden.«

Sie hatte sich vor dem Mann aufgebaut. Caspari betrachtete sie von der Seite. Mit verschränkten Armen und einem strengen Blick taxierte sie den Verdächtigen. Ihre Stimme wurde hart.

»Hören Sie endlich auf, uns mit diesem Mist vollzukübeln. Wir wissen, dass Sie es waren. Wir wissen, wie Sie es getan haben. Aus der Nummer kommen Sie nicht mehr heraus!«

Mario, der Dritte in Casparis Gespann, sprach mit ruhiger Stimme weiter.

»Wissen Sie, wir haben bisher jeden gefasst, den wir gejagt haben. Wir würden jetzt gern von Ihnen erfahren, was Sie dazu getrieben hat, diese Frauen zu töten. Ich verstehe, dass es Ihnen unangenehm ist, über solche intimen Dinge zu reden. Sie tun sich selbst allerdings keinen Gefallen, wenn Sie schweigen. Je mehr wir über Ihre Motive wissen, umso leichter wird es dem Richter fallen, ein faires Urteil zu sprechen.«

Caspari arbeitete schon einige Jahre eng mit Mario zusammen. Trotzdem konnte der ihn immer noch mit einer Ernsthaftigkeit und Ruhe überraschen, die Caspari nur schwer mit der ansonsten südländischen Leichtigkeit seines Mitarbeiters zusammenbrachte. Ruhig schob er die Tatortfotos über den Tisch zu dem Mann hin.

»Zuerst erwürgen Sie die Frauen, dann haben Sie Sexualverkehr mit den Leichen. Zum Schluss werden die Toten von Ihnen gekämmt, mit Lippenstift und Rouge geschminkt und schließlich so hingelegt, als schliefen sie, Ich möchte verstehen, warum Sie so vorgegangen sind. Was hat Sie dabei angetrieben, was bewegt?«, fragte Caspari mit ruhiger, fast gedämpfter Stimme.

Die Dreierkette, wie er ihre Verhörtechnik nannte, erwies sich auch dieses Mal wieder als erfolgreich. Der Mann gab seine Widerstände endlich auf und begann, sie zu den Abgründen seiner Existenz zu führen. Tief in der Nacht beendete Caspari das Verhör. Der Täter hatte nichts Neues mehr zu erzählen.

Erschöpft machten er, Tina und Mario sich auf den Weg zu ihrem Hotel. Die Minibar in seinem Zimmer beherbergte zwei Bierflaschen, deren Inhalt so kalt war, dass Caspari den Geschmack nur erahnen konnte. Er setzte sich Kopfhörer auf, legte in den Walkman die CD von Mozarts Oper »Die Entführung aus dem Serail« ein und drehte die Lautstärke bei der Arie des Osmin auf. Leise summte er mit und dachte dabei an den Mörder und die Frauen, die ihm zum Opfer gefallen waren.

Ha, wie will ich triumphieren,

Wenn sie euch zum Richtplatz führen

Und die Hälse schnüren zu!

Hüpfen will ich, lachen, springen

Und ein Freudenliedchen singen,

Denn nun hab! ich vor euch Ruh’…

Nein, nach Triumphieren war Caspari nicht zumute. Er dachte an die Familien der ermordeten Frauen, an die Eltern, die Partner, die Kinder. Aber er empfand eine Genugtuung darüber, dass es ihm wieder einmal gelungen war, einen psychisch zutiefst gestörten Mann daran zu hindern, seine Blutspur weiter zu ziehen.

Bevor er einschlief, wanderten seine Gedanken zu Lukas, seinem Sohn. Der Kleine brauchte ihn mehr, als er in den letzten Wochen Zeit für ihn gehabt hatte. Außerdem befürchtete Caspari, dass sich seine häufige Abwesenheit negativ auf seine Beziehung zu Clara auswirken könnte. Er musste dringend mit dem Präsidenten des Landeskriminalamtes sprechen. Die Arbeitsbelastung war für ihn wie für Tina und Mario zu hoch. Seit dem vergangenen halben Jahr, in dem Clara und er nun zusammen waren, hatten mehr Polizeistellen in ganz Hessen die Unterstützung des Landeskriminalamtes angefordert als in all den Jahren zuvor. Serien- und Ritualmorde waren sein Spezialgebiet. Die Zahl der Delikte nahm in diesem Bereich zu. Casparis Abteilung im Landeskriminalamt bestand nur aus Tina, Mario und ihm. Gemessen an der Zahl der Anfragen waren sie völlig unterbesetzt. Erst, als er sich eine Strategie für das Gespräch mit dem Präsidenten zurechtgelegt hatte, breitete der Schlaf seinen Mantel über ihm aus.

Tina und Mario sahen übernächtigt aus, als Caspari sie am nächsten Morgen beim Frühstück traf.

»Am liebsten würde ich gleich jetzt nach Hause fahren und Bericht Bericht sein lassen«, nörgelte Tina.

»Geht mir genauso«, gestand Caspari. »Aber es hilft nichts. Je frischer die Erinnerung an das Verhör ist, umso besser. Das minimiert die Gedächtnislücken.«

»Madonna«, maulte Mario, »das Schlimme ist, dass Sie mit Ihrer deutschen Gründlichkeit ja recht haben.«

Caspari sah seinen Mitarbeiter amüsiert an und entdeckte in dessen Gesicht ein verstohlenes Grinsen.

»Wie werden Sie beide das Wochenende verbringen, nachdem wir seit Ewigkeiten wieder einmal frei haben?«, lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema.

»Was mich betrifft«, antwortete Mario, »so werde ich mich von einer feurigen Rothaarigen auf jede nur erdenkliche Art verwöhnen lassen.«

Caspari brach in schallendes Gelächter aus und sah Tina an, die »Idiot« knurrte und Mario einen Rippenstoß versetzte, wobei ihr eine Strähne ihres kupferroten Haares in die Stirn fiel. Beide waren schon ein Paar, als sie Casparis Abteilung zugeteilt wurden. Allerdings wusste niemand außer ihm davon.

Nachdem sie die Berichte im Polizeirevier fertig geschrieben hatten, verabschiedeten sie sich voneinander. Caspari sah Tina und Mario nach, wie sie gemeinsam in ihren Wagen stiegen. Er fuhr nun die Strecke von Heppenheim nach Wächtersbach allein, ohne Clara, deren Gegenwart er vermisste. Er gab auf der Tastatur seines Autoradios eine Nummer ein. Der CD-Wechsler surrte. Kurz darauf erfüllte die Melodie des »Adagio allegro« der Prager Symphonie den Volvo Kombi. Erwartungsvoll wählte er Claras Nummer. Ihre Stimme drang verzerrt durch die Freisprechanlage seines Mobiltelefons. Er bemerkte es kaum, so sehr freute es ihn, dass er sich nach dem Waten durch die Abgründe menschlichen Lebens wieder dem zuwenden konnte, was sein Leben reich und hell machte.

»Hallo Großer, gibt es dich auch noch? Ich hatte schon befürchtet, du würdest dich gar nicht mehr melden.«

Mit knapp zwei Metern Körpergröße und seinem wuchtigen Körperbau war Caspari ein Hüne. Allerdings litt er mehr unter seinem äußeren Erscheinungsbild, als dass er sich etwas darauf eingebildet hätte. Um zu erklären, warum er in den vergangenen drei Tagen nicht angerufen hatte, erzählte Caspari ihr von der Überführung und dem Verhör.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich nach diesen Tagen auf Lukas und dich freue. Kommst du heute Abend zu mir? Wir könnten mit dem Kleinen Uno spielen und uns einen gemütlichen Abend machen, wenn er im Bett ist«, fragte Caspari in froher Erwartung.

»Daraus wird leider nichts«, entgegnete Clara, »du bist nicht der Einzige, der arbeiten muss. Außerdem bist du mit einer Pfarrerin liiert die halt oft auch am Abend Termine hat. Um fünf Uhr habe ich ein Beerdigungsgespräch und um acht Uhr muss ich zur Kirchenvorstandssitzung.«

»Ich glaube fast, die evangelische Kirchengemeinde Gelnhausen hat etwas dagegen, dass wir zusammen sind«, maulte Caspari. »Wenn ich mal Zeit habe, musst du arbeiten.«

»Dasselbe könnte ich über das Landeskriminalamt sagen«, erwiderte Clara. »Glaub bloß nicht, ich sitze den ganzen Tag brav zu Hause, während du geisteskranke Killer fängst, und rolle dann den roten Teppich aus, wenn der Held wieder zurückkehrt.«

»So habe ich es doch nicht gemeint«, brummte Caspari.

»So hat es sich aber angehört«, entgegnete sie.

»Dann lass uns doch morgen Abend ins ›La Grotta‹ essen gehen, falls du keine Termine hast.«

»Morgen Abend passt sehr gut«, stimmte sie zu.

»Gut, dann…«, stolperte er über seine eigenen Worte. »Ich…«

KAPITEL II

ER HATTE ALLES GRÜNDLICH GEPLANT und durchdacht. Es gab nichts, das schief gehen konnte. Er war ein Schatten, zu jeder Wandlung fähig. Auf seine Verkleidung als Fahrradbote hätte er selbst hereinfallen können. Mit einer unnatürlichen Ruhe betrachtete er die Fassade der Villa, vor der er stand. Entschlossen drückte er den Klingelknopf neben der Haustür. Es dauerte eine Weile, bis sich eine Stimme über die Gegensprechanlage meldete.

»Ja bitte?«

»Guten Tag. Kurierdienst ›Main-Radler‹. Ich habe ein Päckchen für Sie.«

»Legen Sie es vor die Tür, ich hole es nachher hinein«, brummte die Stimme durch den kleinen Lautsprecher unwillig.

»Das geht leider nicht, Sie müssen mir den Empfang bestätigen«, entgegnete er.

Dass der Mann so reagieren würde, hatte er vorausgesehen. Nach einer Weile hörte er ein Schlurfen im Flur. Der Mann, der ihm öffnete, war mit einem weißen Bademantel bekleidet und trug Badeschlappen.

»Sind Sie Herr Sauter?«, fragte er den Mann im Bademantel zum Schein. Er wusste ohnehin, dass er den Richtigen vor sich hatte.

»Ja. Sagen Sie mal, ist das nicht ein ziemlich großes Päckchen für einen Fahrradkurier?«

Das waren die letzten Worte, die er dem Mann noch zugestand. Sauter durfte nicht misstrauisch werden. Das passte nicht in seinen Plan. Selbstsicher lächelte er.

»Wenn Sie wüssten, was wir alles überbringen müssen…, entgegnete er gelassen und gab Sauter das Päckchen. Als dieser es in den Händen hielt, betrachtete er es von allen Seiten.

»Hier steht ja kein Absender«, bemerkte Sauter erstaunt, während er es genauer untersuchte.

Auf diesen Moment der Ablenkung hatte sein Gegenüber gewartet. Ohne Hast zog der Mann den Elektroschocker aus der Rückentasche seines Radlerhemdes. Als Sauter aufblickte, traf ihn ein Stromschlag, der ihn erzittern und nach hinten taumeln ließ. Der Schatten folgte ihm in den Flur, schloss ruhig die Tür und sah mit einem Gefühl des Triumphes, wie Sauter ohnmächtig zusammensackte. Lange hatte dieser neureiche Prolet ihm den Weg versperrt. Jetzt würde er ihn verwandeln– für immer.

Der Kleine kam in der Frühe jammernd zu ihm ins Bett gekrochen. Lukas klagte über furchtbare Ohrenschmerzen und hatte offensichtlich Fieber. Caspari verpasste ihm ein Zäpfchen und einen Zwiebelumschlag auf das entzündete Ohr. Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Junge wieder eingeschlafen war. Mit Mühe schaffte es Caspari, um acht Uhr aus dem Bett zu kommen. Die vergangenen Wochen steckten ihm noch in den Gliedern. Ausgerechnet in der Zeit, in der er sich zu erholen gehofft hatte, wurde sein Sohn krank. Eine Weile betrachtete er den Kleinen, wie er in seinem Bett schlief. Welch ein unglaublich großes Geschenk war dieses Kind. Wie wenig Zeit hatte er im zurückliegenden Jahr für Lukas aufbringen können. Ohne die Hilfe seiner Eltern hätte er die Aufgaben eines alleinerziehenden Vaters nie bewältigt. Elke, seine Ex-Frau, war seit Jahren glücklich mit seinem ehemals besten Freund verheiratet. Sein schmales Gesicht hatte Lukas von ihr, seine rotblonden Haare und die überdurchschnittlichen Körpermaße von seinem Vater. Es fiel Caspari schwer, dieses so friedlich schlafende Kind zu wecken, aber es half nichts. Lukas musste dringend zum Kinderarzt.

Die Diagnose hatte Caspari bereits befürchtet: Lukas hatte eine Mittelohrentzündung. In einem solchen Zustand brauchte er seinen Vater ganz und gar. Caspari dachte verzweifelt an seine Verabredung mit Clara. Sie war neben Lukas der andere Mensch, den er vernachlässigt hatte und dem er nicht gerecht geworden war. Mit dem Essen im »La Grotta« hatte Caspari ein Signal für Clara setzen wollen. Er wollte ihr klar machen, wie wichtig sie ihm war. Doch leider wurde nun nichts aus dem Essen in ungestörter Zweisamkeit.

Nachdem Caspari die Medikamente für Lukas aus der Apotheke geholt hatte, fuhr er zum Restaurant. Ohne Hetze stellte er ein üppiges Menü zusammen und bat den Wirt, das Essen zu ihm auf den Hof zu liefern.

Während der Fahrt von Wächtersbach den Berg hinauf nach Wittgenborn brach Lukas sein Schweigen.

»Papa«, begann er, »das ist doch voll doof! Endlich hast du mal Zeit, und dann werde ich krank.«

»Tja, Kleiner, da kann man nichts machen. Aber bald geht es dir ja wieder besser. Bis dahin werden wir uns auf Vorlesen, Uno- und Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen beschränken müssen. Was machen denn die Ohrenschmerzen?«

»Die sind besser wegen den blöden Zäpfchen«, antwortete Lukas missmutig.

»Das heißt, wegen der Zäpfchen«, verbesserte ihn sein Vater. »Ich glaube dir, dass es unangenehm ist, wenn man die eingeführt bekommt. Aber sie lindern die Schmerzen. Bis die Antibiotika ihre Wirkung zeigen, werde ich dir noch ein oder zwei verabreichen müssen.«

»O Mann, das ist gemein!«, brummte Lukas und verfiel wieder in Schweigen, während sie über die Straße durch den dichten Laubwald fuhren, dessen Blattwerk und das dazwischen hindurchscheinende Sonnenlicht ein unglaublich schönes Schauspiel boten. Caspari gab auf den Tasten seines Autoradios eine Zahlenkombination ein. Der CD-Wechsler im Kofferraum summte, und kurz darauf drangen die Klänge von Mozarts »Haffner Sinfonie« aus den Lautsprechern des Volvo. Während sie von Wittgenborn Richtung Waldensberg fuhren, schlief Lukas ein. Kurz vor Waldensberg bog Caspari in eine schmale Seitenstraße ab, die zu dem Hof führte, auf dem er lebte. Als er selbst noch ein Kind war, hatten seine Eltern das heruntergekommene Anwesen gekauft und in jahrelanger Arbeit liebevoll renoviert. Caspari lebte in einem Teil des Wohntraktes, im anderen seine Eltern.

Lukas war so fest eingeschlafen, dass ihn selbst die Fahrt über den Kopfstein, mit dem der Innenhof des U-förmig angelegten Anwesens gepflastert war, nicht aufweckte. Caspari trug ihn hinein und legte ihn in sein Bett. Danach wählte er Claras Nummer.

»Hallo, hier ist Christoph. Wir müssen umdisponieren!«

»Sag jetzt bloß nicht, du hast dienstliche Verpflichtungen.«

Claras Stimme hatte einen drohenden Unterton.

Tiziana ging in ihrer Garderobe unruhig auf und ab. Wo war Hagen bloß? Solch einen Lapsus hatte er sich noch nie geleistet. Ihr Manager war wie vom Erdboden verschluckt. Er reagierte nicht auf ihre Telefonanrufe, beantwortete keine E-Mails und war augenscheinlich nicht zu Hause. In zehn Minuten musste Tiziana den Journalisten Rede und Antwort stehen. Musste zeigen, dass sie den Tod ihres Ex-Geliebten und Produzenten Norman Kling gut verkraftet hatte. Ihre neue CD sollte morgen auf den Markt kommen, eine Deutschlandtournee stand bevor. Was hatte Hagen geritten, sie gerade in dieser Situation hängen zu lassen? Toni, ihr Bodyguard, redete ihr gut zu.

»Komm Tiziana. Du schaffst das auch ohne diesen Dandy. Überleg doch mal, wie viele Menschen du bei deinen Konzerten begeistert hast. Die Journalistenmeute da draußen schaffst du doch mit links.«

»Du hast wahrscheinlich recht, Toni. Es ist halt einfach schöner, wenn man weiß, der Manager hält einem den Rücken frei, während man Interviews gibt.«

»Darf ich dich etwas fragen?«, wechselte Toni das Thema. »Warum Hanau, warum die August-Schärtner-Halle? Du füllst problemlos die Hallen in den Metropolen.«

»Weil hier alles angefangen hat. Ich komme aus Hanau und ich schätze das Lebensgefühl hier. Die Menschen hier haben mich von Anfang an unterstützt. Sie haben es verdient, dass ich ihnen auf diese Weise ›Danke‹ sage.«

Sven, der Schlagzeuger, steckte seinen Kopf durch die Tür.

»Hallöchen. In fünf Minuten geht es los. Die anderen sind schon ganz ungeduldig. Da draußen wartet eine ganze Menge Journalisten. Einer vom ›Rolling Stone‹ soll auch dabei sein. Sag mal, wo ist eigentlich Hagen?«

Tiziana blickte zu Toni. Der breitschultrige Bodyguard nickte ihr aufmunternd zu.

»Ich habe keine Ahnung. Wir machen unsere Songs nun schon lange genug, da müssten wir auch einmal ohne Kindermädchen auskommen«, antwortete sie mit selbstbewusster Stimme. Trotzdem begann sie sich langsam Sorgen um ihren Manager zu machen.

Aufgeregt betrat sie zusammen mit der Band die Bühne. Dieses Publikum war anders als die Fans, die zu Tausenden die Hallen bevölkerten, wenn sie rappte. Dieses Publikum war hier, um sie öffentlich zu bewerten. Falls Normans Musik nicht dem entsprach, was die Journalisten unter Hip-Hop und Rap verstanden, würden sie Tiziana in den kommenden Tagen in den Medien verreißen. Dasselbe galt für die Texte, die sie geschrieben hatte. Glaubwürdig und authentisch mussten sie sein, sonst fielen sie durch. Tiziana machte sich keine Illusionen. Wenn sie diesen Test nicht bestand, war ihr Comeback geplatzt. Ihre Tournee war zwar vollkommen ausverkauft, aber bei schlechten Kritiken würde niemand ihre neue CD kaufen. Sie musste diese Gedanken beiseiteschieben, sonst würde dieser Auftritt ein Flop werden. Das Schlagzeug und der Bass begannen zu hämmern. Jetzt blieb ihr nichts mehr übrig, als darauf zu vertrauen, dass alles gut werden würde.

Clara freute sich darauf, den Rest eines arbeitsreichen Tages auf dem Hof zu verbringen. Sie hatte Sehnsucht nach Caspari und nach Lukas. Als sie ihren Wagen im Hof parkte, flog eine der Eingangstüren auf, und der Kleine kam herausgestürzt. Sie war eben gerade aus dem Auto gestiegen, da umfingen sie schon seine Arme, und er drückte seinen Kopf fest gegen ihren Bauch.

»Lukas, ich denke, du bist krank«, keuchte sie atemlos.

»Der Papa gibt mir eklige Zäpfchen, da merke ich kaum noch etwas.«

»Glaub ihm kein Wort. Vor fünf Minuten hat er noch gejammert, wie sehr ihm die Ohren wehtun und wie schlapp er sich fühlt«, meinte Caspari lachend.

Clara fuhr Lukas durch das dichte Haar und hielt ihre Hand an seine Stirn. Der Junge blickte zu ihr hoch. Sein getrübter Blick, die roten Wangen und die Körpertemperatur unterstrichen Casparis Bemerkung. Lukas schien sie indessen nicht loslassen zu wollen. Als sie Caspari küsste, stand sein Sohn zwischen ihnen. Ihr war es recht. Auf diese Weise schuf der Kleine unbeabsichtigt eine Distanz zwischen ihr und Caspari, die sie brauchte, um sich ihm nach den Wochen, in denen sie sich kaum gesehen hatten, wieder zu nähern. Langsam löste sie sich von Lukas, holte ihre Reisetasche vom Beifahrersitz und gab sie Caspari.

»Clara, ich habe mir ein Märchen ausgesucht, das du mir vorlesen sollst!«

Trotz seiner Krankheit schien Lukas sehr darauf bedacht, das übliche Maß an Zuwendung von ihr zu bekommen. Sie lächelte und drückte ihm einen Kuss auf seine heiße Wange. »Du Schlingel!«

Sie wandte sich Caspari zu.

»Was tust du, während ich vorlese?«

»Ich setze mich daneben und höre dir aufmerksam bei der Tätigkeit zu, die ich schon eine geschlagene Stunde ausgeübt habe«, erwiderte Caspari grinsend.

Nachdem Lukas erschöpft im Bett lag, kam die Lieferung aus dem »La Grotta«. Gemeinsam genossen sie das vorzügliche mediterrane Essen. Caspari wirkte, als läge ihm etwas auf der Seele. Erwartungsvoll sah Clara ihn an.

»Am Montag werde ich gleich zum Präsidenten gehen und eine personelle Aufstockung unserer Abteilung fordern«, begann er.

Clara legte ihre Hand auf seine. Er wirkte ausgelaugt.

»Ich finde, es ist an der Zeit, dass du das tust. Gott weiß, wie lange du diese berufliche Belastung noch durchhalten wirst. Ich mache mir Sorgen um dich. Du watest wie kaum ein anderer Polizist durch den allertiefsten Morast menschlicher Abartigkeiten. Man lässt dir keine Zeit, die Erfahrungen und Eindrücke seelisch zu verdauen.«

»Ich weiß, ich spüre das ja selber«, entgegnete er. »Deshalb will ich dem Präsidenten vorschlagen, die Abteilung um zwei weitere Teams zu vergrößern. Bisher konnten wir uns gar nicht aller Anfragen der lokalen Polizeibehörden annehmen. Die weniger dramatischen haben wir an andere Abteilungen in unserem Haus weitergeleitet. Damit muss jetzt Schluss sein. Die Kollegen vor Ort haben das Recht auf eine fachgerechte Beratung und Hilfe. Die Personalaufstockung ist genau genommen unumgänglich, wenn wir im LKA erfolgreiche Arbeit leisten wollen.«

»Und du meinst, du wirst Erfolg mit deinem Anliegen haben?«, fragte Clara.

»Ich habe keine Ahnung. Falls er sich nicht darauf einlässt, dann suche ich mir einen Platz in der Forschung«, antwortete er fest entschlossen.

»Aber was wird dann aus Tina und Mario? Die beiden hängen so an dir.«

»Ich weiß es nicht. Allerdings weiß ich, dass ich so nicht mehr weitermachen kann. Und ich möchte dich nicht verlieren!«

»Wie meinst du das?«, fragte Clara, obwohl sie ihn genau verstanden hatte. Im Grunde wollte sie nur noch einmal hören, was er für sie empfand.

»Glaubst du, ich hätte deine Distanz vorhin nicht bemerkt?«, fragte er leise. »Eine Frau, die mir sehr viel bedeutet hat, habe ich schon verloren. Ein zweites Mal muss ich das nicht haben.«

Clara sah ihn lange schweigend an. Er begegnete ihrem Blick. Nach einer Weile hatte sie das Bedürfnis, ihn zu küssen. Eng umschlungen saßen sie auf der Eckbank in der Küche, tranken Piemonter Rotwein und redeten über die vergangenen Wochen. Als ihnen die Worte ausgegangen waren, küsste Clara ihn und strich ihm über seinen roten Vollbart. »Da wäre noch etwas, das in den vergangenen Wochen deutlich zu kurz gekommen ist«, hauchte sie ihm ins Ohr.

Mit einem Gefühl des Triumphes kam Tiziana in ihre Garderobe. Toni reichte ihr ein frisches Handtuch.

»Na also, ich habe dir doch gesagt, dass du das auch ohne Hagen Sauter packst.«

Sie grinste und legte sich das Frotteetuch um den Hals. Als sie die Wasserflasche vom Tisch nahm, sah sie einen Brief dort liegen. Toni folgte ihrem Blick.

»Ach ja. Während du draußen warst, kam ein Kurier mit diesem Brief für dich.«

Tiziana nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Er sah anders als die typische Fanpost aus. Der Umschlag hatte ein größeres Format und war hellbraun wie die Post von Ämtern und Behörden. Der Absender war nirgendwo zu finden. Wer mochte ihr einen Brief durch einen Kurierdienst zugesandt haben? Tiziana widerstand der Versuchung, ihn gleich zu öffnen. Falls etwas Unerfreuliches darin stand, würde es ihre gute Laune nach dieser erfolgreichen Präsentation zunichtemachen. Sie ließ den Brief auf den Tisch fallen.

»Ich gehe erst einmal duschen. Der Brief kann warten!«, sagte sie zu Toni.

»Das Duschen kann erst einmal warten. Jetzt musst du mit uns eine kleine Runde abfeiern!«, rief Maik, ihr Keyboarder, der mit den anderen Bandmitgliedern in die Garderobe kam.

»Die lange Probenzeit hat sich gelohnt«, meinte Sven. »Das würde nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn wir die Journalisten nicht überzeugt hätten.«

Nachdem die beiden Sektflaschen geleert und die vier Bandmitglieder schon etwas angeheitert waren, schickte Tiziana sie aus ihrer Garderobe hinaus.

»Ich will jetzt wirklich duschen. Das solltet ihr übrigens auch tun. Lasst uns doch im Anschluss noch in den ›Culture Club‹ fahren und richtig feiern.«

Die Jungs stimmten gut gelaunt zu. Während sie nach ihrem Kulturbeutel griff, fiel ihr Blick wieder auf den Brief. Wer mochte ihn wohl geschrieben haben? Sie zwang sich, unter die Dusche zu gehen. Als sie mit feuchtem Haar wiederkam, meldete sich ihr Mobiltelefon. Hastig ließ sie ihre Sachen auf den Tisch fallen und griff danach in der Hoffnung, dass Hagen sich endlich meldete. Am anderen Ende war der Geschäftsführer ihrer Plattenfirma. Er gratulierte ihr zu der gelungenen »Performance«. Er war sich sicher, dass die zu erwartenden positiven Kritiken den Umsatz in die Höhe treiben würden. Als Tiziana das Gespräch beendet hatte, klopfte Maik an die Tür.

»Tiziana, bist du fertig parfümiert, hast du dein Haar ordentlich onduliert, die Nägel bunt lackiert? Wir sind zu viert und wir haben Durst!«

»In Ordnung, ich komme ja«, entgegnete sie lachend. Schnell warf sie ihre Sachen in die Reisetasche und gab Toni mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie aufbrechen konnten.

»Hast du nicht etwas vergessen?«, fragte er.

»Was denn?«, fragte sie irritiert.

»Den Brief! Wenn ihn schon ein Kurier hierher bringt, solltest du ihn vielleicht lesen, ehe wir Party machen!«

Er hörte sich an wie ihr großer Bruder. Tiziana liebte diesen stillen, starken Mann. Er war einer der wenigen Menschen, denen sie vertraute.

»Sehr wohl. In Ordnung. Wird sofort erledigt«, frotzelte sie und machte dabei einen Diener. Lachend setzte sie sich an den Tisch, riss das Couvert auf und schüttelte den Inhalt heraus. Was sich auf dem Tisch ergoss, ließ ihr Lachen sofort gefrieren. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei des Entsetzens.

»Christoph!?«

Caspari schreckte aus dem Schlaf.

»Christoph!?«

Mit Bedauern löste er sich aus Claras Umarmung und deckte sie sanft wieder zu. Er betrachtete sie noch einmal und fuhr ihr zärtlich über die Wange. Widerwillig stand er auf, zog seinen Bademantel über und ging die Treppe hinunter. Sein Vater stand in der Verbindungstür zu seiner Wohnung.

»Mensch, Vater, was ist denn los? Ist was passiert?« Caspari war alarmiert. Seine Eltern respektierten seine Privatsphäre. Die Verbindungstür nutzten sie nur in Ausnahmefällen.

»Der Präsident des LKA rief eben bei uns an«, erklärte sein Vater. »Er bat mich, dir auszurichten, dass du sofort dein Mobiltelefon anschalten sollst.«

»Einen Teufel werde ich tun!«, entgegnete Caspari ungehalten. »Vor Montag bin ich nicht im Dienst.«

»Diese Reaktion scheint er wohl vorausgesehen zu haben«, meinte sein Vater. »Das sei eine dienstliche Anordnung, hat er gesagt.«

Widerwillig bedankte Caspari sich bei ihm, wünschte noch eine gute Nacht und ging zornig in sein Arbeitszimmer, wo sein Mobiltelefon auf dem Schreibtisch lag. Kaum hatte er es aktiviert, da klingelte es schon. Er widerstand dem Drang, es an die Wand zu werfen und nahm das Gespräch an.

»Ich höre!«

»Caspari, sind Sie noch zu retten?«, polterte der Präsident los. »Auf dem Festnetz läuft Ihr Anrufbeantworter, Ihr Handy ist ausgeschaltet… Was um alles in der Welt soll das?«

»Das kann ich Ihnen sagen: Ich verbringe seit etlichen Wochen wieder einmal das erste komplett freie Wochenende mit meiner Familie«, erwiderte Caspari gereizt.

»Das ist ab jetzt beendet!«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Mein Sohn ist krank und braucht mich, und meine Lebensgefährtin hat sich sehr auf dieses Wochenende gefreut.«

Caspari nahm im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er blickte zur Seite und sah Clara verschlafen in der Tür stehen.

»Das tut mir leid für Sie, aber ich kann es nicht ändern. Der Manager einer international bekannten Rapperin ist ermordet in seiner Villa in Bergen-Enkheim aufgefunden worden.«

»Die Frankfurter Polizei hat eine sehr kompetente Mordkommission«, wiegelte Caspari ab. »Warum soll ich mich darum kümmern?«

»Erstens, weil es nach einer Mordserie aussieht. Zweitens, weil der Sohn des Innenministers ein enger Freund der jungen Dame und der Schlagzeuger der Band ist. Der Minister hat mich vor einer halben Stunde angerufen und darauf bestanden, dass unser Haus sich in diesen Fall einschaltet. Sie fahren jetzt sofort zum Tatort. Das ist ein Befehl! Ihre beiden Mitarbeiter sind schon unterwegs. Von ihnen erfahren Sie, wo die Leiche gefunden wurde.«

»Na prima!«, knurrte Caspari wütend und beendete grußlos das Gespräch. Enttäuscht blickte er zu Clara.

»Ich kann’s nicht glauben! Weil eine Hupfdohle mit dem Sohn des hessischen Innenministers befreundet ist, muss ich mich um ihren toten Manager kümmern. ›Das ist ein Befehl‹, hat dieser… gesagt.«

Caspari sank auf einen Stuhl und starrte ins Leere. Ihm war nach Heulen zumute. Doch er war nicht in der Position, sich einer Dienstanweisung des LKA-Präsidenten zu widersetzen.

Clara schien seine Verzweiflung zu spüren. Sie kniete sich vor ihn, umfing ihn mit ihren Armen und rieb ihre Nase an seiner Brust.

»Es ist nicht zu ändern«, sagte sie. »Fahr zum Tatort und versuch, bald wieder hier zu sein. Ich passe so lange auf Lukas auf.«

Auf der Fahrt zum Tatort verwandelte sich Casparis Verzweiflung in Wut. Dem Uniformierten, der ihn in der Hofeinfahrt grüßte, nickte er wortlos zu. Als er die Villa betrat, hörte er eilige Schritte hinter sich. Er blickte über die Schulter und sah Tina und Mario auf sich zukommen.

»Na Cheffe, wie geht’s?«, fragte Mario mit einem ironischen Unterton.

»Genauso miserabel, wie Sie aussehen«, knurrte er. Tina gab ihm einen müden Klaps auf die Schulter.

Im Flur empfing sie ein Mittfünfziger, der einen geschmackvollen Leinenanzug trug. Er machte einen agilen, wachen Eindruck. Ruhig und konzentriert dirigierte er die Untersuchungen. Allein seine Bartstoppeln und sein ungekämmtes Haar verrieten, dass er aus dem Bett geholt worden war. Als er Caspari, Tina und Mario sah, kam er mit einem freundlichen Lächeln auf sie zu.

»Hauptkommissar Ludwig, guten Abend– oder sollte ich besser ›Guten Morgen‹ sagen?«

Caspari stellte mit knappen Worten sich und seine Mitarbeiter vor.

»Es tut mir leid, dass Sie in diesen Fall involviert wurden. Ich hörte schon, dass Sie einige sehr anstrengende Wochen an der Bergstraße hinter sich haben«, begann Ludwig.

»Wir wollen das nicht vertiefen«, erwiderte Caspari gereizt. »Was wissen Sie bis jetzt über den Tathergang?«

Ludwig forderte sie auf, ihm zu folgen. Er führte sie eine breite, mit Terrakotta geflieste Treppe hinunter durch einen Sauna- und Solariumsbereich: Den Mittelpunkt bildete ein großzügig bemessener Whirlpool. Eine Glastür führte zum Dampfbad, auf der gegenüberliegenden Seite drang heiße Luft aus einer offenen Saunatür. Caspari warf einen Blick in einen Seitenraum. Er war mit fünf Entspannungsliegen und einigen modernen Fitnessgeräten ausgestattet.

Ludwig brach das Schweigen. »Der Tote hat– wie sagt man heutzutage?– viel Wert auf Wellness gelegt.«

»So etwas würde ich mir auch gefallen lassen«, antwortete Mario.

»Da bist du in der falschen Gehaltsstufe, mein Lieber!«, entgegnete Tina.

Ludwig öffnete eine breite Holztür. Vor ihnen lag ein Swimmingpool. Auf dem Wasser trieb ein bizarr gekleideter Leichnam mit dem Gesicht nach unten. Der Tote wirkte auf den ersten Blick wie ein zu groß geratener Wasservogel. Seine Hosen und das langärmelige Hemd waren vollkommen mit Federn besetzt, die Arme als Schwingen gestaltet. Die Füße waren zusammengebunden, die Hände vom Körper weggestreckt. Stricke, die am einen Ende an den Gelenken des Opfers und am anderen am Schwimmbeckenrand befestigt waren, hielten den Toten wie einen Gekreuzigten in seiner Position.

»Warum haben Sie ihn noch nicht aus dem Wasser geholt?«, fragte Caspari irritiert.

»Zum einen, um besser Spuren um das Schwimmbecken herum sichern zu können. Zum anderen wollte ich, dass Sie ihn so sehen. So etwas ist mir bisher noch nicht untergekommen.«

Mario begann, die ersten Fotos zu schießen, während Polizeitaucher ins Wasser gingen, die Fesseln durchtrennten und den Leichnam aus dem Wasser zogen. Caspari bat den Gerichtsmediziner, ihn einen Blick auf den Toten werfen zu lassen, der jetzt bäuchlings auf den Fliesen lag. Caspari fiel auf, dass die Federn an einigen Stellen angesengt waren. Vorsichtig drehte er den Toten herum. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, schreckte er zurück. Das Federkleid war auf der Unterseite völlig verbrannt. Das Gesicht des Mannes war von Blasen überzogen, die Augenbrauen waren versengt. Die schwarzen, verkohlten Augäpfel und die fehlenden Lider entstellten das Gesicht zu einer bizarren Fratze. Caspari spürte ein Schnaufen hinter sich. Als er sich umwandte, blickte er Tina in die Augen.

»Bei jedem Fall denke ich, es kann nicht schlimmer kommen– und werde beim nächsten Mal eines Besseren belehrt.«

Caspari spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er erhob sich und nickte dem Gerichtsmediziner zu. Dann packte er den Griff einer großen Schiebetür, die zur Terrasse führte, und zog sie weit auf. Die sommerlich-milde, klare Nachtluft drang in den mit Chlorgeruch geschwängerten Raum ein.

»Wer hat Sie informiert?«, fragte er den Kriminalbeamten.

»Tiziana.«

»Und wer bitte ist das?«, hakte er nach.

»Sie kennen nicht diese Rapperin aus Hanau? Die feiert doch mittlerweile internationale Erfolge«, antwortete Ludwig verständnislos.

Caspari sah aus dem Augenwinkel, wie Tina und Mario sich ein Grinsen verkniffen.

»Entschuldigung. Mit dieser speziellen Form der Geräuscherzeugung kenne ich mich nicht aus.«

»Hören Sie kein Radio?« Ludwig war sichtlich irritiert. In Caspari erwachte Unmut.

»Auf den Sendern, die ich bevorzuge, wird dieses unmusikalische Gegrunze nicht gespielt.«

»Mein Geschmack ist das auch nicht. Aber ich habe schon einmal in einem der Boulevard-Blätter beim Friseur etwas über Tiziana gelesen. An Ihnen geht so etwas völlig vorbei?«, fragte Ludwig, als könne er es nicht glauben.

»Ich finde die neue Musikszene so spannend wie eine ausgebrannte Wellblechhütte!«, entgegnete Caspari trotzig und wandte sich an Mario und Tina.

»Kennen Sie diese Tiziana?«

»Chef, seitdem wir mit Ihnen zusammenarbeiten, kennen wir uns bestens aus, was die Musik von der Gregorianik bis Furtwängler betrifft. Und doch können wir uns eines gelegentlichen Ausbruchsversuchs in Richtung neue Musik nicht erwehren«, meinte Tina und grinste ihn an.

»Sie müssen es ihm nachsehen«, sagte Mario zu Ludwig. »Für einen Kulturkritiker wie ihn kommt ein Ausflug in den Hip-Hop und Rap nicht in Frage.«

»Was brauchst du Feinde, wenn du solche Freunde hast?«, wehrte sich Caspari halbherzig. »Dürfte ich jetzt trotzdem die Einzelheiten erfahren?«

Ludwig zog ein Foto aus seinem Sakko und reichte es Caspari. Darauf war der Tote in der Position abgelichtet, in der ihn Caspari beim Betreten des Schwimmbadraumes gesehen hatte. Allerdings war das Foto unter Wasser aufgenommen worden. Das im Wasser liegende, gebrandmarkte Gesicht starrte ihn an.

»Dieses Foto wurde Tiziana in einem Briefumschlag von einem Kurierdienst zugestellt, während sie der Presse in Hanau ihr neues Album vorstellte. Sie hat das Couvert allerdings erst nach der Show geöffnet.«

»Haben Sie die Dame schon vernommen?«, fragte Mario.

»Das war leider nicht möglich. Sie bekam einen Schock und wird zurzeit im Krankenhaus behandelt. Frühestens morgen Vormittag ist sie in der Lage, uns Auskunft zu geben«, antwortete Ludwig.

»Schrecklich!«, meinte Tina. »Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Man bekommt einen Brief, denkt an nichts Böses und sieht dann dieses Bild.«

»Zumal es nicht das erste Mal ist, dass jemand aus Tizianas Umfeld auf, wie soll ich sagen, ungewöhnliche Weise ums Leben kommt«, sagte Ludwig. »Vor ein paar Monaten wurde ihr Produzent Norman Kling ebenfalls umgebracht. Jemand lauerte ihm beim Joggen auf, durchschnitt seine Kehle und ließ ihn in einem Krokusfeld verbluten. Der Täter legte die Leiche genauso wie den Toten hier auf die Blumen. Es erinnerte an eine Kreuzigung.«

»Das kann auf denselben Täter hinweisen. Möglich wäre aber auch, dass es ein reiner Zufall ist, oder dass hier ein Trittbrettfahrer am Werk war«, meinte Tina nachdenklich.

»Da ist noch etwas«, fuhr Ludwig fort und deutete auf einen roten Strich am anderen Ende der Glasfront. »Er hat an beiden Tatorten einen Buchstaben hinterlassen.«

Als Clara erwachte, spürte sie Caspari neben sich liegen. Der letzte Abend ging ihr noch einmal durch den Kopf. Nach einem holprigen Anlauf hatte sie die Stunden genossen. Die Gespräche mit ihm und die Zärtlichkeit, mit der er ihr nahe war, erfüllten sie auf eine nie gekannte Weise. Wenn er sie in den Arm nahm, konnte sie alles um sich herum vergessen. Dann dachte sie an die Störung durch Casparis Vorgesetzten. Zorn stieg in ihr auf. Sie sah noch einmal die Verzweiflung und das stumme Flehen in Casparis Augen. Er wusste, was es bedeutete, wenn ihn wieder ein Fall ganz und gar verschlang.

Lukas steckte seinen Kopf durch die Tür und lächelte.

»Du siehst aus, als ginge es dir besser«, stellte Clara fest.

»Die Ohren tun nicht mehr weh, und mein Kopf ist auch nicht mehr so heiß«, bestätigte der Kleine.

»Das freut mich. Komm, lass uns den Frühstückstisch decken.«

»Was ist mit Papa?«, fragte Lukas. »Wieso wird der nicht wach, wenn wir uns unterhalten?«

»Dein Papa hatte eine anstrengende Nacht. Er wurde zu einem Einsatz gerufen«, erklärte Clara.

Lukas machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Dann wird er heute keine Zeit für mich haben.«

»Warte doch erst einmal ab. Vielleicht muss er ja heute nicht arbeiten«, versuchte sie den Jungen zu trösten.

Gemeinsam deckten sie den Tisch in der Küche. Lukas stellte sich auf einen Stuhl und begann eifrig, den Sendersuchlauf des Radio- und CD-Spielers zu bearbeiten. Laut dröhnte die Stimme der Rocksängerin Anastacia durch die Lautsprecher.

»Man muss die Gelegenheit nutzen, wenn Papa mal nicht in der Nähe ist!«, meinte Lukas grinsend und nickte rhythmisch mit dem Kopf, während er die Servietten auf den Tisch legte. Clara musste lachen, als sie den Sechsjährigen auf seine kindliche Art durch die Küche tanzen sah.

Als sie mit den Brötchen wiederkam, die der Bäcker unter das Vordach gelegt hatte, saß Caspari mit zerzausten Haaren am Tisch und sah schmunzelnd auf seinen Sohn.

»Wehe, wenn sie losgelassen…«, sagte er und rieb seine dunkel umrandeten Augen. »Ich nehme es als Zeichen dafür, dass er wieder auf dem Damm ist.«

»Was man von dir nicht gerade behaupten kann«, entgegnete Clara. »Du machst heute Morgen jeder Vogelscheuche Konkurrenz.«

»Was soll ich machen«, meinte er schulterzuckend, »du hast ja selbst miterlebt, was los war.«

Er stand auf, ging an den Besteckkasten und holte ein Kindermesser heraus.

»So, mein Lieber«, sagte er zu Lukas und legte es ihm neben den Teller, »in zweieinhalb Monaten kommst du in die Schule. Es wird Zeit, dass du lernst, dir selbst die Brötchen zu schmieren.«

Clara genoss die Rolle der stillen Betrachterin, während Caspari mit Lukas das Hantieren mit dem Messer übte.

Während der Kleine genüsslich sein Marmeladenbrötchen kaute, wandte sich sein Vater ihr zu und brachte ein müdes Lächeln zustande.

»Wie ist es heute Nacht gelaufen?«, fragte sie in der Hoffnung, er hätte den Fall vielleicht der Frankfurter Kriminalpolizei überlassen können.

»Die schlechte Nachricht ist, dass es ganz nach einer Serie aussieht. Alles deutet auf ein Ritual hin, dass wir entschlüsseln müssen. Die gute Nachricht ist, dass ich heute nur ein paar Stunden in diesem Fall unterwegs bin. Heute Nachmittag haben wir Zeit füreinander.«

Clara versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Das ist ja alles ganz gut und schön«, begann sie vorsichtig. »Aber erstens besteht ein freies Wochenende nicht nur aus ein paar Stunden am Nachmittag. Und zweitens habe ich ab halb drei ein Treffen meines Religionskurses zur Vorbereitung unseres Projektes auf dem Hessentag.«

»Ihr habt ein Projekt?«, fragte Caspari erstaunt.

»Ja, ich hatte noch keine Gelegenheit, dir davon zu erzählen«, erwiderte Clara.

»Das stimmt«, sagte Caspari kleinlaut. »Ich habe mich in letzter Zeit wenig um deine Arbeit gekümmert. Es tut mir leid. Glaub mir, ich werde das ändern…«

Clara zuckte mit den Schultern. Sie liebte diesen Mann sehr und hatte doch das Gefühl, dass er da mehr versprach, als er halten konnte.

»Ach Christoph, wenn es doch nur wahr werden könnte…«

Das Kind kauerte sich im Bett zusammen. Seine Mutter war im unteren Stockwerk. Sie hatte dem Jungen eines seiner Lieblingsmärchen vorgelesen, hatte ihn zu Bett gebracht, ihn umarmt und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. Mama roch immer so gut, besonders wenn Papa nicht zu Hause war. »Mein kleiner Schatz«, waren ihre Worte gewesen, bevor sie das Kinderzimmer verließ. Dann war ein fremder Mann gekommen, der ihr einen Blumenstrauß mitbrachte. Der Junge hatte seine Mutter unten lachen gehört. Er war heimlich aufgestanden und hatte im Dunkeln des Treppenhauses alles beobachtet.

Jetzt lachte seine Mutter nicht mehr. Die Geräusche, die aus dem Wohnzimmer zu ihm drangen, waren ihm fremd. Es war ein Keuchen, das sich mit dem Schnaufen des Mannes zu einer grauenvollen Melodie verband. Der Junge konnte sie nicht ertragen. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu.

»Wir haben alles gründlich durchsucht. Sogar den Schwimmbadfilter haben wir auf Haare hin untersucht. Nichts!«

Hauptkommissar Ludwig fasste nüchtern die Ergebnisse der Spurensicherung zusammen, während Caspari vor der Glaswand im Besprechungszimmer der Mordkommission stand, an der die Tatortfotografien hingen. Mit einer Lupe suchte er nach Details auf den Bildern, die sie vielleicht übersehen hatten. Tina und Mario saßen am großen Tisch und tranken Kaffee.

»Es hat keinen Zweck!«, meinte Tina mit müder Stimme. »Die Fotos sehen wir uns seit einer halben Stunde wieder und wieder an und finden doch nichts.«

Caspari wandte sich um. Beim Anblick seiner beiden Mitarbeiter erfüllte ihn Scham. Wenn er dem Präsidenten nicht die Stirn bot, würden diese beiden wunderbaren Menschen verheizt werden.

»Ja, Sie haben recht«, gab er kleinlaut zu. »Ich hatte die stille Hoffnung, doch noch einen kleinen Mosaikstein zu finden, der uns weiterbringen könnte.«

Er deutete auf eine Fotografie, auf der ein Teil der großen Glasfront des Schwimmbadbereiches abgebildet war. Groß und rot prangte darauf der Buchstabe I.

»Das ist tatsächlich das Einzige, was uns der Mörder hinterlassen hat.«

Danach wandte er sich den Tatortfotos vom Mordfall Kling zu, die Ludwig daneben gehängt hatte. Warum konnte er auf den Bildern nichts entdecken, das ihm half, klarer zu sehen? War er mittlerweile schon so ausgebrannt, dass er die kleinen Details nicht mehr sah?

»Ich stochere mit langen Stangen im dichten Nebel«, meinte er resigniert. »Zwei unterschiedliche Vorgehensweisen, zwei unterschiedliche Orte für die Inszenierung der Tat, das Schwimmbad und das Blumenbeet im Park. Doch in beiden Fällen ist es ein und dieselbe Handschrift. In beiden Mordfällen handelt es sich um dasselbe Ritual. Nach der Tötung wird die Leiche mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Beinen bäuchlings hingelegt. Dann hinterlässt der Täter an beiden Tatorten einen Buchstaben. Auf der weißen Sportjacke von Kling den Buchstaben V, bei Sauter ein I. Doch wofür stehen sie? Sind es die Großbuchstaben aus dem Alphabet oder irgendwelche kryptischen Zeichen?«

»Vielleicht sind es lateinische Zahlzeichen, die der Täter verwendet«, warf Tina ein.

»Möglich. Der Großbuchstabe V ist im Lateinischen die Zahl quinque, fünf. I könnte unus, also eins bedeuten, aber das ergibt keinen Sinn! Wenn der Täter seine Opfer zählen wollte, hätte er bei Kling mit I angefangen und bei Sauter mit II weitergemacht.«

»Woher wissen wir eigentlich, dass es sich um einen Täter handelt?«, merkte Mario an. »Ich erinnere mich an die Satanistenmorde vor zwei Jahren. Damals hatten wir es mit einem Pärchen zu tun.«

Caspari war ihm für diesen Einwand dankbar. Mario war ein Querdenker, dessen Sichtweise sie schon oft auf die richtige Fährte geführt hatte. Ludwig schüttelte den Kopf.

»Den Mordfall Kling konnten wir bisher nicht aufklären. Dabei haben wir jeden Stein mehrmals umgedreht, das Umfeld von Kling und der Rapperin mehr als gründlich überprüft. Nichts! Das Einzige, was wir durch Zeugenaussagen wissen, ist, dass ein Mann den Ostpark kurz nach dem Mord verlassen hat. Er kam an der Stelle heraus, an der Kling hineingelaufen war. Im Fall Sauter sah eine Nachbarin am frühen Nachmittag einen Fahrradkurier an der Haustür klingeln.«

»Konnte sie den Mann erkennen?«, fragte Tina neugierig.

»Nein, sie fuhr mit dem Auto vorbei und konnte ihn nur kurz von hinten sehen. Einzig seine Weste erkannte sie. Er trug eine des Kurierdienstes ›Main-Radler‹. Da Sauter oft von solchen Kurieren Post aus den Studios und von den Plattenfirmen bekam, dachte sie sich nichts dabei.«

»Haben Ihre Leute diesen Kurierdienst überprüft?«, fragte Caspari. Im Grunde glaubte er nicht daran, dass dabei etwas herausgekommen würde.

»Natürlich haben wir das«, erwiderte Ludwig. »In der vorletzten Nacht ist dort eingebrochen worden. Die Firma hat das ordnungsgemäß gemeldet. Interessant war allerdings, dass außer einer Weste mit dem Firmenlogo und einem Helm nichts gestohlen wurde. Die Kollegen vom Einbruchsdezernat konnten keinerlei Spuren finden.«

»Was ist mit den versengten Federn und dem verbrannten Gesicht?«, hakte Caspari nach. »Hat die Spurensicherung das Gerät gefunden, mit dem er das getan hat?«

»Wir haben es in einer der Mülltonnen gefunden. Es ist eine kleine Gaskartusche mit einem Aufsatz. So was verwendet man beim Camping zum Kochen. Das bringt uns aber nicht weiter. So ein Gerät ist in jedem Baumarkt zu bekommen. Fingerabdrücke waren keine darauf«, meinte Ludwig.

»Dann können wir uns warm anziehen!«, brummte Mario. Caspari nickte stumm und sah dabei zu Tina, die immer mehr in sich zusammensank.

»O nein, nicht schon wieder so einen Mörder«, stöhnte sie. »Ich brauche dringend eine Pause von so etwas.«

Caspari bemerkte, dass Hauptkommissar Ludwig ihn irritiert ansah.

»Was meint Frau Hergenrath?«

Statt auf die Frage einzugehen, fasste Caspari zusammen, was sie bis jetzt über den Täter sagen konnten: »Wir haben es hier mit einem sehr intelligenten, gebildeten Mann zu tun, der seine Taten ganz genau und akribisch plant. Er ist körperlich stark, sonst wäre er zu den beiden Morden nicht in der Lage gewesen. Seine Vorgehensweise ist absolut präzise. Alle Eventualitäten plant er im Voraus ein. Durch die Buchstaben oder Zahlzeichen und die Stellung der Leichen hinterlässt er Botschaften, die wir entschlüsseln sollen. Außerdem ist er arrogant, denn er traut uns nicht zu, seine Handschrift lesen zu können.«

»Was führt Sie denn zu diesem Schluss?«, fragte Ludwig.

»Seine Perfektion«, erwiderte Caspari. »Und für den Moment hat er recht! Bisher fehlt mir jeder Ansatz, dieses Ritual zu entschlüsseln. Ist es etwas Religiöses? Die Stellung der Leichen könnte darauf hindeuten. Vielleicht sollen sie Engel symbolisieren oder Novizen vor ihrem Gelübde. Oder er will den Gekreuzigten verspotten. Doch was hat das mit den Zeichen zu tun. VI oder IV wie Victor? Sieht er sich als Sieger über Jesus oder über alle, die an ihn glauben? Das alles ergibt bisher noch keinen rechten Sinn. Wir werden Engelnamen recherchieren müssen. Außerdem bleibt noch die Frage offen, wie diese…– wie hieß sie doch gleich?– ins Spiel passt. Sie hat eine Schlüsselrolle, die wir noch verstehen müssen!«

»Sie heißt Tiziana!«, unterbrach ihn Ludwig.

»Da ist noch etwas«, Caspari schauderte bei diesen Worten. »Er ist noch nicht am Ziel!«

Tiziana fühlte sich müde und ausgelaugt, als sie an Tonis Seite das Krankenhaus verließ. Sie wollte in ihr Haus, in ihre eigenen vier Wände, die ihr Sicherheit gaben. Erholen würde sie sich dort von dem Schock allerdings auch nicht. Dieser Hauptkommissar Ludwig hatte angekündigt, dass er sie mit weiteren Kollegen in Kürze aufsuchen und befragen wollte. Sie hatte Angst vor diesem Gespräch. Es würde den Moment wieder lebendig werden lassen, in dem sie das Couvert geöffnet und die großformatige Fotografie herausgeholt hatte, auf der das Entsetzlichste abgebildet war, das sie jemals in ihrem Leben gesehen hatte. Dieses mit Blasen überzogene Gesicht hatte grauenvoll ausgesehen. Die Augen schienen sie anzustarren, obwohl sie verbrannt waren. Sie hatten sie trotz des Beruhigungsmittels, das ihr im Krankenhaus verabreicht worden war, bis in ihre Träume verfolgt. Ohne Toni hätte sie diesen Schock nicht überstanden. Die ganze Zeit hatte er stumm an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten.

Endlich zu Hause, stellte Toni ihr eine Tasse Tee auf den Tisch, an dem sie in sich zusammengesunken saß. Dankbar sah sie ihn an. Sein Gesicht war blass, seine Augen müde. Die Ereignisse des vergangenen Abends waren auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen.

Schrill zerriss die Türglocke die Ruhe, die beide geteilt hatten. Toni brummte missmutig und öffnete die Tür. Hinter Hauptkommissar Ludwig, den sie schon von den Ermittlungen des Mordes an Norman kannte, kam ein Mann ins Zimmer, der ihn um Haupteslänge überragte. Seine breiten Schultern und sein wuchtiger Körperbau ließen ihn hünenhaft wirken. Zuletzt betraten ein gutaussehender, südländisch wirkender Mann und eine Frau mit roter Löwenmähne den Raum.

»Entschuldigen Sie, dass wir jetzt mit Ihnen reden müssen«, meinte Ludwig. »Ich weiß, dass Sie eine schwere Zeit durchmachen. Aber die Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Je schneller wir dem Mörder das Handwerk legen, umso besser.«

Tiziana wollte niemanden sehen und mit keinem außer Toni reden. Aber sie wusste, dass Ludwig recht hatte. Sie ergab sich in ihr Schicksal und nickte zaghaft. Dann blickte sie zu den drei anderen. Der Hüne wirkte mit seinem breiten Gesicht und dem roten Bart wie der Prototyp eines Holzfällers. Ernst blickte er sie an. Tiziana spürte in seinem Blick eine Mischung aus Mitleid und Ablehnung.

Ludwig beeilte sich, die drei Fremden vorzustellen.

»Das ist Dr.Caspari vom Landeskriminalamt. Hauptkommissarin Hergenrath und Hauptkommissar Bartoldi sind seine Mitarbeiter.«

Tiziana war überrascht.

»Sie haben das Landeskriminalamt hinzugezogen? Was bedeutet das?«, fragte sie ängstlich.

»Es bedeutet, dass wir es hier nicht mit einem gewöhnlichen Mörder zu tun haben«, erklärte der Hüne sachlich.

Die Kommissarin sah Tiziana freundlich an.

»Dürfen wir uns setzen?«, fragte sie.

Tiziana errötete. Sie fühlte sich zwar innerlich völlig taub, wollte aber deswegen nicht unhöflich sein.

»O ja, natürlich. Bitte entschuldigen Sie.«

Der große Mann setzte sich auf den Stuhl, der ihr am nächsten stand.

»Ich weiß, dass die Fragen, die wir Ihnen jetzt stellen, Dinge anrühren, die Sie am liebsten vergessen möchten. Aber wir brauchen irgendeinen Ansatz, einen Anhaltspunkt, von dem aus wir ermitteln können«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Tiziana schüttelte den Kopf.

»Ich kann Ihnen doch auch nicht viel sagen. Dasselbe haben wir doch beim Mord an Norman durchgekaut. Es ist mir völlig unverständlich, wie jemand die beiden so grausam umbringen konnte.«

»Wissen Sie, ob Hagen Sauter Feinde hatte?«, fragte der Südländer.

»Hagen war so ein väterlicher Typ, nicht nur mir gegenüber. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn jemand so gehasst hat, dass er ihm das antun konnte.«

»Der Mörder wollte mit der Position, in die er beide gelegt hat, etwas ausdrücken. Können Sie damit etwas anfangen?«

Tiziana sah vor ihrem inneren Auge die Tatortfotos von Norman Kling und das Foto von Hagen im Swimmingpool. Tränen schossen ihr in die Augen. Der Hüne reichte ihr ein Taschentuch.

»Nein, sorry.«

»Haben Sie vielleicht in einem Ihrer Lieder das Neue Testament oder Engelsgeschichten thematisch verarbeitet?«, fragte die Rothaarige.

Tiziana dachte nach. Im Moment konnte sie sich selbst an ihre vertrauten Liedtexte nur mit Mühe erinnern. Nach einer Weile verneinte sie.

»Auf Klings Jacke hatte der Mörder mit dem Blut seines Opfers ein V geschrieben. An der Glasfront in Sauters Poolbereich befand sich ein rotes I. Fällt Ihnen etwas ein, das diese Buchstaben erklären könnte?«, wollte der Hüne von ihr wissen.

»Ich weiß es wirklich nicht. Meine Phantasie reicht nicht aus, um mir die Gedankengänge eines so kranken Hirns vorzustellen.«

Tiziana war am Ende ihrer Kräfte. Sie begann zu zittern und konnte die Tränen nicht zurückhalten.

»Lassen Sie Tiziana endlich in Ruhe!«, hörte sie Toni sagen. »Sie sehen doch, dass sie nicht mehr kann.«

»Es tut mir leid«, erwiderte Caspari. »Ich muss sehr schnell so viele Informationen wie möglich sammeln. Seit gestern Abend zählt jede Minute.«

»Weil Ihnen der Kerl sonst wieder durch die Lappen geht?«, fragte Toni mit Bitterkeit in der Stimme.

»Nein. Weil es sich hier mit großer Sicherheit um einen Serientäter handelt, der seinen nächsten Mord wahrscheinlich schon vorbereitet«, antwortete der Kommissar mit eisiger Stimme.

»Wir müssen davon ausgehen«, fuhr er fort und blickte dabei zu Tiziana, »dass die Taten in irgendeiner Verbindung zu Ihnen stehen. Anders lässt es sich nicht erklären, dass der Mörder Ihnen diese abscheuliche Fotografie zugeschickt hat. Deshalb muss ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen: Wurden Sie jemals von einem Stalker belästigt?«

Tiziana überlegte eine Weile. In ihren Gedanken ging sie die vergangenen Jahre durch, von den Anfängen im Hip-Hop-Workshop an der Universität bis in die Gegenwart. Doch so intensiv sie auch überlegte, sie konnte sich an keinen aufdringlichen Bewunderer erinnern.

»Wirklich nicht«, antwortete sie. »Von solchen Belästigungen bin ich bisher verschont geblieben.«

Der Hüne nickte und erhob sich.

»Mehr werden wir Sie heute nicht fragen«, sagte er. »Alle Mitglieder Ihrer Kapelle haben seit gestern Abend Polizeischutz. Ein Wagen mit zwei Beamten steht auch vor Ihrer Tür.«

»Der Kerl kommt nicht an sie heran. Da muss er erst einmal an mir vorbei!«, knurrte Toni.

»Jeder findet einmal seinen Meister«, entgegnete Caspari und klopfte ihm dabei auf die Schulter. »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede!«

Die Polizisten verabschiedeten sich und gingen. Dann war es wieder still. Zu still, dachte Tiziana.

»Oh, meine Tat ist faul, sie stinkt zum Himmel.«

Clara stand, tief in Gedanken versunken, vor dem Plakat, das eine Arbeitsgruppe entworfen hatte. Die Idee, eine Dokumentation zu den Zehn Geboten mit diesem Zitat aus dem Drama »Hamlet, Prinz von Dänemark« einzuleiten, fand sie interessant. Sie bat Kai, ein Mitglied der Gruppe, dem Kurs die Einleitung vorzustellen.

»Wir haben im vergangenen Halbjahr das Drama im Religionsunterricht unter dem Aspekt bearbeitet, wie Shakespeare die Themen von Schuld, Vergebung und Sühne verarbeitet«, referierte der Schüler. »Hamlets Onkel, der seinen Bruder vergiftete, um auf Dänemarks Thron zu steigen, hat ein schlechtes Gewissen. Das heißt, er kennt die Zehn Gebote, er weiß, dass er gegen das Fünfte Gebot ›Du sollst nicht töten‹ verstoßen und sich vor Gott schuldig gemacht hat. Mit dem Zitat wollen wir darauf hinweisen, dass jedem diese Regeln des Zusammenlebens auf irgendeine Weise bekannt sind, sodass sich das Gewissen meldet, wenn man dagegen verstößt.«

Nach zwei Stunden beendete Clara das Vorbereitungstreffen. Sie war sehr zufrieden mit den Leistungen der Schüler. Der »Zehn-Gebote-Parcours« würde ein Erfolg werden. Die Jugendlichen mussten nur noch an einigen Stellen nacharbeiten und verbessern. Mit sich selbst war Clara allerdings nicht zufrieden. Es war nur der hohen Motivation der Schüler zu verdanken, dass sie so zielstrebig gearbeitet hatten. Clara hatte sich bisweilen dabei ertappt, nicht ganz bei der Sache zu sein. Immer wieder waren ihre Gedanken bei Caspari gewesen. Einerseits war sie enttäuscht darüber, dass sie nicht mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Auf der anderen Seite sah sie die Belastung, der er ausgesetzt war. Mit dem Gefühl, weder Caspari noch den Schülern gerecht geworden zu sein, ging sie zum nahe gelegenen Pfarrhaus in der Oberen Haitzer Gasse. Während sie die Tür aufschloss, sprach sie ein Mann an.

»Entschuldigung, sind Sie die Pfarrerin?«, fragte er unsicher.

Clara musterte ihn. Sie schätzte den Mann auf Mitte fünfzig. Er trug Jeans, ein Sommerhemd und Sandalen. Seine Bewegungen vermittelten eine innere Unruhe, sein Blick wirkte gehetzt. Sie musste ihn irgendwo schon einmal gesehen haben. Er kam ihr bekannt vor.

»Ja, ich bin Pfarrerin Frank«, antwortete Clara, die gar nicht erst fragte, was den Mann zu ihr geführt hatte. Sie ahnte schon, was er wollte.

»Kann ich Sie sprechen? Ich weiß, es ist Samstagnachmittag. Sie haben bestimmt noch etwas anderes vor. Aber es ist dringend!«

Clara nickte ihm aufmunternd zu. Sie setzte ein Lächeln auf, das vertuschen sollte, dass sie sich nach dem anstrengenden Vorbereitungstreffen auf eine Stunde Entspannung bei einer Tasse Kaffee gefreut hatte. In ihrem Amtszimmer stellte sie ihre schwere Tasche mit den Unterrichtsmaterialien ab und wies ihm einen Platz auf der Couch. Sie selbst setzte sich in den Sessel.

»Frau Pfarrerin, die Leute halten mich für verrückt, weil ich sage, dass jemand ständig in mein Haus geht. Dabei ist es die Wahrheit!«

Der Mann schoss vom Sofa hoch, lief unruhig durch das Zimmer und fuhr fort: »Ich weiß nicht, wer die sind und was die wollen. Aber sie sind immer da. Ich traue mich gar nicht mehr aus dem Haus. Vielleicht haben sie schon überall Wanzen angebracht und hören mich ab. Dann wissen sie, dass ich im Augenblick gar nicht da bin und sie ungestört wieder in den Zimmern stöbern können.«

»Wissen Sie denn, was ›die‹ in ihrem Haus wollen?«, fragte Clara ruhig.

»Ich habe keine Ahnung. Wenn ich verrückt wäre, würde ich vielleicht etwas von Außerirdischen faseln oder von irgendeinem dubiosen Geheimdienst. Aber ich bin normal.«

»Haben Sie die Polizei informiert?«

»Ja, aber die konnten keinen Hinweis auf einen Einbruch finden. Als ich dann noch einmal angerufen habe, meinten die bloß, sie könnten mir nicht helfen. Da müsse ich schon zu einem Arzt gehen.«

Clara tastete sich langsam heran.

»Fehlt denn irgendetwas in dem Haus?«

»Nein!«, erwiderte er barsch, worauf er sich gleich entschuldigte. »Das ist ja gerade das Furchtbare. Die laufen nur durch alle Zimmer und durchstöbern alles, als würden sie nach etwas suchen und es nicht finden. Die Radioprogramme haben sie schon öfter verstellt und die Fernbedienung des Fernsehers lag auch an Stellen, wo ich sie zuvor nicht hingelegt habe. Das Lesezeichen ist oft an Stellen im Buch, an denen ich gar nicht aufgehört hatte zu lesen. Sagen Sie, halten Sie mich für verrückt?«

Aber er ließ Clara nicht zu Wort kommen.

»Und dann sind da nachts diese Geräusche, die mich nicht mehr schlafen lassen.«

»Welche Geräusche?«, fragte Clara, die sich immer sicherer wurde, dass sie es mit einem schizophrenen und paranoiden Menschen zu tun hatte.

»Sehen Sie«, rief er aufgeregt. »Ich wusste, dass diese Geräusche nicht normal sind. Sie hören sie nicht, meine Nachbarn hören sie auch nicht. Nur ich höre sie. Das ist doch der Beweis, dass die in meine Wohnung kommen.«

Clara versuchte sich vorzustellen, welche Panik dieser Mann haben musste.

»Es tut mir leid, dass Sie diese Erlebnisse haben.«

»Alle halten mich für geisteskrank. Jemand muss mir doch glauben!«

»Ich glaube Ihnen, dass Sie diese Eindrücke haben«, antwortete Clara. »Doch ich glaube nicht, dass sie für alle anderen Menschen existent sind.«