Schmerzflimmern Vol. 2 - Marc Kemper - E-Book

Schmerzflimmern Vol. 2 E-Book

Marc Kemper

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Beschreibung

Das Ende ist nah! Was wie das müde Mantra eines Weltuntergangstheoretikers klingt, ist für Gregor tägliche Routine: Bei bloßer Berührung muss er dem Tod eines Menschen in einer detaillierten Vision beiwohnen. Um dem Ursprung dieser Bürde auf den Grund zu gehen, begibt er sich auf die Suche nach seinem leiblichen Vater. Als unterdessen die Stadt von einem mysteriösen Anschlag heimgesucht wird, geht zunächst niemand von einem Zusammenhang aus. Zumindest nicht, bis Gregor selbst ins Fadenkreuz der Terroristen gerät ... Ein cineastischer Zeitreise-Thriller Mit "Schmerzflimmern Vol. 2" folgt Autor Marc Kemper seiner mit bissigem Galgenhumor ausgestatteten Hauptfigur auf einen Road Trip, der brennende Fragen beantwortet und sich zu einer Zerreißprobe auf mehreren Zeitebenen zuspitzt.

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Für Petra und Frank

Inhaltsverzeichnis

Daily Grind

They're all dead. They just don't know it yet.

Nostradamus

Der Flug des Navigators

Toxin

Fletcher's Visionen

Source Code

All Along The Watchtower

Daedalus

Flucht in die Zukunft

The future isn't what it used to be Mr. Angel

Dead Zone

The Year Summer Ended In June

1.

Daily Grind

Er grunzte wütend, während sich seine Zähne in meine Handfläche bohrten. Eigentlich wurden Mitarbeiter der Suchtberatung angewiesen, ihren Patienten nicht die Hand zu geben. Standardprozedur in Berufen dieser Art. Dieser Umstand war sogar einer der Hauptgründe, warum ich mich so um diese Stelle bemüht hatte, nachdem man mich bei den Rettungssanitätern nicht mehr haben wollte.

Allerdings hatte ich nicht bedacht, wie bissig jemand werden würde, dem der Drogenhahn zugedreht wurde. Nach allem, was ich im vergangenen Jahr durchmachen musste, konnte mich das allerdings kaum aus der Ruhe bringen.

Doch nun stand ich da, in meiner verschwitzten Besenkammer, die sich als Büro tarnte. Einen in Raserei verfallenen Junkie an der Hand, der die kleinen Wolkenkratzer aus Akten, die sich auf meinem Schreibtisch stapelten, zum Einsturz brachte. Ein ganz normaler Dienstag.

Dieser wenig handzahme Vorfall war nicht nur wegen der Ansteckungs- und Infektionsgefahr ein Problem für mich, sondern auch wegen des unerklärlichen Phänomens, welches sich abspielte, wenn ich in direkten Kontakt mit der Haut anderer Personen geriet. Bei jeder Berührung bezeugte ich den Tod in all seiner chaotischen Schrecklichkeit. Egal wie nah oder fern, egal wie erlösend oder brutal. Ich war verdammt dazu, in einer detaillierten Vision mit anzusehen, wie sich das Ableben jeder mir nahestehenden Person abspielen würde. So auch das von Daniel, dessen vergammeltes Gebiss sich in diesem Augenblick durch meine Haut drückte.

Die Zeit verlangsamte sich. So begann es jedes Mal. Jede Sekunde dauerte plötzlich zwei. Dann drei. Dann vier Sekunden. Das Ticken der Zeiger war ohnehin schon zu laut, hallte nun jedoch durch den ganzen Raum und klingelte wie Kanonenfeuer in meinem Trommelfell. So musste sich ein Amboss fühlen, auf den unnachgiebig eingehämmert wurde. Das durch die Luft fliegende Papier der herunterfallenden Akten tanzte um mich herum, als wäre ich das Zentrum eines Wirbelsturms. Von der Hand, die sich im Mund von Daniel befand, strömten nun kaskadenweise Hitzewellen meinen Arm hinauf. Ich schloss die Augen.

Schmerz sprach ich mittlerweile fließend.

Als ich meine Augen wieder öffnete, fand ich mich in einer stickigen Dachgeschosswohnung wieder. Die Fenster waren mit Bettlaken abgedeckt, weshalb es einen Moment dauerte, bis ich mich orientiert hatte. An den Wänden fehlte die Tapete. Ich saß auf einer versifften Couch und vor mir stand ein Fliesentisch mit mehreren zerbrochenen Kacheln.

Leicht angeekelt beugte ich mich nach vorne und musterte die Tageszeitung, die auf dem Tisch lag. Unter einer Dose Krümelzitronentee und einer leeren Tüte Tabak fischte ich das graue Papier hervor. Mittlerweile wusste ich genau, wie ich möglichst schnell herausfinden konnte, wo und vor allem wann ich mich befand. Der Erscheinungstag der Zeitung lag im August, acht Jahre in der Zukunft. Den Tod eines Menschen zu sehen war stets auch eine Zeitreise in die Zukunft.

Noch ehe ich die Zeitung genauer betrachten konnte, hörte ich ein manisches Lachen aus dem Nebenraum. Offensichtlich stand Daniel wieder unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Stoffe. Drogentode sah ich früher schon viele. Dieser verlief allerdings besonders kurios. Als ich das völlig leere Zimmer betrat, aus dem das verrückte Lachen hallte, sah ich einen nackten, ausgemergelten Daniel in der Ecke sitzen. Er schwitze und kochte eine Suppe auf einer kleinen Campingherdplatte. Dabei starrte er wie besessen auf eine Lavalampe, die mit ihrem grünen Licht den Raum erhellte. Ich ging davon aus, dass Daniel möglicherweise an einer Überdosis sterben würde, weshalb ich mich nach den Drogen umsah, die der Auslöser dafür sein würden. Und tatsächlich fand ich auf seinem Toilettensitz eine Staffel akribisch portionierter Linien aus weißem Pulver. Im Badezimmerschrank stand auch eine angebrochene Packung Badesalz, ich vermutete hier aber keinen unmittelbaren Missbrauch.

Zwar konnte ich mit dem Wunsch sympathisieren, sich mit allen Mitteln zu betäuben, verspürte selbst jedoch nie den Drang, mich diesen Eindrücken auszusetzen. Mein Leben war nüchtern schon verquer genug.

Zurück bei Daniel bezeugte ich jedoch, dass die Drogen selbst lediglich der Katalysator, aber nicht der Grund für seinen Tod sein würden. Hypnotisiert vom wabernden Wachs seiner altmodischen Beleuchtung entflammte in ihm wohl die Neugier eines Wissenschaftlers: Er stellte die Lavalampe auf seine glühende Herdplatte und musterte das Geschehen innerhalb des Glasbehälters. Hin und wieder unterbrach er sein gespanntes Starren durch langsames Blinzeln. Wobei sich seine Augenlider verschieden schnell schlossen und öffneten, was grundsätzlich nie ein gesundes Zeichen war. Dann geschah, was unausweichlich schien.

Die Hitze brachte den aus verschiedenen Chemikalien zusammengesetzten Inhalt der Lampe zum Kochen und führte durch die dadurch freigesetzte Energie zur Explosion. Unzählige messerscharfe Glasscherben sausten mit Wucht in alle Himmelsrichtungen und bohrten sich durch den mageren Körper von Daniel. Ich schreckte kurz zusammen, als ich die Geschosse an mir vorbei zischen sah, obwohl mir natürlich bewusst war, dass mir innerhalb der Visionen kein körperlicher Schaden widerfahren konnte. Daniel hingegen wurde nicht nur von mehreren Scherben durchbohrt, sondern auch von einem kochend heißem Schwall limonengrüner Lava überzogen.

»Shit«, entfuhr es ihm mit schwacher Stimme, ehe er zum letzten Mal die Augen schloss. Erst das linke Auge, kurz darauf das rechte.

So mit Scherben gespickt, erinnerte er mich an den schönen Kaktus, der drüben im Wartezimmer seine stacheligen Arme wie ein Bodybuilder präsentierte.

Daniel wird durch Glasscherben einer Lavalampe sterben, die sich wie eine Sense durch seinen verbrühten Torso schwingen. Auf eigenen Wunsch.

Als wäre nichts gewesen, erwachte ich zurück in meinem Büro. Ebenfalls schmerzte auch meine rechte Hand wieder, an der Daniel gegenwärtig oral fixiert war. Über höfliches Bitten schien unsere Beziehung ab diesem Moment hinaus gewesen zu sein, weshalb ich mit meinem noch freien Arm hinter mich auf meinen Schreibtisch griff. Dort bekam ich zum Glück direkt den großen blauen Tacker zu fassen, mit dem ich mittlerweile wie ein Profi verschiedenste Dokumente miteinander verknüpfte. Dass ich ihn nun auch so versiert gegen einen Angreifer einzusetzen wusste, merkte ich erst, nachdem ich Daniels Nasenflügel mit einem kräftigen Druck zusammentackerte. Frisch gepierct und mit blutverschmiertem Mund ließ er endlich von mir ab. Ich empfand es als ein bisschen schade, dass die viele Arbeit, die man hier für ihn tat, keine Früchte tragen würden.

Es war wichtig, so schnell wie möglich die Wunde auszuspülen, weshalb ich ins Mitarbeiterbadezimmer eilte um mir die Hände zu waschen. Ich krempelte die Ärmel meines Shirts hoch und drehte kaltes Wasser auf. Es war Sommer, doch musste ich lange Ärmel tragen, denn sichtbare Tattoos waren auf der Arbeit nicht erwünscht. Oft bekam ich von konservativen Mitmenschen zu hören, dass ich die Tattoos meiner Jugend später bereuen würde. Dieselben Leute fühlten sich aber in einer Gesellschaft wohl, die es vorschrieb, im gleichen Alter auch seinen gesamten Karriereweg durchgeplant zu haben. Ehrlich gesagt hätte ich am Ende meines Lebens lieber ein albernes Tattoo, welches mir früher mal viel bedeutet hatte, als auf eine langjährige Karriere in einem Feld zurückblicken zu müssen, welche ich schon nach kurzer Zeit verabscheut hätte.

Im Spiegel über dem Waschbecken schaute mich ein Mann mit genervtem Blick an. Die Augenringe und der Dreitagebart zeugten von einer Person, an der das Pech zu haften schien.

Aufgrund der Bisswunde, musste ich in das nahegelegene Krankenhaus gebracht werden. Mit Menschenbissen war nicht zu spaßen. Je schneller man sich um so eine Wunde kümmerte, desto besser ließ sich das Infektionsrisiko eindämmen. Es war ein seltsames Gefühl, an seinem alten Arbeitsplatz aufzukreuzen. Dort war ich entlassen worden, nachdem ich einen Krankenwagen entwendet hatte, um eine lebendig begrabene Frau vor dem Erstickungstod zu retten.

Man hätte meinen können, dass das Retten von Menschenleben ja eigentlich der Sinn dieses Berufes war. Allerdings gerieten alle Beteiligten in große Erklärungsnot, da offiziell nie ein Notruf eingegangen war, auf den man hätte reagieren können. Hinzu kam, dass ich dabei angeschossen worden war, wodurch sich grundsätzlich alles um ein Vielfaches verkompliziert hatte.

Natürlich hätte ich alles erklären können, doch hätte man mich direkt für verrückt erklärt, hätte ich alles auf einen bösen Fluch geschoben. Den Job wäre ich dann ebenfalls los gewesen. Selbst mein bester Freund Thomas, der in dieser Nacht an meiner Seite gewesen war, wusste nicht, was genau da eigentlich passierte.

Die ganze Situation war eine riesige Sauerei und hatte überproportional große Wellen in der Presse geschlagen. Es ging dann sogar so weit, dass mir Kamerateams und Reporter beim Begräbnis meiner Mutter, die nur wenige Tage zuvor ihrem Hirntumor erlegen war, auflauerten. Es fiel mir schwer, all dies Revue passieren zu lassen. Auch Monate später verging kein Tag, an dem ich nicht darüber nachdachte.

Sie legte Wert darauf, dass ihre Bestattung ohne religiöse Begleitung ablief. Meine Mutter hatte sich schon in ihrer Jugend von diesen Märchen losgesagt und auch mich als Säugling nicht taufen lassen. Gott sei Dank. Sie hatte mich stets dazu erzogen, neugierig, kritisch und rational zu sein. Da hatten alte Männer in albernen Hüten keinen Platz. Ihrer Ansicht nach bot das Universum genug Trost und Schönheit, sodass haltlose Versprechen von Himmel und Hölle gar nicht nötig waren. Sie hatte die Physik geliebt und sich eine Feuerbestattung gewünscht. Natürlich hinterfragte ich ihre Entscheidung nicht, doch war ihre Begründung etwas, an das ich gerne zurückdachte. Es stand sinnbildlich für ihre Fähigkeit, selbst die traurigsten Dinge mit verlässlicher Besonnenheit in ein positives Licht zu rücken.

»Wir alle bestehen zu einem großen Teil aus Sternenstaub. Ist wirklich wahr. Die meisten Elemente aus denen wir bestehen, sind nicht beim Urknall entstanden. Erst durch die brodelnden Explosionen weit entfernter Sterne, brauten sie sich zusammen. Sternenwinde haben sie dann durch die Galaxie geweht und dafür gesorgt, dass sich verschiedenste Elemente aus verschiedensten Ecken des Kosmos hier an dieser Stelle zusammenfanden. Du und ich. Wir alle bestehen nicht nur aus einer Supernova, sondern sogar aus vielen, vielen verschiedenen. Und kein Stern ist wie der nächste. Sie alle hatten einen eigenen Fingerabdruck, eine individuelle Signatur. Wer sich nach dieser Erkenntnis noch immer an altertümlichen Büchern festhält, kann uns doch einfach nur leidtun. Schließlich gibt es da draußen noch so viel mehr zu sehen. Ganz ohne Zauberei. Und wenn ich einmal nicht mehr bin, möchte ich, dass meine Überreste verbrannt werden, sodass die dabei freigesetzte Energie wieder zurück ins Universum ausstrahlt, um vielleicht irgendwann, an einem anderen Ort dazu beizutragen, etwas völlig Neues zu erschaffen«, erklärte sie mir manchmal.

Es verbarg sich so viel Poesie in der Wissenschaft. Besonders, wenn sie davon erzählte.

In der Notaufnahme lies ich die Bisswunde desinfizieren und verbinden. Genäht wurde sie vorerst nicht, um eine Infektion in einer geschlossenen Wunde zu verhindern. Da sich in menschlichem Speichel unheimlich viele Bakterien befanden, musste ich mich darauf gefasst machen, in nächster Zeit öfter zur Untersuchung vorbeizukommen.

Das Prozedere dauerte dennoch eine ganze Weile, da die jungen Ärzte, die gerade Bereitschaft hatten, viel lieber in aller Ausführlichkeit über die »Bachelorette« redeten. Reality-TV von exquisiter Kopfschüttelqualität. Wenigstens war ich jetzt im Bilde darüber, womit die großen Privatsender die Gehirne der Bevölkerung sedierten. Da wurden keine Kosten und Mühen gescheut, die zwanzig furchtbarsten Personen der Nation zu headhunten und sie in einem Battle Royale der dummen Anmachen gegeneinander antreten zu lassen. Der Gewinner flog anschließend mit der wohl eindimensionalsten Frau in der Geschichte der Weiblichkeit nach Hause. Natürlich nur, bis irgendein Klatschblatt Wochen später die dramatische Trennung verkündete. Auf Seite vierzehn, da es zu diesem Zeitpunkt längst eine neue Show gab, die die Massen unterhielt. Wodurch die zurückgebliebenen Fastpromis der vergangenen Staffel auf ewig dazu verdammt waren, in ranzigen Discos als Promi-DJ aufzutreten. Kein Wunder, dass jede Faser meines Körpers einfach nur noch nach Hause wollte.

Leider war mein Timing mal wieder alles andere als perfekt. Elise wartete bereits auf mich. Sie war die einzige Person, bei der ich keine düstere Zukunft sah, wenn wir uns berührten. Was definitiv ein Vorteil war, denn es machte eine Frau in meinen Augen deutlich attraktiver, wenn ich nicht jedes Mal eine Todesvision von ihrem hundert Jahre alten, faltigen Arsch erdulden muss, während sie mir einen runterholte.

Seit einiger Zeit planten wir schon, zusammenzuziehen und erwarteten ein Umzugsunternehmen am nächsten Morgen. Die meiste Arbeit war getan, doch musste ich mich noch einige Kisten meiner Mutter aussortieren. Diese hatte ich nach ihrer Haushaltsauflösung zwar an mich genommen, mich jedoch bis heute nicht überwinden können, sie zu öffnen.

Mein Heimweg war mir bereits so vertraut, dass ich oft gar nicht bemerkte, dass ich ihn bewältigt hatte. Da stand ich plötzlich vor meiner Haustür und wunderte mich, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte, losgelaufen zu sein. Versank ich erst mal in Gedanken, ließ sich der Rest der Welt sehr leicht ausblenden.

Ich nahm die kleinen Kopfhörer, aus denen »Carry On Wayward Son« von Kansas schallte, von meinen Ohren und blickte durch ein verstaubtes Fenster in einen abgedunkelten Laden. Hier befand sich mal ein 24-Stunden Kiosk, der mich nicht selten vor dem Verhungern bewahrt hatte. Ich vergaß oft zu essen, wenn mein Kopfkino wieder Horrorfilme zeigte.

Doch da sich meine Wohnung im selben Gebäude befand, war die Rettung nie weit entfernt. Mahesh, der ältere Herr, der den Laden mit seiner Familie betrieben hatte, war zurück nach Indien gezogen, nachdem er hier zum wiederholten Male mit rassistischen Anfeindungen zu tun gehabt hatte. Die Sache konnte zwar aufgeklärt werden, doch war es trotzdem schwer, einfach wieder zur Normalität überzugehen.

Ich mochte Mahesh sehr. Er hatte stets einen guten Rat für mich auf Lager gehabt und konnte immer das Positive in allem sehen. Zum Beispiel, dass Einsamkeit nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sein musste. Sie konnte auch dafür sorgen, dass wir die Schönheit in anderen Dingen besser zu schätzen wussten. Sie sorgte dafür, dass die Nachtluft besser duftete.

»Da bist du ja endlich«, schallte es mir bereits aus dem Treppenhaus entgegen. Elise wohnte schon seit zwei Tagen bei mir, da der Mietvertrag ihrer eigenen Wohnung bereits ausgelaufen war. Da wir jedoch erst ab dem Folgetag in unser neues Zuhause einziehen konnten, machten wir das Beste aus dieser Notlösung. Immerhin war es so leichter für die Möbelpacker, die nun ohne Umwege nur noch alles von A nach B fahren mussten.

»Ich wurde aufgehalten«, entgegnete ich knapp, als ich bei ihr ankam.

Sie blickte stirnrunzelnd auf meinen Verband und fragte mich seufzend, was ich nun wieder angestellt hatte. Immerhin war es kein ungewohnter Anblick, mich mit einer Verletzung zu sehen. Die Schusswunde in meinem linken Oberarm war erst seit Kurzem komplett verheilt.

Ich wischte eine Strähne ihres langen, gelockten Haares hinter ihr Ohr und küsste sie auf die Stirn. Dann trat ich in die Wohnung, in der mich Raptor, einer meiner beiden Kater begrüßte, indem er zwischen meinen Beinen umherstreifte. Der andere Kater, Schrödinger, war nicht so gesellig. Er saß vermutlich wie gewohnt auf der Fensterbank im Wohnzimmer und beobachtete das Treiben auf der Straße.

»Es war ein wirklich langer Tag, den ich am liebsten direkt vergessen möchte. Lass uns doch Pizza bestellen oder so«, antwortete ich schließlich, während ich in die Küche ging um die Näpfe der Kater zu füllen.

»Wir hatten eigentlich abgemacht, noch einen Abstecher zu Ikea zu machen«, sagte Elise in befehlendem Tonfall.

Die rosarote Brille unseres ersten Kennenlernens, war mittlerweile etwas klarer geworden. Elise war eine unglaublich schlaue, kreative und aufgeschlossene Frau. Die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass sie beizeiten auch rechthaberisch und herablassend sein konnte. Meistens allerdings, ohne es zu bemerken. Meine Gefühle ließen sich allerdings nicht wegrationalisieren. Es war bis heute das schönste Gefühl, dass ich je fühlte, sie so hart zum Lachen zu bringen, dass sie sich nicht mehr halten konnte und anfing, unkontrolliert kleine Grunzer auszustoßen.

Sie war absolutes Traumsau-Material.

»Ich hab dir schon so oft gesagt, wie sehr ich Kaufhäuser hasse«, gab ich ihr nüchtern zu verstehen.

Wir stritten selten. In den meisten Fällen ging es um ihre Medikamente, die sie nur widerwillig einnahm. Davon abgesehen funktionierten wir als Paar erstaunlich gut. Sie war der Hauptgrund, warum ich endlich Nahrungsmittel aus allen wichtigen Nahrungsgruppen im Kühlschrank hatte. Als Singlemann fand sich darin meist nur Licht und eine alte Tube Senf.

Falls mal unerwarteter Besuch kam.

Nur meine Abneigung gegenüber Menschenmengen wollte sie noch nicht so recht nachvollziehen. Längst hatte ich es mir angewöhnt, die meisten Dinge nur noch übers Internet zu bestellen. Dies minimierte schließlich die Gefahr, mich durch überfüllte Korridore zwängen zu müssen, in denen sich Armeen von Hausfrauen um heruntergesetzte Duftkerzen prügelten. Viele potentielle Berührungen, viele unausweichliche Todesszenarien. In Japan hatte sich mal ein junger Kampfsportler in einem Kaufhaus aus der dritten Etage gestürzt, weil seine Freundin ihn schon seit vier Stunden von Schuhgeschäft zu Schuhgeschäft gepeitscht hatte. Er hatte sich daraufhin mit einer Judo-Rolle abgerollt und war geflüchtet. Da sollte noch mal einer sagen, es sei noch nie ein Meister vom Himmel gefallen.

»Kümmere dich wenigstens noch um die letzten paar Kisten, die morgen noch in den Umzugswagen müssen«, resignierte sie seufzend.

Meine Mutter war nun über ein Jahr verstorben und ich hatte es noch immer nicht über mich gebracht, ihre Besitztümer durchzusehen. Ich hätte mich nie als sentimental beschrieben, tat mich aber dennoch besonders schwer damit, nun zu entscheiden, was davon nicht mehr benötigt werden würde.

Sie war immer schon eine leidenschaftliche Malerin gewesen und hatte vielen Freunden ihre eingerahmten Bilder hinterlassen. In einer Kiste befanden sich kleine Töpfe mit verschiedenen Farben. Ebenso viele Pinsel in verschiedenen Größen und Paletten, auf denen die wildesten Farbmischungen eingetrocknet waren. In einer zweiten Kiste waren Bilderrahmen dicht aneinander gestapelt. Die meisten waren kaputt und verstaubt. In einigen jedoch befanden sich noch Gemälde. Unterschiedliche Werke, unverkennbar von ihr gemalt.

Zuerst betrachtete ich ein Bild einer in einem roten Sonnenuntergang getauchten Brücke, mit einer Großstadt im Hintergrund. Vermutlich die Golden Gate Bridge. Als nächstes fand ich ein Bild einer möglicherweise osteuropäischen Straßenmusikerin. Sie war barfuß, hatte schulterlanges, schwarzes Haar, trug viel Schmuck und einen bunten Rock. Dieser wehte im Wind, während sie auf einem Tamburin spielte. Auf einem anderen Bild war ein seltsam flach geformter Fels. Ein gigantischer Berg, in grellem Sonnenlicht getaucht, umringt von einer ansonsten grauen Wüste. Vielleicht der Ayers Rock, eine berühmte Touristenattraktion, um den sich viele Mythen und Legenden rankten.

Mutter hatte mir öfters erzählt, dass sie in ihrer Jugend viel gereist war. Bestimmt waren das Bilder ihrer Abenteuer.

Dann, unter all den anderen bunten Sachen, fand ich ein letztes Bild. Es war düster und hatte einen völlig anderen Stil als der Rest der Werke. Zu meinem Erstaunen zeigte das Motiv auch etwas komplett anderes als farbenfrohe Sehenswürdigkeiten und imposante Landschaften. Selbst der Rahmen hatte etwas Bedrohliches an sich. Auf dem Bild war eine seltsame Kreatur zu sehen. Auf den ersten Blick erschien sie wie ein Mann in einem grauen Anzug, der in einer dunklen Ecke saß. Jedoch befand sich dort, wo sein Gesicht hätte sein müssen, der Kopf eines seltsamen Vogels. Er hatte große Augen und einen langen, spitzen, nach unten gebogenen Schnabel. Es war ziemlich eindeutig, dass Mama nicht die Urheberin dieses Gemäldes war, weshalb ich den Rahmen genauer unter die Lupe nahm.

Meine Vermutung bestätigte sich, als ich einen staubigen Briefumschlag fand, der auf der Rückseite versteckt war. Er war auf einen Tag vor elf Jahren datiert und versiegelt. Zu meiner Verwunderung war der Brief an mich adressiert. Der Name des Absenders war mir unbekannt.

Lieber Gregor,

ich habe mich nie für eine allzu emotionale Person gehalten. Wenn du diese Zeilen liest, bist du womöglich ein erwachsener Mann, der für diese Erkenntnis nur ein verächtliches Lächeln aufbringen kann – und das verstehe ich. Aus deiner Perspektive dürften die Dinge denkbar klar sein: Ein feiger Vater schert sich einen Dreck um seinen einzigen Sohn und sucht das Weite.

Aus tiefstem Herzen versichere ich dir: Nichts könnte der Wahrheit ferner sein.

Der Moment, in dem ich von deiner nahenden Ankunft erfahren habe, war der schönste und schlimmste zugleich für mich. All die Musik, Bücher oder Filme, die ich dir zeigen wollte, würdest du alleine entdecken müssen… um wenigstens die Chance auf einen eigenen Weg zu haben. Um nicht in die Kämpfe verwickelt zu werden, die ich alleine austragen muss.

Wir werden uns irgendwann wiedersehen. Hoffentlich bist du bereit, wenn es so weit ist. Hoffentlich bin ich es. Und hoffentlich wirst du mir irgendwann verzeihen; mich vielleicht sogar verstehen können. Alles hat seine Zeit! In ewig wachsamer Liebe,

Henry

2.

They're all dead. They just don't know it yet.

Es klingelte an der Tür. Mein Verstand befand sich noch in dieser seltsamen Stasis, die über einem lag, wenn man geweckt wurde, lange bevor der Körper ausgeschlafen hatte. Ich hatte fast die ganze Nacht über wach gelegen und die Decke angestarrt. Zahnräder ratterten in meinem Kopf und spielten hunderte von Eventualitäten durch, die erklären könnten, wie alles, was in diesem Brief stand, überhaupt wahr gewesen sein könnte. Ich war wütend und traurig, enttäuscht und geschockt. Ein kleiner Teil von mir war sogar irgendwie glücklich und voller Hoffnung, auch wenn ich mir das selbst nicht eingestehen wollte.

Ein weiteres Klingeln wurde mit einem lauten Summen aus dem Flur beantwortet. Elise war schon wach und öffnete gerade den Möbelpackern die Haustür. Ihre Seite des Bettes war schon kalt, woraus ich schlussfolgerte, dass sie schon eine Weile wach war, mich aber schlafen gelassen hatte. Sie war vom Inhalt des Briefes genauso überrascht worden.

Ich fischte mit meiner unversehrten Hand nach meinem Handy, um die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen. Das Display leuchtete auf und stach in meine Augen. Der integrierte Internetbrowser war noch geöffnet und zeigte eine Seite für Hobbyornithologen. Der seltsame Vogelmensch, hinter dem der Brief verborgen war, gehörte offenbar zur Familie der Ibisse. Schreitvögel, die man in subtropischen Klimazonen antraf.

Natürlich wollte ich meine Neugier stillen und weiter recherchieren, musste nun jedoch meinen übermüdeten Arsch erheben und beim Umzug helfen. Es war eine gute Entscheidung gewesen, die Hilfe eines Umzugsunternehmens herangezogen zu haben. Elise war nach ihrer Herztransplantation angewiesen worden, sich nicht zu überanstrengen und ich war durch die schmerzende Bisswunde noch nutzloser, als ich es ohnehin schon war. Ich streifte also halbherzig meine Kleidung über und begrüßte die Umzugshelfer. Das Unternehmen schickte zwei korpulente Arbeitskräfte in dunkelblauen Latzhosen. Der ältere Mann hatte lichtes, fettiges, stark ergrautes Haar und eine markante Narbe unter seinem linken Auge. Ihm wäre ich definitiv nicht gern allein bei Nacht begegnet. Der andere hatte unzählige Piercings an jeder piercebaren Falte seiner Fratze und einen riesigen Bart, der wild in alle Richtungen wucherte. Es sah aus, als würde ihm Unkraut aus dem Kinn sprießen.

Ich hatte mir vorgenommen, nicht mehr so voreingenommen zu sein, weshalb ich den Gedanken schnellstmöglich wieder aus meinem sowieso bereits viel zu beschäftigten Kopf verdrängte.

Der jüngere, durch Metall modifizierte Kerl, blickte kurz auf meinen Verband und streckte mir als Ersatz, die linke Hand entgegen.

»Ey, ich fasse es nicht! Du bist doch dieser krasse Rambo aus den News, oder?«, fragte er unverblümt.

Nicht wissend, warum ich Körperkontakt mied, erwartete der stämmig gebaute Hüne, dass ich die in der Luft schwebende Flosse entgegennahm und schüttelte. Da mir nichts anderes übrig blieb, als höflich die Geste zu erwidern, machte ich mich darauf gefasst, seine Hand zu fassen.

»Ach, nun ja. Die haben das Ganze natürlich ein bisschen übertrieben. Für die Quoten und so.«

Unzählige Male schon hatte ich das einsetzende Dröhnen, das Schwindelgefühl und den stechenden Schmerz ausgehalten. Davor gab es kein Entrinnen.

Alles, was mir bei so unausweichlichen Gepflogenheiten blieb, war auf einen schnellen, vegetarischen Tod zu hoffen. Vegetarischer Tod. So nannte ich die Todesursachen, bei der keine Körperteile verloren gingen. Viel zu oft hatte ich schon Unfälle in der Gartenlaube, auf der Baustelle, oder an einer Werkbank gesehen, im Rahmen derer sich übermäßig enthusiastische Hobbyhandwerker aus Versehen tödliche Verletzungen zugezogen hatten. Speziell bei Kreissägen spritzte es immer ganz besonders. Das waren keine vegetarischen Wege, abzudanken.

Die Zeit verlangsamte sich weiter und weiter, bis sie schlussendlich komplett zum Stehen kam und alle um mich stehenden Menschen und Tiere in ihren Bewegungen erstarrten. Das sah meist reichlich lächerlich aus. Ein schwacher Trost.