Schmutzige Geständnisse - Veit Beck - E-Book

Schmutzige Geständnisse E-Book

Veit Beck

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Beschreibung

Ein Augenblick, der alles verändert! Ein Fehler, der alles zerstört! Eine Familie durch Leichtsinn vernichtet! Ein Mann wird seiner Träume und seiner Zukunft beraubt! Es dauert lange, er muss viel investieren, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Dann, als er erkennt, dass auch Geständnisse keine Gerechtigkeit bringen, nimmt er die Dinge selbst in die Hand. Er hat einen Plan, genial und riskant. Er hat nichts mehr zu verlieren und will nur noch Gerechtigkeit. Und vielleicht ein neues Leben. Später! Danach! Ein Mann, sein Geständnis. Über die Liebe, Glück und Leid, Hoffnung, Verzweiflung, Enttäuschung und Hass. Über alles, was dazugehört. Zu einem Leben, zu seinem Leben.

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Schmutzige Geständnisse

Ein RomanvonVeit Beck

Veit Beck

Schmutzige Geständnisse

Roman

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

© 2023

Cover: Veit Beck

www.veitbeck.de

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

[email protected] (bevorzugt)

Tel.: (0 22 46) 94 92 61

Fax: (0 22 46) 94 92 24

www.ratio-books.de

ISBN 978-3-96136-160-1

E-Book 978-3-96136-161-8

published by

Inhalt

Prolog

Monologe

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Dialog

Leseprobe

Kapitel 1

Kapitel 2

Prolog

… Jeder Mann geht tapfer an eine Sache, auf deren Eintreten er sich lange vorbereitet hat und leistet auch wuchtigen Schlägen, wenn sie ihm nicht unerwartet kommen, Widerstand während unvorbereitet er sich auch vor dem Leichtesten ängstigt. …

(Seneca, hundertundsiebenter Brief)

Kennen Sie das Gefühl? Diese Momente, wenn Sie erkennen, dass sich etwas ganz Entscheidendes in Ihrem Leben ändern wird. Sie wissen noch nicht was, sind sich aber schon sicher, dass etwas passieren wird. Diese Momente, wenn das Adrenalin ihre Adern flutet, die Vernunft verzweifelt gegen die Angst ankämpft.

Es kann ganz harmlos beginnen. Ein Meeting, wie so viele. Sie stehen vorne, erläutern eine Grafik. Wie so oft. Dann eine Störung, wie viel zu häufig. Eine sich öffnende Tür, durch die eine junge Dame in den Raum tritt. Sie versucht, unbemerkt zu bleiben, nicht zu stören. Was natürlich misslingt. Alle Blicke, die bis vor wenigen Sekunden noch auf Sie gerichtet waren, folgen nun ihr. Sehen, wie sie zu einem Mann geht. Dem Gastgeber. Sie beugt sich zu ihm herunter und flüstert dem Mann etwas in das Ohr. Sie will nicht stören. Doch sie hat bereits die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Alle starren auf sie, spitzen die Ohren, lauschen angestrengt, aber vergeblich.

Der Mann hört zu. Wiegt seinen Kopf. Hin und her. Nickt. Blickt nach vorne, dorthin wo Sie stehen, den Laserpointer in der Hand, Projektionen von obskuren Grafiken im Rücken, den Blick starr vor Angst auf den Mann gerichtet. Ihre Blicke treffen sich. Der Mann weicht aus, blickt auf den Tisch vor ihm. Er schiebt den Block, der vor ihm liegt zur Seite, stützt seine Handflächen auf den Tisch und erhebt sich langsam. Die Bürde und die Aufmerksamkeit sind von der jungen Frau auf ihn übergangen. Man kann ihr die Erleichterung ansehen. Es ist etwas passiert. Alle wissen es. Ohne zu wissen, was passiert ist. Der Mann geht auf Sie zu. Allen Anwesenden, mit Ausnahme des Mannes und Ihnen, ist anzusehen, wie erleichtert sie sind. Denn sie wissen, was auch passiert ist. Es ist Ihnen und nicht den übrigen Anwesenden passiert. Und während alle anderen sich erfolglos bemühen, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen, wachsen Ihre Ängste in rasantem Tempo.

Der Mann kommt langsam auf Sie zu. Ihre Angst war viel schneller. Sie hatte Sie schon erreicht, als Sie registrierten, dass der Mann zu Ihnen kommen würde. Unmittelbar nachdem er sich erhoben hatte, lange bevor er Sie erreicht hatte. Schweiß bricht aus, Ihre Hände wissen nicht wohin. Tausende von Schreckensszenarien jagen in Windeseile durch Ihren Kopf. Dann ist der Mann bei Ihnen. Flüstert. Sie hören seine Worte, doch verstehen ihn kaum. Watte in den Ohren, Töne verebben auf dem Weg in Ihr Gehirn. Sie sollen wohl mitkommen. Sanft fasst er Sie an den Unterarm, drängt, zieht Sie Richtung Tür. Sie bewegen sich, wie in Trance, alle Augen sind wieder auf Sie gerichtet. Wissbegierig, neugierig. Nur die junge Frau schaut zu Boden, weicht unsicher aus. Es sind nur ein paar Schritte bis zur Tür, doch die fallen Ihnen schwer. Der Boden scheint unter Ihren Füßen nachzugeben. Als ob Sie über ein Trampolin laufen. Die Angst zieht Sie und bremst zugleich. Sie wollen es wissen, haben aber auch Angst, es zu erfahren. Im Raum vor der Tür stehen zwei Männer. In legerer Kleidung, Jeans, offene Jacken, T-Shirts. Sie passen nicht hierher. Hier in das Reich der Anzugträger. Aber die Männer wirken nicht deshalb so verloren. Es ist hauptsächlich ihre Haltung, die sie zu Außenseitern macht. Betreten schauen sie zu Boden. Wenn Sie noch einen Funken von Hoffnung hatten, ist er im Konferenzraum geblieben.

Die Männer blicken auf, sehen Sie an. Nicht freiwillig, der Zwang, die Überwindung, die sie das kostet, ist ihnen anzusehen. Die Männer haben Mühe, Ihnen in die Augen zu sehen. Sie weichen Ihrem Blick aus, scheinen erleichtert, als sie sich kurz gegenseitig ansehen können. Um eine letzte Verabredung zu treffen, eine letzte Bestätigung zu erhalten, dann ergreift einer von beiden das Wort.

„Herr Domgörgen?“

Er wartet, gibt Ihnen Gelegenheit, etwas zu sagen. Oder für ein kurzes Nicken. Dann holt er noch einmal tief Luft. Und sagt es, ohne eine Antwort abzuwarten. Weil er nicht mehr warten kann, weil er es nicht mehr aushalten kann.

„Wir haben eine schlechte Nachricht für Sie.“

Monologe

… Es lebt nur, wer sich vielen nützlich erweist, es lebt nur, wer von sich selbst den rechten Gebrauch zu machen weiß. Aber wer sich versteckt hält und im Stumpfsinn dahinlebt, für den bedeutet sein Haus so viel wie sein Grab. …

(Seneca, sechszigster Brief)

1.

„Ich soll Dir was erzählen.“ Das haben die Ärzte gesagt.

„Reden Sie mit Ihrer Tochter, haben sie gesagt. Vertraute Stimmen können helfen.“

„Was?“, habe ich gefragt. „Was soll ich ihr sagen.“

„Das ist egal“, war ihre Antwort gewesen. „Es geht nur darum, dass sie Ihre Stimme hört. Mehr nicht.“

„Was es leichter macht, denn ansonsten hätte ich gar nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen. Obwohl ich es jetzt auch nicht weiß. Wir haben lange nicht mehr ausführlich miteinander gesprochen. Wenn Du mir etwas erzählen wolltest, hatte ich nie Zeit. Obwohl es selten genug vorkam. Ich war immer auf dem Sprung, zum nächsten Termin, zum nächsten Flieger, zum nächsten Kunden. Und irgendwann, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ab wann, hast Du es gar nicht mehr versucht. Wenn ich mal was zu Dir sagen wollte, wolltest Du es nicht hören. Hast desinteressiert die Dinge weiter gemacht, mit denen Du gerade beschäftigt warst. Hast mir den Rücken zugedreht. Meist ohne einen Versuch, mich zu unterbrechen. Um mir Deine Sicht der Dinge klarzumachen oder mich einfach abzuwürgen. Das war unser Problem, dass wir es nicht nur verlernt hatten zueinander zu sprechen, sondern dem anderen überhaupt zuzuhören. Und auch jetzt weiß ich nicht, ob Du mir zuhörst. Ob Du mich überhaupt hören kannst. Ich hatte mir nie so sehr gewünscht, dass Du mich unterbrichst, wie gerade jetzt.

Du liegst im Krankenhaus. Du hattest einen Unfall. Das ist schon über eine Woche her. Es war am Donnerstag letzter Woche, spät abends. Heute ist schon Sonntag. In der letzten Woche hat man Dich viermal operiert. Nun bist Du stabil. Es besteht keine akute Lebensgefahr mehr. Sagen die Ärzte. Aber Du bist noch immer im Koma. Wann Du aufwachst, können die Ärzte nicht sagen. Mutti wird nie mehr aufwachen. Sie war gleich tot, haben die Ärzte gesagt. Sie ist noch an der Unfallstelle gestorben. Die Beerdigung ist schon morgen. Wir können nicht auf Dich warten. Nicht dafür!

Ihr hattet einen Unfall. Drüben auf der anderen Seite des Flusses. So wie die Polizei gesagt hat, seid Ihr von der Straße abgekommen und mit voller Wucht auf einen Laternenpfahl geprallt. Mehr haben sie mir nicht gesagt. Auch nicht, warum Ihr von der Straße abgekommen seid. Zu schnell könnt Ihr nicht gewesen sein. Laut Polizei ist Mama gefahren. Und sie ist nie zu schnell gefahren. Eher im Gegenteil. Wir haben uns immer deswegen gestritten. Ich wollte immer, dass sie etwas schneller fährt. Ich habe mich ständig nach hinten umgesehen, wenn ich auf dem Beifahrersitz saß. Weil es mir unangenehm war, weil ich das Gefühl hatte, dass wir den Verkehr behindern. Weil sie so langsam gefahren ist. Mama war das egal. Sie hatte immer die Ruhe weg. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.

Am Wagen hat die Polizei auch nichts gefunden. Es gab nur eine kurze Bremsspur. Wahrscheinlich ist der Wagen ausgebrochen oder ihr seid ausgewichen. Einem Tier vielleicht. Der Wagen wurde nach wenigen Metern von der Laterne gestoppt. Ein anonymer Anrufer hatte 112 gewählt. Polizei und Rettungswagen trafen fast zeitgleich am Unfallort ein. Der Wagen stand vor der Laterne. Der Mast war tief in die Kühlerhaube eingedrungen. Keine Lampe leuchtete mehr, der Motor war aus, nur vereinzelte Rauchwolken quollen unter der Kühlerhaube hervor. Die Polizisten haben die Flammen, die den Rauch verursachten, mit ihren Feuerlöschern erstickt. Dich haben die Sanitäter vom Beifahrersitz geborgen, die Wagentür war schon geöffnet gewesen, als sie am Unfallort eingetroffen waren. Ob Du sie noch aufgemacht hast oder sie von selbst aufgegangen war? Keine Ahnung. Mama war eingeklemmt. Die Feuerwehr musste die Tür aufbrechen und sie aus dem Wagen bergen. Das hat wohl einige Zeit gedauert. Da warst Du schon auf dem Weg in das Krankenhaus. Mama konnten sie nicht mehr helfen. Sie ist, kurz nachdem man sie aus dem Wagen geborgen hatte, gestorben. Noch an der Unfallstelle.

Mich haben Sie erst am nächsten Morgen informiert. Ich war ja auf Dienstreise. In der Hauptstadt. Deshalb haben Sie mich in der Nacht nicht zu Hause angetroffen. Die Polizei hat erst am nächsten Morgen bei meiner Firma angerufen und die haben den Beamten gesagt, wo sie mich finden können. Dann sind zwei Polizisten, nachdem die hiesige Polizei ihre Kollegen in der Hauptstadt angerufen hatte, zu dem Kunden gefahren, bei dem ich gerade war und haben mich informiert. Als ich am frühen Nachmittag hier eintraf, warst Du im OP. Schon wieder. Seitdem haben sie Dich drei weitere Male operiert. Du hattest Blutungen im Schädel, die auf das Gehirn gedrückt haben. Deshalb mussten die Ärzte immer wieder operieren. Um den Druck zu vermindern.

Nun sitze ich hier. Jeden Tag und rede mit Dir. Nein, ich rede zu Dir. Weil geantwortet hast Du ja bisher nicht. Noch nicht. Aber das wird sich ändern. Deshalb sitze ich hier. Jeden Tag. Um das zu ändern. Nur morgen, morgen werde ich nicht kommen. Wegen der Beerdigung. Das werde ich nicht schaffen. Nicht beides.“

2.

„Gestern haben wir Mama beerdigt. Das war ein Scheißtag. Nicht die Trauerfeier. Die habe ich wie einen Film erlebt. Eigentlich trifft das für die gesamten Vorbereitungen der Beerdigung zu. Die Termine beim Bestatter, das Informieren der Freunde und Verwandten. Anrufen, Karten schreiben. Mit dem Pastor reden. Woher soll ich denn wissen, was er sagen soll? Welche Lieder sie spielen sollen? Welcher Spruch auf die Karten soll? Welcher Sarg, was für ein Kranz, welche Aufschrift auf der Schleife? Kränze und Blumenspenden erwünscht oder nicht? Tausend Kleinigkeiten, zu viele Entscheidungen. War das alles wichtig? Mir war das egal. Mama musste es egal sein, sie konnte nicht mehr mitreden, nichts entscheiden, nicht mehr. Alle wollten etwas von mir, ich wollte nichts. Vielleicht meine Ruhe, aber auch die eigentlich nicht. Es war, als wäre ich in Watte gepackt. Die Stimmen erreichten mich kaum, alles, was ich sah, war irgendwie trüb. Als ob ich alles durch einen Schleier betrachten würde. Bei der Feier saß ich allein in der ersten Reihe, starrte auf den Sarg, ohne mich umzudrehen. Wer letztlich alles gekommen war, kann ich gar nicht sagen. Nur dass ihre Brüder nicht da waren, das weiß ich. Die haben abgesagt. Wegen gesundheitlicher Bedenken. Dabei hat Mama ihnen jahrelang den Arsch abgeputzt, als sie noch klein waren. Diese undankbaren Arschlöcher. Entschuldigung, aber so ist es nun einmal. Zumindest sehe ich es so. Obwohl ich ihnen eigentlich dankbar sein müsste. Auch Oma und Opa. Denn die haben sie natürlich verteidigt. Dieter ist doch so krank, er kriegt doch so schlecht Luft. Der kommt doch kaum noch aus dem Haus, hat Oma gesagt. Doch dass er zweimal im Jahr in Kur fahren kann, das hat sie nicht erwähnt. Oder Wilfried. Der hat doch immer so viel um die Ohren. Wegen der Kinder. Nicht seine, er hat ja keine, aber die von seiner Nachbarin. Die kriegt ja nichts auf die Reihe. Und wenn Wilfried sich nicht so um die Kinder kümmern würde, schon seit Jahren. Wer weiß? Aber Oma und Opa haben den beiden schon immer alles durchgehen lassen.

Immerhin haben sie es mir möglich gemacht, etwas anderes zu empfinden als Trauer und Verzweiflung. Überraschenderweise war ich noch zu so etwas wie Wut fähig. Die Einzelheiten erspare ich Dir. Auch von dem sogenannten Kaffeetrinken danach. Wir waren in den Rembrandt-Stuben. Direkt in der Nähe unseres Hauses. Die kennst Du ja. Das düstere, barocke Interieur passt zu derartigen Anlässen. Ich weiß nicht, wozu derartige Zusammenkünfte gut sein sollen. Ich fühlte mich auch hier wie ein Geist. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt, das an einem Ort gelandet ist, wo es gar nicht hingehört. Trotzdem musste ich den Mittelpunkt spielen. Beileidsbekundungen, manche aufrichtig, einige geheuchelt, andere gelogen. Nutzlos, abgesehen davon, dass man die Beteiligten einschätzt, sich seine Urteile, Vorurteile und Fehlurteile bildet oder bestätigt. Die dann das Fundament für die zukünftigen Beziehungen betonieren. Natürlich gab es auch dort viele Fragen nach dem Verbleib von Mamas Brüdern. Auch hier aus den unterschiedlichsten Motiven. Interesse, Neugier oder auch weniger schmeichelnde Gründe.

Vielleicht war es ganz gut, dass Du von der Beerdigung nichts mitbekommen hast. Das ganze Brimborium. Ich wäre lieber allein gewesen. Hätte lieber in Erinnerungen geschwelgt. An gute Zeiten, an gute Momente gedacht.

Ach, vielleicht hätte ich Dir das gar nicht erzählen dürfen. Weil es Dich belastet. Vielleicht hörst Du mich auch gar nicht. Oder Du verstehst mich nicht. So sehr ich mir wünsche, dass Du aufwachst, das ist der Moment, vor dem ich mich fürchte. Wenn wir darüber sprechen müssen, wenn ich Dich fragen muss, ob Du Dich erinnerst, ob Du weißt, was passiert ist. Ob Du weißt, was mit Mama passiert ist. Ob Du weißt, dass Mama gestorben ist? Dass sie weg ist. Und nicht mehr wiederkommt.

Ach ja. Einige Deiner Freundinnen waren da. Hanna, Britta, Eva und noch einige mehr. Sie haben sich natürlich erkundigt, wie es Dir geht. Ich soll Hanna Bescheid geben, wann sie Dich besuchen können.

Heute Nachmittag muss ich zur Polizei. Ich soll um 15:00 Uhr im Präsidium sein. Warum? Keine Ahnung. Alles, was ich über Euren Unfall weiß, weiß ich doch von den Beamten. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo Ihr wart. Und wo Ihr hinwolltet. Wenn Du es mir doch nur sagen könntest. Und nicht nur das. Na ja, mal sehen, was sie wollen. Ich erzähle es Dir dann morgen.“

3.

„Sie wollten wissen, ob wir schon vorher einen Unfall hatten. Die Polizei hat wohl den Wagen nochmals untersucht. Dabei haben sie am linken hinteren Kotflügel Lackspuren gefunden. Auch die linke Ecke der hinteren Stoßstange war leicht beschädigt. Ich wusste davon nichts. Meist waren ja Mama oder Du mit dem Wagen unterwegs. Ich habe doch diesen Dienstwagen. Den Du für zu groß und überflüssig hältst. Der nur auf irgendwelchen Parkplätzen steht. Bei uns zu Hause, vor meinem Büro, am Flughafen. Jedenfalls hast Du mir das häufig genug vorgehalten. Jetzt wäre ich froh, wenn Du mich deshalb noch einmal anmachen würdest.

Weißt Du etwas von einem Unfall? Es wäre schön, wenn Du uns weiterhelfen könntest. Uns etwas dazu sagen könntest. Selbst wenn Du nichts weißt, könnte uns das helfen. Natürlich haben sie mich auch wieder gefragt, wo Ihr gewesen sein könntet, wohin Ihr wolltet. Immer die gleiche Leier. Aber das mit den Lackspuren, das war neu. Scheinbar gibt es irgendwelche Aussagen von Zeugen, die etwas gesehen haben. Offenbar hatten die Zeugen sich erst spät gemeldet, nachdem sie aus den Zeitungen und dem Internet von dem Unfall erfahren hatten.

Mehrere Zeugen haben ausgesagt, dass zu der Zeit und in der Nähe des Unfalls zwei Autos mit hoher Geschwindigkeit durch die Straßen gejagt sind. Mehr haben die Beamten mir nicht gesagt. Ich vermute, dass sie jetzt nach den Autos suchen. Sie haben noch Adressen von unseren Bekannten oder Deinen Freundinnen und Freunden haben wollen. Wahrscheinlich hoffen sie dabei herauszufinden, woher Ihr kamt. Oder wo Ihr hin wolltet. Mama und ich kenne keine Leute auf der Deutzer Rheinseite. Jedenfalls keine, von denen ich weiß. Ich habe ihnen die Telefonnummer von Hanna gegeben. Vielleicht kann sie ihnen helfen, Deine Bekannten zu ermitteln. Wozu das auch immer gut sein mag?

Heute Nachmittag muss ich auch wieder zur Arbeit. Zum ersten Mal, seit Du hier liegst. Wie ich das schaffen soll, wie es überhaupt weitergeht, weiß ich noch nicht. Aber irgendetwas muss ich tun. Zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich kann noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Laufe herum, wie ein Tiger im Käfig. Treppe rauf, Treppe runter. Hänge vor dem Fernseher, ohne dass mich interessiert, was da läuft. Eigentlich erreicht mich gar nichts. Das ist nur ein Programm gegen die Einsamkeit. Wenn da andere Stimmen im Raum sind, fühlt man sich nicht so allein. Das habe ich immer schon gemacht, wie viele meiner Kollegen. Sobald man in das Hotelzimmer kommt, macht man den Fernseher an. Auch, wenn man gar nichts anschauen will.

Leider scheint sie wahr, diese Binsenweisheit, dass man immer erst weiß, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat. Man vermisst sogar Dinge, die einen früher genervt haben. Zum Beispiel, wenn man nach der Arbeit nach Hause kommt, zermürbt vom täglichen Kleinkrieg im Büro und den verstopften Straßen auf dem Heimweg, den man vergeblich versucht, sich zumindest zeitlich durch das immer gleiche Geplärre populärer Sender im Radio zu verkürzen. Um sich abzulenken, von dem Fahrer im Auto vor einem, der an der Ampel zu langsam reagiert, sodass du es nicht mehr über die Kreuzung schaffst. Er schon. Als Letzter, bei Gelb, so gerade noch. Und wenn du dann nach Hause kommst, die Schuhe noch anhast, Mantel und Mütze noch nicht einmal an der Garderobe hängen, wenn du nur fünf Minuten durchatmen willst, aber noch bevor du das Wohnzimmer erreicht hast, mit der freudigen Nachricht überfallen wirst, dass gleich der Nachbar herüberkommt, um sich irgendetwas auszuleihen, er hat es eilig, weil er schon vor einer Stunde hier war und Mama ihn gerade angerufen hat, als sie das Licht der Scheinwerfer meines Autos über den Vorgarten huschen sah und du dich noch nicht einmal beschweren kannst, weil bevor du den Mund aufmachst, schon die Türklingel ertönt, Mama zur Tür rennt, sie öffnet und dem Nachbarn mitteilt, dass du endlich nach Hause gekommen bist, aber jetzt Zeit für ihn hast. Dann ist er dahin, der Moment, auf den du dich den ganzen Tag gefreut hast, den du dir selbst als Ziel gesetzt hattest, der die Belohnung für einen weiteren Tag darstellen sollte, mit dem du sonst nichts anfangen konntest. Und so gibt es viele Kleinigkeiten, die das Zusammenleben mit anderen Menschen schwierig machen. Wobei Kleinigkeiten noch übertrieben klingt, eigentlich sind es Nichtigkeiten, zumindest aus Sicht des einen, der die Bedeutung der Dinge für den anderen nicht richtig einzuschätzen vermag. Was für den einen eine überflüssige Marotte ist, ist für den anderen ein Symbol. Häufig ohne Wert, dafür aber von großer Bedeutung. Vielleicht auch ein Ritual, ein Schritt, um es von einem Tag in den nächsten zu schaffen. In einen besseren Tag oder sogar in ein besseres Leben. Am schönsten wäre es, wenn es das alte wäre. Aber das ist ja weg. Für immer.

Natürlich trinke ich auch zu viel. Endlich hat Mama recht. Das war ja immer ein Streitpunkt zwischen uns. Aber jetzt, jetzt hätte sie wirklich recht. Ich fülle mein Glas, sobald ich in das Haus komme. Und wenn ich morgens aufwache, steht da zumeist noch ein Rest auf dem Nachttisch. Oder auf dem Wohnzimmertisch. Wenn ich es nicht mehr bis in das Bett geschafft habe. Was Gott sei Dank nur selten vorkommt. Ich weiß, dass es so nicht ewig weitergehen kann. Aber im Moment fehlt mir die Kraft. Oder der Wille. Wenn Du aufwachen würdest, wären diese Ausreden nicht mehr zulässig. Also, mach, hilf mir! Hilf Dir! Die Ärzte sagen, dass sie nichts mehr für Dich tun können. Du musst es allein schaffen. Du musst nur aufwachen. Mehr nicht!“

4.

„Das lief gar nicht so schlecht. Gestern, bei meinem Arbeitgeber. Die waren aufrichtiger und fairer, als ich erwartet hatte. Sie haben gar nicht versucht, mich unter Druck zu setzen. Obwohl es einfach gewesen wäre, denn dass ich dort nicht so würde weiterarbeiten können, wie vor dem Unfall, das war ja klar. Wochen mit bis zu siebzig Arbeitsstunden, eine nahezu permanente Verfügbarkeit, ständige Reisen, auch kurzfristig und über mehrere Tage hinweg, das geht momentan nicht. Also haben sie mir vorgeschlagen, dass ich erst einmal meinen restlichen Urlaub nehme und mir dann noch einige Wochen unbezahlten Urlaub angeboten. Sobald ich meine, wieder arbeiten zu können, sollte ich mich melden. Als ich ihnen sagte, dass ich gerne etwas arbeiten würde, hatten sie auch dafür Verständnis. Sie haben mir angeboten, dass ich mit meinen aktuellen Kunden spreche, ihnen die Situation erkläre und mit ihnen kläre, ob sie mit mir weiterarbeiten können und wollen. Und dabei einige Einschränkungen in Kauf nehmen. Mit zwei habe ich schon gesprochen, einer war einverstanden. Heute Nachmittag rufe ich noch weitere an. Ich denke zwei bis drei weitere werde ich halten können. Das Arbeiten gestern hat mir gutgetan. Seit langem hatte ich wieder mit Menschen zu tun, ohne dass es um den Unfall ging. Entschuldigung, aber es war nicht einfach in den letzten Tagen. Alle, mit denen ich gesprochen hatte, hatten mit dem Unfall zu tun. Die Polizei, die Bestatter, die Besucher auf der Trauerfeier, die Ärzte, Du. Natürlich musste ich auch mit den Kunden erst über die Situation sprechen, aber dann ging es um andere Themen. Um die Zukunft.

Aber was für Dich interessanter ist, ist sicher der Artikel, den ich heute in der Regionalzeitung gelesen habe. Zwar nur im Lokalteil, aber immerhin auf einer halben Seite. Dabei ging es nicht direkt um Euren Unfall, sondern darum, dass es in der Gegend wohl in der Vergangenheit schon häufiger illegale Autorennen gegeben hat. Was die Reporter mit Eurem Unfall in Zusammenhang bringen. In dem Artikel wird berichtet, dass es ein Gutachten über mögliche Unfallursachen gibt. Technisches Versagen wird demnach ausgeschlossen, das Auto war in Ordnung. Mama hatte auch keinen Alkohol getrunken oder war durch sonstige Drogen beeinträchtigt. Was uns ja immer klar war, aber jetzt ist es zumindest amtlich. Es könnte einen Kontakt mit einem anderen Fahrzeug gegeben haben. Es gab Beschädigungen und Lackspuren eines anderen Fahrzeugs an Eurem Auto. Ob jedoch ein Kontakt ursächlich für den Unfall war oder die Spuren älteren Datums waren, konnten die Gutachter nicht zweifelsfrei erkennen. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, zumindest aus Sicht der Gutachter, ein missglücktes Ausweichmanöver. Vor wem oder was Mama ausgewichen ist, konnte der Gutachter natürlich nicht feststellen. Hier fangen dann die Spekulationen an. Die natürlich eine Verbindung zwischen dem Unfall und dem Autorennen herstellen. Was ja auch ziemlich naheliegend ist. Weil es ja jetzt auch diese Zeugenaussage gibt. Von dem Mann, der sich erst später gemeldet hatte. Nachdem er aus den Medien von dem Unfall erfahren hatte. Sie setzen die Polizei unter Druck. Fragen, ob in diese Richtung ermittelt wird, ob es bereits Ergebnisse gibt, warum darüber nichts berichtet wird. Erst jetzt habe ich verstanden, weshalb mich gestern ein Journalist angerufen hatte. Ich wollte nicht mit ihm sprechen, habe ihn schroff zurückgewiesen, ohne ihm überhaupt Gelegenheit zu geben, zu erklären, weshalb er mit mir sprechen wollte. Ich habe ihm nur gesagt, er soll mich in Ruhe lassen und einfach wieder aufgelegt. Aber was hätte ich ihm auch erzählen sollen? Die wussten ja mehr als ich. Du weißt mehr, Du kennst die Wahrheit, kannst sie uns aber nicht erzählen. Noch nicht!“

5.

„Heute war der Unfall auf der Titelseite. Nicht im Anzeiger, sondern im Boulevardableger des Verlags. Zwar nicht als Schlagzeile, aber auf der ersten Seite, rechts oben. Mit einem Bild, zwei, drei Zeilen und einem Hinweis auf „mehr“ im hinteren Teil der Zeitung. Das Foto war natürlich nicht von Eurem Unfall, sondern ein Archivbild. Irgendeines, das irgendwie passt. Ein zertrümmertes Auto unter einer Laterne. Ich habe die Zeitung zufällig entdeckt. Die liegen ja immer in den Kästen am Straßenrand. Sodass man die erste Seite von außen lesen kann. Einer dieser Kästen steht draußen vor dem Krankenhaus. Dort habe ich Zeitung gesehen, hatte jedoch kein Kleingeld, um mir eine aus dem Automaten nehmen zu können. Aber unten im Foyer gibt es ja noch den Kiosk. Da habe ich mir ein Exemplar gekauft und gleich unten im Wartebereich den Artikel gelesen. Aber etwas wirklich Neues stand gar nicht drin. Der gleiche Inhalt wie gestern im Anzeiger, nur reißerischer aufgemacht. Natürlich waren auch die Fragen an die Polizei aggressiver formuliert. Hier, ich habe die Zeitung hier. Ich lege sie unten in das Schränkchen. Wenn Du aufwachst, kannst Du den Artikel ja selbst lesen. Nachher rufe ich bei der Polizei an. Ich möchte mal wissen, was sie wissen, wie sie es sehen und was sie tun.

Die Gespräche mit meinen Kunden liefen gut. Diejenigen, von denen ich es mir erhoffte, bleiben mir treu. Die anderen übergebe ich in den nächsten Tagen an einen Kollegen. Zwei, drei Nachmittage werden dazu reichen, danach sollten die Kollegen allein klarkommen und wenn es zu unerwarteten Problemen kommen sollte, können sie mich ja immer noch kontaktieren. Dann kann ich mir meine Zeit weitgehend selbst einteilen. Und viel per Telefon erledigen. Wodurch ich viel Zeit für Dich habe. Da kann ich Dir noch viel erzählen.

Ach ja, Hanna hat angerufen. Die Polizei war bei ihr. So wie sie sagte, haben sie sie nur nach Bekannten, Freundinnen oder Freunden von Dir gefragt, die in der Nähe des Unfallortes wohnten. Offenbar gab es dort niemand. Zumindest kannte Hanna niemand. Hätte mich auch gewundert. Aber es war gut, dass sie angerufen hat. Weil wir ins Erzählen, ins Erinnern gekommen sind. Über Dinge, die ihr gemeinsam erlebt hattet. Auch über Geschichten, über die wir uns früher geärgert hatten. Die zu Streit und Verletzungen führten. Wie Euer gemeinsamer Ausflug nach Paris. Ihr wolltet die Stadt der Liebe sehen. Wir, Mama und ich, wollten Dich nicht fahren lassen. Mein Gott, ihr wart erst 15 Jahre alt. Und dann allein oder nur mit Hanna nach Paris. Das erschien uns zu gefährlich. Ihr seid trotzdem gefahren, heimlich. Sicher habt ihr angerufen. Als ihr angekommen, irgendwo untergekommen wart. Aber das war zu spät, aus unserer Sicht. Wir hatten uns Sorgen gemacht, wie Hannas Eltern auch. Und dann haben wir überreagiert, haben Euch sofort zurückgeholt. Ich bin mit Hannas Vater mit dem Auto nach Paris gefahren. Nie werde ich die Szene, unseren Streit vor dem kleinen Hotel vergessen. Wir waren eine Attraktion für alle Passanten. Im Nachhinein ist es fast wie ein Wunder, dass keiner die Polizei gerufen hat, denn so entschieden wie wir Euch in das Auto bugsiert haben, hätte man auch an eine Entführung denken können. Ihr, wir haben die ganze Fahrt nicht miteinander geredet, nur übereinander. Jeder hatte seine Meinung. Keiner hat zugehört. Auch danach herrschte Eiszeit. Für fast drei Wochen. Heute wäre ich froh, wenn Du mit Hanna durch Paris streunen würdest.

Warum mir das so im Gedächtnis geblieben ist? Vielleicht, weil Du mir in der letzten Zeit ja sonst nicht viel erzählt hast. Oder Mama. Wenn sie etwas wusste, hatte sie es für sich behalten. Gut, ich hab mich wie ein Arschloch benommen. Damals, als ich von Deinem ersten Freund, zumindest war es der erste, von dem ich etwas mitgekriegt hatte, erfahren habe. Ich hätte mich nicht so aufregen dürfen. Rückwirkend betrachtet. Aber irgendwie hatte ich gar nicht registriert, wie erwachsen Du schon warst. Ich weiß nicht, ob das anderen Vätern auch so geht, dass sie es nicht mitbekommen, dass ihre Kinder größer werden. Oder ob sie es vielleicht einfach nicht wahrhaben wollen. Egal, das ist nicht mehr zu ändern. Heute weiß ich, dass Du recht hattest. Und auch das Recht hattest, so zu reagieren. Ich hätte mich nicht einmischen dürfen, hätte wissen müssen, wie eine Clique reagiert, wenn sich ein Vater einmischt. Ich war selbst einmal jung. Und auch damals war man schon unten durch, wenn die Freunde mitbekamen, dass sich die Eltern zu sehr um ihr Kind kümmern. Wahrscheinlich hattest Du danach jede Menge Probleme. Von den Problemen mit Marc, so hieß er doch, ganz abgesehen. Heute kann ich verstehen, dass Du mit mir nichts mehr zu tun haben wolltest. Dass Du mir aus dem Weg gegangen bist, beim Essen nur noch schweigend am Tisch gesessen und in Deinem Essen herumgestochert hast. Meine Versuche, mich zu entschuldigen waren wahrscheinlich wirklich zu halbherzig. Und nicht aufrichtig, denn damals glaubte ich ja, dass ich im Recht war. Selbst Mama konnte uns einander nicht näherbringen. Obwohl sie es weiß Gott oft genug versucht hatte. Eigentlich haben wir nur noch miteinander gesprochen, wenn ich ins Bad wollte. Welches Du blockiert hattest. Schon wieder, schon zu lange und ich hinein wollte. Ich schimpfte vor der Tür, Du schwiegst dahinter. Und damals wie heute, wusste ich nicht, ob Du meine Stimme überhaupt hörst. Oder sogar verstehst, was ich sage, was ich meine.“

6.

„Die machen jetzt einen ziemlichen Wirbel. Nicht nur in den Zeitungen, auch im Internet. Gestern hat mich dieser Reporter noch einmal angerufen. Dieses Mal habe ich ihm zugehört. Und mich dazu bereit erklärt, mich mit ihm zu treffen. Was ich auch schon gemacht habe. Wir haben uns gestern Abend im Foyer des Hotels Maritim getroffen. Er wollte eigentlich weniger über den Unfall wissen, sondern mehr über die Folgen. Über das, was der Unfall aus uns gemacht hat, aus unserer Familie, aus unserem Leben. Unserem Leben ohne Mama. Er hat mir erzählt, dass es in der Gegend schon etliche Unfälle gegeben hat. Dass dort ständig illegale Autorennen veranstaltet werden. Ohne, dass die Polizei etwas dagegen unternimmt. Er hat mir Artikel und Meldungen gezeigt. Von früher. Viele. In denen es immer wieder um illegale Rennen ging. Die Polizei hat zwar immer wieder versprochen, das Problem zu beheben und die Rennen zu unterbinden, aber letztlich ist es ihnen nie gelungen. Egal, was sie unternommen haben. Hin und wieder haben sie wohl einen Blitzer aufgestellt, sind vermehrt Streifen gefahren. Ein paar Tage lang. Aber nichts Ernsthaftes, nichts Nachhaltiges. Nicht, dass man mal versucht hätte, die Strecken durch künstliche Hindernisse zu entschärfen. Letztlich hat nichts geholfen. Wahrscheinlich hatte ihr Interesse, haben ihre Anstrengungen nachgelassen, sobald das Interesse in den Medien nachgelassen hatte.

Das mit den, wie heißen sie noch offiziell, … Kraftfahrzeugrennen, ist auch kein regionales Phänomen. Der Reporter war gut informiert. 2019 gab es offenbar 384 solcher Vergehen. Eine deutliche Steigerung zum Vorjahr. Da waren es nur 260 Fälle. Frühere Daten sind nicht bekannt, das Delikt wird erst seit 2017 als gesonderte Kategorie beim Kraftfahrt-Bundesamt registriert. Aber das sind sowieso nur die offiziellen, die gemeldeten Fälle. Das Problem ist, dass die Zahl der Rennen in Wirklichkeit größer ist. Viel, viel größer. Die Täter sind in der Regel junge Männer, sie werden als Poser oder Raser bezeichnet. Sie definieren sich über ihre Autos. Das hat es schon immer gegeben. Vielleicht erinnerst Du Dich an einen meiner Lieblingsfilme. „American Graffiti“. Ein früher Film von George Lucas. Ja, der Star Wars-Lucas. In dem Film waren schon eine Menge Leute dabei, die später berühmt geworden sind. Harrison Ford, Ron Howard, Richard Dreyfuss. Aber egal. Da ging es auch schon um Poser. Jugendliche, die in ihren aufgemotzten Karren durch die Straßen fahren. Ellbogen aus dem Fenster, Zigarette im Mundwinkel rollen sie durch die Straßen und quatschen Mädchen an. Was wollte ich? Eigentlich will ich Dir nur klarmachen, dass es kein neues Problem ist. Aber heute ist es schlimmer. Die Poser gibt es zwar immer noch, aber es gibt auch eine neue Gruppe, die Raser. Fahrer, die beweisen wollen, dass sie stark sind, dass sie ihr Auto beherrschen, trotz der immensen Motorstärke. Der extremen Beschleunigung und der unglaublichen Geschwindigkeit. Die Rennen werden häufig spontan veranstaltet, zwei Interessierte stehen zufällig an einer Kreuzung nebeneinander, sehen sich an und los geht’s. Oder auf Verabredung. Das sind dann häufig richtige Events, mit Zuschauern, johlenden Fans, samt Alkohol und Drogen. Von den meisten dieser Rennen weiß man nur, weil es davon Filme in den Netzwerken gibt, die von Zuschauern hochgeladen werden.

Der Reporter hat mir auch etwas über die Motivation der Jugendlichen erzählt. Ich konnte mir gar nicht alles merken, er hat mich ziemlich zugequatscht. Wie gesagt, es scheint, er