Schneefallstille -  - E-Book

Schneefallstille E-Book

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Beschreibung

Wenn der süsse Duft von Schokolade in der Luft liegt, die Welt in Schneefallstille gehüllt ist und Briefe an das Christkind verschickt werden – dann weiss man: Es ist Weihnachten. Und zu Weihnachten gehören seit jeher nicht allein Lametta, Geschenkpapier und Guetzli, sondern eben auch Geschichten. Die alten Geschichten, die überdauern, und auch immer wieder neue und moderne Geschichten, die für magische Moment sorgen – im Kinderzimmer, in der Schule, beim Feiern und Festen. «Schneefallstille» ist ein Buch voller Highlights: aus über dreihundert Geschichten wurden die besten ausgewählt. Es sind Geschichten über Menschen, die in ihren Alltäglichkeiten plötzlich vom Glanz der Weihnachtszeit überrascht werden. Ein einmaliges Best-of-Buch mit den 24 schönsten Weihnachtsgeschichten der Schweiz. Mit Geschichten von Brigitte Becker, Erica Brühlmann-Jecklin, Andreas Luzi Cabalzar, Corinne Dobler, Rita Gianelli, Hansueli Hauenstein, Erna Heller, Anita Keller, Ulrich Knellwolf, Seraina Kobler, Käthi Koenig, Lukas Linder, Luzius Müller, Rolf Probala, Felix Reich, Regine Schindler, Ralf Schlatter, Martina Schwarz, Patrick Schwarzenbach, Christoph Semmler, Lukas Spinner, Monika Thut Birchmeier, Mona Vetsch und Marianne Vogel Kopp. mit Illustrationen von Mario Moths

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Seitenzahl: 128

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover: Schneefallstille

Titelbild des E-Books »Schneefallstille: Die 24 schönsten Weihnachtsgeschichten der Schweiz«.

 

 

Schneefallstille

 

 

 

 

 

 

Schneefallstille

 

Die 24 schönsten

Weihnachtsgeschichten

der Schweiz

 

Mit Illustrationen von Mario Moths

 

 

Inhalt

Vorspann

Cover

Schmutztitel

Titel

Vorwort

Geschichten

Kurze Gespräche um Weihnachten | Luzius Müller

Die Schuhschachtel | Andreas Luzi Cabalzar

Schöne Bescherung | Mona Vetsch

König Herodes und die Nachtigall | Regine Schindler

Der kleine Stern | Christoph Semmler

Der Adventsbesen | Käthi Koenig

Das lange Warten | Brigitte Becker

Vielen Dank | Monika Thut Birchmeier

Wie Florian an die Krippe kam | Corinne Dobler

Der Himmelsbote | Erna Heller

Ein roter Teppich für den Messias | Ulrich Knellwolf

Eigentlich ist alles gut | Seraina Kobler

One moment in time | Martina Schwarz

Ganz aus Schokolade | Erica Brühlmann-Jecklin

Glück 1 bis 24 | Marianne Vogel Kopp

Luftballons im Rucksack | Rita Gianelli

Nicht alle Engel können singen | Lukas Spinner

Genug geholfen | Felix Reich

Die Erlösung | Rolf Probala

Der Kater | Lukas Linder

Die Feder | Hansueli Hauenstein

Zwei Komma acht Volt | Ralf Schlatter

HoHoHo | Anita Keller

Der Weihnachtsfragebogen | Patrick Schwarzenbach

Anhang

Autorinnen und Autoren

Landmarks

Cover

Vorwort

Wenn der süsse Duft von Schokolade in der Luft liegt, die Welt in Schneefallstille gehüllt ist und Briefe an das Christkind verschickt werden – dann weiss man: Es ist Weihnachten. Und zu Weihnachten gehören seit jeher nicht allein Lametta, Geschenkpapier und Guetzli, sondern eben auch Geschichten. Die alten Geschichten, die überdauern, und auch immer wieder neue und moderne Geschichten, die für magische Moment sorgen – im Kinderzimmer, in der Schule, beim Feiern und Festen.

Auch für einen Buchverlag ist das Verlegen von Geschichten immer wieder etwas ganz Besonderes. Jahr für Jahr werden im TVZ deshalb bereits mitten in der Sommerhitze die Ärmel hochgekrempelt und es wird nach Weihnachtsgeschichten Ausschau gehalten, damit dann an Weihnachten ein Buch mit neuen Geschichten bereit fürs Lesen, Vorlesen und Verzaubern ist. In über fünfzehn Jahre sind so an die dreihundert Geschichten zusammengekommen – ein wahrlich reichhaltiger Fundus, in dem wir gewühlt und geblättert und gestöbert haben, um dann mit viel Freude, vielen schönen Erinnerungen und auch einer Prise Stolz ein Best-of zusammenzustellen: die unkonventionellsten, berührendsten und feinfühligsten, kurz – die 24 schönsten Weihnachtsgeschichten der Schweiz!

Es sind vielfältige Texte, geschrieben von unterschiedlichen Personen. Alle sind sie Profis im Erzählen von Geschichten. Es sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Pfarrerinnen und Pfarrer, Journalistinnen und Journalisten – Menschen des Wortes, die aus Grundlegendem Geschichten machen, die Aussergewöhnliches im Alltag entdecken. Sie sind Expertinnen und Experten für ein Geschehen, das zu Weihnachten immer wieder auf wundersame Weise die Menschen erfasst.

Lassen Sie sich wahlweise verzaubern, berühren, nachdenklich oder besinnlich stimmen. Dazu ist die Advents- und Weihnachtszeit da.

Lesen, erleben und erzählen Sie Geschichten! Und falls Sie sogar auch mal eine schreiben, dann freuen wir uns, davon zu hören – am liebsten im Sommer.  

 

Bigna Hauser und Lisa Briner, Verlagsleitung, Juni 2025

01 Kurze Gespräche um Weihnachten

Luzius Müller

 

Donnerstag, 24. März, 19.00 Uhr

Kurzes Gespräch Josefs mit Maria:

Was, schwanger!?!

 

Montag, 11. April, 17.30 Uhr

Kurzes Gespräch am Feierabend:

Wenn wir wieder in die Weihnachtsferien fahren wollen, müssen wir jetzt buchen.

 

Donnerstag, 2. Juni, 10.00 Uhr

Kurzes Lied der Maria:

Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht.

 

Montag, 7. November, 21.00 Uhr

Kurzes Gespräch an der Ecke:

Es schneit.

 

Freitag, 25. November, 10.20 Uhr

Kurzes Gebot des Kaisers Augustus:

Lasst euch schätzen! (Was nicht dasselbe ist wie: Ich schätze euch.)

 

Dienstag, 29. November, 16.30 Uhr

Kurzes Gespräch im Geschäft:

Gibt’s diesen Pullover auch in medium?

Nur, was im Regal ist.

 

Dienstag, 6. Dezember, 18.15 Uhr

Kurze Rede des Kindes:

Der Nikolaus soll gehen!

 

Sonntag, 11. Dezember, 12.40 Uhr

Kurzes Gespräch im Fitnesscenter:

Nach Weihnachten mache ich Diät.

 

Montag, 12. Dezember, 17.50 Uhr

Kurzes Gespräch mit dem Kind:

Achtung, die Kerze ist ganz heiss. – Ich habe dir doch gesagt, dass die Kerze heiss ist!

 

Mittwoch, 14. Dezember, 20.00 Uhr

Kurzes Gespräch nach dem dritten Advent:

Ich habe noch kein einziges Geschenk gekauft.

 

Freitag, 16. Dezember, 11.30 Uhr

Kurze Rede des Lehrers:

Und dann sagte der Engel zu den Hirten: «Friede auf» – verdammt noch mal, Cedric, jetzt reicht’s!

 

Montag, 19. Dezember, 22.10 Uhr

Kurzes Gespräch bei einem Bier:

Ich kann Weihnachten nicht zu Hause feiern.

 

Dienstag, 20. Dezember, 21.30 Uhr

Kurzes Gespräch bei der Firmen-Weihnachtsfeier:

Jetzt ist mir schlecht.

 

Mittwoch, 21. Dezember, 9.15 Uhr

Kurzes Gespräch mit dem Kind:

Und was brachte der Weihnachtsmann dem Christkind?

 

Donnerstag, 22. Dezember, 10.45 Uhr

Kurzes Gespräch in der Warteschlange auf der Post:

– – –

 

Freitag, 23. Dezember, 18.45 Uhr

Kurzes Gespräch im Gasthaus:

Leider alles belegt, ausser ein Stall …

 

Freitag, 23. Dezember, 18.47 Uhr

Kurzes Gespräch an der Hotline:

Im Augenblick sind leider alle unsere Leitungen belegt, wir bitten Sie um einen Moment Geduld.

 

Samstag, 24. Dezember, 12.20 Uhr

Kurzes Gespräch mit Passant:

Grüezi.

 

Samstag, 24. Dezember, 13.30 Uhr

Kurzes Gespräch zwischen Verkäuferinnen:

Noch zweieinhalb Stunden.

 

Samstag, 24. Dezember, 17.00 Uhr

Kurzes Gespräch im Stall:

Ein Junge!

 

Samstag, 24. Dezember, 18.15 Uhr

Kurzes Gespräch mit dem Pfarrer:

Ich gehe eben nur sehr selten in die Kirche.

 

Samstag, 24. Dezember, 20.30 Uhr

Kurzes Gespräch unter dem Weihnachtsbaum:

Das ist für dich.

Oh, ich habe gar nichts für dich.

 

Samstag, 24. Dezember, 21.40 Uhr

Kurzes Gespräch auf der Strasse:

Frohe Weihnachten!

Wie?

 

Samstag, 24. Dezember, 22.30 Uhr

Kurzes Gespräch der Engel mit den Hirten:

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden.

Wo?

 

Samstag, 24. Dezember, 23.25 Uhr

Kurzes Gespräch des Ochsen mit dem Esel:

Muh!

I-a!

 

Sonntag, 25. Dezember, 2.15 Uhr

Kurzes Gespräch nach Heiligabend:

Aber es war trotzdem wieder so schön.

 

Donnerstag, 29. Dezember, 15.50 Uhr

Kurzes Gespräch der drei Könige:

Der Herodes hat etwas Falsches. Ich weiss nicht – der hat etwas Falsches.

 

Dienstag, 3. Januar, 10.30 Uhr

Kurzes Gespräch im Geschäft:

Umtausch nur beim Kundendienst.

 

Freitag, 6. Januar, 14.00 Uhr

Kurze Rede des Johannes:

Ecce agnus dei qui tollit peccata mundi.

 

 

02 Die Schuhschachtel

Andreas Luzi Cabalzar

Wenn ich an Weihnachten zu Hause als Kind denke, denke ich an eine ganz gewisse Weihnacht, eine Weihnacht, die alle anderen einschliesst. Manchmal versuche ich, mich zu erinnern, wie Weihnachten in diesem oder jenem Jahr war, aber es fällt mir selten etwas Bestimmtes ein. Nur an die Schuhschachtel erinnere ich mich immer. Diese Schuhschachtel enthält stellvertretend alle Weihnachtsgeschenke, die ich je bekommen habe.

Ich mag zehn Jahre alt gewesen sein; jede Einzelheit der Weihnacht 1972 ist mir noch ganz gegenwärtig. Am späteren Nachmittag begleitete ich Vater in die Kirche. Wie jedes Jahr gestaltete er die Weihnachtsfeier für die Obdachlosen Zürichs in der Predigerkirche. Ich durfte auf der Empore neben der Orgel sitzen. Staunend beobachtete ich die Schar der Gottesdienstbesucher und erkannte den einen und anderen wieder. «Kunden» meines Vaters, die an der Tür des Pfarrhauses um Geld und Essen gebettelt hatten. Jetzt stand Vater hinter dem Abendmahltisch mit dem schwarzen Cape, das er über dem Anzug trug. Er wirkte grösser mit dem Talar und erinnerte mich an Zorro. Ich war so stolz auf ihn. In meinem Rücken spielte Fräulein Hauri die bekannten Weihnachtslieder, die ich von zu Hause kannte. Ich würde sie heute nochmals hören. Einige Gottesdienstbesucher waren unruhig, schwatzten während der Feier und konnten es – wie ich – kaum erwarten, bis das Ausgangsspiel die Feier abschloss. Danach gingen die Besucherinnen und Besucher nach vorne zu Vater und nahmen ein Geschenk und die guten Weihnachtswünsche in Empfang. Aber in der Reihe vor Vater standen nicht nur Clochards, auch ganz proper gekleidete Leute hatten sich eingereiht. Ob sie keine Familie hatten? Vielleicht hatten sie niemanden, der ihnen heute ein Geschenk überreichte? Ich staunte jedenfalls über die vielen, ganz verschiedenen Leute, die zu Vater gingen. Draussen vor der Kirche wartete ich auf ihn. Wir verabschiedeten uns von Fräulein Hauri und dem Sigristen, Herrn Jäger, wünschten allen ein schönes Weihnachtsfest.

An Vaters Hand lief ich durch die Nacht nach Hause. Jetzt waren es nur mehr drei Stunden bis zu Punkt 13 auf dem Weihnachtsprotokoll: nach den deutschen und romanischen  Weihnachtsliedern, der Weihnachtsgeschichte nach Lukas und einer von Vater verfassten Geschichte, dem schwesterlichen Klavierspiel und meiner Flöteneinlage … Geschenke!

Im Niederdorf kam uns Mutter entgegen. Wie jedes Jahr war sie vollbepackt mit Säcken und Päckchen, die sie immer erst in letzter Minute besorgte. Am Weihnachtsnachmittag schien sie die ganze Stadt leer zu kaufen. Das italienische Delikatessengeschaft im Niederdorf war ihr bevorzugter Einkaufsort. Der Salami mit den dicken Fettaugen, die ganz spezielle Weihnachtspastete von Daria, der Panettone aus dem Valle Maggia, die handgemachten Teigwaren al tartuffo – die ich bis heute nicht mag –, der ganz besondere Schokoladenaufstrich, den es nur zu Weihnachten gab, und die Coppa aus Intra, die fehlte nie. Beladen mit allen Köstlichkeiten verschwand Mutter im Weihnachtszimmer, das seit dem Mittag verschlossen war. Wir Kinder hörten, wie sie die Päckchen auf den Stubentisch poltern liess.

An Heiligabend gab es bei uns immer ein italienisches Buffet, mit all den Köstlichkeiten, die Mutter nach Hause gebracht hatte. Für mich dauerte das Essen jedes Mal eine Ewigkeit. Dann endlich, nach dem Dessert, der Mandarinen-Nougat-Torte von Sprüngli, verteilte Vater die Programmkarten, die er vorbereitet hatte, mit allen Liedern und Geschichten und eben, Punkt 13: Geschenke … Er genoss seinen dampfenden, tiefschwarzen Espresso, bevor er sich ins Weihnachtszimmer begab, um die Lichter des Christbaums zu entzünden.

Ich holte inzwischen in meinem Zimmer das Bild, das ich für meine Eltern gemalt hatte, und verbarges hinter meinem Rücken. Die ganze Familie wartete gespannt auf das leise Klingeln des Glöckchens am Baum. Dann tat sich die Tür auf und zeigte das gewohnte Bild, die Geschenke je an ihrem Ort, meine Geschenke rechts von der Tür.

Wir sangen die ersten Lieder noch etwas zaghaft, nur Vater sang vollkehlig, um uns zu beherzterem Singen zu animieren. Krampfhaft fixierte ich den Weihnachtsbaum. Ich versuchte, mir trotzdem mit kurzen Blicken eine Übersicht zu verschaffen, ging in Gedanken meine Wunschliste durch. Welche Geschenke konnte ich den Umrissen nach identifizieren? Ich entdeckte eine grosse, graue Schachtel, die ich nicht einordnen konnte. Sie war mit einem Tuch bedeckt. Entweder war sie zu gross gewesen, um in Geschenkpapier eingeschlagen zu werden, oder die Verhüllung war überflüssig, da man der Schachtel doch nicht ansehen konnte, was sie enthielt. Die Schachtel zog mich in ihren Bann. Immer wieder zog sie meine verstohlenen Blicke an, denn darin war mein Geschenk verborgen.

«Es ist ein Ros entsprungen» war verklungen, die Weihnachtsgeschichte nach Lukas auf Deutsch und Romanisch hatte Mutter auch schon vorgelesen, das schwesterliche Klavierspiel stand auch nicht mehr aus, ich hatte mein Flötensolo hinter mir und Vater hatte seine eigene Weihnachtsgeschichte auch schon erzählt, aber es waren immer noch lange vier Punkte bis zum erlösenden 13. Punkt: Geschenke …

Als «O du frohliche» angestimmt wurde, fühlte ich auf einmal eine furchtbare Enttäuschung über mich kommen. Ich weiss nicht mehr, wie mir der Gedanke kam, aber plötzlich war er da. Das ist eine Schuhschachtel, dachte ich. Oje, kein Spielzeug dieses Jahr, sondern wieder etwas Praktisches: Stiefel für den Winter. Nein! Das darf nicht wahr sein. Allein die Mühe, so zu tun, als ob ich mich auch noch über das Geschenk freuen wurde – Stiefel für den Winter –, hätte mich jetzt schon zum Heulen bringen können. Und dabei hatte ich meinen Eltern ein so schönes Bild gemalt. Waren sie es denn wert? Wussten sie denn nicht, dass man einem Kind nichts Praktisches, keine Stiefel zu Weihnachten schenkt? Was soll ich dann sagen? Oh, schön … Stiefel!

«Das isch da Stärn vo Betlehem …», das letzte Lied, Punkt 11, Punkt 12 war das Weihnachtsgedicht, das wir bei Fräulein Nufer in der Schule auswendig zu lernen hatten. Ich trat vor, mein Bild vor der Brust. Schon bevor ich anfing, es aufzusagen, zog meine Mutter ihr Nastüchlein hervor, um sich die Tränen der Rührung abwischen zu können, während ich das Gedicht aufsagte.

Dann endlich Punkt 13. Meine Mutter trocknete sich die Tränen. Ich überreichte mein Bild. Alle Gaben lagen nun den Blicken preisgegeben da. Ich sah sie nicht; auch nicht die Geschenke auf meinem Stapel. Ich sah nur die Schuhschachtel. Mutter überbrachte sie mir. Als ich den Deckel hob, verspürte ich einen Gegendruck, als sei die Schachtel mit Papier vollgestopft. Dann war der Deckel gehoben und der Moment meiner Erschütterung gekommen. Hellblau schimmerte eine Schachtel in der Schachtel. Schwarz-rot leuchtete mir die Dampflokomotive auf dem zweiten Schachteldeckel entgegen. Eine echte Märklin-Eisenbahn mit einer kleinen Dampflokomotive und zwei grünen Personenwagen aus Blech, Schienen und einem echten Transformator. – Ich konnte nicht mehr sprechen. Vorsichtig holte ich die Pracht aus der Schachtel heraus. Das dauerte eine Weile. Ich baute alles auf und spielte mit meiner Eisenbahn.

Ich erinnere mich, dass meine Eltern hinter mir standen, mein Bild in Händen, sie schmunzelten beide. Ich vermute, dass mein Bild ihnen gefallen hatte – Vater hatte es bis zuletzt auf seinem Büchergestell aufgestellt. Gekümmert hat mich das damals nicht. Ich weiss auch nicht, was ich sonst noch bekommen habe. Wie ich nicht weiss, was ich zu all den anderen Weihnachten bekommen habe. Ich sehe immer nur noch die Pracht von damals, die alle Pracht zu allen anderen Zeiten überstrahlt. Und die Freude von damals überstrahlt die Freuden zu allen anderen Zeiten; denn kleine Freuden gibt es viele; aber die grosse Freude, die Freude, in einer Schuhschachtel eine Märklin-Eisenbahn zu finden mit einer kleinen Dampflock und zwei Personenwagen aus Blech, eine solch grosse Freude erlebt man in einem ganzen Leben einmal, wenn überhaupt.

03 Schöne Bescherung

Mona Vetsch

«Wieder nichts geworden mit weissen Weihnachten», dachte Claire Schneider enttäuscht, als sie an diesem Morgen zur Kirche ging. Der Schnee auf den Strassen hatte sich in Matsch verwandelt, und ein unfreundlicher Wind blies ihr ins Gesicht. Claire Schneider seufzte. Hätte man ihr verraten, dass dies der unvergesslichste Heiligabend ihres Lebens werden würde, Claire Schneider hätte es nicht geglaubt. Und wenn sie dazu noch geahnt hätte, welchen Anteil sie selber an der Geschichte haben sollte, sie wäre wohl auf der Stelle umgekehrt, um sich mit der Decke über dem Kopf im Bett zu verkriechen.

Aber Claire Schneider wusste nichts von all dem, als sie an diesem 24. Dezember die schwere Kirchentür aufdrückte. Warme Luft schlug ihr entgegen, was sie zufrieden registrierte. Sie hatte die Heizung in der Kirche schon vor zwei Tagen angestellt. Das war ihre Aufgabe als Mesmerin. So ein Kirchenschiff braucht lang, um richtig warm zu werden. Unter ihrer Vorgängerin hatten die Gläubigen oft in Mänteln und Mützen hier sitzen müssen. Man munkelte sogar, dass einige Gemeindemitglieder aus diesem Grund Ostern und Weihnachten bei den Katholiken gefeiert hatten. Deren Kirche war mit geheizten Sitzbänken ausgestattet. Dafür dauerten die Gottesdienste ewig. Was Mesmerin Schneider wieder einmal bestätigte darin, dass man im Leben halt nicht alles haben konnte.

Claire Schneider verteilte die Faltblätter mit den Liedtexten in den Sitzreihen und rückte den Adventskranz auf dem Taufbecken zurecht.