Schneeflockenmomente - Beate Maly - E-Book
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Schneeflockenmomente E-Book

Beate Maly

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Beschreibung

Die schönste und besinnlichste Zeit des Jahres ist nah – glitzerndes Schneetreiben, funkelnde Lichter, strahlende Kinderaugen und raschelndes Geschenkpapier erwärmen jedes Jahr wieder unsere Herzen. Weihnachten ist das Fest des Beisammenseins, und deshalb haben sich unsere AutorInnen zusammengetan, um die schönsten, emotionalsten und wärmsten Geschichten zu sammeln. Was könnte es schöneres geben, als in Winterwunderländer mit einem prasselnden Kaminfeuer, warmen Decken mit puderzuckerigen Plätzchen und einer Tasse dampfendem Tee einzutauchen, und behagliche Weihnachtswelten ausgewählter AutorInnen zu entdecken? Liebevoll kuratierte Geschichten sorgen für das gefühlvollste Weihnachten seit Langem, egal ob gemütlich oder lebhaft, besinnlich oder ganz unkonventionell, gegenwärtig oder von der Geschichte geprägt.

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Seitenzahl: 487

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Zum Buch:

Die perfekten Geschichten für ein romantisches Weihnachtsfest – mit dem Besten, was die besinnlichste Zeit des Jahres zu bieten hat, und noch viele Überraschungen mehr: gutes Essen, alte Traditionen neu entdeckt, genau die richtigen und genau die falschen Geschenke, ein Weihnachtsmarkt am See, ein Teddybär, der Menschen zusammenbringt, die einander brauchen, ein vom Himmel gefallener Engel, Süßes zum Fest, ein wenig Magie und ein wenig Eis, und die Erfindung des Fahrrads.

Originalausgabe

© 2022 by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Oleksandra Klestova / Shutterstock

Coverabbildung von zero Werbeagentur, München

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749904808

www.harpercollins.de

Gans mit Füllung

von Ulrike Renk

Es roch sirupartig, süß und klebrig, nach Sommer und Erdbeeren. Die erstickende Luftlosigkeit des Spätsommers lag über dem Haus und dem Garten wie eine Decke. Ich öffnete die Haustür, trat ein.

»Schön kühl ist es hier, aber auch dunkel«, seufzte meine Schwester Ann. Sie lief zielstrebig in die Küche und öffnete den Kühlschrank.

»Fühl dich wie zu Hause«, sagte ich amüsiert.

»Tu ich ja!«, gab sie lachend zurück. »Wenn ich nach so einem Tag nach Hause komme, begrüße ich mich selbst immer mit einem kalten Drink. Willst du auch einen Gin Tonic?«

»Lieber einen Weißwein mit Eis.« Meine dünne schwarze Jacke flog auf einen der Sessel, die Schuhe kickte ich unter den Tisch. Dann zog ich die Jalousien zur Terrasse hoch und ließ die Markise ausfahren. Hinten im Garten stand die Luft genauso wie vor dem Haus, aber die Büsche und Bäume kühlten etwas – das konnte der Asphalt nicht.

Ann kam zu mir, reichte mir ein Glas, in dem die Eiswürfel klirrten. Ihr Blick folgte meinem zur Ecke zwischen Wohnzimmer und Küche.

»Du hast das Kissen weggeräumt«, sagte sie leise. »Wurde ja auch Zeit. Es ist ein Jahr her …«

»Ich vermisse Sam noch immer. Jedes Mal hat er mich so freudig begrüßt, der ganze Hund hat gewedelt.«

Sam fehlte mir so sehr, dass ich keine Worte dafür fand, und bevor ich wieder zu weinen anfing, trank ich lieber einen großen Schluck Wein.

Ann sah meinen Kummer und nahm mich in den Arm, zum Glück diesmal wortlos.

»Lass uns nach draußen gehen«, schlug ich vor. Der Rasen war nicht gemäht und stand hoch – allerdings duckten sich die Gräser, die schon blühten, unter der Hitze. Als ich das letzte Mal einen Gartentag eingelegt hatte, hatte ich Sams Lieblingsball im Gebüsch gefunden. Ich hatte ihn so weit ich konnte weggeworfen, aber viel Kraft war nicht in dem Wurf gelegen, und so war er irgendwo hinten ins Gras gerollt. Ich würde ihn wiederfinden, sobald ich mähte – und das würde ich wohl irgendwann tun müssen.

Es duftete nach den Rosen, die um die Terrasse rankten. Am süßesten roch der Wildtrieb der weißen Kletterrose mit ihren ungefüllten, ehrlichen Blüten. Ich hätte ihn abschneiden sollen, aber das hatte ich so wenig übers Herz gebracht, wie die Tauben daran zu hindern, im Walnussbaum zu brüten. Der Garten war schläfrig, und die verschiedenen Düfte hingen schwer in der Luft. Aber vor allem roch es süßlich und klebrig nach den Erdbeeren in meiner Küche. Ann hatte sich in die Hollywoodschaukel gesetzt und ihre Füße untergezogen. Auch sie hatte sich von ihren Schuhen getrennt, sobald wir die Wohnung betreten hatten.

»Wieso hast du eigentlich diese Unmengen an Erdbeeren gekauft?«, fragte sie mich. »Das sind doch locker vier Kilo.«

»Es sind sechs. Sie haben mich so verführerisch angeschaut, und ich dachte, es wäre eine gute Idee. Natürlich habe ich mich wieder einmal überschätzt«, gab ich zu.

»Und was machst du nun damit?«

»Erdbeermarmelade. Sirup. Chutney … Mal sehen. Saft vielleicht auch.«

»Und Likör! Liköre sind immer gut. Erdbeer-Limes zum Beispiel. Köstlich. Und man kann ihn so gut verschenken.«

»Marmelade auch.«

Ann wirft mir einen mitleidigen Blick zu. »Aber Marmelade kann man nicht trinken, selbst wenn man sie mit Sekt verrührt.«

Jetzt musste ich doch etwas grinsen, auch wenn mir immer noch nicht danach zumute war.

»Komm, hol die Erdbeeren raus. Ich helfe dir beim Putzen«, schlug Ann vor.

Bald darauf saßen wir am Tisch, unsere Hände klebrig und rot von dem süßen Saft der zum Teil überreifen Beeren. Natürlich muss man beim Putzen und Schneiden immer wieder die Qualität der Früchte prüfen, aber auch zu zweit konnten wir dadurch die Menge nicht nennenswert dezimieren. Wir wechselten uns beim Getränkeholen ab, zwischendurch gab es auch die ein oder andere Flasche Wasser, denn ansonsten hätten wir schon bald unter dem Tisch gelegen.

»Ich bleibe heute Nacht hier«, beschloss meine Schwester. Sie fragte nicht, das musste sie auch nicht. Wir standen uns schon immer sehr nahe. Unsere Mutter war früh gestorben und unser Vater mit den beiden kleinen Mädchen am Anfang ziemlich überfordert gewesen. Dann war Tante Maude – Mutters Schwester – aus der Nähe von London zu uns gezogen und hatte den Haushalt mit eisernem Griff an sich genommen. Sie brachte uns die englischen Werte und Rituale bei, ertrug Vaters Launen mit britischer Gelassenheit. Wie groß ihr Opfer, das sie für uns gebracht hatte, gewesen war, wurde mir erst bewusst, als Ann endlich auf die weiterführende Schule kam und Tante Maude freudestrahlend ihre Koffer packte, um nach England zurückzuziehen.

Vater und sie hatten lange gebraucht, um einander zu verstehen. Er war ihr dankbar, dennoch war auch seine Erleichterung groß, als Maude wieder auszog.

»Mao, vermisst du Hannes eigentlich?«, fragte mich Ann.

Ich musste lächeln. Immer noch nannte mich meine Schwester ›Mao‹, was keinen chinesischen Hintergrund hatte und schon gar keinen Politischen, sondern einfach der Tatsache geschuldet war, dass sie als kleines Kind ›Miriam‹ nicht aussprechen konnte und ›Maoam‹ daraus machte. Die Namen klebrig süßer Leckereien konnte sie sich schon früh und ohne Probleme merken.

»Klar vermisse ich ihn«, sagte ich schulterzuckend. »Aber er konnte ja nicht ahnen, dass Tante Maude das Zeitliche segnet, wenn er gerade mit seinem besten Kumpel durch Australien fährt.«

»Nein, natürlich nicht. Niemand hat damit gerechnet, dass sie stirbt. Ich jedenfalls nicht.« Nun füllten sich Anns Augen mit Tränen, und ich füllte ihr Glas schnell mit Gin. »Was wird nun aus Weihnachten?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Weihnachten?« Ich war verblüfft. »Wie kommst du jetzt auf Weihnachten?«

»Wie können wir ohne Tante Maude Weihnachten feiern? Es wird nie wieder richtig sein, nie wieder echt.«

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und schaute in den Garten, der zunehmend verwilderte. Ich war froh, dass Tante Maude diesen Anblick nicht sehen musste. Sie hatte mir schließlich das Gärtnern beigebracht und auch bei uns zu Hause eine Art englischen Garten angelegt. Diesen hatte ich auch nach ihrem Auszug damals nie verwahrlosen lassen und den Rasen stets sorgsam gepflegt.

Morgen, nahm ich mir vor, spätestens übermorgen, werde ich mich um den Garten kümmern. Ich werde den Rasen mähen und die Rosen zuschneiden. Aber erst würde ich mich um die Erdbeeren kümmern müssen. Bis auf etwa ein Kilo hatten wir alle geputzt, die meisten gezuckert. Auf dem Herd blubberte ein Topf mit Marmelade, Sirup simmerte sanft in einem anderen. Einen Teil hatte ich einfach nur püriert und eingefroren, der Rest hatte irgendwie Platz im Kühlschrank gefunden, und eine große Portion schwamm selig in einer Mischung aus Alkohol und Läuterzucker.

»Wir haben noch Zeit bis Weihnachten«, meinte ich.

»Das stimmt. Aber keiner kann die Füllung für die Gans so machen wie Tante Maude.«

»Weil sie ihre Rezepte nie aufgeschrieben hat!«, grummelte ich. »Sie hat einen Aufstand darum gemacht, als wären es Akten des MI5 und nur James Bond persönlich würde Zugang dazu bekommen.«

»Und nun sind all die leckeren Rezepte mit ihr ins Grab gegangen«, jammerte Ann. »Weihnachten – das ist doch mehr als nur bunte Lichter und Zuckerguss. Weihnachten, so wie wir es gefeiert haben, hatte Tradition!«

»Vielleicht«, sagte ich langsam, »ist es an der Zeit, neue Traditionen zu erschaffen.« Doch so wirklich war ich davon nicht überzeugt.

An diesem Abend schafften wir es noch, die Marmelade in sterile Gläser und den Limes in Flaschen abzufüllen. Dann leerten wir den Rest des Gins gemeinsam und schwankten ins Bett.

Es dauerte eine Weile, bis wir am nächsten Tag einigermaßen ausgekatert waren. Zum Glück hatte ich Rollmöpse und Brathering vorrätig. Ich lüftete die Küche ausgiebig, bevor die Sommerhitze wieder zuschlug, denn der Duft der reifen Erdbeeren klebte immer noch im Raum.

»War es ein Fehler?«, fragte Ann mich. Sie saß, eine große Sonnenbrille auf den Augen, auf der Terrasse und blies in ihren bitteren doppelten Espresso.

»Du meinst, Tante Maude im Familiengrab in Deutschland zu beerdigen?«

Ann nickte.

»Darüber denke ich auch die ganze Zeit nach. Sie liegt nun bei Mutter. Und Vater wird irgendwann dazu kommen. Vielleicht war es ein Fehler … aber dann … auch wieder nicht.«

Vor zwei Jahren war Tante Maude wieder nach Deutschland gezogen. Diesmal, um sich um unseren Vater zu kümmern, der immer vergesslicher wurde.

»Eure Mutter«, hatte sie damals mit stoischer Ruhe gesagt, »wusste, dass es irgendwann dazu kommen würde. Sie hatte einen Mann geheiratet, der fast zwanzig Jahre älter war als sie. Irgendwann werde ich ihn pflegen müssen, hatte sie mir bei ihrer Hochzeit anvertraut. Nun, leider kam es anders. Und deshalb ist es jetzt meine Aufgabe. So wie es meine Aufgabe war, mich für sie um euch zu kümmern.«

»Das musst du nicht«, hatten wir ihr versichert, aber sie ließ sich auf keine Diskussion ein.

In den letzten Monaten hatte sie sich einen Pflegedienst als Hilfe ins Boot geholt, und das war nun auch gut so – denn auf die Schnelle konnten weder Ann noch ich Vater bei uns aufnehmen.

»Aber sie hatte doch so gut wie alle engen Verbindungen nach England abgebrochen«, meinte ich nun. »Sie war unsere letzte Verwandtschaft in dem Familienzweig. Ich denke, sie hätte sich auch gewünscht, bei Mutter zu liegen.«

»Ja, das stimmt – es gibt nun niemanden aus der Familie mehr, außer uns«, sagte Ann traurig.

»Und auch niemanden, der mir die Familienrezepte beibringen würde«, murmelte ich. »Ich war mir sicher, dass sie sie mir irgendwann verraten hätte, und jetzt ist es zu spät.«

»Du bist doch eine großartige Köchin«, meinte Ann. »Du brauchst gar keine Rezepte!«

»Ich habe letztes Jahr versucht, den Plumpudding zu machen. Oft genug haben wir ihr ja beim ›Stir-up-day‹ dabei geholfen. Du wirst es nicht glauben – er schmeckte nicht. Dabei war ich mir sicher, dass ich alles so gemacht hatte wie sie. Und auch die Zutaten stimmten. Dachte ich – aber offensichtlich hatte sie noch irgendwelche Geheimzutaten, die sie eben nicht verraten hat.«

»Dann schmeckt der Plumpudding eben anders«, sagte Ann ein wenig trotzig. »Dann entwickelst du jetzt ein Rezept, das für uns dann Tradition wird.«

»Vergiss es! Glaub mir, beim ersten Bissen wirst du den Unterschied merken, und es wird uns niemals schmecken. Nein, ab jetzt gibt es keinen Plumpudding mehr zu Weihnachten.«

»Und was ist mit dem Stuffing?« Anns Stimme war ganz leise geworden.

In Deutschland füllt man das Geflügel – mal süß, mal herzhaft, je nach Gusto. Aber in England wird die Füllung, das »Stuffing«, außerhalb des Geflügels zubereitet. Klingt verrückt – ist aber so. Das liegt wohl daran, dass es keine wirkliche Füllung ist, sondern eher eine sehr beliebte Beilage.

Früher, das hatte mir Tante Maude erklärt, war die Füllung wirklich eine Füllung – aber da sie so lecker war, war immer viel zu wenig da. Deshalb gewöhnte man sich an, sie extra zuzubereiten. In unserer Familie wurde unter anderem grobe Bratwurst verwendet, aber eben auch noch andere Zutaten. Im Grunde wusste ich, was Tante Maude hineintat, aber ich befürchtete, dass es sich mit dem Stuffing ähnlich verhalten würde wie mit dem Plumpudding. Doch das wollte ich noch nicht zugeben.

»Ich kann jetzt wirklich nicht über Weihnachten und Weihnachtsessen nachdenken«, sagte ich und holte die restlichen Erdbeeren aus dem Kühlschrank, vertiefte mich in das Putzen derselbigen. Aber natürlich bekam ich das Fest trotzdem nicht aus dem Kopf, auch wenn ich das niemals zugegeben hätte.

***

Es war ein Sonntag, als der Herbst plötzlich den Sommer ablöste. Noch am Tag zuvor hatte die trockene Hitze über dem Garten gelegen, auch am nächsten Morgen, als ich die Kaffeetassen auf die Terrasse trug, duftete die Erde immer noch ein wenig wie gedörrt. Die Rosen, die ich inzwischen beschnitten und ordentlich hochgebunden hatte, verströmten immer noch ihren verführerischen Geruch, vor allem der Wildtrieb, den ich nicht hatte abschneiden können, sondern etwas verschämt hinter den Edelrosen versteckt hatte.

Der Rasen war frisch gemäht, was mich einige Mühe gekostet hatte, und die Büsche waren ein wenig gestutzt. Die wollte ich im Herbst richtig zurechtschneiden, wenn die Brutsaison der Vögel vorbei war.

Wie ein englischer Landschaftsgarten sah unser Grundstück natürlich immer noch nicht aus, aber nun würde sich Tante Maude wenigstens nicht mehr vor Scham im Grab umdrehen.

»Es würde ihr gefallen«, sagte Hannes, der wie so oft meine Gedanken erraten hatte, und stellte das Tablett mit den frischen, noch dampfenden Brötchen, der Butter und der Orangenmarmelade auf den Tisch. Vor einer Woche war er von seiner langen Tour durch Australien zurückgekehrt.

»Meinst du?«, fragte ich skeptisch und kniff die Augen zusammen.

»Wir haben einen Garten und keinen Park. Mir gefällt es hier – es ist kein klassischer deutscher Garten, zumindest habe ich hier noch keine exakten Blumenbeete entdeckt und auch keinen Gartenzwerg.« Er zwinkerte mir zu und nahm seine Tasse Kaffee. »Aber mal ernsthaft – dies ist ein schönes Stück Land, es sieht sehr natürlich aus. Tante Maude hatte es gefallen, und nun würde es ihr wieder gefallen. Vor allem dort hinten das Stück Wiese, dass du nicht gemäht hast. Gut für die Bienen, die Insekten und alles, was so kreucht und fleucht. Es fügt sich dennoch perfekt in das Gartenbild ein.«

»Hmmhmm«, machte ich und verriet ihm nicht, dass ich dort Sams Lieblingsball vermutete und deshalb dieses Stück Wiese in Ruhe gelassen hatte.

»Das hast du wirklich wunderbar gemacht«, fuhr Hannes fort, »und ich bin so stolz auf dich, dass du dich dazu hast überwinden können. Ich weiß, es war nicht einfach für dich.« Er schwieg für einen Moment. »Ich vermisse Sam auch immer noch«, fügte er leise hinzu.

Ich nahm eins der Brötchen, stach fest mit dem Messer hinein und schnitt es auf. Es dampfte, und ich bedeckte den Dampf schnell mit der bitteren Orangenmarmelade, biss hinein und hatte das Gefühl, in meine Kindheit katapultiert worden zu sein.

»Fahren wir heute zu deinem Vater?«, fragte Hannes nun.

Beinahe hätte ich mich an dem Brötchenbissen verschluckt. Es war Sonntag, natürlich. Sonntags fuhren wir meistens zu ihm. Mal erkannte er mich, mal nicht. Immerhin hatte er sich inzwischen mit der osteuropäischen Pflegekraft arrangiert, die nun bei ihm wohnte. Es war nicht Tante Maude … aber er war nicht alleine.

»Hmmhmm«, machte ich wieder, versuchte Zustimmung zu übermitteln.

»Ich finde, er schlägt sich ganz tapfer.«, sagte Hannes sanft

»Ja, immer dann, wenn er wieder in dieser Welt auftaucht«, seufzte ich. »Und das wird immer seltener.«

»Umso wichtiger ist es, diese Augenblicke zu nutzen«, sagte Hannes sachlich und traf damit einen wichtigen Punkt. Er sah sich um. »Es ist so schön hier. Was hältst du davon, wenn ich ihn abhole? Ihn hierherbringe? Das haben wir schon eine Weile nicht mehr gemacht.«

»Doch«, sagte ich. »Ich habe ihn geholt, aber du warst nicht da. Es ist aber tatsächlich eine gute Idee. Würdest du das wirklich tun? Dann backe ich schnell seinen Lieblingskuchen.«

Vater hatte immer Biskuitrollen geliebt. Mit einer Cremefüllung und Früchten der Saison. Es gab noch die letzten Erdbeeren, aber auch schon die ersten echten Heidelbeeren – nicht diese gezüchteten und geschmackslosen Monster. Außerdem gab es Brombeeren und noch einige Himbeeren. Im hinteren Teil des Gartens hatten wir eine Art Laubengang – mehrere Metallbögen, eigentlich für Rosen gedacht, hintereinander. Nun wuchsen und rankten dort keine Blumen, sondern Himbeeren und eine neue Sorte Brombeeren. Letztere waren als »stachellos« beworben worden, aber wie das mit Werbung so war – so ganz stimmte das nicht. Sie piekten immer noch, aber sie durchbohrten einen nicht mehr so sehr wie die wilden Brombeeren, die an den Bahngleisen wuchsen und mir meine Kinderhaut jedes Jahr wieder zerkratzt hatten. Doch reife Brombeeren, in der letzten Spätsommersonnenhitze von den Ranken gepflückt und sofort in den Mund gesteckt, hatten einen ganz besonderen Geschmack von Sommer und Freiheit, von Abenteuer und auch ein wenig von Verwegenheit und Mut. Selbst gepflückte Früchte schmeckten immer so viel besser als gekaufte – vielleicht war das ein Erbe aus dem Garten Eden, vielleicht lag das aber nur an den langen Transportketten der Supermärkte.

Als Hannes nach dem Frühstück zu meinem Vater fuhr, machte ich mich schnell an das gelingsichere Rezept für den Biskuitteig. Ich trennte fünf Eier, schlug das Eiweiß auf, vermischte Eigelb mit Zucker, zog beides unter das steife Eiweiß, ließ das Mehl und einen Hauch Backpulver in die Masse rieseln und rührte es mit einem Spatel unter. Dann schob ich den glattgestrichenen Teig in den vorgeheizten Ofen, wartete zehn bis fünfzehn Minuten in Ofennähe und nahm die Teigplatte rechtzeitig heraus. Schnell stürzte ich sie auf ein sauberes Küchentuch und rollte sie ein.

Die Sahne-Quarkmasse war fix zusammengerührt, ein bisschen Zucker, Zitronenabrieb und die Früchte hinzugefügt – voilà. Als die Teigrolle abgekühlt war, strich ich die Füllung darauf und rollte alles wieder zusammen, streute Puderzucker darüber und fertig war der Kuchen. Vater liebte es üppig, also platzierte ich auch ein paar Beeren, leicht gezuckert, auf der Biskuitrolle. Zufrieden stellte ich den Kuchen auf den Tisch. Das ging erst, seit es Sam nicht mehr gab – er hätte den Vorkoster gemacht, recht rücksichtslos und ziemlich gierig.

Kurze Zeit später schloss Hannes unsere Haustür auf. Ich sah ihm und meinem Vater gespannt entgegen. Hannes hielt den Daumen hoch, es war also ein guter Tag, und Vater war einigermaßen klar.

Vater folgte ihm, sah sich um und klatschte in die Hände. »Wo ist er denn?«, rief er freudig. »Sam, komm her. Sam, komm zu mir. Nun komm schon, alter Junge.«

Ich musste kurz die Augen schließen und holte tief Luft.

»Aber Harald, Sam ist doch tot«, sagte Hannes sanft. »Über ein Jahr schon.«

»Tot?« Mein Vater schaute auf, nickte dann betrübt. »Ach ja, ach ja. Natürlich. Ich erinnere mich. Verdammt … Was für eine Schande. Er war so ein guter Hund.« Dann schüttelte er sich. »So viel Tod. Auch Maude ist von uns gegangen. Viel zu früh. Und natürlich Mabel, meine Frau.« Er sah Hannes an. »Aber Mabel ist schon ganz lange tot, nicht wahr?« Ein wenig Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit, und alles Mitleid und all die Liebe, die ich für ihn hatte, schmolz plötzlich in mir und durchdrang mich wie weiche Butter.

»Hallo, Papa«, sagte ich und umarmte ihn. »Schön, dass du hier bist.«

»Ich freu mich auch, Spatz.« Er erwiderte die Umarmung herzlich, und für einen Augenblick war ich mir ganz sicher, dass er wusste, wer ich war und wo er sich befand. Diese Augenblicke wurden seltener.

Wir deckten den Tisch auf der Terrasse. Vater ging durch den Garten, die Brille tief auf der Nase, und begutachtete die Stauden. »Hmmmhmm, soso«, murmelte er. »Lilien. Lilien hätte ich hier nicht gepflanzt, eher eine Spiere«, sagte er. »Oh und hier ist eine Pfingstrose, die wäre besser an der Mauer dort hinten. Sind das dort Astern? Hmmm, ob die da Sinn ergeben? Aber die Funkien sind wunderbar. So schön, die hätten Mabel gefallen.« Dann schüttelte er denn Kopf. »Nicht Mabel, ich meinte natürlich Maude. Kommt sie noch?« Er schaute mich an, dann wurde sein Blick wässrig. »Natürlich kommt sie nicht«, sagte er mit rauer Stimme. »Sie ist ja auch tot. Beide sind tot. Mabel und Maude. Wer hätte das gedacht? Wer hätte gedacht, dass ich die beiden überlebe? Ich nicht.« Er seufzte schwer.

»Ach, Papa«, sagte ich und nahm ihn beim Arm. »Ach, Papa, man kann es doch nicht ändern.«

»Das stimmt«, sagte er, und sein Gesicht hellte sich auf, als er die Kuchenrolle sah.

Er langte ordentlich zu und ließ es sich schmecken. Doch plötzlich hob er den Kopf und schaute mich fragend an. »Was wird denn jetzt aus Weihnachten?«

Ich zuckte zusammen.

»Wie sollen wir ohne Maude Weihnachten feiern?« Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Wir werden uns natürlich alle treffen«, sagte ich.

»Kannst du denn die Gans so machen wie Maude? Und was ist mit der Füllung? Weihnachten ohne die Füllung ist wie ein Frühling ohne Mai.«

»Ich dachte, wir probieren mal etwas anderes«, sagte ich vorsichtig. »Es muss ja nicht immer Gans sein.«

»Was meinst du damit?«, wollte mein Vater verblüfft wissen.

»Nun, wir starten eine neue Zeit, das müssen wir ja, ohne Tante Maude. Wir schaffen uns neue Rituale, neue Traditionen.«

»Neu und Tradition – das ist doch ein Widerspruch in sich«, sagte mein Vater.

»Am Anfang schon, aber in ein paar Jahren wird es dann eben eine Tradition sein.«

»Das kannst du machen, wenn ich nicht mehr bin. Wie soll ich mir denn eine neue Tradition merken? Nein, nein – Weihnachten ist nur dann Weihnachten, wenn es Gans gibt. Und Füllung. Und natürlich den brennenden Plumpudding.«

»Ich habe aber keine Rezepte«, gab ich zu. »Maude hat sie mit ins Grab genommen.«

»Aber du kannst doch kochen«, sagte mein Vater und nahm sich zufrieden noch ein Stück vom Kuchen.

»Backen ist nicht kochen«, murmelte ich und spürte das Grummeln in meinem Bauch.

»Was ist eigentlich mit Maudes Sachen?«, versuchte Hannes das Thema von Weihnachten wegzulenken.

»Was soll damit sein?«, fragte Vater zurück. »Ich habe sie in Kartons gepackt und auf den Dachboden gestellt.«

»Und da sollen sie bleiben?«, wollte ich wissen.

»Sie stören dort doch keinen.«

Der Nachmittag verlief angenehm, langsam verzog sich die trockene Hitze. Und dann wurde es Zeit, meinen Vater nach Hause zu bringen. Er hatte einen überraschend klaren Tag gehabt, Momente und Gespräche, von denen ich wusste, wie kostbar sie waren und dass es immer weniger davon geben würde.

»Das war ein sehr schöner Tag, Mao.« Auch er hatte den Kosenamen, den mir Ann gegeben hatte, übernommen. »Bevor ich gehe, muss ich euch noch etwas sagen.« Seine Stimme hatte sich verändert. Es lag eine gewisse Ernsthaftigkeit darin. Er sah mich an. »Eigentlich hätte ich auch Ann gerne dabei gehabt, aber sie ist wohl unterwegs?«

»Ja.« Ich spürte einen Kloß im Hals. »Sie ist mit ihrem neuen Freund für ein paar Tage an die See gefahren.«

»Kenn ich den Freund schon?«, fragte Vater.

Ich schüttelte den Kopf.

»Sollte ich versuchen, mir seinen Namen zu merken?«

»Das lohnt noch nicht«, sagte ich und lächelte. Ann verliebte sie oft und schnell – aber genauso schnell waren die Liebschaften auch wieder vorbei. Ich gönnte es ihr, diese Zeit des Sichausprobierens. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie sich nur wieder verliebte, um in Übung zu bleiben.

»Nun, sich Namen merken«, murmelte Vater und schaute mich dann an. »Das fällt mir, wie du sehr wohl weißt, immer schwerer. Ich vergesse viel und oft. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wo ich bin … Manchmal bin ich davon überzeugt, dass deine Mutter noch lebt, dabei ist sie schon so lange tot.«

Ich wollte etwas sagen, aber Vater hob die Hand, schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, dass es dieses Alzheimer ist oder beginnende Demenz oder wie auch immer. Ich weiß, in meinem Gehirn sind nun Lücken und Leerstellen, und die werden immer größer werden. Der Arzt hat es mir ja erklärt. Ich weiß, ich werde nach und nach alles vergessen – vielleicht auch mich selbst. Kein schöner Gedanke, und noch hoffe ich, dass ich sterbe, bevor ich nur noch eine geistlose Hülle bin. Aber das liegt nicht in meiner Hand.« Er räusperte sich. »Ich habe eine Entscheidung getroffen. Eigentlich schon vor drei Jahren, als die Vergesslichkeit anfing. Aber dann kam Maude und, nun ja, … mit Maude war es einfacher. Ich mag Wanda oder Sonja oder wie sie heißt. Sie ist nett und freundlich, kümmert sich gut um mich. Aber das ist kein Zustand, der auf Dauer gut gehen wird. Ich habe mich also entschlossen, in eine Einrichtung zu gehen. Gerda – du weißt doch, unsere frühere Nachbarin?« Er sah mich fragend an, und ich nickte. »Sie ist da. Und auch Günther ist nun dort eingezogen. Karl-Heinz ebenso und auch Regine lebt in so einem Haus. Sie haben ihr Zimmer mit eigenem Bad. Mittags gibt es Mahlzeiten im Gemeinschaftssaal, und alle loben das Essen. Es gibt kleine Apartments, die sogar eine Küchenzeile haben, so dass man sich sein Frühstück und Abendessen selbst machen kann. Aber für mich wäre das nichts. Warum soll ich mir selbst ein Ei kochen, wenn es auch andere für mich tun können.« Er lächelte, und ich blinzelte meine Tränen weg. »Ich stand dort schon auf der Liste, bevor Maude zu mir kam. Und mehrfach hätte ich ein Zimmer haben können – aber Maude war ja da. Das ist sie jetzt nicht mehr. Und nun ist wieder ein Zimmer frei. Ich habe diesmal zugesagt. Nächsten Monat kann ich einziehen.«

»Aber … Papa … Du kannst doch auch …«

Er wischte meine Worte mit einer Handbewegung weg. »Ich habe es mir gut überlegt, liebe Mao. Wirklich sehr gut. Damals schon, als ich noch richtig denken konnte. Und damals habe ich mir auch aufgeschrieben, was daran gut ist – damit ich es lesen kann, falls ich es vergessen hätte, was zwischendurch ja immer vorkommt. Mein Entschluss steht fest. Dort bin ich nicht alleine, um mich wird sich gekümmert – und zwar in dem Maße, wie es nötig ist. Das finde ich gut.« Er nickte ernsthaft und nahm mich in seine Arme, die mir früher immer so stark und kraftvoll erschienen, jetzt aber dünn und ein wenig zittrig waren. »Es ist wirklich mein Wunsch, und ich hoffe, du kannst es auch gut finden«, murmelte er in mein Ohr.

»Oh, Papa, natürlich.«

»Meine Entscheidung steht. Ich bin damit sehr zufrieden. Da gibt es sogar Gruppen zum Gedächtnistraining, stell dir vor! Karl-Heinz geht da immer hin. Und sie haben auch einen Chor oder eine Gesangsgruppe, da ist Regina ganz aktiv. Ich kann mich da beschäftigen und einbringen – im Rahmen meiner Möglichkeiten.« Er lächelte, aber es war ein unsicheres Lächeln. »Und ihr könnt mich besuchen. Das macht ihr doch auch?«, fragte er leise.

»Aber natürlich werden wir dich besuchen!« Nun liefen meine Tränen, ich hielt sie nicht zurück.

»Du kannst doch auch weiterhin bei uns vorbeikommen, oder?«, fragte Hannes, es klang unsicher.

»Selbstverständlich. Es ist ja kein Knast.« Jetzt lachte mein Vater. Dann atmete er tief aus. »Bevor ich fahre, hätte ich jetzt gerne noch einen Schnaps. Ist das möglich?«

Hannes eilte in die Küche. Er wusste, welchen Grappa mein Vater am liebsten trank, und brachte die Flasche und drei Gläser.

»Du auch?«, fragte mein Vater. »Du musst mich doch noch fahren.« Sein Blick wurde streng.

»Ein kleiner geht.«

»Weihnachten«, sagte Vater und nahm das Glas, trank es mit einem Schluck leer und schüttelte sich dann wohlig. »Weihnachten feiern wir dann hier. Du wirst kochen, Mao. Du machst das schon, auch mit der Füllung. Darauf freue ich mich jetzt schon.« Er schlug mir leicht auf die Schulter und lachte.

So war er, so war mein Vater, schon immer gewesen. Plötzlich zweifelte ich an der Diagnose. War es mit über achtzig denn nicht normal, manchmal Dinge zu vergessen?

Nun klatsche mein Vater in die Hände, stand auf und streckte sich. »Lass uns gehen, mein Sohn«, sagte er zu Hannes. »Die … die … die Dings wartet sicher schon. Wie heißt sie noch gleich? Wanda? Hannah?«

»Svetlana«, sagte ich.

»Jaja, genau. Nette Frau. Nicht wie Maude, aber nett.« Er drehte sich um, sah in den Garten. »Nun komm, sag mir ›Auf Wiedersehen‹ alter Junge. Wo versteckst du dich denn? Komm her, komm zu mir!«

»Papa?«

»Wo ist denn Sam? Er war doch gerade noch hier. Sam? Sam!« Vaters Stimme wurde immer lauter. »Ich muss ihn doch verabschieden, den alten, treuen Hund.«

»Aber Papa … Sam ist tot.«

Mein Vater sah mich entsetzt an. »Seit wann?«

»Schon ein Jahr …«

»Das kann nicht sein, er war doch vorhin noch hier. Willst du mich verwirren? Also wirklich, Mao. Du lügst doch. Sam! Sam komm her.« Er wurde richtig ungehalten. »Nun komm schon, Sam. Komm her!«

Hannes ging dazwischen, denn ich war nicht handlungsfähig und zutiefst betroffen.

»Harald?«, sagte Hannes ganz leicht und freundlich. »Wir müssen jetzt gehen. Komm, ich bring dich nach Hause.«

»Aber ich will mich doch auch von Sam verabschieden.«

»Sam ist schon alt. Er hat dich gehört und weiß, wie sehr du ihn magst. Aber er kann nicht mehr kommen. Er schläft jetzt.«

»Ach ja? Ach so. Natürlich, natürlich«, murmelte mein Vater. »Maude ist schon vorgegangen?«

»Ja, Papa, das ist sie.«

»Gut.« Er sah mich an und runzelte die Stirn. »Ich wollte etwas Wichtiges sagen. Habe ich das getan?«

Ich nickte. »Ja, das hast du.«

»Dann ist ja gut. Worum ging es?«

»Weihnachten, es ging um Weihnachten.«

Vater lächelte. »Ach ja. Weihnachten. So ein schönes Fest. Ich liebe es.«

Während Hannes meinen Vater nach Hause brachte, räumte ich den Tisch auf der Terrasse ab und die Küche auf. Sam, dachte ich, du fehlst. Du hättest jetzt mit deinem treuen Blick neben mir gesessen, hättest dich in den Arm nehmen lassen und mich durch deine schiere Anwesenheit getröstet. Aber Sam gab es nicht mehr, und Vater schwand immer mehr in andere Welten, in das Nichts.

Hannes kam wieder, wir setzten uns auf die Terrasse und auf einmal war der Sommer vorbei und der Herbst zog ein. Die Luft war plötzlich viel klarer und reiner, ohne wirklich kälter zu sein. Es lag ein anderer Duft über allem – anders süßlich als der Sommerduft, mit einer leichten Note von Verwesung und Vergangenem.

***

»Papa will was?«, frage mich Ann entgeistert, als ich sie endlich telefonisch erreichen konnte.

»Er zieht in ein Heim.«

»Unmöglich! Das kannst du doch nicht zulassen«, erzürnte sich meine Schwester. »Das geht doch nicht, nicht unser Vater!«

»Willst du ihn aufnehmen? Willst du dich um ihn kümmern und all die Verantwortung übernehmen?«

»Aber wir können ihn nicht einfach abschieben! Es gibt doch noch diese … Wanda?«

»Svetlana. Seine Pflegerin heißt Svetlana«, sagte ich erschöpft. »Ich schiebe ihn nicht ab. Er hat es selbst so entschieden und auch schon die Papiere unterschrieben. Er möchte es so.«

»Bist du dir da sicher? Weiß er das denn überhaupt noch?«

»Ja, ich bin mir sicher. Ich habe mit der Heimleitung gesprochen, und ich war auch schon da. Es ist wirklich schön dort. Es ist kein Gefängnis, Ann, sondern ein Heim für ältere Menschen. Und sie haben alles, was sie brauchen, es gibt Apartments mit kleinen Küchen – kleine Wohnungen, wo sich die ›Mieter‹ selbst versorgen können, so lange sie es können und wollen. Vater will das gar nicht mehr. Er möchte seine Mahlzeiten serviert bekommen. Und die kann er alleine auf seinem Zimmer einnehmen oder mit den anderen zusammen. Darauf freut er sich schon. Es sind viele seiner Bekannten dort, die meisten jünger als er. Und fitter«, fügte ich leise hinzu.

»Aber … Aber …«

»Kein Aber, er wünscht es sich so, und es ist eine gute Lösung. Wir können ihn dort besuchen, und er kann ja auch immer zu uns kommen.«

»Und Weihnachten? Was wird mit Weihnachten?«

»Das feiern wir hier, bei uns.«

»Was wird dann mit dem Haus?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich will es nicht. Willst du es? Ansonsten sollten wir es wohl verkaufen. Papas Rente ist hoch genug, er kann sich das Heim leisten. Noch. Vielleicht braucht er irgendwann mal mehr Geld – aber das weiß ich nicht so genau.«

»Ich will das Haus nicht, Mao«, sagte Ann mit einer Grabesstimme. »Aber es ist unser Elternhaus. Wir haben dort immer Weihnachten gefeiert. Immer und immer.«

»Und jetzt werden wir es bei Hannes und mir feiern«, sagte ich. »Wir müssen ja nicht sofort verkaufen – aber in einem leeren Haus werde ich nicht die Feiertage verbringen. Es ist Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen.«

»Hast du mal über die Gans und die Füllung nachgedacht?«

Ich verdrehte sie Augen. »Fondue«, sagte ich und versuchte heiter zu klingen. »Fondue oder Raclette. Die meisten Deutschen machen das zu Weihnachten, das habe ich gerade noch in einer Zeitschrift gelesen.«

»Die Deutschen?! Wir sind zur Hälfte britisch! Ich will eine Gans mit Füllung«, sagte Ann trotzig.

»Dann musst du sie auch braten. Bitte, kannst du machen. Sollen wir zu dir kommen, oder möchtest du es bei mir tun? Ich stelle dir meine Küche zur Verfügung.«

»Was? Bist du noch bei Trost, Mao? Ich kann das nicht. Wenn das jemand hinkriegt, dann du.«

***

Eine Woche später traf ein ganzer Stapel an Kochbüchern bei mir ein – alles Bücher von britischen Spitzenköchen, und Ann hatte gelbe Zettel auf die Seiten geklebt, wo es um Füllungen und Plumpudding ging.

Ich legte den Stapel auf den Esstisch und schaute in den Garten. Es regnete, es regnete seit Tagen, und der Garten war durchweicht. Das Laub fiel, rieselte, sank in Haufen, feucht und schnell schwarz werdend, zu Boden, ohne sich, wie es sich für einen ordentlichen Herbst gebührte, in leuchtende Farben verwandelt zu haben.

Ich mochte den Herbst mit seiner klaren Luft, in der sich plötzlich wieder Konturen abzeichneten und nicht in der wabernden Hitze verschwammen. Ich liebte diese kühle Jahreszeit, in der man wieder Luft schöpfen konnte. Aber den nassen, den verregneten Herbst mochte ich nicht. Alles vermoderte zu schnell, die Insekten hatten keine Zeit, aus Laub Humus zu machen, die Igel schüttelten die nassen Blätter entsetzt aus ihren Stacheln und suchten nach trockenen Unterschlüpfen für den Winter.

Die Luft war kalt und feucht. Ich wollte diesen Herbst am liebsten überspringen, einschlafen und im kalten, klaren, reinen Winter wieder aufwachen. Aber das war leider nicht möglich, und am Anfang des Winters stand Weihnachten – ein Fest, das ich immer geliebt hatte. Ein Fest voller Freude, voller familiärer Rituale und lieb gewonnener Bräuche, die zum Teil recht archaischer Natur waren. Die zwölf Weihnachtstage – the twelve days of Christmas – vielleicht hatte sie unsere Mutter schon mit uns zelebriert, aber daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Tante Maude hatte darauf einen großen Wert gelegt. Weihnachten fing für sie schon im November an. Da war der »Stir-up Sunday«, an dem man den Teig für den Plumpudding zusammenrührte. Das »Stir-up« hatte allerdings eine andere Bedeutung als »Zusammenrühren«, es kam von einem biblischen Psalm, meinte ich mich zu erinnern, konnte mich aber auch täuschen. Es gab den Heiligen Abend, der in Deutschland wichtig war, und dann den ersten Feiertag, der in England am meisten Bedeutung hatte. Wir hatten immer beide gefeiert. Das Aufstellen des Baumes, das Schmücken – es gab so viele liebgewonnene Bräuche, und dennoch drohten in diesem Jahr die Füllung und der Plumpudding.

Ich sah mir den Berg an Kochbüchern lustlos an, schauderte, als der Wind auffrischte und eine Regenbö gegen das große Fenster schlug. Der Regen schien hämisch zu lachen, er wollte mir die Laune verderben, da war ich mir sicher.

»Ich mache dann mal den Kamin an«, sagte Hannes sanft. »Ein wenig Wärme können wir gut gebrauchen.«

»Hast du gesehen, was mir Ann geschickt hat?«, seufzte ich verzweifelt.

»Allerdings. Was willst du als Erstes testen? Jamie Oliver? Nigel Slater? Oder gar Gordon Ramsay? Oh, was sehe ich da«, sagte Hannes grinsend und nahm ein Buch hoch. »Es gibt sogar ein Downton-Abbey-Kochbuch? Ob du da fündig wirst?«

Ich sah ihn böse an. »Was würdest du denn an meiner Stelle tun? Ich weiß nicht, wie Tante Maude ihre Füllung gekocht hat. Ich wäre ja für Raclette.«

»Ernsthaft?« Hannes hob die Augenbrauen. Er ging zum Kamin, steckte etwas zusammengeknülltes Papier hinein, baute dann sorgfältig ein kleines Tipi aus Anzündholz drumherum, dann legte er zwei kleine Holzscheite an den Rand, nahm das lange Feuerzeug und entzündete das Papierknäuel. Schnell züngelten die Flammen hoch zum Anzündholz, und schon bald knisterte es, das Feuer loderte auf, griff auf die Holzscheite über. Hannes beobachtete das wärmende Spektakel, bis die Holzscheite brannten, dann schloss er zufrieden die Glastür des kleinen gusseisernen Ofens. Das Feuer flammte auf, und schon bald füllte die wohlige Wärme den Raum.

Sam hatte den Kamin geliebt, vor allem an durchweichten und nassen Tagen, an denen die Sonne nie aufzugehen schien, es immer duster und grau blieb mit den tiefhängenden Wolken, die an den Baumwipfeln zu kratzen schienen.

Sein Kissen war in der Nähe des Kamins gewesen, und er hatte dort gelegen, die Augen geschlossen und die Pfoten zuckend, eine träumerische Jagd nach irgendwas, im Warmen und Trockenen.

In der kalten Jahreszeit vermisste ich meinen Seelenhund noch mehr als im Sommer, wo er sich Schattenplätze im Garten gesucht hatte – unter den Bäumen oder Büschen, in der Kühle der feuchten Erde. Im Herbst und im Winter hatte er meine Nähe gesucht, hatte zu meinen Füßen gelegen, wollte kuscheln und wärmen.

Er war dann immer bei mir in der Küche gewesen, wenn ich kochte, rührte und briet. Oft war er im Weg gewesen, was mich geärgert hatte, weil ich damals noch nicht wusste, wie sehr ich es vermissen würde, wenn er nicht mehr dort lag.

Ich sah zu dem Kamin, sah das warme Feuer und griff schnell nach einem der Kochbücher, bevor das beklemmende Gefühl in meiner Brust noch stärker wurde.

An diesem ungemütlichen, regnerischen Tag notierte ich mir diverse Rezepte aus den verschiedenen Kochbüchern. Ich schrieb Einkaufslisten und überprüfte unsere Vorräte.

In den kommenden Wochen kochte und briet ich Füllungen. Ohne Gans. Ich wusste, das letzte bisschen Geschmack kam von dem Fett, das während des Bratens aus dem Vogel trat und in dem tiefen Backblech aufgefangen wurde. Dieses Fett musste immer und unbedingt die Füllung benetzen, sie durchdringen, von ihr aufgesaugt werden und ihr den letzten Kick an Geschmack verleihen. Ich nahm stattdessen Entenfett und Gänseschmalz, ließ es bei geringer Temperatur schmelzen und goss es über die Füllung, die im Ofen schmurgelte.

Hannes, mein Vater und Ann mussten immer wieder testessen, aber zufrieden mit dem Ergebnis war keiner von uns.

»Es fehlt das gewisse Etwas«, sagte Ann. Heute hatten wir Vaters Möbel in das Heim gebracht, das eher an ein luxuriöses Apartmenthaus erinnerte als an ein Altenheim. Alles war sehr sauber und komfortabel. Im Eingangsbereich gab eine Rezeption. In der oberen Etage waren die Apartments, sehr schöne zwei oder sogar zweieinhalb Zimmer mit einer Pantryküche, einem großen Flur und einem Bad mit ebenerdiger Dusche. Die Türen waren sehr breit, sodass man auch mit Rollator oder Rollstuhl ohne Probleme hindurch kam.

Eine Etage tiefer gab es Zimmer mit eigenem Bad. Auch dort war alles sehr schön groß und hell, aber gab es keine Pantryküchen. Dafür aber waren an den Wänden schon Installationen für medizinische Gerätschaften angebracht, und wer es brauchte, bekam ein Pflegebett.

Noch eine Etage tiefer – im Erdgeschoss – war die richtige Pflegestation für die »Gäste«, wie sie im Haus hießen, die sich nicht mehr alleine versorgen konnten und auf vollumfängliche Pflege angewiesen waren.

»Ich ziehe in der dritten Etage ein«, sagte mein Vater mit seinem unverwechselbaren trockenen Humor, »und werde immer weiter nach unten wandern. Es wird im Keller enden und von dort aus in die Erde, um die Radieschen von unten zu bewundern.«

Ann und ich waren blass geworden. »Sag das nicht, Papa«, meinte Ann mit brüchiger Stimme.

»Meine liebe Tochter, wir alle wissen, dass das Leben endlich ist. Bei dem einen früher, bei dem anderen später. Die Aussichten, den Rest meines Lebens hier verbringen zu können, finde ich sehr beruhigend. Ich kann jederzeit Dienstleistungen dazubuchen und werde somit immer optimal versorgt sein. Das ist doch wunderbar.«

Sein Bett, einen Nachttisch, einen Sessel, den Fernseher und zwei Bücherregale mit den entsprechenden Büchern hatte er mitgebracht. Er hatte den alten Küchentisch mit den Stühlen aufgestellt und die Kaffeemaschine in die Pantryküche geräumt.

»Mehr als Kaffee werde ich nicht kochen«, sagte er. »Das Essen hier ist gut. Man kann immer zwischen verschiedenen Mahlzeiten auswählen – fast wie im Restaurant.«

»Aber heute isst du noch nicht hier«, sagte Ann und zog ihn mit sich. »Heute probieren wir die nächste Version von Maos Füllung.«

Doch nun saßen sie am Tisch und verzogen die Gesichter.

»Es fehlt einfach immer etwas«, sagte auch Vater. »Aber ich kann dir nicht sagen, was.«

»Fondue«, sagte ich und seufzte. »Oder Raclette. Ich wäre für Raclette – da können wir oben grillen und unten überbacken. Wir finden für jeden etwas, was ihm schmeckt.«

»Raclette ist super«, meinte Ann. »Aber nicht an Weihnachten. Das geht nicht. Es muss Gans geben.«

»Ich mach euch eine Gans, kein Problem. Aber ohne Füllung.«

»Dann ist es aber nicht richtig«, meinte nun auch Vater. »Das schmeckt doch nicht.« Er sah zur Nische, dort wo früher Sams Kissen gelegen hatte. »Wo ist eigentlich Sam?«

»Papa … Sam ist tot.«

»Ach, ja richtig, richtig«, sagte er traurig und sah mich dann an. »Willst du nicht einen neuen Hund haben? Es ist so seltsam, bei dir zu sein, und es ist kein Hund da.«

»Nein!«, sagte ich entschieden. »Ich kann Sam nicht ersetzen. Es gibt keinen Hund wie ihn. Und ich könnte keinen neuen Hund lieben.«

»Quatsch!«, sagte Ann. »Natürlich gibt es keinen Hund wie Sam – aber andere Hunde, die dann so sind, wie sie sind. Du brauchst einen Hund, Mao, das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.«

»Ich will aber keinen mehr«, sagte ich bockig. »Ende des Themas.«

»Was machen wir denn jetzt mit deinem Haus, Harald?«, fragte Hannes sanft. Wie immer wusste er geschickt das Thema zu wechseln.

»Was sollen wir schon damit machen?«, fragte Vater ein wenig verärgert. »Ich brauche es nicht mehr. Ihr werdet es erben – zu gleichen Teilen, Mao und Ann. Macht damit, was ihr wollt. Und jetzt möchte ich … nach Hause. Also in mein neues Zuhause. Die erste Nacht dort. Ich bin sehr gespannt, wie das werden wird.« Vater erhob sich und sah Hannes erwartungsvoll an.

»Ist gut, ich fahre dich.«

»Und wenn ich wiederkomme, wäre es schön, wenn du die Füllung noch mal gekocht hättest. Du bist ja nahe dran, Mao.« Vater Worte klangen ein wenig gönnerhaft, was mich ärgerte. Aber dann schluckte ich meinen Ärger schnell wieder herunter. Vater würde nun die erste Nacht in seinem selbst gewählten neuen Zuhause verbringen. Er tat es mit stoischer Ruhe und scheinbarer Gelassenheit, doch ich war mir sicher, dass er ziemlich nervös war. Er hatte diese Entscheidung getroffen, auch für uns, damit wir uns nicht um ihn sorgen mussten.

»Er beeindruckt mich«, sagte ich zu Ann und schenkte uns beiden ein weiteres Glas Rotwein ein. »Er fasst den Entschluss und zieht es durch.«

»Ja, es ist das Beste, was er machen konnte, und das weiß er auch.«

»Natürlich weiß er das, Ann. Dennoch.«

»Aber das Haus, was wird nun damit? Ich kann es nicht verkaufen, und ich glaube, das ist rechtlich auch nicht so ganz einfach. Aber vielleicht können wir es vermieten. Es leer stehen zu lassen ist sicherlich die schlechteste Lösung.«

»Erst einmal müssen wir es entrümpeln. Gibt es Sachen, die du haben willst?«

Ann schaute mich mit großen Augen an. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« Sie nippte an ihrem Glas. »Aber ja – sicher. Es gibt bestimmt Dinge, die ich behalten möchte. Es sind ja auch noch Erinnerungen an unsere Kindheit und an Mutter da.«

»Dann sollten wir am Wochenende vielleicht hinfahren und in Ruhe durch das Haus gehen.«

»Gut, abgemacht. Und dann kannst du ja auch noch eine weitere Füllung ausprobieren. Papa hat Recht – du kommst dem Original immer näher.«

»Raclette. Das kann sehr lecker sein«, sagte ich. »Wirklich. Wir werden es lieben und nie wieder etwas anderes machen wollen.«

»Gans. Mit Füllung. Und Plumpudding.«

***

Der Herbst zeigte sich von seiner bunten und schönen Seite, als wir am Wochenende zu unserem Elternhaus fuhren. Die abgeernteten Stoppelfelder lagen staubig im Sonnenlicht, das seine Kraft mehr und mehr verlor. Der Rosskastanienbaum vor dem Haus winkte mit roten und gelben Blättern, ein paar vertrocknete kupferbraune trudelten vor uns zu Boden, so als würde der Baum sie absichtlich auf unserem Weg ausstreuen.

Schon unzählige Male hatte ich die Tür aufgeschlossen. Aber nun war es anders, und ich zögerte. Dann stupste mich Ann in den Rücken. Ich sah sie an, ihr Gesicht war plötzlich ganz klein und wirkte ein wenig verängstigt.

»Nun mach schon«, murmelte sie, und entschlossen steckte ich nun den Schlüssel ins Schloss. Er drehte sich leicht wie immer, dabei hatte ich angenommen, dass er klemmen und uns den Eintritt schwer machen würde. Ich öffnete die Tür, und wir traten in den Flur, blieben einen Moment stehen. Vater war erst vor ein paar Tagen ausgezogen, und doch wirkte das Haus jetzt schon seltsam verlassen. Sicherlich bildete ich mir nur ein, dass es staubig und ein wenig moderig roch. Vater hatte nicht viele Möbel mitgenommen, und trotzdem hatte ich den Eindruck, als ob unsere Schritte im Flur hallten.

Ann war stehen geblieben, sie atmete schneller und flacher. »Es ist … gespenstisch«, wisperte sie. »Wie in einem dieser ›Lost Places‹, weißt du, was ich meine?«

Ich nickte. »Ja«, flüsterte ich zurück. Warum flüsterten wir? Ich kam mir ein wenig wie ein Eindringling vor, als würde ich etwas Verbotenes tun, aber das stimmte ja gar nicht. Also räusperte ich mich. »Sollen wir zusammen schauen gehen, oder willst du das lieber alleine machen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Ann verwirrt. »Ich habe das Gefühl, wir sollten wieder gehen.«

»Ja, das habe ich auch. Aber wann willst du das dann machen? Meinst du, du fühlst dich nächste Woche anders? Oder in einem Jahr?«

»Möglicherweise. Papa lebt ja noch. Was, wenn er nächste Woche beschließt, zurückzukommen? Vielleicht gefällt es ihm ja gar nicht im Heim. Er könnte ja durchaus wieder hier einziehen.«

Entgeistert sah ich meine Schwester an. »Ja, das stimmt«, sagte ich. »Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht. Aber nun sind wir einmal hier. Wir müssen ja nichts mitnehmen. Wir wollen uns nur einen Überblick verschaffen, oder?«

»Ganz genau.« Ann atmete erleichtert aus. »Ja, so ist das.« Entschlossen ging sie ins Esszimmer, blieb stehen und schaute sich um. Dann öffnete sie die Vitrine und sah sich das Geschirr an. »Mutter hat es von ihrer Mutter zur Hochzeit bekommen«, sagte sie.

In meinem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet, und ich spürte, dass ich noch nicht bereit für das war, was wir taten. »Schau du hier. Ich gehe nach oben.«

Langsam stieg ich die Treppe empor. Seltsam fremd erschien mir das Haus, in dem ich groß geworden war. Im ersten Stock waren die Schlafzimmer. Nur einen kurzen Blick warf ich hinein. Mein Zimmer hatte Tante Maude bewohnt. Sie hatte ihr Bett, einen Schrank und eine Kommode aus England mitgebracht, und die Möbel standen jetzt immer noch da. Das Bett war natürlich abgezogen und die Regale leer. Ihre Kleidung hatten wir gespendet, die anderen Sachen hatte Vater in Kartons gepackt, erinnerte ich mich. Aus Anns Zimmer war nach ihrem Auszug ein Gästezimmer geworden. Da hatte die Pflegerin, die Vater für einige Monate betreut hatte, geschlafen. Das Zimmer wirkte sehr unpersönlich. Aus dem ehemaligen Gästezimmer, in dem Tante Maude ganz früher, als wir noch klein waren, gewohnt hatte, hatte Vater nach ihrem Auszug eine Bibliothek gemacht. Die vielen Buchrücken reihten sich aneinander. Was machte man mit so einer Hinterlassenschaft? Einige Bücher würde ich sicher behalten wollen, Ann hatte bestimmt auch den einen oder anderen Favoriten, aber was war mit dem Rest?

Nachdenklich ging ich noch eine Treppe weiter nach oben. Dort war das Dachgeschoss. Spinnen hatten ihre dichten, verstaubten Vorhänge gewebt, die nun sacht im Luftzug schaukelten. Es roch abgestanden und ein wenig süßlich. Meine Nase kitzelte, und ich musste niesen. Viel war hier oben nicht – nur ein paar Kartons. Zwei davon sahen etwas neuer aus – das mussten Tante Maudes Sachen sein. Ich trug beide nach unten.

Ann war inzwischen auch durch das Haus gegangen. Sie hatte drei Romane aus der Bibliothek und Mutters silberne Zuckerdose mitgenommen. Fragend sah sie mich an. »Darf ich die haben?«

Ich nickte. »Schau, das sind Maudes Sachen. Etwas anderes mag ich nicht mitnehmen. Nicht jetzt. Sollen wir die bei mir zusammen durchsehen?«

»Ich bin verabredet … Er heißt Olli. Ein wahnsinnig netter Typ.«

»Olli? Nicht Frank?«

Ann winkte lachend ab. »Frank ist doch schon lange Geschichte. Nein, Olli kenne ich erst seit letzter Woche. Aber ich habe ein gutes Gefühl!«

»Dann viel Spaß«, wünschte ich ihr und hievte die Kartons in meinen Wagen. Ich war froh, dass sie die Füllung vergessen zu haben schien, ich hatte nämlich keine gemacht.

»Morgen komme ich vorbei. Eine gute Füllung schmeckt am nächsten Tag noch besser«, sagte Ann nun aber. »Das ist wie mit Eintopf.«

»Aber … Ich …« Doch sie hörte schon gar nicht mehr zu, stieg in ihr Auto und fuhr davon.

»Maudes Sachen?«, fragte Hannes verblüfft. »Was ist das denn?« Er half mir, die Kartons ins Haus zu tragen. »Ich dachte, dein Vater hätte ihre Kleidung weggegeben.«

»Sie hatte ja nicht nur Kleidung. Und eigentlich ist es erstaunlich, dass nur zwei Umzugskartons da waren. So wenig bleibt am Ende eines Lebens.«

Da der Abend altweibersommerlich mild war, öffneten wir die Terrassentüren und ließen die Herbstdüfte ins Haus.

In dem einen Karton war Krimskrams. Döschen mit billigem Schmuck, Stehrümchen, die jeder irgendwie irgendwo hat – Figuren, Ansichtskarten in einer Schachtel, alte Briefe. Es gab verschiedene Kästchen mit alten Kugelschreibern, Gummibändern und Büroklammern. Mehrere leere Notizblöcke. Kopfschüttelnd schloss ich den Karton wieder und öffnete den anderen. Darin waren ein paar englische Taschenbücher. Alte Ausgaben der Miss-Marple-Romane, Jane Austen und eine Gideon-Bibel. Und noch mehr Notizbücher – diesmal waren sie aber offensichtlich benutzt. Eines fiel mir auf – es wurde von einem dicken Gummiband zusammengehalten, in ihm waren lose Blätter und wohl auch Zeitungsausschnitte. Ich zog das Gummiband ab, öffnete das Buch.

›Für Miriam‹ stand auf der ersten Seite. Verblüfft sah ich Hannes an. »Was mag das sein?«

»Nun schau schon nach«, sagte er und klang genauso neugierig, wie ich mich fühlte.

Ich blätterte um und fand sorgfältig notierte Rezepte auf Englisch – aber am Ende jedes Rezeptes hatte sie die Mengenangaben in Gramm und Kilo umgerechnet, statt in Pfund und Cup. Zuerst waren es all die kleinen Alltagsgerichte, die sie uns gezaubert hatte. Manchmal lagen Zettel als Ergänzungen dabei, hin und wieder auch inzwischen vergilbte Ausschnitte aus Kochzeitschriften oder sogar Seiten aus alten Kochbüchern.

Ich blätterte und blätterte, und da waren sie dann: die Weihnachtsrezepte. Gans, Plumpudding, Früchtekuchen, Erbsenpüree, Quetschkartoffeln aus dem Ofen (»unbedingt mehlige Kartoffeln verwenden!«) und auch drei Rezepte für verschiedene Füllungen.

Ich musste das Buch wieder schließen, Tränen stiegen mir in die Augen. Tante Maude hatte immer ein großes Gewese um ihre Rezepte gemacht, aber nie verraten, dass sie sie für mich aufgeschrieben hatte. Aber sie hatte es getan! Und ganz sicher hätte sie mir das Buch irgendwann gegeben, wenn sie es gekonnt hätte, doch das Schicksal hatte zu unerwartet und zu früh zugeschlagen. Vielleicht hätte ich dieses Buch nie gefunden, hätte nie davon erfahren. Vater hätte auch alles zusammenpacken und wegschmeißen können – aber das hatte er nicht getan.

»Es sind wirklich die Weihnachtsrezepte?« Hannes lachte. »Wie großartig! Nun ist das Weihnachtsfest gerettet. Was für eine wunderschöne Überraschung.« Er holte uns einen Drink. »Lass uns auf Tante Maude anstoßen. Und auf ihre herrlichen Stuffings.«

Wir hoben das Glas, sahen uns an und lächelten beide.

»Du wirst es niemandem sagen, nicht wahr?«, fragte Hannes. »Du wirst sie überraschen?«

Ich nickte nur. »Es gibt Raclette«, sagte ich verschmitzt. »Das werde ich sie glauben lassen.«

»Dann werden sie das Fest bei uns verweigern«, warnte mich Hannes.

»Nein, das werden sie nicht. Weder Vater noch Ann wollen an Weinachten alleine sein. Sie werden sich seufzend fügen – und dann – tada – wird es Gans und Stuffing geben. Und einen brennenden Plumpudding.« In mir war alles ganz froh. Es würde ein anderes Weihnachtsfest werden als sonst, aber auch mit vertrauten Ritualen und Nuancen.

Und noch etwas fand ich in dem Karton: eine Schachtel mit den alten Baumkugeln, sorgsam in Seidenpapier eingewickelt, und außerdem den kleinen Engel aus Wachs mit seinem roten Samtkleid, der immer auf der Spitze des Weihnachtsbaums zu sitzen hatte. Ich hielt ihn in der Hand, strich mit dem Finger über den alten, etwas brüchigen Samt und blinzelte die Tränen weg. Es waren Freudentränen und zugleich aber auch Tränen der Trauer. Dieser Engel hatte schon auf der Baumspitze gesessen, als meine Mutter und Tante Maude noch Kinder gewesen waren. Das hatte sie jedes Jahr erzählt, wenn wir alle gemeinsam den Baum schmückten.

Als Ann am nächsten Tag zum Essen kam, hatte ich das Raclette-Gerät aufgebaut. Ich hatte es erst letzte Woche neu gekauft und gestern noch schnell alle möglichen Zutaten besorgt.

Entsetzt sah sie mich an. »Nicht dein Ernst?«

»Oh doch«, sagte ich mit fester Stimme. »Du kannst immer noch entscheiden, dass du lieber Gans hättest, aber dann musst du sie zubereiten. Ich mache es jedenfalls nicht.«

Sie zeterte noch ein wenig, fügte sich dann aber geknickt. »Vielleicht wird es ja doch ganz schön. Aber Papa … Er wird enttäuscht sein.«

»Und es vermutlich schon bald wieder vergessen haben.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, meinte meine Schwester und lud sich Kartoffeln und Käse in ihr Pfännchen.

***

Der Herbst schritt voran, die Luft wurde immer kühler, die Tage kürzer. Es war ein Herbst mit viel Regen, mit grauen Stunden. Auf den gefährlich schlüpfrigen Gehsteigen häufte sich das schwarze, faulende Laub. Wenn ich meinen Vater abholte, hakte ich ihn ganz fest bei mir unter und ging ganz langsam, obwohl sein Schritt immer noch fest und sicher war.

Über das Haus sprachen wir nicht mehr. Stattdessen erzählte er von den Brettspielnachmittagen mit den anderen »Gästen« des Heims sowie vom Gedächtnistraining und schwärmte von der guten Küche und dem abwechslungsreichen Essen dort. Er blühte ein wenig auf, war mein Eindruck.

»Wir sind eine Truppe von vier und sitzen immer zusammen an einem Tisch. Karl-Heinz schüttet gerne Maggi auf sein Essen – nicht nur in die Suppe, nein, auf alles, wirklich auf alles. Das wissen sie schon, also steht auf unserem Tisch immer eine Flasche Maggi. Und sie wissen auch, wie ich mein Frühstücksei möchte: Sechs Minuten, nicht länger und auch nicht kürzer. Und das machen sie mir. Jeden Morgen. Ist das nicht wunderbar?«, erzählte er begeistert. Er hatte viel zu erzählen – immer passierte etwas, und er entdeckte etwas Neues. Das er manche dieser Sachen jede Woche erneut entdeckte, störte mich nicht. Ich hörte es mir jedes Mal so an, als würde er es zum ersten Mal erzählen.

Ende November kam er mir ganz aufgeregt entgegen. »Stell dir vor – zu Weihnachten gibt es Gans bei uns im Hausrestaurant. Gans. Weihnachtsgans.« Sein Blick hatte etwas Vorwurfsvolles.

Ich schluckte. Seit Wochen erzählten wir ihm, dass wir Raclette machen würden, und inzwischen hatte er die Kröte auch geschluckt. »Hauptsache wir sind alle zusammen«, hatte er gesagt. Aber nun? Sollte ich ihm nun gestehen, dass es bei uns auch Gans geben würde? Die hatte ich schon längst beim Bauern vorbestellt. Und die Füllungen hatte ich heimlich nach Tante Maudes Rezept probegekocht – sie waren fantastisch und schmeckten genau so, wie sie schmecken sollten.

»Möchtest du Weihnachten lieber dort essen?«, fragte ich unsicher.

»Man kann auch Gäste einladen. Dafür muss man bezahlen«, erklärte er. »Aber das würde ich machen. Ihr könntet alle zu mir kommen und wir könnten Weihnachtsgans essen.«

»Meinst du denn, dass sie so schmecken würde wie die Gans von Tante Maude?«, fragte Hannes.

Vater sah ihn an, dann runzelte er die Stirn. »Vermutlich nicht«, brummte er dann. »Nein, wohl kaum.«

»Wir würden schon kommen«, sagte ich nun. »Und es natürlich auch bezahlen, wenn du lieber dort feiern möchtest …«

»Raclette«, sagte Vater. »Wir machen Raclette. Das haben wir ja so beschlossen.«

»Ich habe eine Überraschung für dich.« Ich schaute ihn an und grinste. »Heute ist der letzte Sonntag im November vor dem Advent. Weißt du, was an diesem Tag ist?«

»Stir up, we beseech thee, O Lord, the wills of thy faithful people«, rezitierte Vater sicher. »Heute ist Stir-up Sunday?«

Ich nickte. Als Kind hatte ich immer gedacht, dass »stir-up« von zusammenrühren kam, aber es lag an dem Gebet, dass man an diesem Tag sprach. »Erhebe dich, oh Herr …« Aber gleichzeitig war dies auch der Tag, an dem man traditionell den Plumpudding zubereitete, denn er musste ein paar Stunden gedämpft werden und dann für einige Wochen durchziehen – je länger, desto besser. Also hatte sich die Tradition verbreitet, dass die Familie sich an diesem Tag traf, um den Pudding zusammenzurühren. Der Teig war früher aus Fleisch und viel Fett gewesen, Gewürze kamen hinzu, Trockenobst. Aus Deutschland, so hatte es mir zumindest Tante Maude erzählt, kam um 1700 schließlich ein fleischloses Rezept. Während diese Tradition und das Rezept hier inzwischen vergessen war, hatte Prinz Albert, der Mann von Königin Victoria, daraus eine der wesentlichen englischen Weihnachtstraditionen gemacht.

Das Rezept war aufwendig und die Teigmasse sehr schwer und klebrig – deshalb kauften inzwischen die meisten Engländer ihren Plumpudding heutzutage, aber wir hatten ihn immer selbst gemacht.

Ich hatte auch Ann heute zu uns eingeladen, aber weder ihr noch Vater verriet ich, dass ich Tante Maudes Rezepte gefunden hatte. Ann kam kurze Zeit später, und als ich die Tür öffnete, entdeckte ich einen jungen, sympathisch wirkenden Mann an ihrer Seite.

»Das ist Olli«, sagte sie und drängte sich an mir vorbei ins Haus. »Es ist doch okay, dass ich ihn mitgebracht habe?« Es klang wie eine Frage, war es aber natürlich nicht.

»Hallo, Olli«, begrüßte ich ihn und führte ihn in die Küche, wo Hannes schon die Becher mit Glühwein – natürlich selbst gemacht und keine Plörre aus dem Supermarkt – auffüllte.

»Ich fasse es nicht, dass du doch einen Plumpudding machen willst«, sagte Ann fröhlich. »Wo wir doch gar keine Gans essen werden.«

»Man muss ja nicht mit allen Traditionen sofort brechen«, sagte ich. »Und ich finde, der Stir-up Sunday ist ein schöner Termin, um die Weihnachtszeit einzuläuten.«

»Aber du hast doch gesagt, dass deiner nicht so schmeckt wie Tante Maudes.«

»Das stimmt«, sagte nun Hannes und reichte ihr einen Becher. »Aber schlecht schmeckt er auch nicht. Vielleicht gewönnen wir uns ja an den Geschmack – und es wird reichlich Brandybutter dazu geben.«

»Na gut«, sagte Ann. »Ich glaube, damit kann ich leben. Das ist immer noch etwas anderes als schlechte Füllung, die geht gar nicht.«

»Und deshalb«, sagte Hannes, »wird es ja Raclette geben.«

»Heiligabend gibt es bei uns immer Fisch«, sagte Olli. »Meistens Forelle. Das hat irgendeinen Grund, aber ich habe ihn vergessen – die Schuppen bringen Glück und Geld oder so. Und am ersten Feiertag essen wir Fondue.«

»So hat jede Familie ihre eigenen Traditionen«, meinte Vater. »Wir ändern nun unsere ein wenig – aber das ist ja auch nicht verboten. Wer sind Sie nochmal, junger Mann? Kennen wir uns schon?«

»Das ist Olli, mein Freund«, sagte Ann.

»Sollte ich mir den Namen merken?«, murmelte mein Vater. Hannes und ich sahen uns an und grinsten.

»Ich habe alle Zutaten besorgt. Nun müssen wir sie nur noch zusammenrühren. Dabei gibt es einige Regeln zu beachten«, erklärte ich Olli. »Hast du schon mal einen Plumpudding gemacht?«

»Nein, dieser Zusammenrührtag ist etwas ganz Neues für mich!«

»Nein, nein«, sagte Vater und erklärte ihm den Zusammenhang mit dem Book of Common Prayers der anglikanischen Kirche.