Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung - Corinna T. Sievers - E-Book

Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung E-Book

Corinna T. Sievers

3,9

Beschreibung

Die Autorin erzählt in düsterer Knappheit, frei von Larmoyanz und Schockeffekten, Utes Geschichte: In trostloser Armut wächst sie in den Siebziger Jahren in einem westdeutschen Ostseebad auf, geboren mit Hasenscharte und sechs Fingern an jeder Hand, unerwünscht, vom Stiefvater sexuell missbraucht. Schön ist das Leben erzählt aber auch von Utes Widerstand und von der zarten Liebe zum türkischen Mitschüler Volkan. Schließlich rächt sich Ute an ihren Peinigern, den hänselnden Mitschülern, dem Stiefvater, der stillschweigend duldenden Mutter. Ein Buch, das bestürzt und zornig macht, aber trotz allem auch hoffen lässt.

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CORINNA T. SIEVERS

SCHÖN IST DAS LEBEN UND GOTTES HERRLICHKEIT IN SEINER SCHÖPFUNG

ROMAN

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2012

Originalveröffentlichung · Erstausgabe August 2012

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Druck und Bindung: CPI Moravia Books

1. Auflage

Print ISBN 978-3-89401-760-6

E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-082-2

E-Book PDF ISBN 978-3-86438-083-9

Eine Kreisstadt

1966

Die Frau hatte aufgegeben zu pressen, lag bewegungslos da, schrie erst wieder, als die nächste Wehe kam. Die Hebamme nahm einen Ballen Stoff und drückte ihn auf den weit geöffneten Mund. Das Brüllen erstickte, der Geruch von Fäulnis verwehte, die Hebamme entfernte den Knebel und lief zum Telefon.

Sie rief den Arzt im Dienst: »Jetzt schon vier Stunden«, er antwortete: »Ich komme.«

Zwanzig Minuten später war er da, murmelte eine Entschuldigung, trat an das Bett: »1,2 Promille«, und: »Außerdem jede Menge Valium, sagt das Labor, ein Wunder, wenn das Kind lebend zur Welt kommt.«

Die Hebamme schwieg, tot oder lebendig, sie wollte hier weg.

»Wir nehmen die Zange«, sagte der Arzt, griff hinter sich und rief: »Wir holen jetzt Ihr Kind!« Er drückte die weichen Schenkel der Gebärenden auseinander.

Die Frau bäumte sich auf, aus ihrer Kehle ein Röcheln. »Tut mir leid, aber wir können Ihnen nichts geben. Sie hatten schon genug.« Der Arzt stemmte sich mit den Füßen gegen das Bettgestell und zog: »Halten Sie sie fest!«, sein Gesicht rot. Die Hebamme eilte ans Kopfende und packte die schweißnassen Achseln der Frau.

Der Damm riss wie ein Stück Pergament. Ein schmatzendes Geräusch, der Arzt warf die Zange zu Boden, fasste das Kind am Schädel, zog es durch die wunde Öffnung, den Rumpf, die Beine, entwirrte die Nabelschnur, klemmte sie ab und trennte sie durch, hob das Neugeborene an den Beinen in die Luft und schlug es auf das winzige Hinterteil, wieder und wieder: »Hab ich’s doch gewusst«, holte aus und schlug ein letztes Mal.

Ein Schrei ertönte, der Arzt hob die Augenbrauen, legte die Kreatur auf ein Tischchen, betrachtete sie, drehte und wendete den kleinen Leib, winkte der Hebamme: »Sehen Sie sich das an«, als sie näher trat: »Eine Hasenscharte. Sechs Finger und sechs Zehen. Wer weiß, was noch.« Er zuckte die Schultern. »Rufen Sie den Kinderarzt. Ich nähe den Damm, und dann ab durch die Mitte.«

Ein Dorf

1966

Die Frau ließ sich sinken und presste. Die Exkremente brachten ihre Hämorrhoiden zum Platzen und landeten blutig in der Schüssel. Der gerissene Damm war nie ganz verheilt.

Sie wischte sich flüchtig ab, spülte und schlurfte zurück in die Küche.

Der Säugling lag auf dem Boden und wimmerte. Neben ihm hockte seine Schwester und sang: »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs«, berührte die winzigen Finger und lachte.

Im Sommer hatten die Ärzte am Krankenhaus die gespaltene Lippe verschlossen. Man hatte den Eingriff zum ersten Mal durchgeführt und nannte sich nun »Zentrum für Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten«.

Die Schwester beugte sich über das Gesichtchen, betrachtete es konzentriert: »Du siehst aus wie ein Schaf.« Sie strich über die breite, flache Nase, die ohne Philtrum in eine aufgeworfene Lippe überging.

Der Säugling schrie lauter, die Schwester blickte auf. »Mama, sie hat Hunger. Soll ich ihr was geben?« Ihre Mutter zuckte die Schultern: »Kann nicht schaden.«

Das Kind sprang auf und trat an den Kühlschrank, öffnete die Tür: »Da ist keine Milch mehr«, wandte sich an die Mutter und bettelte: »Darf ich zum Konsum gehen?«

Die Mutter seufzte, erhob sich und ging an das Regal. Auf dem obersten Brett stand eine alte Konservendose, aus der sie eine Münze zog.

Das Kind legte den Kopf schief: »Darf ich Ute mitnehmen?«

»Meinetwegen«, sagte die Mutter, »aber lass keinen an sie ran.«

Ihre Tochter eilte zur Spüle, griff nach einem gebrauchten Geschirrtuch und legte es über Mund und Nase des schreienden Säuglings, wendete den kleinen Kopf und machte einen Knoten. Sie packte das Bündel und verließ die Wohnung.

Vor dem Haus stand ein Kinderwagen mit rostigen Rädern. Die Schwester legte den Säugling hinein, deckte ihn zu und schob singend davon.

Das Dorf an der Ostsee war klein, von Juni bis September kamen Badegäste, danach herrschte Stille. Der reichste Bauer war Bürgermeister, sein Stellvertreter vermietete Strandkörbe, im Winter flickte er sie. Es gab einen Konsum und eine Post, ein kleines Kaufhaus mit Namen Puck und außerdem eine Fleischersfrau, die nie geheiratet hatte, einen Schuster, den Juwelier und einen Zahnarzt.

Die Schule bestand aus zwei Zimmern, die Kinder der ersten bis vierten Klasse wurden gemeinsam unterrichtet.

Der Säugling war nicht die einzige Missgeburt im Dorf. Die Toilettenfrau an der Strandpromenade: ein Albino mit schlohweißem Haar und blutroten Augen; der Minigolfpächter: ein Buckliger. Der Dorftrottel hockte vor dem Konsum und bettelte.

Er sah das Kind kommen und erhob sich freudig. Sein Unterkiefer stand vor, seine Zungenspitze hing hinaus: »Gib mir das Menschlein«, er griff in den Kinderwagen. »Lass das!«, schrie die Schwester und schlug nach seinem Arm. Er trat zurück, lächelte entschuldigend, verbeugte sich und ließ das Mädchen vorbei. Ein Speichelfaden rann aus seinem Mund.

Das Mädchen rümpfte die Nase, hob das schreiende Kind von seinem Lager und betrat den Laden.

Die Kassiererin streckte den Rücken und spähte. Noch hatte keiner gesehen, was sich unter dem Tuch verbarg, doch man munkelte, es müsse ein riesiges Feuermal sein oder eine haarige Warze.

Die Schwester tänzelte zwischen den Regalen, fand, was sie suchte, ging an die Kasse und bezahlte einen Liter Milch, riss den Karton auf und tauchte den schmutzigen Zeigefinger ein. Sie schob die Hand unter das Tuch in das schnappende Mündchen. »Ist schon gut«, murmelte das Kind, tauchte den Finger wieder ein, bis der Säugling Ruhe gab.

»Hätte es die Schwester nicht gefüttert, wäre das Kleine längst tot«, sagte die Frau von der Fürsorge, denn die Brüste der Mutter waren schlaff und leer, und das Fläschchen zu geben vergaß sie regelmäßig.

1969

Der Winter war hart, und die Kinder gingen nicht mehr vor die Tür, hockten auf dem Küchenfußboden und spielten mit trockenen Erbsen. Die Mutter saß am Tisch und hielt sich den Kopf.

»Meins, meins, meins«, krähte die Kleine, doch man verstand sie nicht, da sich die Spalte zwischen Mund und Nase wieder geöffnet hatte. »Eine Fistel«, stellten die Ärzte am Krankenhaus fest, »so etwas kommt vor.«

»Du klingst wie ein Schwein«, sagte Marianne, die Große, »oink, oink, oink«, und wischte der Kleinen den Rotz aus dem Gesicht, mit dem Ärmel, der schon eine Kruste hatte.

Sie schielte zur Mutter, die ihr böse war, denn Marianne hatte den Briefträger einen Blick auf das unverhüllte Gesicht der Schwester werfen lassen. Jetzt wusste es jeder im Dorf, dass das Kind eine Missgeburt war, warum auch nicht, dachte Marianne, die Letzten werden die Ersten sein, hatte der Pfarrer gesagt, und das Letzte war Ute bestimmt. Das sagten sie in der Schule, auch die Großmutter sei das Letzte, weil sie für andere Leute den Dreck wegmachte, sogar auf deren verschissenem Klo.

Doch dafür wurde sie bezahlt, und für das Geld brachte sie Essen, was die Mutter nicht konnte, weil sie krank im Kopf war, seit der Vater sie verlassen hatte. Manchmal brachte die Großmutter auch einen Schein, den die Mutter in die Konservendose legte, bis er für Tabletten und Bier ausgegeben wurde.

Marianne stahl nicht, nicht von der Mutter jedenfalls, denn dafür gab es Prügel, höchstens mal im Konsum ein Päckchen Brausepulver oder Liebesperlen. Vor ein paar Tagen hatte die Kassiererin sie erwischt und ein großes Geschrei veranstaltet.

Jetzt saßen die Mutter und die Großmutter in der Küche, es war Abend, und Marianne tat, als ob sie schlief. Sie atmete langsam und schwer, wie die Mutter, wenn sie mit dem Kopf auf dem Tisch lag.

»Das Kind kommt auf die schiefe Bahn«, keifte die Großmutter, und: »Das kommt davon, dass es keinen Vater hat.« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ist ja auch kein Wunder, so, wie du aussiehst.«

Die Mutter fuhr sich durch das schüttere Haar, das roch wie Seetang im Sommer, der am Ufersaum lag und vertrocknete. Sie antwortete leise, und Marianne musste den Atem anhalten, um zu verstehen: »Es ist wegen Ute, dass Heiner fort ist. Er wollte noch einen Sohn, kein Kind mit sechs Fingern. Wenn Ute nicht wäre …«

Marianne zog sich die Decke über den Kopf, die Stimmen der Erwachsenen dumpfes Gemurmel.

Sie versuchte, sich an den Vater zu erinnern, der groß gewesen war und dick, mit einem roten Gesicht. Seine Gummistiefel reichten bis zum Bauch, er zog sie an, wenn er im Dorf die Gräben reinigte. Manchmal fand er eine tote Ente. Wenn er guter Dinge war, hatte er die kleine Marianne in einen der beiden Stiefel gehoben, so dass nur noch der Kopf heraussah. Es hatte darin nach Füßen gerochen. Wenn er abends heimkam, gab es Fleisch, und Weihnachten ein richtiges Geschenk, in glänzendes Papier eingewickelt, goldene Schleifen, einmal eine Puppe, ein anderes Mal ein Kleid mit Rüschen. Bier getrunken hatte die Mutter auch damals schon und die kleinen Pillen genommen. Wenn der Vater das sah, nahm er die Schachtel und warf sie fort.

Nach Utes Geburt war der Vater verschwunden und eine Frau von der Fürsorge aufgetaucht.

Wenn Ute verschwände, käme der Vater sicher wieder, vielleicht sogar noch vor Weihnachten. Einmal schon war ein Kind aus dem Dorf verschwunden. Es war über die Eisschollen auf das Meer hinausgelaufen und eingebrochen. Man hatte es nie wieder gefunden. »Die Fische haben es aufgefressen«, hatte die Großmutter erklärt. Seitdem erstarrte Marianne beim Anblick der Heringe in den Körben der Fischhändler an der Promenade.

Die Fische würden auch Ute auffressen. Dann wäre Marianne wieder allein, aber bald käme ein neues Brüderchen, ein schöneres, mit fünf Fingern und ohne Spalte im Gesicht. Das könnte man in der Schule vorzeigen, und keiner würde lachen.

Marianne kam unter der Decke hervor. In der Küche herrschte Stille. Die Großmutter war gegangen, musste früh zu Bett, ihr Tag begann gegen vier, dann putzte sie beim Zahnarzt, danach bei anderen Leuten, die es sich leisten konnten.

Marianne kroch aus dem Bett und schlich zur Tür. Die Mutter lag auf der Küchenbank und atmete tief, die Augen geschlossen, das Licht hatte sie vergessen. Marianne schlüpfte durch den Türspalt und löschte die Lampe. Von draußen schien der Mond durch das Fenster, der Schnee leuchtete blau. Ute lag auf einer Decke und streckte die Ärmchen von sich.

Marianne tappte zurück in ihr Zimmer, öffnete den Kleiderschrank und zog hervor, was sie fand. Zwei Hosen, drei Pullover und Strümpfe, alles übereinander, es war bitterkalt. Auf dem Flur nahm sie Schal und Mütze, außerdem die Jacke, die die Frau von der Fürsorge gebracht hatte, sie hatte Babette gehört, aus der zweiten Klasse, die immer neue Sachen bekam. Marianne schlüpfte in die Halbschuhe, violett mit goldenen Schnallen, sie mussten schön gewesen sein, bevor der Schnee seine Ränder hinterlassen hatte, jetzt waren sie zu klein, hoffentlich gab es bald neue.

Sie schlich zurück in die Küche, vorbei an der reglosen Mutter, beugte sich über Ute, hob sie an und schlang die Decke um sie. Ute öffnete kurz die Augen und schloss sie wieder, der Schwester vertraute sie mehr als der Mutter.

Marianne trat ins Freie, zog die Schultern hoch, presste das Bündel an sich und bog nach links.