Propofol - Corinna T. Sievers - E-Book

Propofol E-Book

Corinna T. Sievers

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Beschreibung

Bernard Rohr ist erfolgreicher Chefchirurg in einer Berliner Kinderklinik. Kurz vor seinem 65. Geburtstag soll er siamesische Zwillinge trennen, deren komplizierte Anatomie eine besondere chirurgische Herausforderung darstellt. Eine erfolgreich durchgeführte Operation würde ihn weit über die Grenzen Deutschlands berühmt machen. Doch es gibt ein Problem: Rohr ist auf das Narkosemittel Propofol angewiesen, um stundenlange Eingriffe durchzustehen, und auch im Privatleben soll es ihm gewisse Dienste erweisen. Ohne es wahrhaben zu wollen, hat er sich immer weiter von einem normalen Arbeits- und Familienleben entfernt. Im Operationssaal kommt es zu einem Ereignis, durch das sein Leben eine schicksalhafte Wendung nimmt. Corinna T. Sievers zeigt in ihrem neuen Roman in analytisch offener Weise die Hybris eines älter werdenden Mannes und das langsame Abdriften eines ›Halbgottes in Weiß‹, der mithilfe einer Droge seine männliche Selbstüberheblichkeit aufrechtzuerhalten versucht, und daran scheitert.

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Bernard Rohr ist erfolgreicher Chefchirurg in einer Berliner Kinderklinik. Kurz vor seinem 65. Geburtstag soll er siamesische Zwillinge trennen, deren komplizierte Anatomie eine besondere chirurgische Herausforderung darstellt. Eine erfolgreich durchgeführte Operation würde ihn weit über die Grenzen Deutschlands berühmt machen. Doch es gibt ein Problem: Rohr ist auf das Narkosemittel Propofol angewiesen, um stundenlange Eingriffe durchzustehen, und auch im Privatleben soll es ihm gewisse Dienste erweisen. Ohne es wahrhaben zu wollen, hat er sich immer weiter von einem normalen Arbeits- und Familienleben entfernt. Im Operationssaal kommt es zu einem Ereignis, durch das sein Leben eine schicksalhafte Wendung nimmt.

Corinna T. Sievers zeigt in ihrem neuen Roman in analytisch offener Weise die Hybris eines älter werdenden Mannes und das langsame Abdriften eines ›Halbgottes in Weiß‹, der mithilfe einer Droge seine männliche Selbstüberheblichkeit aufrechtzuerhalten versucht, und daran scheitert.

 

 

Die Zwillinge haben einen Körper und zwei Herzen.

Ich will den Schnitt setzen, aber es wird dunkel, ich erkenne meine Hände nicht mehr, und meine rechte Hand, diese trainierte Hand, sie arbeitet seit Jahren autonom, als brauche sie ihren Besitzer nicht mehr, diese Hand lässt das Skalpell nicht los, und sie schneidet, sie schneidet blind, der Strahl ist stark und pulsierend, aber ich sehe kein Blut, ich fühle es im Gesicht, obwohl der Mundschutz das meiste davon bedeckt.

*

Ich sterbe.

Täuschen Sie sich nicht, auch Sie sind im Begriff zu sterben, egal wie jung oder alt Sie sind.

Ein graues Haar, eine Falte sind noch nicht der Tod, das sagen Sie.

Ja doch, sage ich, das sind sie.

Ich sterbe, aber Sie glauben, dem Tod zu entkommen, und dass nur die anderen sterben. Doch eines Morgens ist er Ihnen ins Gesicht geschrieben und auf den ganzen Leib, und dieser Moment wird unumkehrbar sein.

Unter dem Begriff Verwesung wird eine Vielzahl von Prozessen zusammengefasst, die nach dem Tod eines Organismus oder nach dem Absterben von Teilen eines Organismus ablaufen. Ersetzen Sie nach dem Tod durch vor dem Tod, und Sie sind bei der Wahrheit: Ein wesentlicher Teil der Verwesung findet statt, bevor wir tot sind.

Der Name des sterbenden Mannes: Bernhard. Ich ziehe es vor, mich französisch auszusprechen, Bernard, Betonung auf der zweiten Silbe, zu meinem Bedauern lässt sich mein Nachname nicht französisch aussprechen, ich heiße Rohr.

Im Atlas der Pathologie sehen wir einen Kadaver. Es ist ein totes Schwein.

Ich bin ein lebendes Schwein, und dennoch stimmen die Stadien unserer Verwesung überein.

*

Abends Party bei einem bekannten Literaturagenten in dessen Haus, ich schreibe einen Arztroman, heutzutage braucht man einen Agenten.

Der Agent ist verheiratet, seine Frau ist um die fünfzig, im Portfolio der Agentur finden sich viele junge Autorinnen. Die Frau muss Veganerin sein, die ganze Party ist vegan, sogar der Wein.

Der Fresstrieb und der Fortpflanzungstrieb unterscheiden sich in ihrer Ausprägung nicht wesentlich, beide können auf mehr oder weniger genussvolle Weise befriedigt werden, für Fleischesser wie mich ist vegane Ernährung wie Vögeln mit einer hässlichen Frau, aber immerhin Vögeln.

Auf der Terrasse steht ein berühmter Autor. Wie es scheint, hat er sich seinen eigenen Wein mitgebracht, der ist teuer und nicht vegan.

Ich möchte schwören, Frauen haben einen Instinkt für wichtige Männer und für unwichtige. Früher fielen mir die Studentinnen in den Schoß wie Newtons Äpfel, und in einem Punkt hatte Trump recht: As long as you are a star, grab them by the pussy.

Ich war die reinste Blickfangmaschine, Sie kennen diese Klebestreifen für Ungeziefer. Kein Jahr später, und die Motten waren weitergeschwirrt. Ich war so gut wie tot.

Der berühmte Autor ist von Frauen umringt, keine trägt mehr Maske, nach der Pandemie sind ihre Lippen röter als zuvor.

Mich erkennt keine mehr oder fast keine, oder sie erkennen mich und meine Bedeutungslosigkeit, berufsbedingt registriere ich Aufmerksamkeit in kleinsten Mengeneinheiten.

Mit einem Mal: Nulllinie.

Eine Geliebte könnte einen gewissen Trost darstellen, aber natürlich kommt es darauf an. Meine: nicht mehr die Frischeste, so leid es mir tut. Seit zwei Jahren an meiner Seite, und sie liebt mich, da bin ich sicher.

Früher die Teens und Twens, jetzt habe ich Tina.

All das denke ich nur. Ich weiß nicht einmal, ob ich es denke, es wird einem Mann das Denken ausgetrieben, weil die falschen Gedanken, die eigentlich die richtigen sind, ihn zum Schwein machen.

Ich bin ein sterbendes Schwein.

Vor der Party habe ich geduscht, ich trage ein gestärktes Hemd, so gelingt es mir, über meinen Verfall hinwegzutäuschen, allerdings nur für wenige Stunden, dann kriecht der Geruch an mir hoch wie von Füßen, Frauen nehmen ihn zuerst wahr (noch immer wollen manche zur Begrüßung auf die Wangen geküsst werden).

In der Regel komme ich ihnen zuvor, greife blitzschnell nach ihrer Hand und ziehe sie an meinen Mund, notwendigerweise, ohne die Lippen aufzusetzen, ich habe schon Frauen an ihrem Handrücken schnüffeln sehen, heimlich, versteht sich, um ihn bei nächster Gelegenheit abzuwischen, am eigenen Hintern, am Tischtuch oder am Sakko ihres Begleiters, ich bin ein guter Beobachter.

Dass der Sterbende aufgrund seiner nachlassenden Sinne den eigenen Fäulnisgeruch kaum noch wahrnimmt, macht es nicht einfacher, er sieht ihn in den Augen der anderen, in einem minimalen Zurückweichen oder auch nur im Ausbleiben eines Näherrückens, wie es im geschlechtsaktiven Alter die Regel ist.

Nicht, dass ich überhaupt nicht mehr geschlechtsaktiv wäre, Tina wird nicht müde, sich an meinem Schwanz abzuarbeiten, Ausführliches zu seiner Befindlichkeit später.

Heute Abend lassen sich die Wangenküsserinnen an einer Hand abzählen, es ist kurz vor halb elf, Tina ist zu Hause geblieben, sie macht sich nichts aus Partys, und ich bin nicht traurig darüber. Denn auch für einen alten Mann ist es beschämend, sich mit einer abgetakelten Fregatte zu zeigen, dazu kommt, dass sie eifersüchtig ist.

Zugegebenermaßen kann ich nicht anders, als die Pracht fremder Frauen zu feiern, und sei es nur für einen Moment, beispielsweise im Urlaub, wenn Tina und ich am Pool abhängen und ich die Gelegenheit nutze, mich nach Brüsten und Ärschen umzusehen und die Liege der einen oder anderen zu umkreisen. Es geht mir dabei nicht um Sex, jedenfalls nicht ad hoc, ich bewundere die Schönheit an sich, als Phänomen, oder sagen wir, als Naturerscheinung, etwas, das Tina nicht begreift.

Oft liege ich nachts wach und betrachte Tinas Profil, falls sie überhaupt einmal bei mir schläft, was eher die Ausnahme ist, wir haben getrennte Haushalte, auch deshalb, weil ich die Hoffnung nicht aufgebe, dass es zur Trennung kommt. Ich betrachte Tina und zermartere mir das Hirn, welcher kosmische Zufall mir eine Wuchtbrumme an die Seite gelegt hat und warum sie noch immer da liegt, wo sie gerade liegt, und ich ihr nicht längst den Laufpass gegeben habe.

Die jämmerliche Antwort lautet: Ich bin zu schwach, sie zu verlassen. Ich warte auf den nächsten kosmischen Zufall, einen Blitz, oder dass ein anderer sich in sie verguckt und sie mir wegschnappt, aber die Zeichen stehen schlecht. Ein schrecklicher Gedanke: dass es in zehn Jahren immer noch Tina ist, die mir vor dem Frühstück einen bläst.

Noch schrecklicher: dass sie die Einzige geblieben sein wird.

Aber etwas vereint uns doch: eine Art sexuelle Gewissenlosigkeit, die daher rührt, dass wir weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren haben, und vielleicht ist dieses Band stärker, als ich mir eingestehen will.

Noch etwas muss man Tina lassen: Sie ist loyal. Als meine Verwesung einsetzte, ließ sie sich nichts anmerken, sie schluckt bis heute jedes meiner Stoffwechselprodukte, und auch wenn der Schluss naheliegt, dass meine Eier die letzten sind, die sie noch zwischen die Zähne kriegt, und sie dies weiß, ist die Hingabe anzuerkennen, mit der sie einem Mann das Sterben erleichtert, indem sie ihm den verschrumpelten Sack leckt.

Sie lässt mich mit ihr machen, was ich will und wann ich es will, sie ist, in gewissem Sinne, die vollendete Schlampe, und das begegnet einem auch nicht alle Tage.

Inzwischen habe ich alle anwesenden Frauen mit Brüsten und Muschis versehen, und denken Sie nicht, ich sei ein Sexaholic oder pervers, jeder Mann tut das.

Jetzt treffen sie zahlreicher ein, nicht mehr alle jung, aber ich mag auch die reifen Früchte, unter Umständen gebe ich ihrem weichen Fleisch sogar den Vorzug, die Umstände sind: Ihre Haut muss es hergeben.

Eine Hochbeinige kommt herein.

Sie geht auf mich zu, bleibt stehen, streckt die Hand aus. Ihr rechter Mundwinkel verzieht sich, überhaupt ist ihr Gesicht etwas schief, nicht sehr, aber unübersehbar, jedenfalls für Kenner wie mich. Das rechte Auge steht tiefer als das linke, die Nasenspitze ist verbogen, mich rühren Makel, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt.

Während ich überlege, inwieweit der Punkt überschritten ist, sagt sie: »Du bist der Chirurg.«

Die traurige Wahrheit ist: Ich war der Chirurg und tatsächlich bekannt, um nicht zu sagen, berühmt, einige Fälle fanden weltweit Beachtung.

Ich nicke. »Zurzeit forsche ich eher und publiziere.«

Ihr Mund ist von einer unglaubwürdigen Größe und Fülle, er stürzt einen Mann in Verlegenheit, und genau das soll er.

»Ich bin Coco.«

Cocos Absätze bringen ihren Arsch auf eine schwindelerregende Höhe, um es im Stehen zu treiben, ist das von Vorteil, denn schon, wenn sich Schwanz und Muschi auf gleicher Höhe befinden, wird es schwierig, es kann zu einer unangenehmen Schwanzabknickung kommen.

»Ich schreibe auch Romane«, füge ich hinzu. Coco erwidert etwas, und bevor sie fertig ist, habe ich es vergessen; schöner ist sie, wenn sie nicht spricht, das ist bei vielen Frauen so, aber man kann ihnen das Sprechen nicht verbieten.

»Sie sehen ganz anders aus als in der Zeitung.« Sie spitzt die Lippen.

Ich blicke zwischen ihrem Mund und ihren Augen hin und her, ich trage die bifokale Brille jetzt auch auf Partys.

Der Mund ist ein starker Ringmuskel, und vor lauter Lippengespitze beginnt Cocos Lipgloss, über die Ränder zu treten.

»Ist ja auch schon ein bisschen her«, erklärt sie, Frauen erklären die Dinge auch dann noch gern, wenn sie offensichtlich sind.

Glücklicherweise hat die Evolution den Ringmuskeln neben ihrer eigentlichen Bestimmung, dem Reden, weitere zugedacht, ich kam früh zu der Erkenntnis, dass diese Zweckentfremdung in der Natur Normalität besitzt (auch beim männlichen Geschlecht) und von verschiedenen Arten schon seit Jahrmillionen praktiziert wird, außer von Menschen zum Beispiel von Delfinen, sie traten zusammen mit den Vormenschen vor zehn Millionen Jahren auf, keine Schande, das nicht zu wissen, es geschah im Miozän.

Coco legt ihren Kopf in den Nacken, sie lacht, ihr Lachen ist dunkel, ihr Hals ist weiß, ich wüsste etwas anzufangen damit, ich habe eine kleine Schwäche für Gewalttätigkeiten, nichts wirklich Gefährliches.

Ebenso wenig sind der Kreativität des geschlechtsreifen Delfins Grenzen gesetzt, Weibchen stoßen ihre Schnauze in die Vagina anderer Weibchen, Männchen ihr Glied in den Anus anderer Männchen, Flossen kommen anal zum Einsatz und Penisse in Nasenlöchern, zu zweit oder in der Gruppe, ganz gleich, ob homosexuell oder geschlechterdurchmischt. Vorbildlich, möchte man meinen als Mann.

Jetzt senkt sich Cocos Kinn, die Haut ihres Halses kräuselt sich, es sind doch recht viele Makel an ein und derselben Person.

Leider dürfte sie das Gleiche denken, es liegt auch kein Trost darin, dass ich früher einmal gutaussehend war, ganz im Gegenteil. Dem Verfall zuzusehen heißt, einem Massaker beiwohnen, Körper und Potenz werden dahingemetzelt, nur der Geist funktioniert noch eine Zeitlang, das macht die Sache nicht angenehmer.

Ich hoffe, es hat sich keine Borste aus meinen Augenbrauen gestohlen, das Gestrüpp im Gesicht und in den Ohren nimmt zu, ich befeuchte die Spitze meines linken kleinen Fingers und streife die Brauen glatt.

Coco lächelt, wenn Frauen überhaupt noch in meiner Gegenwart lächeln, dann über mich, sie sagt: »Alles gut.«

Das Gespräch, wenn man es so bezeichnen kann, entwickelt sich in die falsche Richtung, aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben, vielleicht war es doch ein zutrauliches, wohlwollendes Lächeln, und Coco bringt endlich die Rede auf die Zwillinge. Mein letzter Trumpf bei Frauen: das Wagnis, ein Herz an zwei Kinder zu verteilen, auch wenn ich mir in der Sache einen anderen Ausgang gewünscht hätte.

Coco: »Übrigens, wir sind Kollegen, ich bin Zahnärztin, ich behandele die Familie des Agenten.«

Tatsächlich habe ich ein schwieriges Verhältnis zu Zahnärztinnen, jedenfalls bis eben. Neben dem Geschlechtsteil ist das am stärksten vom Verfall bedrohte Organ das Gebiss, und in den vergangenen Jahren ging es bedauerlich abwärts mit meinen Zähnen, beim letzten Besuch erklärte mir meine Zahnärztin (ich sah sie danach nie wieder), warum ich jetzt, da sich das Alter bemerkbar mache, doppelt so häufig erscheinen müsse wie früher.

Das erzähle ich Coco nicht, weil mir damals klar wurde, dass Zahnärztinnen den Schmerz gegen einen Mann gezielt einsetzen, psychisch und physisch, meine Zahnärztin sprach in einem ungerührten Ton, als handelte es sich ihr gegenüber nicht um einen Mann, sondern um ein alterndes Tier, böse, borstig und ergraut, ohne Würde und ohne Fähigkeit zur Scham.

Mit dem Rückgang des Zahnfleisches entstünden Nischen, in denen sich die Speise verklemmen und gären könne, und ich stimmte ihr zu, eine unangenehme Vorstellung. »Mundgeruch«, sagte sie, »das wollen wir doch nicht«, und zauberte ein Ding hervor, das einer Zahnbürste ähnelte, jedoch war der Stiel viel dünner, oben saß nur ein winziges Büschelchen Borsten. Ich überlegte, was man damit anfangen könnte, der Zahnärztin die Muschi frisieren, zum Beispiel, aber ich solle das Büschel in die Zwischenräume meiner Zähne schieben, sagte sie, überall dorthin, wo früher Zahnfleisch war.

Ich bekam ein Bündel Muschibürsten und wurde verabschiedet.

Zu Coco: »Ich gehe nicht gern zu meiner Zahnärztin.«

Unterdessen hat der Agent aufgeschlossen, er hat sich neben sie gestellt, er legt seine Hand auf ihre Hüfte.

Leider führt die Anwesenheit einer passablen Frau zur Vernebelung meines Gehirns (etwas, das man bei vielen Männern beobachten kann, sie machen sich zum Hanswurst), ich sage: »Ich bin ein etwas bockiger Patient, und meine Zahnärztin hat keine Geduld mit mir, offen gesagt, sie ist eine richtige Kanaille.«

Coco lächelt eher geringschätzig als mitfühlend, und ich spüre, wie sich zwischen uns ein ganzer Graben aus weiblichem Spott und Belustigung und Hochmut auftut, es ist auch der Hochmut der Jugend, obwohl Coco nicht wirklich jung ist, aber immerhin zwanzig Jahre jünger als ich. Sie lächelt, weil meine Sprache verstaubt ist und mein ganzes Denken. Staub zu Staub.

Sie sagt: »Kopf hoch«, und nichts ist vernichtender als diese Umkehr der Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern, sie fügt hinzu: »Ich habe von den Zwillingen gehört.«

Jeder hat von den Zwillingen gehört, die ganze Welt hat von den Zwillingen gehört, jede Redaktion hat berichtet, Print und Online, den Globus hoch und runter.

Das Einzige, wofür mich Frauen noch in ihren Ausschnitt sehen lassen: noch mal die Sache mit den Zwillingen durchzuhecheln.

Cocos Brüste sind klein, nicht nur klein, sondern winzig, sehr wahrscheinlich naturbelassen, bestenfalls pflaumengroß unter der Seide des sehr roten und sehr kurzen Kleides, keine Frau wählt freiwillig Körbchengröße A.

Es gibt viel zu sagen zu den Brüsten menopausaler Frauen, zum Beispiel altern kleine besser. Da das Bindegewebe der großen der Schwerkraft stärker ausgesetzt ist, neigen sich ihre Nippel überproportional stark nach unten, wohingegen die der kleinen auch in fortgeschrittenem Alter eher himmelwärts weisen, mit gewöhnlich mehr als neunzig Grad gegenüber der Körperachse. Naturbelassen versus Silikon: alles Geschmackssache.

Der Agent ist weitergezogen, ich hätte ihm gern mein neues und fast fertiges Manuskript untergeschoben (es fehlen nur noch ein paar Seiten), aber Coco ist mir lieber, ich kann mich kaum erinnern, wann mich zuletzt eine Frau unter fünfzig geküsst hat.

Ich nehme ihre Hand und will sie zum Buffet ziehen, das ist eine Absichtserklärung, und Coco weiß es, ich drücke zu und warte auf Antwort.

*

Der schwierige Teil am Dasein als Chirurg sind nicht die Stunden im OP. Auch nicht das Überbringen einer fatalen Diagnose, sei es dem Patienten selbst oder den Angehörigen, nicht einmal, einen Patienten zu verlieren ist besonders gravierend, wenn auch ärgerlich. Kein Hahn kräht danach, solange das Malheur nicht fahrlässig herbeigeführt wird oder durch einen auffälligen Mangel an Talent. Wobei talentlose Chirurgen es durchaus weit bringen können, eine tumoröse weibliche Brust zu amputieren ist kein Kunststück, auch nicht zwanzig Zentimeter eines krebsbefallenen Dickdarms, in der Regel bringen es die Stümper sogar zum Oberarzt (allerdings selten weiter). Wenn die Patienten Glück haben, verlegt sich der zweitklassige Doktor auf die Forschung und Lehre, hält Vorlesungen oder maßregelt Assistenzärzte, die es besser können als er.

Der schwierige Teil liegt auch nicht darin, nachts geweckt zu werden, aus dem Bett zu springen, sich eine Ladung Wasser ins Gesicht zu schleudern und im Jogginganzug in die Karre zu springen, man kommt dann schon in Fahrt, bevor es fünfzehn Minuten später im OP losgeht. Stunden später bewegt man sich in die umgekehrte Richtung, der Chirurg verlässt den OP-Saal, und hier nähern wir uns dem eigentlichen Punkt, hier beginnen die Probleme.

Er steigt aus den Pantinen, wirft den rotgefleckten OP-Kittel in den Wäschesack, die Handschuhe in den Abfall (arrivierte Chirurgen verzichten auf diese Trennung), und macht sich auf den Heimweg.

Die Adern durchflutet von Adrenalin und Endorphinen, Blutdruck und Herzschlag gerade so erhöht, dass der Geist hellwach ist, aber nicht in Panik gerät, wie bei einem Raubtier Sekunden vor dem Sprung, jede Sehne auf die ideale Weise gespannt. Er steht auf Zehenspitzen, krümmt seinen Rücken, hält ein Skalpell in der Hand oder eine Säge, Sauger, Klemme, Nadel; keine Muskelfaser darf versagen, er ist niemals müde.

Einen Patienten leben oder sterben zu lassen verursacht eine Empfindung, die an Feierlichkeit nicht zu überbieten ist, das Gefühl einer Überlegenheit und Unentbehrlichkeit. Und zwar nicht, wie andere auch gebraucht werden, Richter oder Lehrer, vielmehr in singulärer Weise, was er tut, darf kein anderer. Der Weg war weit, hier stehen zu dürfen und Schädel aufzusägen oder Bäuche aufzuschlitzen, er begeht schwerste Körperverletzung und Tötung mit Einwilligung, so steht es im Gesetz, es wurde eigens für ihn und Seinesgleichen geschrieben.

Er hinterlässt den Schwestern einen blutbesudelten OP (unnötigerweise wird der Begriff Schwester ab 2023 in Pflegefachfrau geändert), er verlässt den Trakt, passiert den einen oder anderen Oberarzt und Assistenzarzt, Schwestern und Pfleger und Putzfrauen, jeder deutet eine Verbeugung an, wenn auch infinitesimal, aber da ist sie, er kennt sich aus mit Demut, wie jeder Autokrat verfügt er über ein hochsensibles Instrumentarium für Ehrerbietungen. Oder für das Gegenteil davon, gelegentlich mangelt es einem jüngeren Kollegen an Ehrfurcht, auch wenn dies höchst selten vorkommt, er vergisst es dieser Person nie, wirklich niemals, er legt demjenigen noch nach Jahren Steine in den Weg, ihm wurde auch nichts geschenkt.

Er fährt mit dem Aufzug in die Tiefgarage, auch noch hier genießt er Privilegien, sein Parkplatz befindet sich an zweiter Stelle neben der Rampe und ist breiter als alle anderen, damit er keine Zeit mit Manövern verschwendet, wenn es um Leben oder Tod geht. Er öffnet die Wagentür, sitzt einen Moment hinter dem Lenkrad und starrt gegen die Wand aus Beton, da hängt ein Schild, das ihn als Singularität ausweist, Titel und Name, man könnte meinen, er habe zu Gott aufgeschlossen.

Er startet den Wagen.

Dann lenkt er das Fahrzeug durch die Stadt, es ist früher Morgen, er sieht in graue Gesichter, sie alle sind auf ihn angewiesen, sollte ihr Körper sie im Stich lassen, sei es durch Unfall oder eigene Hand oder Krebs oder Alter. Für einen Moment ist ihm, als schwebe er über der Szenerie. Als sei dies die göttliche Ordnung, aber natürlich hat er auch ein Gewissen und Mitgefühl mit den ziellos Vor-sich-hin-Wimmelnden, und falls sie doch ein Ziel haben, ist es ohne Belang für die Menschheit.

Der schwierige Teil am Dasein als Chirurg ist das Nachhausekommen.

Damals lebte ich gerade noch mit Babette unter einem Dach (ich nannte sie seit unseren Anfängen Barbie), denn so traurig es ist, ich habe neben Tina auch eine Ex-Frau, und beide kosten mich viel Geld. So lange ist das gar nicht her, die Jungs gingen noch zur Schule, und ich schlich mich nach den Stunden im OP morgens um halb sieben durch die Haustür in den Flur, das Erwachen der Familie stand kurz bevor, wahrscheinlich störten bereits der Wecker meiner Frau oder die grässlichen Weckfanfaren von den Handys der Jungen meinen Triumphmarsch, daraufhin ertönten im oberen Stockwerk Barbies Schritte, während die Jungen gar nicht daran dachten, früher als in letzter Sekunde aufzustehen, sie schliefen weiter oder wichsten gemütlich eine Runde in ihre Bettdecken.

Das war der Moment, in dem ich schrumpfte, alles wurde mir zu groß, Jogginganzug und Schuhe und sogar die eigene Haut, in einer Minute vom Gott zum Gatten und Gartenzwerg, und es geschah mir recht. Jeder weiß, dass die Ehe eine Falle ist und erst recht die Familiengründung, unbegreiflicherweise will jeder Mann Kinder, und in gewissem Sinne hänge ich an ihnen, was nichts daran ändert, dass sie Schmarotzer sind, regelrechte Blutsauger, je länger, je mehr. Meine Frau auf der Treppe sagte: »Ich hab dich heute Nacht gar nicht gehen hören, wie war’s?« Aber sie wartete meine Antwort nicht ab. »Sei so gut und mach Kaffee, und könntest du dafür sorgen, dass die Jungs den Arsch hochkriegen?« Das sagte sie tatsächlich.

Die Umgangsformen werden nicht besser im Laufe der Ehe. Dabei sieht Barbie nicht einmal schlecht aus für ihr Alter, und dumm ist sie auch nicht. Sie hat sogar studiert und einen Teilzeitjob in einem Architekturbüro; manchmal stelle ich mir vor, ich träfe sie heute auf einer Party, dann bekäme ich vielleicht sogar Lust, sie abzuschleppen.

Ich gehorchte, und als alles auf dem Weg war, die Jungs in der Schule und Barbie beim Einkaufen, genehmigte ich mir endlich eine Dusche. Ich zog mich wieder an und schlug die umgekehrte Richtung ein, zurück in die Klinik. Für eine durchoperierte Nacht gibt es nicht frei, und das ist gut so, denn unterwegs fängt die Haut wieder an, einem Chirurgen zu passen.

Dass die Familie mein Talent nicht würdigte und mir von daher Tätigkeiten abverlangte, die in der Klinik allenfalls der kosovarischen Putzkraft aufgebürdet wurden, war schwierig, aber nicht der schwierigste Teil meines Lebens. Im Übrigen habe ich nichts gegen Kroaten und Albaner und Kosovaren, und erst recht nichts gegen Kosovarinnen, die meisten osteuropäischen Krankenschwestern sind sogar sehr nett. Ich nenne sie Jugos, daraus mache ich keinen Hehl, ich meine es nicht so. Meine Generation wird die Länder des Balkans niemals auseinanderhalten können.

Womit wir bei einer weiteren großen Schwierigkeit wären: den Krankenschwestern.

Zu Hause kaltgestellt und den ganzen Tag und die ganze Nacht von blutjungen, bildhübschen Schwestern und Schwesternschülerinnen umgeben zu sein, davon ein erheblicher Teil minderjährig, dürfte zu den größten Zumutungen meines Männerlebens gehören, regelrecht eine Gottesstrafe, mit Adam ging es los.

Ich habe mich nie an Minderjährigen vergriffen, das ist gegen meine Prinzipien, hingegen sie sich sehr wohl an mir, wenn sie am Krankenbett ihre Tittchen rüttelten und schüttelten wie ein Baum seine Äpfelchen und ich in der Hosentasche die Fäuste ballen musste, um nicht die Hände auszustrecken und ein oder zwei der Früchte zu pflücken, wofür der liebe Gott sie gemacht hat.

Mimoza war so eine. Irgendwann war sie achtzehn, zu meiner unendlichen Erleichterung, aber sie ist siebzehn oder sogar sechzehn gewesen, als sie im Schwesternzimmer auftauchte, voll entwickelt und im Vollbesitz des Instrumentariums, das einen Mann willenlos macht oder sogar in den Wahnsinn treibt. Sie saß eine Spur zu breitbeinig, trug den Kittel eine Spur zu eng und wackelte eine Spur zu munter mit dem Arsch, um von mir oder irgendeinem Mann übersehen werden zu können, auch wenn ich mir immer wieder sagte, sie sei im Alter meiner Jungs.

Der Name Mimoza ist albanisch für Mimose, die Definition im Pflanzenlexikon gab mir den Rest.

Die Mimose ist eine schamhafte Sinnpflanze mit nacktem, teilweise borstigem Stamm. Sie reagiert unter anderem auf Berührung und Erschütterung sowie schnelle Erwärmung. Nach einigen Minuten strecken sich die eingezogenen Zweige und Blätter wieder aus. Daher kommt auch der englische Name »Touch-me-not«, »Berühre mich nicht«.

Von da an sah ich Mimoza als Blume, auch wenn sie üppiger blühte als ihre Schwester aus dem Pflanzenreich. Ihr »Touch-me-not« reizte mich auf das Äußerste, und einmal in der Kantine beim Schlangestehen stieß ich versehentlich an ihre rechte Brust und erwartete atemlos das botanisch beschriebene Einklappen aller Blütenblätter.

Stattdessen zwinkerte Mimoza mir zu.

Schließlich sah ich mich einer dritten Schwierigkeit gegenüber, wahrscheinlich der größten.

Ich wünschte, ich könnte sie gelegentlich ein Gläschen Wein nennen, aber in Wirklichkeit träfe es starkes Zeug besser, und das sozusagen jeden Tag.

Daneben machten sich die beiden anderen Vergehen (Hochmut, Wollust) geradezu lässlich aus und erreichten nie und nimmer biblisches Ausmaß, denn der Konsum von Drogen konnte jederzeit in die schrecklichste aller Sünden münden, die Überschreitung des Gebotes Du sollst nicht töten (auch nicht dich selbst).

Im OP gilt aus gutem Grund eine Promillegrenze von null. Aber diese Null ist nicht irgendeine, wie sie beispielsweise für Fahranfänger gilt, es genügt nicht, dass die Leber jedes einzelne Atom des Alkohols, der am Vorabend konsumiert wurde, aus dem Blut gefischt und geschreddert hat. Die Null meint auch die Elimination aller Abfallprodukte, die einen Kater so unerträglich machen, Kopfschmerzen und Übelkeit und Schwäche, allgemeine Unlust, das braucht Zeit, achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden, was zur Folge hatte, dass ich mich allenfalls Freitagabend betrinken durfte, wenn ich Montagmorgen nüchtern sein wollte, vorausgesetzt, ich hatte überhaupt mal ein Wochenende frei. Und hier reden wir nur von Alkohol, ich hatte Kollegen, die sich fast täglich aus dem Medizinschrank bedienten, denn was liegt näher als das.

Der Medizinschrank einer chirurgischen Krankenstation hat nichts mit demjenigen eines Vierpersonenhaushalts gemein, er nimmt eine ganze Wand ein und wird ständig aufgefüllt, jeder Patient besitzt eine kleine, hässliche Box, dort hinein wandern Pillen und Zäpfchen, meistens die richtigen, aber bei Weitem nicht immer, je nachdem, wie ausgeschlafen die mit der Austeilung betraute Schwester ist oder ob sie Liebeskummer hat, und weiter geht es in die zugehörigen Münder und Ärsche der falschen Patienten, unmöglich, hier die Übersicht zu behalten, keiner, der so richtig mitzählt. Das Durcheinander hat schon dem einen oder anderen Frischoperierten das Leben gekostet, fast immer trifft es Alte. Und wen juckt ein Herzinfarkt mehr oder weniger, der oder die Schuldige wird ermittelt und entlassen und ansonsten nicht viel Aufhebens gemacht. Die Dunkelziffer ist hoch, und noch höher geht es während einer Pandemie her.

Hinter Glas und unverschlossen das übliche Zeug, Blutdruck- und Lipidsenker, Herzmittel, Diuretika zum Ausschwemmen, Schmerzmittel und leichtere Schlaftabletten, da nimmt man sich einiges für zu Hause mit, eine kleine Unkorrektheit, die quasi Üblichkeitswert hat, eher könnte man sagen: ein Privileg.

Das harte Zeug, die Betäubungsmittel, sind besser bewacht. Der Schrank ist durch ein Schloss gesichert, damit jedenfalls die Putzfrau sich nicht ständig bedient, hier wird auch ordentlich Buch geführt. Aber natürlich überprüft niemand, ob der Greis auf Zimmer acht die hundert Milligramm Tramadol auch wirklich geschluckt hat (nichts anderes als legalisiertes Morphium, und nichts anderes macht glücklicher und abhängiger) oder ob vorher ein wenig davon abgezweigt wurde, Hauptsache, in der Krankenakte steht das Richtige und für den Alten bleibt ein bisschen was übrig.

Ich bediente mich auch, aber ich war stolz darauf, behaupten zu können, von den Suchtis unter den Ärzten nicht der Süchtigste zu sein, oder eigentlich hätte ich mich nicht einmal als süchtig bezeichnet. Ich war zu der Zeit sehr gefordert, ich nahm gelegentlich etwas zum Einschlafen und gegen die Schmerzen, oder morgens, um in Gang zu kommen, für den Chirurgen ist es nicht einfach, die Waage zwischen An- und Entspannung zu halten. Auf Morphium stand ich fast gar nicht; wenn überhaupt, dann auf eine andere Droge, Propofol, ein Narkosemittel, es liegt im OP herum oder auf der Intensivstation, mein Stoff. Es ist das Zeug, an dem Michael Jackson starb, und der wusste, was er daran hatte. Er nannte es seine Milch.

Ein regelrechter Rausch bleibt aus, dafür macht es glücklich, und zwar richtig glücklich, alle Hürden fallen, Sie trauen sich jede Schweinerei zu (falls es sich um eine sexuelle Schweinerei handeln soll, schaden ein paar Milligramm Kokain nicht, aber als Arzt möchte ich nicht versäumen, vom Mischkonsum grundsätzlich abzuraten).

Kürzlich haben sich ein paar Wissenschaftler die Mühe gemacht nachzuzählen, allein im deutschsprachigen Raum trafen sie auf dreihundert bis vierhundert Propofoljunkies, fast alles Mediziner, drei Viertel lebendig, ein Viertel verstorben, ein beachtlicher Teil davon in selbstmörderischer Absicht. Das sind die offiziellen Angaben, in der Regel konsumieren Ärzte im Verborgenen, keiner traut sich, sie zu melden, somit dürfte die echte Zahl wesentlich höher liegen.

Bedauerlicherweise, oder für die Selbstmörder glücklicherweise, hat Propofol eine geringe therapeutische Breite, es muss äußerst sorgfältig dosiert werden, ein paar Milligramm zu viel, und man hört auf zu atmen, mit anderen Worten, man erstickt, glücklicherweise tief entspannt und manche sogar mit Latte.

Wenn ich mir meine Milch gab, und ich tat es nicht jeden Tag, passte ich auf wie ein Luchs, damit die Dosierung stimmte.

Noch gar nicht lange her, dass eine der türkischen Putzfrauen meinen damaligen Chirurgieassistenten ausgestreckt am Boden des Personal-WCs der Intensivstation fand, ein dümmliches Lächeln im Gesicht, bedauerlicherweise ein paar Minuten zu spät für eine Wiederbelebung. Hätte die Putzfrau eine Herzmassage durchgeführt, hätte es vielleicht noch gereicht, der sehr junge Kollege, tatsächlich war er halb so alt wie ich, hatte sich verkalkuliert, die kritische Marke von 0,5 Milligramm Propofol pro Kilogramm Eigengewicht ist unbedingt einzuhalten. Der hausinterne Pathologe erklärte sich bereit, die Ursache zu vertuschen, und stellte einen plötzlichen Herztod fest. Das geschah im Interesse der Angehörigen, und vor allem der Klinik.

Ich ließ es mir nicht nehmen, der Obduktion beizuwohnen, und der schlanke, junge Körper des toten Kollegen war mir ein mahnendes Beispiel, die Dosis ordentlich zu berechnen.

Zu Hause hatte ich auch immer eine Ampulle für den Fall, dass meine Frau mich bis aufs Mark mit ihren Vorwürfen quälte, in den letzten Jahren hatte sich bei mir nicht einmal auf Koks Lust auf sie eingestellt.

*

Auch wenn ich vergebens ihre Hand drücke, Coco reißt nicht aus, vielleicht ist sie froh, den zudringlichen Agenten los zu sein, vielleicht bin ich das kleinere Übel, jedenfalls lässt sie sich zum Buffet ziehen.

In meiner Hosentasche vibriert zum dritten Mal das Handy, und ich möchte behaupten, dass ich aus der Aufdringlichkeit und Nachhaltigkeit schließen kann, es ist Tina.

Weil ich Angst vor Tina habe, sie kann sehr wütend werden, entschuldige ich mich und lasse Coco los, die scheint nichts dagegen zu haben, sie beugt sich über einen Obstteller und beginnt, die Johannisbeeren von einem Zweig zu pflücken. Merkmal sehr dünner Frauen: dass sie beim Nahrungserwerb mehr Kalorien verbrauchen, als sie sich anschließend zuführen. Ich gestikuliere in Richtung Flur, Coco nimmt keine Notiz von meinem vorläufigen Abschied.

Außer dem Gäste-WC am Eingang steht ein zweites im Badezimmer des Agenten zur Verfügung, eine sehr mutige, wenn nicht leichtfertige Entscheidung. Mindestens die Hälfte der anwesenden Gäste halte ich für fähig, die Schränkchen zu öffnen und zu inspizieren und sich zu bedienen, ich tue es auch. Dabei gehe ich zügig vor, aber systematisch, mein Interesse ist vorwiegend berufsbedingt. Zunächst verwende ich das kostspielige Deodorant für zwei, drei Spritzer unter die Achseln, dann wende ich mich der Krankengeschichte zu.

Zeige mir deinen Badezimmerschrank, und ich sage dir, woran du stirbst.

Der Agent steht am Rande einer Herzinsuffizienz, außerdem, wenig überraschend: Er kriegt ihn nicht mehr hoch. Das Sildenafil steht in zweiter Reihe (bedauerlich für den Pharmariesen Pfizer, dass das Patent für das Original, seinen Verkaufsschlager Viagra, irgendwann auslief, aber immerhin hat Pfizer bis heute fast achtzehn Milliarden Dollar umgesetzt), daneben hat er einen Diabetes Typ II.

Übergewichtige Patienten wie den Agenten auf dem Tisch zu haben, ist eine Strafe, man muss sich durch viele Zentimeter Fettgewebe wühlen, zudem sind die Dicken eine Zumutung für das Pflegepersonal, ein Frischoperierter muss mehrmals am Tag umgelagert werden, er könnte sich wund liegen, sein Bett muss bezogen und ihm die Bettpfanne unter den Hintern geschoben werden, der Agent dürfte über hundert Kilo wiegen.

Ich pinkele im Stehen, das lasse ich mir nicht nehmen, auch wenn die Agentenfrau ein selbstgemaltes Schild mit rot durchgestrichenem, aufrecht pissendem Männchen aufgehängt hat. In letzter Zeit kommt etwas weniger Urin, dafür muss ich öfter; wenn alles schrumpft, beginnt die Prostata zu wachsen, sie stranguliert die Harnröhre, bis im ungünstigsten Fall nichts mehr durchgeht, das ist ein Höllenschmerz. Bevor ich mich auf Kinderchirurgie spezialisierte, habe ich die eine oder andere Prostata operiert, am Anfang meiner Karriere mehr oder weniger schonend, später unter Zuhilfenahme des Operationsroboters, er heißt Da Vinci, was mir immer gefallen hat, irgendwann wird Da Vinci den Arzt an der Steuerkonsole nicht mehr brauchen.

Mein Schwanz tröpfelt, und in diesem Moment überwältigt mich die Erkenntnis, dass keine Frau der Welt, egal wie jung oder alt, diesen Pipimann noch schön finden kann, ganz zu schweigen davon, dass sie ihn befingern will.

Geschätzt hat er in den letzten zwanzig Jahren zwei Zentimeter lichte Höhe eingebüßt, er war nie der Größte, bestenfalls Durchschnitt oder etwas darunter, trotzdem machte er was her, er stellte sich ruckzuck auf, über seine Standfestigkeit konnte sich keine beklagen, weder meine Frau, als ich noch mit ihr schlief (eine gewisse Zeit war ich sogar treu), noch das Personal.

Doch sehen wir der Tatsache ins Auge, dass das Testosteron mit jedem Jahr weniger wird, was anfangs nicht groß auffällt und dann plötzlich doch, wenn der Arschfick nicht mehr geht.

Das Bindegewebe schrumpft, der Schwellkörper wird leck, das Einzige, was hilft: wichsen, wichsen, wichsen.

Wogegen es nicht hilft: eine steckrübenartige Violettverfärbung.

Ich schüttele ihn, ich will die Agentenfrau ärgern, indem ich ein, zwei Tropfen Urin auf der Klobrille hinterlasse, ich fürchte die Frauen für ihre Macht über mich. Ich fürchte sie dafür, ihre Muschis zu brauchen, darum habe ich mir vor der Party einen Shot gesetzt, genau genommen fürchte ich sie grundsätzlich.

Vor dem WC eine Schlange anderer älterer Herren. Ich drehe eine Runde, Coco ist nirgendwo zu sehen. Ich hole mir ein Glas Chablis, mir fällt Tina ein, vor lauter Schwanzbetrachtung habe ich sie vergessen.

Auf der Mailbox ihre Tirade, sie ist schlecht darin, ihre Eifersucht zu verbergen, sie wird heute Abend einen Liebesbeweis einfordern.

Ich werde auf ihr Gesicht abspritzen oder auf ihre Arschbacken, wenn ich wichse, kann ich noch kommen, dabei werde ich die Augen schließen und mir vorstellen, diejenige unter mir wäre Coco.

*

Dass es eine Rarität wie die Zwillinge, von denen hier die Rede ist, überhaupt gab und sie in einer Klinik und letztlich bei mir landeten, war einer simplen Tatsache zu verdanken: Ihre Eltern entstammten einer bildungsfernen Schicht, was im konkreten Fall noch einen Euphemismus darstellt, denn die Bildung dieser Leute war nicht fern wie ein Streif am Horizont, sondern wie Alpha Centauri.

Grundsätzlich handelt es sich bei siamesischen Zwillingen um ein äußerst seltenes Ereignis, es tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 200.000 auf. Gäbe es für die Föten nicht ein genetisches Vernichtungsprogramm, der weibliche Körper stößt sie einfach ab, und würde man diejenigen mitzählen, die ein Gynäkologe aus dem Uterus gesaugt hat oder die mittels einer Pille ausgeschwemmt wurden, wären es wesentlich mehr. Im Falle einer späten Entdeckung ist ein Schwangerschaftsabbruch sogar bis zum Geburtstermin möglich, der Anblick des verschlungenen Pärchens rechtfertigt dies, er kann für die Mutter fürchterlich sein, zur seelischen Vernichtung führen und muss unter allen Umständen vermieden werden, aber nicht in allen Fällen reagieren Schwangere so empfindlich.

Ungebildete Menschen trifft es theoretisch nicht häufiger als gebildete, nur halten es die weniger Gebildeten für unnötig, zur Schwangerschaftsvorsorge zu gehen, oder sie wissen nicht einmal, dass so etwas existiert, oder vielleicht existiert sie auch wirklich nicht in ihrem Land, was wahrscheinlich auf den Großteil der Weltbevölkerung zutrifft.

Analphabeten neigen außerdem dazu, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, auch eine Missgeburt, niemand auf den Dörfern zweifelt ihre Daseinsberechtigung an, doch da kommen die Hilfsorganisationen ins Spiel und belehren die Dörfler eines Besseren, zum Wohle der bedauernswerten Geschöpfe und nebenher, weil es der Wissenschaft dient, wie wir noch sehen werden.

Das Elternpaar stammte aus der Demokratischen Republik Kongo, natürlich hatte ich mich informiert, der Wahlspruch des Kongo lautet »Friede, Gerechtigkeit, Arbeit«, davon bietet er seinen Bürgern immerhin die Arbeit, sie kratzen mit Schaufeln, oder, weil diese zu teuer sind, mit den bloßen Händen Erze und Uran aus den Minen. Andere sieben Gold und Diamanten aus den Bächen, aber der Vater der Zwillinge hatte sich auf Kobalt spezialisiert, wie ich erfuhr, und bei Gelegenheit förderte er auch Uranerz, wenn es vor seiner Nase lag. Uran verursacht die verrücktesten Krebsarten, Totgeburten und Missbildungen, Embryonen ohne Kopf, mit zwei Köpfen oder zwei Geschlechtern, Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, deformierte Organe, überzählige Fingerchen und Zehen, große und kleine chirurgische Herausforderungen, an denen sich junge europäische Ärzte in provisorischen Krankenstationen vor Ort üben.

In der Regel steht es nicht gut um den Intelligenzquotienten der verstrahlten Kinder, was nicht weiter auffällt, sie besuchen keine Schule, Gestein abkratzen kann jeder.

Luc erzählte mir, er verdiene drei Dollar am Tag, an manchen Tagen begleite ihn seine Frau, aber in Erwartung