Maria Rosenblatt - Corinna T. Sievers - E-Book

Maria Rosenblatt E-Book

Corinna T. Sievers

4,2

Beschreibung

Maria Rosenblatt, erfolgreiche Ermittlerin, lebt mit ihrem Mann Hannes, einem Psychiater, und zwei Kindern in einer Villa an einem der Schweizer Seen - alles scheint perfekt. Aber als Maria bewusst wird, wann Hannes zuletzt mit ihr geschlafen hat - bei der Zeugung ihrer Tochter vor fünf Jahren - überfällt sie eine Wehmut, die sich nicht mehr abstreifen lässt. Maria Rosenblatt ist Mitte vierzig und einsam. Und sie giert nach Leben. Von nun an könnte jeder Mann, der ihr begegnet, der Richtige für ein Abenteuer sein. Sie beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit dem neuen Staatsanwalt. Ihre Ermittlungen in einem Fall von Kinderpornografie geraten in Gefahr. Sie vernachlässigt ihre Kinder. Und ist zum ersten Mal im Leben glücklich und bereit, alles zu riskieren.

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Corinna T. Sievers

MARIA ROSENBLATT

Roman

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49 a · D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2013

Originalveröffentlichung · Erstausgabe August 2013

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza

1. Auflage

Print ISBN 978-3-89401-779-8

E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-142-3

E-Book PDF ISBN 978-3-86438-143-0

Dunkelheit hinter den Lidern, die Hand auf dem Oberschenkel des schlafenden Mannes.

Sie lag seit einer Stunde wach. Zeit aufzustehen, sie erhob sich, schlich zur Badezimmertür, drückte die Klinke herab, schaltete das Licht an.

Vor dem Spiegel. Augen groß und schwarz und bodenlos, die Oberlippe voll und geschwungen, Entschädigung für den Höcker auf der Nase, im Gesicht eine Falte, von der linken Augenbraue bis zum Haaransatz.

Sie stellte den Wasserhahn an, der Strahl hart und kalt, massierte ihre Stirn, die Falte blieb, jeden Morgen ein paar Minuten länger.

Sie griff in die Schublade, fuhr mit der Bürste durch das Haar, warf es zurück, nahm den Mascara, tuschte die Wimpern, dreimal, viermal, bis sie tiefschwarz waren, lang wie Spinnenbeine.

Nebenan im Ankleidezimmer schlüpfte sie in ein Höschen, neu und aus roter Spitze. Hannes würde es nicht bemerken, er hat aufgehört, auf ihre Signale zu achten.

Sie zog den Morgenmantel über, Samt, sein Rot etwas tiefer als das des Höschens, der Gürtel verknotet an ihrer schmalen Taille. Aus dem Schlafzimmer Hannes’ Schnarchen, zwei Bier am Abend und seine Zunge sinkt in den Rachen, das pfeifende Luftholen. Manchmal wünscht sie sich, es bliebe aus, doch es kommt, sieben Mal pro Minute, vierhundertzwanzig Mal pro Stunde, dreitausenddreihundertsechzig Mal pro Nacht.

Maria schloss die Tür, wandte sich um, betrat das Zimmer der Kinder, blieb vor dem Bett stehen, beugte sich über die Schlafenden, sog die Luft ein. Das Mädchen roch nach Schokolade, der Junge nach Lakritze; sie schliefen auf einer Matratze, im Traum zusammengerückt.

In zehn Minuten würde sie den Jungen aus dem Bett heben, ihn schlafend ins Badezimmer tragen, bereitmachen für den Tag. Das ist sein Privileg, sie nimmt ihm das Aufstehen ab. Er ist acht.

Sie liebkoste ihn, bewunderte seine kleinen Ohren, die runde Nase, seine Schönheit. Langsam wurde er wach, neugierig auf den Tag, und Maria dachte: Lieber Gott, mach, dass er ein gutes Leben hat.

Wenn er auf den Weg gebracht ist, mit seinem großen Schulranzen auf die Straße getreten, kommt das Mädchen an die Reihe, es hüpft aus dem Bett, ist fünf und geht noch in den Kindergarten, das Haar zu Zöpfen geflochten, es will von Prinzessinnen und Prinzen hören und ob es auch einen bekäme, wenn es groß ist; natürlich, Kind, einen Prinzen, wie Papa einer ist.

Dann steht Hannes auf, ein wenig gekrümmt schon, die Konturen verwaschen, die Haut hat begonnen, sich von dem darunterliegenden Bindegewebe zu lösen. Sein Geschlecht ist groß, was sie früher erregt hat; wenn sie masturbiert, denkt sie noch immer daran. Indessen hat es seinen Betrieb eingestellt.

Maria ging in die Küche, entzündete ein Streichholz, hielt es an die Kerze auf dem Küchentisch, stellte das Radio an, Händel, dann die Kaffeemaschine.

Es gibt Tage, da hindert ihre Wehmut sie am Gehen, am Essen, am Atmen, plötzlich war sie da und hat sich nicht mehr vertreiben lassen. Als Maria bewusst wurde, wann Hannes das letzte Mal mit ihr geschlafen hatte – bei der Zeugung ihrer Tochter –, wich die Leichtigkeit aus ihrem Leben; sie fühlte sich ausgeblutet.

Sie bereitete das Frühstück der Kinder, Marmeladenbrötchen, heißer Kakao, im Radio beklagte Alcina den Verlust ihrer einzigen Liebe Ruggiero, wenigstens liebt Alcina, dachte Maria, was ist größeres Leid, wahnsinnig zu werden aus Liebe oder weil es sie nicht gibt?

Die Kinder waren aus dem Haus, Hannes am Frühstückstisch, er hatte die Zeitung entfaltet. Er schätzt es, wenn sie unberührt ist, Maria vermeidet, sie aufzuschlagen, bevor er es getan hat. Einmal, im Sommer, hatte ein Vogel auf die erste Seite geschissen, er mochte auf dem Briefkasten gesessen und gesungen haben, ehe er sein Geschäft machte, Hannes weigerte sich, die Zeitung anzufassen, Maria entfernte den Fleck mit bloßen Händen.

Jetzt trank er seinen Kaffee in kleinen Schlucken, Maria schob die Hand unter seine, er blickte auf und nickte. Maria blieb sitzen, wartete, dass er begänne, sie zu streicheln, aber Hannes’ Hand lag da wie ein toter Vogel, mit einem Ruck zog Maria den Arm fort.

Hannes griff mit der befreiten Hand nach seiner Tasse, Maria erhob sich und stieg die Treppe hinauf ins Bad, ihres getrennt von seinem.

Sie schlang das Haar zu einem Knoten, frische Kleidung hatte sie am Vorabend bereitgelegt, den roten BH, der ihren kleinen Brüsten Fülle gab, ein kurzes, tief ausgeschnittenes Kleid aus violettem Samt, darunter blickdichte Strümpfe. Für den Fall, dass der neue Staatsanwalt sich vorstellen würde: ins Köfferchen eine weiße, hochgeschlossene Bluse, einen dunkelblauen Rock, der über die Knie reichte.

Es wurde Zeit zu gehen, doch vorher noch einen Walzer auf dem Klavier, sie setzte sich an den Flügel, schlug das Notenheft auf, begann zu spielen, Chopin, Valse in cis-Moll, der Lack an ihren Fingernägeln glänzte matt.

Der letzte Akkord cis-Moll, aber Maria spielte ein Eis statt eines Es, ließ den Walzer in Dur enden statt in Moll, hinunter in die Küche, Hannes über das lichte Haar fahren, der war noch immer über seine Zeitung gebeugt. Maria: Sie müsse gehen.

Hannes begann, die Zeitung zusammenzufalten und glatt zu streichen, und wieder das alte Thema: Er sähe es lieber, wenn sie zuhause bliebe, er habe genug geschafft in seinem Leben für die Familie, sie haben doch alles, was man braucht. Maria: »Ich brauche die Welt da draußen«, in Gedanken: In Wirklichkeit bin ich auf der Flucht, ich weiß nur nicht, wovor. Hannes erwiderte, sie arbeite sich noch zu Tode, etwas stimme nicht mit ihrer work-life-balance. Selbst an den schönsten Stränden der Welt renne sie stundenlang und liege hinterher halbtot auf dem Rücken im Sand. Maria zu sich: Zwischen meinen Brüsten ein winziger See von Schweiß, aber das siehst du nicht, zu Hannes sagte sie: »Eher mit meiner work-love-balance«, sie betonte das Wort love, damit Hannes der Sinn nicht entginge, doch der hatte ohnehin verstanden, er ist ein aufmerksamer Zuhörer.

Im Flur standen ihre Stiefel, fünf Paar nebeneinander, Brauntöne von Haselnuss bis zu dunkler Schokolade, sie stieg in die kniehohen und nahm ihre Aktentasche, auch davon besaß sie fünf in zugehörigem Ton. Sah nach in der Tasche, ob die Mappe da war, Kinderpornographie im Internet, die hatte sie am Vorabend noch einmal durchsehen wollen. Aber sie war eingeschlafen zwischen Heinrich und Elisabeth, und als sie gegen halb zwölf aufwachte, zog sie um in das Ehebett. Hannes, mit einem Kissen im Rücken, Schopenhauer vor der Nase, seinem Bruder im Geiste, wie er sagte, warf Maria einen Blick zu, er habe schon gedacht, sie käme nicht mehr. Maria wusste nicht, was antworten, sie legte die Akte in ihren Schoss und begann zu blättern.

Erst gestern hatte sie den Fall an sich gezogen, den Oberstaatsanwalt bedrängt, das sei Frauensache, auf seine Nachfrage, wie sie darauf käme, sagte sie, die Opfer seien fast ausschließlich Mädchen. Der Oberstaatsanwalt hatte mit den Schultern gezuckt, das nenne er weibliche Logik.

Das erzählte sie Hannes, ohne ihn anzugucken, Hannes entgegnete: Sie habe ein Herz für Kinder, das sei schön, aber ihre eigenen könnten auch etwas Zuwendung gebrauchen, besonders tagsüber, nachts hätten sie wenig davon, wenn sie neben ihnen schliefe.

Daraufhin hatte er das Licht gelöscht.

Draußen war es kalt, sehr kalt selbst für Dezember, im Radio sagten sie, die globale Erwärmung lege eine Pause ein. Maria beschloss, einen Spaziergang durch ihren Garten zu machen, groß und gepflegt von einem Heer von Gärtnern, Portugiesen, Brasilianer, gelegentlich Serben, die im Frühjahr anrücken, Wipfel erklimmen, den Nussbaum stutzen, Unkraut zupfen, ohne sich je aufzurichten. Die harte Arbeit hat ihre Körper gestählt, Maria bewundert ihre Schönheit und Körperlichkeit.

Sie trat an das Gehege, der Zaun mannshoch, es gab einen Fuchs, dahinter auf der verschneiten Wiese drei weiße Hühner, Hannes will jeden Morgen ein frisch gelegtes Ei.

Die Hennen standen reglos, Maria steckte die Finger durch die Maschen: »Was ist los mit euch«, sie hatte ihnen ein paar Krümel von Hannes’ Frühstücksbrot mitgebracht, sie selbst frühstückt nie. Eine Frau kann nie dünn genug sein, merkt euch das! Sie ließ die Krumen fallen, zog die Hand zurück, die Fingerkuppen weiß vor Kälte: Sie sehe schon, ihnen fehle ein Hahn, den schenke sie ihnen zu Weihnachten, einen ganz prächtigen, bunten. Sie flüsterte nicht mehr, sie rief, ihre Stimmungen wechseln plötzlich: »Der euch jeden Tag fickt, alle drei!«

Ihr Blick ging zum Küchenfenster, aber es war geschlossen, im Winter hält Hannes alles verriegelt, auch wenn Maria einwendet, daran zu ersticken.

Sie sah auf die Uhr, fünf nach neun, die Sandwiches für den Lunch! Eilig lief sie zum Auto, ein Mercedes Coupé CLS, das aktuelle Modell, Hannes pflegt die Wagen häufiger zu wechseln als sein Eau de Toilette, das ist Maria nicht unrecht, sie mag den Geruch neuer Autos, er erregt sie, möglicherweise ein lange zurückliegendes Erlebnis auf der Hinterbank eines Neuwagens ihrer Eltern.

Sie warf ihre Aktentasche auf den Beifahrersitz, sich anzuschnallen hält sie nicht für nötig, sie ist Kommissarin bei der Stadtpolizei.

Eine Fahrt von fünfzehn Minuten, vorbei an feudalen Anwesen, wenige so groß wie ihr eigenes, der Flecken, auf dem die Hennen picken, ist ein Vermögen wert, es ist eine goldene Küste.

In der Stadt ist wieder die Hölle los, in wenigen Tagen Weihnachten, die Straße führt am Fluss entlang. In Pelz gekleidete Mütter, beladen mit Paketen, hier spart man nicht am Glück der Kinder, man kauft es ihnen, Berge von Glück. Dass sie noch nichts für Elisabeth und Heinrich habe, dachte Maria, womit spielt man mit fünf, mit acht Jahren, sie würde das Kindermädchen einkaufen schicken.

An der Ampel wartete ein Mann im Anzug, zwei Geschenke, in goldenes Papier gewickelt, von gleicher Größe und Form, unter die Arme geklemmt, eins für die Ehefrau, eins für die Geliebte. Einige von Marias Nachbarinnen teilen sich den Mann, dass Hannes sie betrügt, unmöglich, sie traut es ihm nicht zu.

Sie fand einen Parkplatz am Münster, vergaß den Parkschein. Hannes hätte kein Verständnis für solche Nachlässigkeiten, sie sei eine Hüterin des Gesetzes.

Den Poncho über die Schultern gelegt, der Hals frei, das Dekolleté tief, Sohlen aus Leder, ein federleichtes Geschöpf, sie eilte zur Bahnhofstraße, rutschte auf dem nassen Pflaster aus, fing sich wieder. Sie verabscheut Schuhe mit Gummisohlen und Profil, dafür werden ab November ihre Füße gefühllos und bleiben es bis März, sie strauchelt häufig.

Die Bar der Crédit Suisse gegenüber ist bekannt für ihren Kaffee, der teuerste Kopi Luwak, seine Bohnen haben den Verdauungstrakt der Zibetkatze passiert, die Tasse für dreiundfünfzig Franken. Drinnen fast nur Männer, Ärzte, Anwälte, Banker, der Geruch von nassen Mänteln, getoastetem Brot. Maria erkämpfte sich einen Platz am Tresen, neben ihr ein fideler Dicker, Mitte fünfzig, für einen Wochentag elegant gekleidet, Maßanzug, Fliege, er nickte.

Plötzlich überfiel sie der Wunsch zu bleiben. Zu vergessen, dass sie fünfundvierzig ist und verheiratet, Kinder hat, ein öffentliches Amt bekleidet.

Sie kam an die Reihe, ihre Bestellung: acht Sandwiches mit Roastbeef, schwedischem Lachs oder Roquefort, einhunderteinundachtzig Franken für das Wohlwollen der Kollegen.

Sie zahlte bar. Hannes prüft die Kreditkartenabrechnungen, er wäre entgeistert, dass das Roastbeef vom Koberind im Magen einer Schreibkraft landete.

Auf ihrer Schulter plötzlich eine Hand, der Dicke, von nahem sah sie, dass er schwitzte.

Er zeigte auf die Tüte: »Großen Hunger heute?«

Maria: »Damit füttere ich meine Männer.«

Der Dicke: »Sie machen mich eifersüchtig.«

Ihre Blicke scharf aufeinandergerichtet, Verlangen in seinen Augen und auf seinen Lippen.

Sie schob sich rückwärts zum Ausgang.

Die Tür zur Bar schloss sich, schnitt die Stimmen ab. Es hatte begonnen zu schneien, Stille, als habe jemand eine Decke über den Asphalt gebreitet. Maria erregt, sie hob den Poncho, als müsse sie ihren Unterleib kühlen, bis die Straßenbahn kam und sie aus dem Weg klingelte. Ein Satz zurück, sie begann zu laufen, beim Zunfthaus um die Ecke, geriet in Schieflage, ruderte mit den Armen, stürzte auf das Pflaster, die Tasche mit den Broten unter sich begraben.

Dann kehrten die Geräusche zurück, ein Schmerz in Hüfte und Arm, Tränen, die den Lidstrich verschmierten, Marias erster Gedanke: Ob sie einen Kajalstift dabeihabe, sie holte Luft, stützte den Arm auf das Pflaster, ihr Becken hielt.

Eine Stimme sagte: »Ganz vorsichtig«, sie werden es jetzt zusammen probieren, auf drei. Der Befehl kam von hinten, kraftvoll wie die Hand, die Marias Arm ergriff, eins, zwei, drei.

Sie wurde auf die Beine gestellt, hielt die Augen geschlossen, die Schmach, gestürzt zu sein, war groß.

Bitte, sie solle ihn ansehen.

Als sie die Augen öffnete: Ein Schal aus grauer Seide, ein Mantel aus braunem Kaschmir, der Fremde über eins neunzig, mit der weichen Stimme eines Bassbaritons, sie müsse ihren Poncho ausziehen, er sei ja ganz nass.

Maria gehorchte, ließ ihn sich abnehmen und sich in einen langen, großen Herrenmantel hüllen, in die Wärme und den Geruch eines Unbekannten.

Der Mann beugte sich zu Boden, reichte Maria die Tüte, verneigte sich, kein »Auf Wiedersehen«. Er wandte sich ab und schritt davon, über dem Unterarm Marias schmutzigen Poncho, der Schnee fiel dicht, der Mann verschwand im Gestöber, Maria zweifelte an ihrer Wahrnehmung, möglicherweise hatte es sich um einen Engel gehandelt, Augen blau, dunkles Haar, die Stimme aus Samt.

Sein Mantel reichte ihr bis zum Boden. Sie fuhr in die Taschen, rechts ein gebügeltes Taschentuch, links eine Schachtel Zündhölzer, Maria streckte den Arm, las im funkelnden Licht der Weihnachtsbeleuchtung: Vogelnest, darunter: Club im Niederdorf, vielleicht sein Stammlokal.

Einen Moment stand sie verloren, dann schlug es halb elf von St. Peter: Die Kollegen! Sie würden sich das Maul zerreißen über ihre unpünktliche Vorgesetzte. Maria raffte den Saum und eilte davon.

Die Polizei war in einem historischen Gebäude untergebracht, hinter Säulen, Bögen und Schmiedeeisen Marias Amtszimmer zum Fluss hin nach Osten.

Sie betrat das Büro, an seinem Schreibtisch saß Detlef, ihr Stellvertreter, leptosome Gestalt, helle Wimpern über wasserblauen Augen, deutscher Herkunft, wie Maria mit dreizehn oder vierzehn in die Schweiz gekommen. Zu spät, um noch den Dialekt zu lernen, nach einem »Grüezi« weiter auf Hochdeutsch. Blick auf die Uhr an der Wand: Sie könne ja machen, was sie wolle, sie sei hier die Chefin, aber wenn sie Pünktlichkeit von den anderen verlange?

Maria streifte den Mantel ab, drehte und wendete ihn, studierte die eingenähten Etiketten, das Emblem eines italienischen Herrenschneiders, eine Anleitung zur Reinigung, nur chemisch. Hängte ihn über den Garderobenständer, alles mit Bedacht. Würde Detlef so gut sein, die anderen zu holen, in fünf Minuten sei Besprechung. Keine Frage, ein Befehl, auch das besaß Maria: Strenge.

Der Raum war überheizt, sie fächelte sich Luft zu, ein irritierter Blick auf die geschlossenen Fenster, es roch nach Füßen, ob Detlef seine Turnschuhe unter dem Tisch ausgezogen habe?

Detlef senkte den Kopf: schuldig im Sinne der Anklage. Er erhob sich und öffnete ein Fenster mit messingfarbenem Riegel, dann begann er, Marias Habe einzusammeln, Tüte und Ordner, Schreibzeug.

Maria ging voran, dahinter Detlef, den Kopf in den Nacken gelegt, die Lippen vorgeschoben. Er behauptet, Maria zu riechen, bevor sie einen Raum betritt und lange, nachdem sie ihn verlassen hat. Den Blick auf ihr Gesäß gerichtet, klein und spitz unter dem Tuch des Kleides.

Vor langer Zeit waren sie ein Paar gewesen. Bilder, in Detlefs Netzhaut eingebrannt: Maria beim Akt (mit Büstenhalter, sie bevorzugte es, sich in Dessous ficken zu lassen), Maria entblößt (nach dem Ficken und ohne sich zu reinigen). Am nächsten Morgen: Maria in der Dusche, schmal und aufrecht, mit Schaum im Streifen krausen braunen Haars zwischen ihren Schenkeln.

Detlef war ihr hörig gewesen.

Schon nach zwei Monaten langweilte sie sich. Er war ein ausdauernder Liebhaber, gewiss, doch Maria wollte Worte hören während des Liebesspiels, schmutzige Worte, und diese auch sagen, Detlef war dazu unfähig, auch nach eingehender Unterweisung. Sie verließ ihn.

Seitdem beklagt er sich, er könne nicht mehr lieben, er vögele nur noch, und immer seien sie blond, andere Töne, von brünett bis schwarz, führten dazu, dass ihm sein Schwanz den Dienst versage. Maria schneidet ihm das Wort ab, wenn er davon anfängt. Es ist vorbei zwischen ihnen.

Jetzt klopften sie an Türen und öffneten sie. Maria sah in jedes Zimmer, widerstrebend erhoben sich die Männer und folgten ihr in das Konferenzzimmer am Ende des Flures mit einem Besprechungstisch aus Resopal und zehn harten Stühlen. In der Mitte des Tisches eine Plastiktanne, an den Ästen mehrfarbige LED-Leuchten. Die ist Detlef zuzutrauen, dachte Maria und setzte sich, ihr Stammplatz am Kopfende, die Plätze rechts und links neben ihr blieben leer.

Allesamt Hasenfüße, dachte sie und lächelte über den sprachlichen Anachronismus. Die Männer waren mit ihren Hemdsärmeln beschäftigt, zogen sie zurück und betrachteten ihre Armbanduhren, die Besprechung hätte vor eineinhalb Stunden beginnen sollen.

Maria saß aufrecht, die Unterarme auf den Tisch gelegt, die Hände wie zum Gebet gefaltet, sie öffnete den Ordner und schob ihn nach rechts: Es handele sich um eine neue Ermittlung, die Kollegen mögen einen Blick auf die Fotos werfen, bevor sie fortfahre. Detlef beobachtete sie aus dem Augenwinkel, wie schmal ihre Lippen wurden, wenn sie kommandierte, unvorstellbar, dass das die Frau war, aus deren Mund ein süßes Flüstern kam, wenn sie es trieb, Liebeslaute wie ein Wimmern. Er löste den Blick und zwang sich zu blättern, nickte wortlos und reichte die Akte weiter; nach und nach verstummten die Männer, der Ordner kehrte zu Maria zurück.

Diese Fotos, Maria leise, aber bestimmt, kursieren im Netz, die Kollegen sehen die Geschlechtsteile kleinster Kinder, hier und dort Männerfinger in dünnen Latexhandschuhen, die winzige Schamlippen spreizen und in die Vagina oder den Anus der Opfer eindringen. Stillschweigen, abgewandte Köpfe, Männer ertragen Begriffe wie Schamlippen, Vagina und Anus nicht, zumal aus dem Mund einer Frau.

Urs hob die Hand: Ob die Opfer vielleicht schliefen?

Er ist derjenige, der mich am wenigsten fürchtet, dachte Maria, seine Furchtlosigkeit ist Ausdruck mangelnder Intelligenz. Oder seiner Trunksucht, wie seine Bäckchen zittern.

Vielleicht seien sie tot, so Simon, noch im Sitzen ein Hüne, dichtes blondes Haar, zehn Jahre jünger als Maria; ihr Widukind, ewiger Widersacher Karls des Großen (Marias Leidenschaft ist mittelalterliche Geschichte).

Er war vor fünf Jahren zu ihrer Truppe gestoßen, hatte ihr zu Beginn schöne Augen gemacht, dann verflog das Interesse, sein Geltungsdrang war unvereinbar mit Marias Machtanspruch.

Jetzt starrte er Maria an, und wenn sie tot wären, ob der Erkennungsdienst das feststellen könne?

Maria griff nach ihrem Füller, Caran d’Ache, ein Geschenk von Hannes aus den ersten Monaten der Beziehung. Man müsse heimische Ware kaufen, um den im Zuge der Globalisierung in Bedrängnis geratenen Großkapitalismus in der Schweiz zu unterstützen, hatte er gesagt, Qualität habe ihren Preis, sie presste die Lippen aufeinander und schrieb. Eine Kurzschrift oder Geheimschrift, in Wirklichkeit sind es Phantasiezeichen, was nur Detlef weiß, aus Höflichkeit zu Papier gebracht. Die Männer sollen sich ernst genommen fühlen, tatsächlich verlässt sich Maria nur auf sich selbst.

»Ist es immer dieselbe Hand?« Roman blickte auf die Fotos, die Akte auf dem Schoß, er spricht als einziger Schweizerdeutsch; aus Trotz, weil Maria ihn bei der letzten Beförderung übergangen hat, und aus Vaterlandsliebe. Gebürtig aus Uri, einem der drei Urkantone der Schweiz, ähnelt er dem Wappentier seines Standes, einem Stier mit starken Augenbrauenwülsten, einer breiten Nase und großen Nüstern. Er schließt seine Rede mit einem »Gopferdammi«.

Maria hielt den Kopf gesenkt, die Männer begannen, durcheinanderzureden. Roman: Es scheint dieselbe Hand zu sein, das Latex lässt einiges durchschimmern, Urs: Mal sind die Nägel kürzer, mal länger, hier und da ist eine kleine Wunde erkennbar, Simon: Möglicherweise kann man anhand der Länge der Nägel feststellen, wie viel Zeit zwischen den Aufnahmen der Bilder liegt, Roman: Da ist eine Art Warze am rechten Mittelfinger, Simon: Die Herkunft des Ringes sollte zu ermitteln sein, daraufhin Urs finster, er sei jetzt an der Reihe gewesen und habe dasselbe sagen wollen, die Männer am Tisch verstummten.

Maria erhob sich, Detlef im Stillen: Sie ist eine Bohnenstange, warum noch diese Absätze, Männer sehen ungern auf zu einer Frau. Auch ich hatte einst Angst vor ihr, dann wurde ich für meinen Mut belohnt. Bei diesem Gedanken wich sein Groll leisem Stolz: Er hatte sich aufrecht mit seiner Riesin vereinigt, sie im Stehen gefickt von vorn und von hinten.

Maria beendete die Sitzung: »Meine Herren, das ist ein guter Anfang gewesen, Detlef hat nun eine Stärkung für alle«, man treffe sich um halb eins zur Einteilung der Aufgaben.

Sie verließ den Raum, gab über die Schulter hinweg als Letztes bekannt, sie selbst esse heute nicht zu Mittag.

Zurück im Büro saß sie in ihrem Drehstuhl vor dem Fenster, einem alten schwarzen Ledersessel aus den sechziger Jahren, die Beine verchromt, nicht schön, doch bringt sie es nicht fertig, ihn zum Trödler zu tragen. Er hat ihrem Vorgänger gehört, und davor dessen Vorgänger, sie ist die erste Frau in dieser Position.

Der Sessel in Form eines Eis, Brutstätte für Ideen, jetzt aber herrschte Leere in ihrem Kopf. Sie hielt ihn geneigt, die rechte Hand an der Stirn, ein Pochen, Vorbote einer Migräne. Ein ausgefülltes Liebesleben helfe gegen Spannungskopfschmerz, hat sie gelesen, vielleicht brauchte sie einen Liebhaber, das Hämmern in ihrem Kopf wurde wütend, vorsichtige Schritte zum Garderobenständer. Dort hing neben dem fremden Mantel Detlefs Lederjacke, ein abgewetztes Stück, das sie schon aus Zeiten ihrer Liebschaft kennt. Maria stieß sie beiseite, steckte die Nase in den Kaschmirmantel. Möglicherweise ist dieser Mann anders.

Die Tür flog auf, Detlef trat ein, der Duft von Automatenkaffee, er stellte die Becher auf den Schreibtisch, unzählige Tassen haben darauf ihre Ringe hinterlassen. Wem der Mantel gehöre, er sehe teuer aus.

Maria überhörte die Frage, griff nach ihrem Becher, setzte ihn an die Lippen, zuckte zusammen, Detlef zur Stelle, nahm ihr den Kaffee ab, rührte um, blies: Woher sie die Bilder habe?

Die Staatsanwaltschaft habe sie geschickt, Maria biss sich auf die Oberlippe, du mit deinem heißen Kaffee. Um seine Frage zu beantworten, die Bilder werden per MMS an einen kleinen Kreis von Empfängern verschickt, auf Prepaidhandys, und zwar nur auf diese.

Wie der Staatsanwalt daran gekommen sei, Detlef reichte ihr den Becher zurück, sie solle es noch einmal versuchen. Maria nahm einen Schluck und erwiderte, sie glaube, es sei Zufall gewesen mit den Bildern. Hoffentlich wird das Koffein ihrem Kopf guttun. Es hat sich um ein verlorenes Handy gehandelt, ein junger Mann, der es fand, war neugierig und hat die Mails gelesen, er begriff, dass hier etwas nicht stimmt, erstaunlich eigentlich bei alldem, was die im Internet zu sehen bekommen.

Ob es eine Möglichkeit gebe, an die Kundendaten zu kommen, fragte Detlef. Maria schüttelte den Kopf, die Anbieter von Prepaidkarten seien nicht verpflichtet, Namen und Anschrift des Kunden zu kontrollieren, Falschangaben seien nicht einmal gesetzlich verboten. Sie tastete nach ihrem Hinterkopf, an dem ein Chignon saß, eine absichtslose Gebärde.