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Nie im Leben ist diese Rebecca Parsons eine Kellnerin! Keine Kaffeetasse ist vor ihr sicher, und sie vergisst alle Bestellungen. Bei Trace Bowman, Polizeichef von Cold Creek, schrillen die Alarmglocken. Und wer ist das schweigsame, junge Mädchen, das bei ihr ist? Ihre Tochter? Das größte Rätsel sind für Trace aber Beccas wunderschöne, traurige Augen. Wenn sie ihm einen intensiven Blick zuwirft, der Sehnsucht und tiefe Verlassenheit verrät, fühlt er sich nicht länger wie ein Mann des Gesetzes. Sondern nur noch wie ein Mann, der sie beschützen und lieben will ?
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2013
RaeAnne Thayne
Schöne, rätselhafte Becca
IMPRESSUM
BIANCA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
© 2011 by RaeAnne Thayne Originaltitel: „Christmas in Cold Creek“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCABand 1908 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Rainer Nolden
Fotos: Ocean / Corbis
Veröffentlicht im ePub Format in 10/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733730581
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Trace lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte seine Serviette neben den leeren Teller. „Sehr lecker, Caidy. Wie immer. Das Roastbeef war besonders gut.“
Seine jüngere Schwester lächelte. Ihre blauen Augen strahlten im Licht des späten Novembernachmittags besonders hell. „Schön, dass es euch geschmeckt hat.“
„Wie können wir uns revanchieren?“
„Du könntest den Abwasch machen.“
Taft, Traces Zwillingsbruder, verzog das Gesicht. „Hab Mitleid“, bat er. „Ich habe die ganze Nacht gearbeitet.“
„Du warst die ganze Nacht im Dienst“, korrigierte Tracy ihn. „Aber auch im Einsatz – oder hast du nur im Feuerwehrhaus gepennt?“
„Darum geht es nicht“, protestierte Taft. „Egal, ob ich schlafe oder nicht – ich war bereit, falls meine Mitbürger mich brauchten.“
Die Nachtdienste der beiden Brüder waren häufig der Anlass für Neckereien zwischen den beiden. Während Trace nachts zahlreiche Einsätze hatte oder Papierkram erledigen musste, konnte Taft als Chef der Feuerwehr von Pine Gulch oft eine ruhige Kugel schieben. Doch trotz ihrer gutmütigen Sticheleien hielten die Brüder zusammen wie Pech und Schwefel.
„Hört auf, ihr zwei“, meldete sich Ridge, der älteste Bruder, zu Wort. Er maß sie mit einem strengen Blick, der Caidy an ihren Vater erinnerte. „Sonst verderbt ihr euch noch den Appetit für Destrys Nachtisch.“
„Es ist doch nur Pudding“, krähte seine Tochter. „Kalt angerührt.“
„Nun, er schmeckt, als stecke viel Arbeit drin“, entgegnete Taft grinsend. „Und das ist das Wichtige.“
Das Mittagessen auf der River Bow Ranch war eine geheiligte Tradition. Gleichgültig, wie beschäftigt sie unter der Woche waren – wenigstens sonntags versammelten sich die Bowman-Geschwister, so oft es ging, um den Esszimmertisch.
Ohne Caidy hätte es diese Treffen sowieso nicht gegeben. Nach dem Mord an ihren Eltern waren sie alle ihre eigenen Wege gegangen. Irgendwann hatte Ridges Frau sich von ihrem Mann getrennt, und Caidy hatte nach der Schule beschlossen, sich um die Ranch und Ridges Tochter Destry zu kümmern – und die Tradition der sonntäglichen Mittagessen wieder aufleben lassen.
„Ich habe auch die ganze Nacht gearbeitet“, erwiderte Trace mit einem tadelnden Blick zu seinem Bruder. „Aber da ich keine Memme bin, werde ich meinen Teil der Hausarbeit übernehmen. Ruh du dich nur aus, Taft. Du sollst dich ja schließlich nicht überanstrengen. Ich kümmere mich um den Abwasch.“
Das konnte sein Bruder natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Genau damit hatte Trace gerechnet. Taft spülte das Geschirr, Trace trocknete es ab und stellte es in den Schrank, während Destry und Ridge den Tisch abräumten.
Ridge kam in die Küche, gefolgt von Destry. „Bitte, Dad. Wenn wir noch länger warten, ist es zu spät.“
„Zu spät wofür?“
„Weihnachten!“, rief Destry. „Heute ist schon der letzte Sonntag im November. Wenn wir uns nicht bald einen Baum besorgen, wird zu viel Schnee in den Bergen liegen. Bitte, Dad. Bitte, bitte, bitte …“
Ridge seufzte.
Trace verstand ihn nur allzu gut. Keines der Geschwister konnte Weihnachten viel abgewinnen, nachdem ihre Eltern vor zehn Jahren wenige Tage vor dem Fest umgebracht worden waren.
„Wir werden einen besorgen“, versprach Ridge. Er warf seinen Brüdern einen Blick zu. „Kommt einer von euch Jungs mit mir, damit ich den Baum abtransportiert kriege? Wir können auch für euch einen schlagen.“
Taft zuckte mit den Schultern. „Ich habe eine Verabredung. Tut mir leid.“
„Am Sonntagnachmittag?“ Caidy zog die Augenbrauen hoch.
„Na ja, es ist nicht wirklich eine Verabredung“, sagte Taft grinsend. „Ich besuche eine Freundin. Wir wollen uns einen Film anschauen.“
Ridge verdrehte die Augen und wandte sich an Trace. „Was ist mit dir?“
„Ich bin dabei. Gehen wir.“
Ein Ausritt in die Berge würde ihm guttun. Dabei konnte er sich nach einer Woche voller Doppelschichten einmal so richtig den Kopf durchpusten lassen.
Es war eine gute Entscheidung, dachte er eine halbe Stunde später, als er auf seinem Falben Genie über den Weg ritt, der direkt zum Wald führte. Als viel beschäftigter Chef einer chronisch unterbesetzten Polizeistation hatte er kaum Freizeit. Umso mehr genoss er jetzt die frische klare Luft und die Schneeflocken, die auf ihn niederrieselten.
Er liebte die River Bow Ranch. Das war sein Zuhause – trotz der traurigen Erinnerungen. Seit fünf Generationen, wenn man Destry mitzählte, lebten die Bowmans schon hier. Sein Urgroßvater hatte das Anwesen kurz nach dem Ersten Weltkrieg erworben. Ein herrlicher Flecken Erde.
Unterhalb der Ranch sah er die Lichter von Pine Gulch in der Dämmerung. Das war seine Stadt. Ja, der Name klang zwar wie aus einem alten Wildwestfilm, aber er liebte sie. Man hatte ihm schon bessere Angebote in Idaho und sogar in anderen Bundesstaaten gemacht. Aber jedes Mal, wenn er kurz davor stand, Pine Gulch zu verlassen, dachte er an all die Dinge, die er aufgeben müsste. Seine Familie, sein Erbe, all die kleinen lieb gewonnen Traditionen wie das Frühstück im Gulch nach einer Nachschicht. Die Opfer, die er hätte bringen müssen, erschienen ihm einfach zu groß.
„Danke, dass du mitgekommen bist.“ Destry führte ihr Pony neben seine Stute.
„Ist mir ein Vergnügen. Danke, dass du mich gefragt hast, Kleines.“
„Stellst du dieses Jahr auch mal einen Baum auf, Onkel Trace?“
„Weiß nicht. Für mich allein lohnt sich das doch gar nicht.“
Er sagte es nicht gern, aber es stimmte. Er wollte nicht mehr allein sein. Vor einem Jahr hatte er geglaubt, endlich so weit zu sein. Er war ein paar Mal mit Easton Springhill ausgegangen. Ihr gehörte die Winder Ranch auf der anderen Seite des Canyons. Trace ließ den Blick schweifen. Von hier aus konnte er sie sehen.
Aber Easton war nicht für ihn bestimmt. Das hatte er von Anfang an geahnt, obwohl er es sich nicht eingestehen wollte. Eines Tages war Cisco del Norte zurück in die Stadt gekommen, und Trace hatte feststellen müssen, dass Easton den Mann immer noch liebte.
Trace fand Cisco nicht besonders sympathisch, aber er musste zugeben, dass er Easton glücklich machte. Nach der Hochzeit hatten sie ein kleines Mädchen adoptiert, und jetzt erwartete Easton ihr eigenes Baby.
Vielleicht hatte ihn das Schicksal zum Junggesellen ausersehen. Auch so konnte er Destry ein guter Onkel sein.
„Wir sind gleich da!“, rief sie.
Kurz darauf erreichten sie den dichten Wald, der an die Farm grenzte. Destry ritt sofort zu dem Baum, den sie sich vor Monaten schon ausgesucht und mit einem orangefarbenen Band markiert hatte.
Mit glänzenden Augen schaute sie Ridge zu, wie er mit der Kettensäge den Baum fällte.
„Was ist mit dir, Trace?“, wollte sein Bruder wissen. „Willst du auch einen Baum?“
Die Frage stellte er ihm jedes Jahr, und jedes Jahr gab Trace die gleiche Antwort. „Was soll ich allein mit einem Baum? Außerdem werde ich Weihnachten ohnehin arbeiten.“
Da er keine Familie hatte, übernahm er die Feiertagsdienste für seine Kollegen, die die Zeit mit ihren Kindern verbringen wollten.
„Könnten wir denn einen Baum für meine Freundin fällen?“, meldete Destry sich zu Wort.
„Kein Problem. Wir haben genug Bäume. Bist du denn sicher, dass ihre Eltern nicht schon einen haben?“
Destry schüttelte den Kopf. „Sie hat gesagt, dass sie vielleicht keinen aufstellen werden. Sie haben nämlich nicht viel Geld. Sie sind gerade erst nach Pine Gulch gezogen, und ihr gefällt es hier überhaupt nicht.“
Trace spürte ein seltsames Kribbeln in den Fingerspitzen – wie immer, wenn er kurz vor der Lösung eines Falles stand. „Wie heißt denn deine Freundin?“
„Gabi. Eigentlich Gabrielle. Gabrielle Parsons.“
Er wusste es, noch ehe Destry den Namen aussprach. Das Bild der hübschen, aber ungeschickten Kellnerin und das Mädchen, das trotz des Trubels im Gulch vollkommen in sein Buch vertieft war, tauchten vor seinem inneren Auge auf.
„Ich habe sie neulich kennengelernt. Sie wohnt mit ihrer Mutter ganz in meiner Nähe.“ Ridge musterte ihn durchdringend.
Er zuckte mit den Schultern. „Sie ist offensichtlich Wally Taylors Enkelin. Er hat ihr sein Haus vermacht, obwohl sie nicht viel Kontakt hatten, wie ich glaube. Gabis Mutter kellnert übrigens im Gulch. Als ich letztens dort gefrühstückt habe, hat Donna mir ihre Geschichte erzählt.“
„Du kriegst deine Infos von Donna?“
Trace grinste. „Jeder gute Polizist hat seine verlässlichen Quellen.“
„Können wir denn einen Baum für Gabrielle und ihre Mutter schlagen?“, bat Destry ungeduldig.
Er erinnerte sich daran, wie unbehaglich sie sich in seiner Gegenwart gefühlt hatte. In den vergangenen Tagen hatte er immer wieder an sie denken müssen, und auch jetzt noch fragte er sich, was sie wohl nach Pine Gulch geführt hatte. Aber da er ihr ein guter Nachbar sein wollte, würde er ihr einen Baum vor die Tür legen. Wenn das kein Akt der Nächstenliebe war!
„Ich kann ihn ihr auf dem Heimweg vorbeibringen“, erbot Trace sich. „Lass uns einen schönen Baum für sie aussuchen.“
Destry stieß einen Freudenschrei aus und griff nach seiner Hand. „Ich habe schon den passenden Baum gesehen. Da drüben steht er. Komm mit.“
Sie zog ihn ein paar Meter hinter sich her und blieb dann vor einer hohen buschigen Blautanne stehen. Sie strahlte. „Wie wäre es mit dem hier?“
Der Baum war fast drei Meter hoch und fast genauso umfangreich. Tracy lächelte, als er die eifrige Miene seiner Nichte sah. „Tut mir leid, Schatz, aber ich fürchte, der ist ein bisschen zu groß für ihr Wohnzimmer. Wie wäre es denn mit diesem hier?“ Er führte sie zu einer etwa zwei Meter hohen Fichte, die eher in das Haus zu passen schien.
Prüfend betrachtete sie den Baum. „Ja, der ist okay.“
„Dann hilf mir, ihn zu fällen.“ Er stellte die Kettensäge an und führte seiner Nichte die Hand. Gemeinsam sägten sie den Baum ab, und Tracy schnallte ihn an seinem Sattel fest.
„Ich hoffe, er gefällt Gabrielle. Du bringst ihn ihr doch heute Abend, oder?“
„Versprochen. Aber lass uns ihn erst einmal den Berg runterbekommen.“
„Prima.“ Destry lächelte glücklich.
Die Sonne ging schon hinter den Bergen unter, als sie zurück zur River Bow Ranch ritten. Unvermittelt verspürte Trace ein absurdes Glücksgefühl – wie ein Kind, das kurz davor stand, dem Weihnachtsmann zu begegnen. Wahrscheinlich hatte er sich nur von Destrys Begeisterung anstecken lassen, weil sie einer Freundin eine Freude machte. Aber tief in seinem Herzen wusste Trace, dass mehr dahintersteckte.
Er wollte Becca Parsons wiedersehen. So einfach war das. Die Erinnerung an die schlanke, hübsche Frau und ihr offensichtliches Unbehagen in seiner Nähe gingen ihm nicht aus dem Kopf. Sie war ihm ein Rätsel, und er wollte einigen ihrer Geheimnisse auf die Spur kommen, um sicherzugehen, dass sie den Frieden in seiner Stadt nicht störte.
Das jedenfalls würde er allen erzählen, die ihn nach dem Grund für sein Interesse an ihr fragen sollten.
Wie halten Eltern diesen Hausaufgabenstress nur jahrelang aus?
Seufzend strich Becca das Hausaufgabenblatt ihrer Schwester glatt. Gabi stellte sich an, als habe man von ihr verlangt, sich sämtliche Wimpern auszureißen. Dabei ging es doch bloß um vier Rechenaufgaben. „Wir haben’s gleich, Gabi. Komm, das schaffst du doch.“
„Natürlich schaffe ich das.“ Obwohl sie fast einen halben Meter kleiner als Becca war, gelang es ihr irgendwie, auf sie hinabzuschauen. „Ich sehe bloß nicht ein, warum ich das machen soll.“
„Weil es deine Hausaufgaben sind, Schatz.“ Becca zwang sich, geduldig zu bleiben. „Wenn du sie nicht machst, kriegst du eine schlechte Note in Mathematik.“
„Na und?“
Becca ballte die Hand zur Faust. Ihre Schwester war superintelligent, aber total unmotiviert. Es war umso frustrierender für Becca, weil sie selbst während der kurzen, immer wieder unterbrochenen Schuljahre viel härter hatte arbeiten müssen, um den Anschluss nicht zu verpassen.
Nicht, dass ihr Eifer sie besonders weit gebracht hätte …
Sie ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer mit der altmodischen Tapete und über die Wasserflecke an der Decke schweifen. Diese schäbige Hütte war nichts im Vergleich zu ihrem eleganten Stadthaus in Scottsdale mit den riesigen Yuccapalmen auf der großen Terrasse. Plötzlich vermisste sie ihr altes Zuhause schmerzlich. Sie würde nie wieder dort wohnen. Ihre Mutter hatte ihr das Haus genommen – wie so viele andere Dinge auch.
Sie schluckte ihre Verbitterung hinunter. Niemand hatte sie schließlich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen, um die Opfer auszuzahlen, die ihre Mutter betrogen hatte. Wenn sie sich nicht um den Schlamassel gekümmert hätte, den ihre Mutter angerichtet hatte, hätte sie ihr altes Leben weiterleben und ihre Karriere weiterverfolgen können – und sich ihren guten Ruf bewahrt.
Aber darum ging es im Moment nicht. Jetzt verhielt sie sich genau wie Gabi, die über Dinge jammerte, welche nicht mehr zu ändern waren. „Meine liebe Schwester, wenn du in der vierten Klasse sitzenbleibst, dann werde ich dich zu Hause unterrichten müssen. Und ich werde strenger als jede Lehrerin sein. Also los jetzt. Noch vier Aufgaben.“
Gabi seufzte theatralisch und nahm den Bleistift wieder zur Hand. Offenbar hatte sie die Aussichtslosigkeit eines Kampfes gegen Becca erkannt. Im Handumdrehen löste sie die Aufgaben und legte den Stift beiseite. „So. Bist du jetzt zufrieden?“
Erwartungsgemäß waren alle Lösungen korrekt. „Siehst du? War doch gar nicht so schwer.“
Gabi wollte gerade etwas erwidern, als es an der Tür klingelte. Beide zuckten zusammen. Als sie den Hoffnungsschimmer in Gabis Augen bemerkte, brach Becca fast das Herz. Am liebsten hätte sie sie in die Arme genommen und ihr gesagt, dass Monica wahrscheinlich nie mehr zurückkommen würde.
„Ich gehe schon“, sagte das Mädchen schnell.
Gabi riss die Tür auf – und erschrak. Im Dämmerlicht des späten Winternachmittags wirkte Trace Bowman wie eine dunkle und gefährliche Erscheinung. Ihre Enttäuschung währte jedoch nur einen kurzen Moment. Dann trottete sie zurück ins Haus und überließ Becca das Reden.
„Officer Bowman“, murmelte sie schließlich. „Das ist … eine ziemliche Überraschung.“
Oder besser: eine ziemlich unangenehme Überraschung.
„Tut mir leid, dass ich Sie hier so überfalle, aber ich habe einen wichtigen Auftrag zu erfüllen.“
Sie warf Gabi einen Blick zu, die neugierig zu den beiden hinüberschaute.
Der Polizeichef hielt den Arm ausgestreckt. Er schien etwas in der Hand zu haben, aber von ihrem Standpunkt aus konnte sie nicht sehen, was es war.
„Was für einen Auftrag?“ Beccas Misstrauen war unüberhörbar.
„Nun ja, wie der Zufall so spielt. Meine Nichte Destry ist wohl in derselben Klasse wie Ihre Tochter.“
Vorsichtshalber warf sie Gabi einen warnenden Blick zu. Nicht, dass sich ihre Schwester noch verplapperte! Gleichzeitig wurde ihr bewusst, wie unhöflich es war, den Besucher auf der Veranda stehen zu lassen. Eigentlich hätte sie ihn hereinbitten müssen, aber sie sträubte sich dagegen, ihn in ihr Haus zu lassen. Allein, dass er vor ihrer Haustür stand, war ihr unangenehm. „Ja. Gabi hat von Destry gesprochen.“
„Ein liebes Mädchen. Sie hat ein großes Herz für ihre Freunde.“
Warum erzählte er ihr das? Höflich lächelnd hoffte sie, dass er bald auf den Punkt kommen und wieder verschwinden würde.
Er räusperte sich, ehe er fortfuhr: „Jedenfalls hat Destry erzählt, Gabrielle habe ihr gesagt, dass Sie noch keinen Weihnachtsbaum hätten und Ihre Tochter nicht wüsste, ob Sie in diesem Jahr überhaupt einen aufstellen wollen.“
Entgeistert drehte sie sich zu Gabi um, die die Unschuld in Person war. Becca hatte ihr versprochen, einen Baum zu besorgen, sobald sie ihren Lohn erhielt. Kam die Sorge von Polizeichef Bowman aus dem Herzen, oder hatte Gabi irgendetwas erzählt …?
„Ich bin sicher, dass wir einen finden werden. Wir sind … noch mitten im Umzug. Die neue Arbeit, die neue Schule … wir hatten noch nicht viel Zeit für die … Weihnachtsvorbereitungen. Es ist ja erst November.“
„Das habe ich Destry auch gesagt, aber als wir heute Nachmittag in die Berge geritten sind, um unseren Baum zu schlagen, bat sie mich, auch für Sie einen zu fällen. Sehen Sie’s doch mal so: Jetzt haben Sie eine Sorge weniger, nicht wahr?“
Endlich zog er den Arm, den er ausgestreckt hielt, heran. Der Weihnachtsbaum in seiner Hand war dunkelgrün und duftete nach frischen Tannennadeln. „Einen besseren werden Sie nirgendwo finden. Wir haben ihn erst vor einer halben Stunde geschlagen.“
Ein Baum? Vom Chef der Polizei? Was war denn das hier für eine Stadt?
Schon seit ewigen Zeiten hatte Becca keinen Baum mehr geschmückt. Als sie allein gelebt hatte, war es ihr viel zu umständlich gewesen. Außerdem gab es nie viel zu feiern.
Ihr schönstes Weihnachtsfest hatte sie als Sieben- oder Achtjährige erlebt. Monica war gerade damit beschäftigt gewesen, das Bankkonto eines alten Witwers leerzuräumen, der Becca ins Herz geschlossen hatte – oder wenigstens so tat. Er hatte sein Haus weihnachtlich dekoriert – einen Kranz an der Tür, Strümpfe am Kamin … das ganze Programm. Und er hatte Geschenke besorgt.
Sie hatte den alten Mann wirklich gemocht – bis er die Polizei verständigt hatte, weil er Monica verdächtigte, ihn zu bestehlen. Becca hatte mit ihrer Mutter fliehen müssen, um dem Arm des Gesetzes zu entkommen.
Und jetzt stand der Polizeichef auf ihrer Türschwelle mit diesem schönen, duftenden Tannenbaum. „Ich … oh …“
„Ich kann ihn auch jemand anderem schenken, wenn Sie ihn nicht mögen“, schlug er vor.
„Ach, bitte.“ Mit beiden Händen griff Gabrielle sich ans Herz, als wirkte sie in einer kitschigen Vorabendserie mit. Es war die reinste Show.
Widerwillig gab Becca nach. Wie sollte sie sich bloß den Schmuck und die Beleuchtung für dieses blöde Ding leisten?
„Ein Baum wäre sehr schön. Vielen Dank.“ Ihre Halbschwester mochte eine ausgefuchste Schauspielerin sein, aber im Grunde ihres Herzens war sie immer noch ein kleines Mädchen. Sie hatte ein Weihnachtsfest verdient – wie armselig es auch immer ausfallen würde. Becca wollte ihr Bestes tun.
„Da ich nicht wusste, ob Sie einen Christbaumständer besitzen, habe ich Ihnen gleich einen mitgebracht. In der Ranch haben wir zwei davon. Wenn Sie mir zeigen, wo er hin soll, werde ich ihn gleich aufstellen.“
„Das ist nicht nötig. Das schaffe ich schon selbst.“
„Haben Sie schon mal einen so großen Baum aufgestellt?“
Sie zögerte, ehe sie langsam den Kopf schüttelte.
„Es ist gar nicht so leicht. Betrachten Sie das Aufstellen als Service.“ Trace wartete gar nicht auf ihre Einladung, sondern trug den Baum ins Wohnzimmer. Plötzlich schwebte ein Duft durch ihr Haus, der sie an längst vergangene, glücklichere Zeiten erinnerte.
„Er ist wunderschön!“, rief Gabi begeistert. „Der schönste Baum, den ich jemals gesehen habe.“
Becca betrachtete ihre Schwester, die sie noch nie so glücklich erlebt hatte. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung, und ihr Gesicht strahlte. „Es ist wirklich ein schöner Baum“, pflichtete sie ihr bei. „Wo soll Officer Bowman ihn denn aufstellen?“
„Vor dem Fenster, damit ihn jeder sehen kann.“
Trace schleppte den Baum vors Fenster und richtete ihn auf. Er passte genau in den Erker. „Hierhin?“ Fragend sah er Gabi an.
„Vielleicht ein bisschen mehr nach links?“
Amüsiert schob er den Baum in die gewünschte Richtung. Als Gabi nickte, warf er Becca einen fragenden Blick zu. Sie nickte.
„Gabrielle, könntest du den Christbaumständer von der Veranda holen?“, bat er das Mädchen.
Sofort lief sie hinaus und kehrte kurz darauf mit dem grünen Metallständer zurück.
„Gut. Ich halte den Baum jetzt hoch, und du schiebst den Ständer unter den Stamm, ja?“
Als Trace den Baum anhob, stellte sie den Metallkranz genau dorthin, wo er es ihr gesagt hatte.
Jetzt ist sie viel eifriger bei der Sache als bei ihren Rechenaufgaben, dachte Becca.
Trace hielt den Baum fest und wies Gabi an, die Schrauben in der Halterung anzuziehen. Mit wachsender Belustigung beobachtete Becca die Anstrengungen der beiden. Sei nicht übermütig, schalt sie sich. Das hier ist der Polizeichef. Und der gab sich zurzeit alle Mühe, einen riesigen Baum kerzengerade hinzubekommen.
Der erste Versuch ging ziemlich daneben. Als er und Gabi einen Schritt zurücktraten, um ihr Werk zu betrachten, stellten sie fest, dass der Baum wie betrunken zur Seite hing. Beide brachen in schallendes Gelächter aus.