Schöttau - Ein Heimatdrama - Michael Schwingenschlögl - E-Book

Schöttau - Ein Heimatdrama E-Book

Michael Schwingenschlögl

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Beschreibung

Wir reisen ins Jahr 1899 und begeben uns in die Steiermark. Irgendwo am Fuße des Dachsteins liegt ein längst vergessenes Tal mit der fiktiven Stadt Schöttau. Der Johann, der größte und mächtigste Bauer, ist der Herr des Tals. Zusammen mit dem scheinheiligen Pfarrer, dem gierigen Bürgermeister, dem feinen Grafen, dem zwielichtigen Hoteldirektor und ein paar anderen dubiosen Figuren hat sich der Johann in den letzten Jahren eine schöne, heile Welt errichtet. Sie fühlen sich unantastbar, nichts und niemand kann ihnen etwas anhaben. An einem kalten, grauen Morgen im Frühling verlässt der Johann gerade sein trautes Heim, als das ganze Übel seine Bahnen nimmt. Der Wilderer ist offenbar zurück, dabei hatte ihn der Johann doch im Dezember erschossen. Merkwürdige Botschaften tauchen auf, manch einer bekommt einen Gamskopf geschenkt und plötzlich gibt es den ersten Toten. Auf einmal wird auch noch ein Zug vor ihrer Haustüre überfallen und ein geheimnis-voller Bayer sowie ein desillusionierter Kommissar tauchen in Schöttau auf. Der feine Herr Graf engagiert einen gruseligen Typen namens Wilfried als Problemlöser und der dauerberauschte Pfarrer holt sich einen brutalen Schläger zu Hilfe. Nun droht die Situation gewaltig zu eskalieren. Was geht hier nur vor sich? Die Fragen werden mehr, die Antworten weniger und die Stimmung wird dunkler. Die mächtigen, unantastbaren Herren aus Schöttau sitzen alle im selben Karren, doch vor lauter Rausch, Wahn, blindem Stolz und Egoismus merken sie gar nicht, dass sie den Karren mit Pauken und Trompeten gegen die Wand steuern.

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2020

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SCHÖTTAU - Ein Heimatdrama

IntroVorwort1. Schöttau2. Ein alter Dämon kehrt zurück3. Der Wildschütz4. Auf Spurensuche5. Im Beichtstuhl6. Das alte Jagdgewehr7. Der Zug8. Birnenschnaps 9. Ein grauer Morgen10. Hirschbraten11. Vogelkunde12. La Messa da Requiem13. Der Heimkehrer14. Better call Wilfried15. Passionsspiele16. Die Bürgerversammlung17. 30 Silberlinge18. Trauer, Angst und Zweifel19. Vorfreude20. Das Geburtstagsfest21. Ein Sommernachtskonzert22. Geständnisse23. Katerstimmung24. Die letzte Schlacht25. Des König Dachsteins letzter GrußNachwort

Schöttau

Ein Heimatdrama

Michael Schwingenschlögl

Impressum © 2020 Michael Schwingenschlögl ISBN Paperback: 978-3-753127-11-8

Vorwort

Interviewer: Sehr geehrter Herr Autor, ich begrüße Sie. Michael: Ich interviewe mich doch wieder selbst. I: Fein. Sprechen wir lieber über Ihr mittlerweile zweites Buch. Es ist ein Heimatdrama geworden, das im Jahr 1899 spielt. Bin ich da richtig informiert? M: Ja, wir reisen dieses Mal ins Jahr 1899 und begeben uns ins steirische Dachsteingebiet. In einem verborgenen Tal liegt die fiktive Stadt Schöttau, wo sich ein dunkles Drama ereignet. I: Klingt ja schon einmal recht spannend. Erzählen Sie uns doch einmal, wodurch sich dieses Buch von Ihrem ersten unterscheidet. Sie haben mir ja vorhin gesagt, dass Sie sich doch sehr weiterentwickelt haben. M: Diese Geschichte lebt vor allem von ihrem schwarzen Humor und den Figuren. Bei der Märchenstunde ist ja der Erzähler sehr präsent gewesen und der Humor ist meistens von ihm und seinen Formulierungen ausgegangen. Der Erzähler schaltet sich jetzt nur noch am Anfang ein, ab der Stelle mit dem Zug zieht er sich fast gänzlich zurück. Das ist dann auch jener Punkt, an dem die Geschichte und der Humor immer dunkler werden. I: Schön. Kann man also sagen, dass der Erzähler und sein Erzählstil dieser Geschichte für Ihre persönliche Entwicklung stehen? M: Das kann man so sagen, so war es auch geplant. Ich kann vor mir selbst behaupten, dass ich mich gut entwickelt habe und mir der Sprung auf die nächste Ebene gelungen ist. I: Fantastisch! Wie Sie vorhin schon erwähnt haben, spielt Ihr neues Buch in der Steiermark. Wieso gerade die Steiermark und nicht Tirol oder Salzburg? M: Ich bin in den letzten Jahren viel in den steirischen Bergen unterwegs gewesen und habe mich in diese herrlichen Landschaften verliebt. Von daher musste ich nicht lange nach einem geeigneten Schauplatz suchen. I: Sie haben ja schon gesagt, dass diese Geschichte sehr von den Figuren lebt. Gehen Sie doch einmal kurz auf sie und die Geschichte ein, aber verraten Sie bitte nicht zu viel. M: Der Johann, der Bürgermeister, der Pfarrer, der Moosbacher Gustl und ein paar andere lustige Gestalten haben sich in der Stadt Schöttau eine schöne, heile Welt errichtet, die jedoch langsam zu bröckeln beginnt. Die Geheimnisse werden mehr und je mehr sie versuchen, diese zu lösen, desto unangenehmer wird es für sie. Niemand von ihnen hat eine weiße Weste und obwohl auch jeder von ihnen die Moral und das gute Gewissen beiseiteschiebt, so hat trotzdem jeder eine schrullige Seite, die man einfach gernhat. I: Ich unterbreche Sie jetzt an dieser Stelle, denn wir wollen uns jetzt alle selbst ein Bild davon machen. Möchten Sie noch etwas sagen? M: Gute Unterhaltung! I: Vielen Dank! Wir sehen uns dann nachher noch einmal.

1. Schöttau

Servus! Es freut mich wahnsinnig, euch endlich persönlich begrüßen zu dürfen! Vielen Dank, dass so viele nette Gesichter meiner Einladung gefolgt sind und sich hier und heute eingefunden haben. Der Einfachheit wegen könnt ihr mich gerne Sepp nennen. Ein passender Name, der sich gleich zu Beginn den alpenländischen Klischees bedient. Da setze ich mir doch noch geschwind meinen feschen Steirerhut mit Gamsbart auf. Perfekt!         Falls jemand die hollywoodreifen Teaser auf meinen, von Follower mittlerweile übergehenden, Socialmediakanälen noch nicht gesehen hat, oder nur wegen des versprochenen Freibiers gekommen ist, dem möchte ich nur kurz den Anlass unserer feinen Abendgesellschaft erklären. Wie bitte?        Ja, ich bin mir sicher, dass die Lieferung mit eurem Freibier in Kürze eintreffen wird. All jene, die der unendliche Durst nach frischem Hopfenglück bereits in staubige Mumien verwandelt hat, denen kann ich derweil gerne eine kleine Flasche Mineralwasser um 5€ oder eine Bouteille DAC von meinem Haus- und Hof Winzer um 30€ verkaufen.          Sie warten lieber auf das Bier, werter Herr? Auch gut.            Um es nicht unnötigerweise noch weiter in die Länge zu ziehen: Durch einen glücklichen Zufall im Zuge einer eher unglücklicheren Erbschaft, sind mir alte Schriftstücke und Dokumente in meine gepflegten Hände gefallen, die eine höchst brisante und interessante Story erzählen. Da ich einem netten und äußerst attraktiven Publikum, Gruß geht raus an die blonde Dame im Gucci Kleid in Reihe zwei, liebend gerne solch wunderbare Geschichten präsentiere und es auch schon einige Zeit her ist, dass ich so etwas zum letzten Mal gemacht habe, hat sich mir nun der Anlass geboten, eine kleine Zeitreise mit euch zu unternehmen und die Erlebnisse unserer Vorfahren zu erkunden.     Bevor es gleich losgeht, möchte ich noch eine Sache erwähnen. Wie ihr nun wisst, haben sich all die Geschehnisse, von denen ihr gleich hören werdet, tatsächlich so abgespielt. Böse Zungen mögen vielleicht behaupten, dass es einige geschichtliche und geografische Ungereimtheiten gibt und gar manches aus einer vor Fiktion nur so sprudelnden Quelle entspringt, und damit könnten sie aller Wahrscheinlichkeit recht haben. Aber sei‘s drum, lasst euch nun von mir in ein wunderbares Abenteuer entführen!

Der absolute Knaller ist ja, dass wir für unser heutiges Epos gar nicht weit reisen müssen. Wir bleiben einfach in unserem schönen Österreich! Um den Einstieg noch bombastischer zu gestalten, wäre jetzt wieder Musik angebracht. „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauss oder die „Sinfonia di caccia“ von Leopold Mozart würden sich da wohl thematisch ganz gut anbieten, aber ich habe nur eine Rammstein CD da, also fällt die musikalische Untermalung auch dieses Mal wieder aus und wir lassen die Instrumente nur in unseren Köpfen erklingen. Einverstanden? Toll!

Zu den imaginären Tönen der Hörner, Violinen und Trompeten begeben wir uns nun auf die Reise in eine atemberaubende Alpenkulisse. Irgendwo in den steirischen Teilen des Dachsteinlandes muss sich all das zugetragen haben. Das 19. Jahrhundert wog sich in seinen letzten Tagen. Ach, eine herrliche Zeit!       Österreich hatte noch einen Zugang zum Meer, der gute, alte Gulden war gerade durch Krone und Heller ersetzt worden und wir mussten uns damals noch nicht mit Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebungen, Neuwahlen, besoffenen Urlaubsgeschichten, Sondierungsgesprächen und Übergangsregierungen herumschlagen, denn Kaiser Franz Joseph aus dem Haus Habsburg-Lothringen stand an der Spitze der Macht. Traumhaft, oder?   Nur seine liebe Sissi hatte man kurz vor dem Start unserer Geschichte schon abgemurkst. Tragisch, aber wir haben ja alle die tollen Filme mit der bezaubernden Romy Schneider gesehen und wollen uns jetzt auch nicht mit den damaligen rot-weiß-roten Royals befassen.

Ach ja, ehe ich es vergesse: Die Leute in unserem Heimatdrama sprechen selbstverständlich alle im Dialekt. Ich werde das Gesagte jedoch aus erzählungsökonomischen Gründen in Hochdeutsch wiedergeben. Denkt euch aber bitte den Dialekt immer schön dazu, denn dann erscheinen die Worte und Sätze viel authentischer. Genug geschwafelt, auf geht’s!

Wir nähern uns einem wildromantischen Tal, das man so heute nicht mehr findet. Bedrohliche Wände und schauderhafte Türme aus bleichen Felsen thronten erhaben und einschüchternd über dem Tal. Zu deren Füßen erstreckten sich uralte Nadelwälder und sanfte Almen, deren leuchtendes Grün man vermutlich vom Mond aus sehen konnte. Garniert wurde das Ganze mit einem Farbfeuerwerk der schönsten Wildblumen. Noch war aber von dieser eben beschriebenen Sommersymphonie der Flora nicht wirklich etwas zu sehen. Langsam und schwermütig kam das sehnlich erwartete Frühjahr in seine Gänge. Die eisige Kralle des Winters legte ganz behutsam ihre erfrorenen Finger aus diesen pittoresken Gefilden.     Das Getier der Berge bemerkte als Erstes die Wiederankunft des Lenzes und feierte diese gebührend mit seinem Erwachen aus dem Winterschlaf. Bald darauf spürten auch die Menschen im Tal die leicht wärmer werdenden Strahlen des feurigen Himmelskörpers. Spärlich bekam das strahlend weiße Winterkleid auf den Almen und Berghängen braune und grüne Flecken. Allmählich änderte sich auch der Aggregatszustand der mächtigen Eiswände der gefrorenen Wasserfälle und erste Tropfen plätscherten quirlig dem Frühling entgegen. Grund genug für unsere Freunde im Tal, eine kleine Sause zu schmeißen.    Wie es sich für vornehme Gäste gehört, stoßen wir erst ein wenig später zu der illustren Feiergesellschaft hinzu.    Ich darf euch zunächst einmal den Schauplatz unseres epochalen Alpenthrillers vorstellen: Schöttau.

Schöttau war eine kleine Stadt, aber damit auch schon der größte Ort in dem prächtigen Tal, von dem ich euch eben erzählt habe.       Wie jedes Jahr war Schöttau auch im Winter 1898/99 für einige Wochen von der Außenwelt abgeschnitten. Die abenteuerliche Straße ins Ennstal war seit einiger Zeit wieder passierbar und so beehrte auch der ein oder andere auswärtige Gast die Frühlingsfete.      Fremden gegenüber war man in Schöttau immer sehr negativ gestimmt, außer sie hatten reichlich Zaster in den Taschen und am besten noch einen fetzigen Adelstitel obendrauf.    Viel war in unserer neuen Lieblingsstadt nicht los. Die meisten Einwohner waren Land- oder Forstwirte, streng katholisch und auch in allen anderen Gedanken, Taten und Worten ultrakonservativ. Sie waren dem Kaiserreich treu ergeben, am Sonntag ging jeder in die Kirche und die Frauen mussten den fleißigen Männern das wohlverdiente Mahl zubereiten. Eine heile Welt eben. In der „Innenstadt“, wenn man den winzigen Platz in der Stadtmitte so bezeichnen will, befanden sich selbstredend die wichtigsten Gebäude: die Kirche des heiligen Pankratius, das Wirtshaus und ein sehr altes, aber schön renoviertes Rathaus. Ein Hotel gab es auch noch, aber dazu werde ich später mehr erzählen. Lediglich eine Filiale der Raiffeisenbank gab es damals noch nicht, sonst wäre die kleine, ländliche Stadt perfekt gewesen.          Nun besuchen wir aber endlich einmal das lustige Fest.

Die spaßige Party hatte sich aufgrund der kühlen Temperaturen zu fortgeschrittener Stunde schon ins Innere des Gasthauses verlagert, das den Namen „Kirchenwirt“ trug und von dem geselligen Wirtspaar Anton und Herta Sagerer betrieben wurde. Der Sagerer Anton braute auch gemeinsam mit seinem Bruder Ferdinand das Bier für die Stadt, das berühmte „Schöttauer Bräu“. Das war noch ein richtiges Bier und kein Craft Beer Unfug mit Mangogeschmack.       Ob jung oder alt, alle waren sie noch kräftig am Feiern. Außer natürlich der Maierleitner Hans, der lag nämlich immer als Erster im Koma.     Da die Kehlen schon gut geölt waren, musste selbstverständlich ein Lied her.          Während alle Gäste auf ihren Stühlen saßen, oder sich darauf in einer gefährlichen Schräglage befanden, erhob sich ein Mann mit seinem Akkordeon. Ein Prachtkerl von einem Mann, obwohl er schon fast 50 war. Den kräftigen Körper hatte er allerdings nicht durch hippe Workouts und überteuerte Proteinshakes im coolen Gym bekommen, sondern durch die harte Arbeit auf der Alm und im Wald sowie durch seine wahnwitzigen und tollkühnen Bergtouren. Sein Gesicht wirkte kantig und vom Leben gezeichnet. Dieser Recke besaß eine Ausstrahlung, die all die riesigen und schroffen Felsgiganten vor der Haustüre erblassen ließ.          Mit seinem Erheben und dem Griff nach der Ziehharmonika, verstummten auch alle Festgäste. Er genehmigte sich noch einen großen Schluck Zirbenschnaps und legte los. Nicht einmal Gianluigi Buffon kann die italienische Nationalhymne so inbrünstig singen, wie der Kerl sein Heimatlied sang. Und jeder im Wirtshaus kannte den Song und tat es ihm gleich. Wenn jemand nicht mitsang, dann bekam es der stattliche Musikant mit und warf ihm für den Bruchteil einer Sekunde ganz unterschwellig einen derart frostigen und diabolischen Blick zu, dass derjenige sofort zu singen begann. Dieser Mann hatte irgendetwas Anziehendes, irgendetwas Faszinierendes an sich. Auch die jungen Damen in ihren schicken Dirndln himmelten ihn mit einem Glitzern in den Augen an. Diese Aufmerksamkeit und diese Begeisterung an seiner Persönlichkeit genoss er richtig und er sang mit einem breiten Grinser in der Visage immer lauter und lauter.

„…Hochdroben am Felsenkranz        Ehren wir unseren Kaiser Franz         Herrgott schütze unser Land   Die ganze Enns entlang          Holodereiduljo Holodereiduljo           Holodereiduljo Holodereiduljo

Wo unser König Dachstein thront      Und der schönste Bock dort oben wohnt       Wo der Adler einsam seine Kreise zieht         Und man bis zum großen Glockner sieht       Unsere Berge sind weltbekannt          Das ist unser stolzes Heimatland!“

„Schön hat er wieder gespielt, der Johann“, sagte die alte Rieder Bäuerin.     Ein wenig betrunken war sie schon, aber das war hier jeder. Ja, das war der Johann, benannt nach dem berühmten Erzherzog Johann.    Der Vater von unserem Johann hatte den Erzherzog oft auf seinen Wanderungen und Jagden begleitet. Unser Johann hatte den allseits bekannten Adeligen ebenfalls einmal kennengelernt, da war er aber noch ein kleiner Lausbub gewesen. Die Erinnerungen an damals verblichen aber nie. Der gute Johann genoss in der Gesellschaft ebenfalls einen hohen Rang, denn er war der größte und einflussreichste Bauer der gesamten Umgebung. Nichts im Tal passierte ohne seine Zustimmung. Er beschloss, wer heiraten durfte. Er beschloss, wer sich ein Haus bauen durfte. Er beschloss, wer sich neues Vieh zulegen durfte. Zynische Stimmen aus dem dunklen Hintergrund zischten, dass auch er bestimmte, wer sterben durfte.            Kaiser Franz Joseph regierte zwar das Habsburgerreich, aber der Johann Schöttau und sein Umland. Und niemand wagte es, ihm zu widersprechen, sein Wort war Gesetz. Sektenhaft folgten und vertrauten sie ihm alle.       Aber er war noch viel mehr. Er war, wie könnte es anders sein, der oberste Jäger in der Region und schoss immer den prächtigsten Bock. Im Wilden Westen hätten sie ihn sicher „One shot John“ genannt, denn er erlegte jedes Tier mit dem ersten Schuss. Zwischen Dachstein und Schneeberg gab es einfach keinen besseren Schützen. Vermutlich auch keinen besseren Alpinisten, Johanns nächstes Talent. Egal ob in den schauderhaften Wänden der Schöttauer Berge, am Dachstein, im Gesäuse oder am Hochschwab, er erklomm alles ohne Seil und Sicherung. Als tollkühn, todesmutig, verrückt und nicht wiederholbar, bezeichnete man seine Touren. Keine Wand war ihm zu steil, keine Platte zu abschüssig und kein Turm zu hoch. Meistens ging er allein, denn da war er schneller und konnte sich dabei komplett dem Berg hingeben. Außerdem hatte er schon zu viele Tragödien in den Bergen erlebt. Neben etlichen tapferen Bergkameraden hatte er auch seine beiden Brüder und den Vater seiner Frau bei seinen Unternehmungen verloren. Der Johann wusste, dass der Tod sein ständiger Begleiter war, aber es erschien ihm, als wäre er unantastbar, unbesiegbar gewesen.     Nun gut, wo sind wir stehengeblieben? Ach ja, beim Fest.

Nach seinem musikalischen Liebesgeständnis zu seiner Heimat, kippte er einen Viertelliter Zirbenschnaps mit einem Schluck hinunter und rief: „Wollt ihr noch ein Lied?“ „Ja!“, hallte es im Chor durch die stickige Wirtsstube.

„Vom Grimming weht der Schneewind rüber   Heut‘ zum aller letzten Mal im Winter   Jodeleidio Jodeleidio…“

Da wir nun den Johann kennen, darf ich euch auch noch weitere wichtige Persönlichkeiten in Schöttau vorstellen. Beginnen wir mit dem heiligen Triumvirat: Dem Bürgermeister, dem Pfarrer und dem Lehrer.        Ludwig, der Bürgermeister, war ein gieriger, verfressener und dem Alkohol schon komplett verfallener Mann. So etwas wie Anstand oder Moral kannte er nicht wirklich. Für eine Hand voll Heller und drei Flaschen Wein hätte er seine Großmutter, Gott hab sie selig, verklopft und sich dabei noch grinsend die Hände gerieben. Auch wenn die persönliche Bereicherung immer im Vordergrund stand, so war er tatsächlich der Überzeugung: „Was gut für mich ist, ist auch gut für alle anderen.“        Aber der Ludwig war im Grunde ein gemästeter Stier, der es nicht mehr aus dem Stall schaffte und ab und zu seinen Kopf beim Fenster rausstreckte und kräftig schnaufte. Denn wie wir alle schon wissen, hatte der Johann in Wahrheit das Sagen im Tal. Der Ludwig war da nur der etwas ungustiöse und griesgrämige Grüßaugust, der mehr zu sein glaubte, als er in Wirklichkeit war. Ihr seht, die Regionalpolitiker haben sich bis heute kaum verändert.       Weil wir uns gerade mit heiteren Persönlichkeiten befassen, wandern wir am wolkenlosen Himmel über Schöttau weiter der Sonne entgegen und treffen auf die nächste strahlende Gestalt: Pfarrer Pius.       Der gute Pius war nicht nur ein großer Verehrer unseres Herren, sondern ein noch viel größerer Verehrer des belebenden Rebensaftes und des gebrannten Blutes der Zirbenfrucht. Eines musste man ihm aber lassen: Obwohl in seinem Leben der Weingeist einen höheren Stellenwert als der Heilige Geist einnahm, er wie ein Schlot rauchte und er immerhin schon 68 Winter auf dem Buckel hatte, machte er einen erstaunlich fitten und kraftvollen Eindruck.        „Der Herrgott schaut auf mich und belohnt mich für mein sündenfreies Leben.“, meinte er immer. Eine tiefe, rauchige Stimme, ein strenger Blick und der stets erhobene Zeigefinger, waren seine Markenzeichen. Nach außen hin und in seinen Worten war er die Reinkarnation Jesus Christi, aber in Wahrheit leuchtete kein Heiligenschein von seinem Haupt, sondern nur Scheinheiligkeit. Als moralischer Scharfrichter, oberster Inquisitor und Teufelsaustreiber, war er immer der Erste, der mit dem Kreuz in der Hand an die Türen der armen Sünder pochte, doch vermochte er im stillen Kämmerchen, jedes der 10 Gebote mehrfach zu brechen, wenn sich irgendwo wieder die Chance auftat, am großen, goldenen Honigtopf mitnaschen zu können.

Ja, waren denn alle in Schöttau so falsche Fünfziger, fragt ihr euch?  Nein, so war Schöttau nicht, es gab schließlich noch die halbwegs unschuldigen Kinder, die vom Lehrer Xaver unterrichtet wurden. Welch ein Wunder, auch der alte Xaver war nicht unbescholten, denn er galt als Rebell! Ein brandgefährlicher Revolutionär, der auf seinen vielen Reisen den Theorien von Karl Marx gelauscht und an ihnen Gefallen gefunden hatte. Dies wiederrum gefiel dem Johann nicht und er unterrichtete seine Kinder lieber selbst.        „Der Xaver will die Bengel im Schulhaus zu Feinden des Kaiserreichs und des Patriarchats erziehen!“, sagte der Johann immer.            Ui, da gingen ja die Wogen in dem sonst so idyllischen Tal schon einmal hoch.        Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, waren der Johann und der Xaver auch sonst nicht die besten Freunde.

Gab es noch weitere lustige Figuren? Natürlich, zum Beispiel den Grafen. Ein ganz feiner Herr aus dem östlichen Niederösterreich, der etwas außerhalb von Schöttau einen feudalen Sommersitz besaß und Beziehungen bis ganz nach oben hatte. In letzter Zeit verbrachte er aber nicht nur die Sommer in Schöttau, sondern blieb bis in den Herbst hinein und kam früh im Jahr. Man munkelte, dass er sich in Schöttau versteckte, weil er einigen Leuten in Wien und Budapest bei schwindeligen Bankgeschäften und pyramidenspielartigen Geschäftsmodellen, einiges an Geld abgeknöpft hatte. Meine Güte, war das immer ein Theater, wenn der Graf nach Schöttau kam. Die ganze Stadt brezelte sich wie die Pfingstochsen auf, die Blaskapelle musste immer aufmarschieren, dirigiert natürlich vom Ludwig, die Jäger feuerten Salutschüsse ab und die alten Peitschenknaller wurden auch wieder von irgendwo ausgegraben. Eine fürchterlich peinliche Zeremonie, bei der man glaubte, der Kaiser höchstpersönlich würde Schöttau beehren. Dem Grafen gefiel es aber, dass ihm so hofiert wurde und er ließ immer brav einen Patzen Geld da.     Dann gab es noch Dr. Ignaz Frohnleitner, den etwas schrulligen aber äußerst kompetenten Arzt in Schöttau. Der Bergdoktor, der keine Ähnlichkeit mit Hans Sigl oder Gerhard Lippert hatte, lebte zurückgezogen am Waldesrand und war allseits beliebt. Weiters nicht unerwähnt lassen möchte ich Bertl, den redseligen Briefträger, Ulrich, den mürrischen Postmeister, Walter, den schlitzohrigen Kaufmann und Alfred und Peter, die beiden pflichtbewussten Gendarmen. Keine Sorge, weitere drollige Schöttauer werden wir im Laufe dieser Geschichte noch kennenlernen.   

Was ging sonst noch so in Schöttau ab?         In den letzten Jahren hatte die kleine Bergstadt einen Aufschwung erlebt. Das nahegelegene Ennstal war Mitte der 1870er durch die Eisenbahn erschlossen worden und somit fanden auch die ersten Halbschuhtouristen, Sommerfrischler und ernsthaften Alpinisten aus Wien und Ungarn den Weg nach Schöttau. Verständlich, denn all die saftigen Almen und mystisch anmutenden Wälder, die von den bleichen Felsbestien majestätisch überragt wurden, waren ein absolutes Highlight. Würde es das Schöttauer Tal heute noch geben, wäre es sicher bei den ganzen coolen Influencern auf Instagram wahnsinnig beliebt.           Anfangs standen die Menschen in dem bezaubernden Tal noch geschlossen gegen die reisewütigen „Frischluftdepperten“ und hätten diese am liebsten wieder, mit Fackel und Heugabel bewaffnet, in die östlichen Teile des Kaiserreichs zurückgeschickt. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Plötzlich hörten alle in Schöttau diese lieblichen Töne, die damals noch die Gulden von sich gaben, als sie fröhlich auf irgendeinen Tresen prasselten. Und dann saßen sie schon beim Kirchenwirt, der Ludwig, der Johann, der feine Herr Graf, der Pfarrer und all die anderen Gierschlunde und beschlossen einstimmig: „Ein Hotel muss her!“ Nur wer sollte es betreiben?    Die Sagerers, das gesellige Wirtspaar, vermieteten schon vier kleine Zimmer und zusammen mit der Wirtsstube waren sie komplett ausgelastet. Für so ein großes und wirtschaftlich wichtiges Projekt, bedurfte es einer wahren Gastronomiekoryphäe! Die wurde selbstverständlich schnell gefunden: der Moosbacher Gustl.       Immerhin hatte er ein paar Monate zuvor in Schladming ein Gasthaus und ein Hotel mit Pauken und Trompeten gegen die Wand gefahren. Ja, der Moosbacher Gustl war definitiv der richtige Mann dafür, daran gab es keinen Zweifel. Obendrein war er ja eng mit dem Ludwig befreundet und mit dem Johann und mit dem Grafen und mit dem Pfarrer, da mussten sie ihm schließlich in seiner finanziellen Notlage etwas unter die Arme greifen. So kam es, dass er im Mai 1884, also gut 15 Jahre vor unserer eigentlichen Geschichte, das traumhaft schöne Hotel „Dachsteinblick“ eröffnen durfte.      Zu der Eröffnung waren sie dann alle wieder wie die Pfingstochsen geschmückt aufmarschiert: Die Blaskapelle, die alten Peitschenknaller, der Graf samt Gattin und einem Ehrengast aus Italien und die Jäger mit ihren Salutschüssen. Mei, war das wieder eine großartige Veranstaltung!

Doch mit den Touristen zogen nicht nur viele Münzen und Geldscheine ins Tal ein, sondern auch die großen Tragödien.       Es war diese unbeschreibliche und nie enden wollende Sehnsucht nach den imposanten Bergen und ihren Herausforderungen, die viele Wanderer und Kletterer bis in den Tod trieb. Wird man von einem Berg erst einmal in seinen Bann gezogen, dann lässt dieser einem auch nicht mehr los, nie mehr wieder.        Und wenn man sie heute alle fragen würde, so würde es niemand bereuen, dass er an seinem Schicksalstag nicht unten im Tal geblieben war. Der Johann war bei vielen Dramen live dabei, sah die Körper aus der Ferne oder ganz nah aus den Wänden fallen, barg die Leichen und half zahlreichen Verletzten.      Wie ihr euch denken könnt, war der Ludwig natürlich sehr traurig über die vielen Toten, denn sie konnten dann kein Geld mehr in Schöttau lassen.     Dem touristischen Aufschwung im Tal taten all die verunglückten Bergkameraden aber keinen Abbruch und so kam es, dass im Jahr 1893 auf der Rittstaller Alm die erste bewirtschaftete Hütte im Schöttauer Land eröffnet wurde.            Die Luise, Johanns älteste Tochter, und ihr Mann Fritz wurden die Hüttenwirte.     Auf der schicken Terrasse konnte man mit einem feinen Gebräu im Krug an schönen Tagen die herrliche Aussicht auf den Dachstein und bis weit hinein in die Hohen Tauern genießen.          Ja, der Johann hatte vier Kinder mit seiner Frau, der lieben Anna. Ihr jüngster Bengel war der Hubert. Er war 20 Jahre alt und kam eher nach seiner Mutter. Anders als sein Vater, war der Hubert kein Bergsteiger und Jäger. Dafür half der ruhige Junge fleißig am Hof mit und er hatte einen Teil der Waldarbeit über. Die jüngste Tochter, die Theresia, war vier Jahre älter als der Hubert und sie war so ziemlich das hübscheste Mädchen in Schöttau. Obendrein war sie sehr intelligent und der Johann bezeichnete das blonde Dirndl immer als seinen Engel. Ihre ältere Schwester, die Luise, war 29 und bewirtschaftete, wie eben erwähnt, seit sechs Jahren mit ihrem Mann die Rittstaller Alm.      Dann gab es noch einen Sohn, den Erstgeborenen, aber über ihn verlor der Johann kein Wort.

So, wo sind wir stehen geblieben?       Genau, bei dem heiteren Fest, bei dem der liebe Johann gerade mit voller Leidenschaft sein schönes Heimatlied gesungen hatte.           Die Sause dauerte noch die ganze Nacht über an. Es wurde weiter gesungen, getanzt, gesoffen und gelacht.           Und alle applaudierten, als des Brenner Karls jüngster Bub, der Erich, endlich den Mut aufbrachte und die bildhübsche Wirtstochter Marie küsste. Die Leiden des Winters waren vergessen, die Freude überwog und man dankte dem Herrn, dass man auch heuer wieder von einer großen Lawine verschont geblieben war. Auch wenn das letzte, große Lawinenunglück schon fast 40 Jahre zurücklag, so geisterte doch jedes Jahr die Angst vor dem weißen Tod umher.

Sehen wir uns doch diese Tragödie von einst einmal kurz an. Damals wurden mehrere Häuser, Ställe und Heuschober zerstört. Außerdem fanden ein kleiner Bub, Johanns Großvater und eine junge Magd in den Schneemassen ihren qualvollen Tod. In jenen dunklen Tagen waren der Ludwig und der Pfarrer übrigens noch ganz frisch in ihren Ämtern. Während der Ludwig mit der ganzen Situation völlig überfordert war, half der Pfarrer bei der Suche nach Verschütteten mit. Führend war hier Johanns Vater, der ja in der Katastrophe seinen Vater verloren hatte. Im anschließenden Frühjahr stieg der Pfarrer auf den Berg, von dem das kalte Monstrum gekommen war und betete. Er betete, dass Schöttau nie mehr wieder von einer Lawine heimgesucht werden sollte. Seine Gebete wurden anscheinend erhört, und das feierten die Schöttauer jedes Jahr. Sehr ausschweifend, auch im Jahr 1899, zum Zeitpunkt unserer eigentlichen Geschichte.    Doch all dieser Trubel und die überschwängliche Fröhlichkeit sollten nicht allzu lange andauern.

Am nächsten Tag schlug der Winter wieder mit klirrendkalter Faust zurück. Der Eiswind pfiff durch die Gassen und der Nebel hing tief und schwer im Tal.  

2. Ein alter Dämon kehrt zurück

Der Johann verließ mit einem feschen Winterhut am Kopf gerade sein trautes Heim, als das ganze Übel seine Bahnen nahm. Ein Mann kam auf ihn zu gerannt und war dabei völlig aus dem Häuschen.   Es war der Kaufmann, der Greiler Walter, der keuchend zum Johann rief: „Komm mit! Du musst zum Ludwig! Sofort!“           „Ich bin ja eh schon am Weg ins Rathaus! Warum bist du noch nicht dort und rennst stattdessen wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend?“, antwortete er dem lieben Walter.         Dieser rang nach seinem Sprint quer durch Schöttau noch immer nach seinem Atem und meinte: „Nein, nicht ins Rathaus, du sollst zum Ludwig nachhause kommen! Es ist etwas passiert!“  Unser Johann runzelte die Stirn, zündete sich ein tabakhaltiges Lungenfrühstück an und fragte: „Jetzt? Was soll denn jetzt in aller Herrgottsfrüh schon Großartiges passiert sein? Ist er in seinem Rausch wieder die Stiegen hinuntergestürzt?“       „Nein! Komm einfach mit, dann wirst du es schon sehen! Der Pfarrer ist auch schon dort und der Brenner Karl holt den Grafen.“, antwortete der Kaufmann und drängte auf den morgendlichen Spaziergang zum Anwesen des Bürgermeisters.           „Ja, ja, gehen wir!“, brummte der Johann.

Als die beiden dann knapp vor ihrem Ziel waren, trafen sie auf den Grafen und den Brenner Karl, die beide ebenfalls hurtig durch die nebligen Gassen schritten.    „Guten Morgen, Herr Graf! Guten Morgen, Karl!“, grüßte sie der Johann.   „Schauen wir einmal, ob es ein guter Morgen wird.“, meinte der feine Herr Graf mit strenger Miene.          Still war es und kalt, fürchterlich kalt, der Wind war bissig, eisige Nadelstiche quälten ihre hübschen Gesichter und in ihren Augen konnte man ihnen noch den Rausch des letzten Abends ansehen.     Die vier Männer traten ins Haus ein und bewegten sich Richtung Stube, dort warteten nämlich bereits der Ludwig und der Pfarrer. Es war eine schöne, alte Bauernstube mit viel Holz, viel Rauch und wenig Licht.    In der Türschwelle angekommen, schmiss der Bürgermeister dem illustren Quartett einen Zettel zur Begrüßung zu und brüllte wie von Sinnen: „Da schaut, was mir jemand an die Haustüre genagelt hat!“      Knallrot war sein Kopf, leicht grauslich anmutende Schweißperlen tröpfelten fröhlich von seinem Gesicht hinunter und aus seinen beiden Sehorganen schimmerte die Angst hervor. Eine alte Angst, eine längst vergessene und äußerst böse Angst. Ja, ihr Bürgermeister hatte schon einmal besser ausgesehen, wenn auch nicht viel.        Der Johann hob das zerknüllte Schmierpapier auf und las laut vor, was darauf in Großbuchstaben stand: „ICH SCHLITZ DICH AUF, DU FETTE SAU!“  Er reichte den vermeintlichen Liebesbrief dem Grafen weiter, zündete sich noch eine Tabakstange an und sagte mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht: „Ein Lausbubenstreich! Und darum veranstaltest du zu dieser frühen Stunde so ein Theater?“          „Jetzt setzt euch alle einmal nieder! Der gute Ludwig ist da einer anderen Meinung.“, sprach der Pfarrer mit seiner rauchigen Stimme.       Sein Blick war wieder streng, sehr streng, aber das war er immer.      Die vierköpfige Morgenvisite kam den Worten des geistlichen Vaters nach und nahm auf den schönen Holzstühlen bei Tisch Platz.            „Das war kein Lausbubenstreich!“, schrie der beleibte Stadtchef und wollte, mit wilden Gesten untermalt, seine Sicht der Dinge erläutern.       „So!“, fuhr der edle Graf dazwischen und meinte weiter: „Ludwig, du trinkst jetzt einmal einen Schnaps und beruhigst dich schön dabei! Was soll es denn sonst sein?“      Unser lieber Ludwig griff nach einer Flasche Sliwowitz, die zufälligerweise schon am Tisch stand und genehmigte sich einen relativ großzügigen Schluck daraus. Nachdem die wohltuende Spirituose in seinem Saumagen schwamm, der ihm ja drohte, aufgeschlitzt zu werden, schien er wieder etwas gechillter zu wirken und rief: „Er ist zurück! Er will uns alle holen!“     Der Pfarrer ließ sich nicht lumpen, machte selbstverständlich bei der lustigen Schnapsverkostung am frühen Morgen mit und nachdem auch er einen überdimensionalen Schluck Sliwowitz intus hatte, meinte er: „Unsinn, Ludwig! Wir haben das doch alles vorher schon besprochen! Der Johann hat ihn im Dezember erschossen, der Schrecken ist längst vorbei!“   Nun meldete sich einmal der Brenner Karl zu Wort: „Genau so ist es! Ich bin ja an dem Tag dabei gewesen, als ihn der Johann erledigt hat, ein glatter Blattschuss, wie man es von ihm gewohnt ist.“    Dann lachte er, schnappte sich ebenfalls die mittlerweile schon gut geleerte Flasche und ließ den herrlichen Brand der blauen Früchte genussvoll über seine Lippen quellen.      Der aufgewühlte Ludwig schüttelte nur seinen roten Kopf und sagte: „Aber genau so hat es doch aufgehört! Zuerst hat er uns den ganzen Sommer über die schönsten Böcke weggeschossen und als ihn der Pichler Wilhelm in die Falle getrieben hat und ihn dabei fast geschnappt hätte, hat er ihm ins Knie geschossen und lachend gemeint, er erschießt uns alle, wenn wir ihn weiterhin verfolgen. Der Johann, der Graf und ich werden die Ersten sein, hat er zum Pichler gesagt.“    Da musste der Johann kräftig mit seiner Faust auf den Tisch pochen und sprach dabei ernst: „Ludwig! Ich habe den Wilderer am 3. Dezember erschossen, weit oben bei der Leitnermauer. Ein glatter Blattschuss, wie der Karl es richtig gesagt hat, der ist sofort tot gewesen. Und außerdem haben wir die Leiche dann verschwinden lassen, sonst hätte die ja noch einer von diesen angerannten Gästen gefunden.“    Pfarrer Pius nickte und sagte: „Nur unser Herr Jesus Christus konnte von den Toten auferstehen! Oder meinst du gar, dass der Wildschütz Jesus war? Das war doch nur ein verrückter Rabauke aus dem Ennstal oder droben aus Gosau. Niemand kannte ihn und niemand vermisst ihn. Niemand war hier und hat nach einem verschwundenen Kerl in schwarzem Lodengewand gefragt.“    Mittlerweile zeigte die verschnörkelte Kuckucksuhr in der Bauernstube halb acht an, der Johann sah dies, erhob sich und meinte dabei: „Wie gesagt, nur ein Lausbubenstreich! Und überhaupt, der Wilderer wollte uns doch erschießen und nicht aufschlitzen. Abgesehen davon, dass er schon seit Monaten tot ist. Da haben eben gestern ein paar Rotzlöffel heimlich Bier getrunken und sich dann den Blödsinn ausgedacht. Aber auf jetzt, wir müssen noch kurz in den Rathauskeller und alles fertig machen.“   Ja, der gute alte Rathauskeller, eine tolle Spelunke. Eigentlich war es ja ein schönes Gewölbe, in dem der Sagerer Ferdinand sein Bier ausschenkte und jeden Sonntag ein kleiner Umtrunk für die Männer nach der heiligen Messe veranstaltet wurde, damit die Frauen in Ruhe den Braten kochen konnten. Nur nagte schon ein wenig der Zahn der Zeit an dieser hippen Partylocation und die feuchte, abgestandene Luft mit erfrischender Bier- und Tabaknote, sorgte beim Betreten immer für einen kleinen Atemstillstand. Dafür war das Mauerwerk wirklich schön und die große Theke aus dunklem Holz hatte auch ihren Anreiz.       Bevor sich der Johann, der Ludwig, der feine Herr Graf, der Brenner Karl und der Greiler Walter dorthin auf den Weg machten, um eben wie erwähnt, alles herzurichten, denn das war Chefsache, sagte der Pfarrer mit erhobenem Finger: „Beeilt euch, in einer halben Stunde beginnt die Messe!“

Gebete für Sebastian Kurz gab es in diesen Tagen noch keine, aber die Messe war dennoch immer nett. Satte zwei Stunden, von acht bis zehn Uhr morgens, dauerte der sonntägliche Gottesdienst immer und fast eine Stunde davon, nahm die Predigt ein. Ein gottesfürchtiges Geschwurbel voller Pathos, Moral und Geschichten aus der guten, alten Zeit, in dem Pfarrer Pius immer voll und ganz aufging.          Da war es nur selbstverständlich, dass bei dem Frühschoppen im Anschluss, die Krüge weggingen wie sonst nur auf dem Münchner Oktoberfest. Natürlich war das damals schon weit über die Grenzen Münchens hinaus bekannt. Und natürlich war der Johann auch schon mehrmals dort gewesen und war 1892 sogar mit dem ersten elektrisch betriebenen Fahrgeschäft auf dem Fest gefahren. Obendrein brachte er immer ein großes Fass Festbier mit nach Schöttau, das dann immer freudig verkostet wurde.   Wie bitte? Ja, der Graf durfte es immer anzapfen und bekam den ersten Krug. Der Johann dann den zweiten, der Ludwig den dritten, der Pfarrer den vierten, der Moosbacher Gustl den fünften, der Brenner Karl den sechsten, der Greiler Walter den siebten, der Doktor den Achten und der Lehrer Xaver bekam gar keinen, weil er ein Marxist war.     So zog auch immer ein klein wenig Oktoberfestfeeling nach Schöttau ein. Eine Besonderheit der damaligen Zeit, denn damals fand das Oktoberfest ausschließlich in München statt. Im Gegensatz zu heute, wo mittlerweile jedes schäbige Dorffest in der entlegensten Gegend ja eine „Wies’n“ ist. Jawohl, der Lederhosenballermann in Hinterschaßstetten, wer kennt ihn nicht? Ein „Festzelt“ mit reichlich Raiffeisenbanner und eine billige Saufband genügen und schon stopfen sich alle in ihre Pseudotracht. Wenn dann alle im Vollsuff auf der Bank herumhüpfen, geht die Gaudi dann richtig los. Bis der erste Kasperl das Gleichgewicht verliert und in die Bierkrüge katapultiert wird und ein anderer das trockene Grillhuhn von vorher unter den Tisch kübelt. Wirklich toll, dieses neugeschaffene Bild der wiederentdeckten Liebe zur kitschigen Heimatromantik. Na gute Nacht, aber jeder wie er will.

So, wieder einmal über die Gesellschaft hergezogen, wo waren wir? Genau, beim Frühschoppen! Meine Güte, da bin ich aber jetzt abgedriftet. Egal, begeben wir uns nun endlich in den Rathauskeller.

Am großen Stammtisch saßen natürlich all unsere Freunde aus der Schöttauer Schickeria und diskutierten über das neue Hotel und vor allem deren Finanzierung.           Ja, es wurde gerade ein zweites Hotel gebaut und dessen Eröffnung war für Anfang Juli geplant. Nur haperte es noch am Geld, um es fristgerecht fertigzustellen.       Weil der Moosbacher Gustl so einen Erfolg mit seinem ersten Hotel hatte, baute man ihm, ohne lange zu überlegen, ein zweites, na Prost Mahlzeit. Der Moosbacher Gustl war wirklich ein wirtschaftliches Genie. Sein Hotel war seit 15 Jahren von Mai bis Oktober restlos ausgebucht, aber dennoch wurden die Verluste von Jahr zu Jahr größer. Den Typen konnte man mit Geld zuschütten und im nächsten Augenblick war der ganze Zaster auch schon wieder spurlos verschwunden. Zu seinem Glück lag Schöttau recht ab vom Schuss und so blickte kaum einer in seine vorbildlich geführten Bücher. Falls doch jemand einmal daran Interesse bekundete, so wurde ihm prompt ein Riegel vorgeschoben, denn der feine und durchaus mächtige Graf hielt schützend seine Hände über ihn. Der Graf war auch sein größter Finanzier und hatte ihn schon ein wenig in Schladming unterschützt, wo sich der Moosbacher Gustl allerdings nicht mehr blicken lassen konnte. Auch der Johann, der Ludwig und der Pfarrer waren an der Finanzierung des neuen Hotels beteiligt. In letzter Zeit verschwanden sie zusammen mit dem Grafen für einige Tage und machten unten im Ennstal, in Graz und auch in Salzburg irgendwelche höchst schwindeligen Geschäfte. Der Brenner Karl war anfangs ebenfalls dabei, stieg aber dann bald aus, da ihm das Ganze zu heiß wurde. Ihre fragwürdigen Deals interessierten auch den Xaver, der ihnen nachspionierte und da einen großen Skandal aufdecken wollte. Jedoch bekam der Johann bald Wind davon und klopfte dem Lehrer gehörig auf die Finger. Was da genau zwischen den beiden passiert war, kann ich euch leider nicht sagen. Ich weiß nur, dass der Xaver eines Tages plötzlich ein blaues Auge hatte. Von einer dummen Wirtshausschlägerei in Bad Mitterndorf, wie er meinte. Eine besoffene Geschichte also.         „Keine Sorge, nächste Woche trifft wieder eine nette Summe ein, dann wird das Hotel fertig gebaut.“, versicherte der Graf den restlichen Stammtischgästen. „Perfekt!“, freute sich der Moosbacher Gustl und streckte seinen Krug in die Höhe.

Na, da kam wieder Freude auf! Nur der Ludwig wirkte noch ein wenig betrübt und nuckelte ungewöhnlich behutsam an seinem schönen Bürgermeisterkrug aus Ton mit dem Schöttauer Wappen darauf .      „Jetzt mach nicht so ein Gesicht, Ludwig! Vergiss endlich den komischen Zettel von den Lausbuben.“, sagte der Johann und klopfte ihm dabei auf die Schulter.          „Und wenn es doch keine Lausbuben waren? Dann liege ich vielleicht morgen aufgeschlitzt auf der Straße!“, entgegnete ihm der Bürgermeister. Der Johann schüttelte seinen Kopf und sagte: „Niemand wird hier aufgeschlitzt! Das waren sicher die Rotzbuben vom Jamminger Max, die machen immer so einen Unfug, das sind die gleichen Deppen wie ihr Vater. Weißt du was? Ich frage ihn jetzt.“         Unser Freund erhob sich, steuerte auf den Tisch zu, an dem der lustige Jamminger Max saß und sagte laut zu ihm: „Max! Haben deine Buben gestern etwas vom Bier gesoffen?“          Der Jamminger Max blickte ihn mit einer wunderbaren Gleichgültigkeit an und antwortete: „Was weiß ich, was die gestern getrieben haben. Wieso?“ „Dem Bürgermeister hat gestern jemand einen Streich gespielt, waren das vielleicht deine Buben?“, fragte Johann weiter. „Kann schon sein, die treiben ja immer irgendeinen Schabernack, ihre Mutter hat sie total verzogen. Die sollten lieber öfters mit mir in den Wald gehen, als bei dem Trampel daheimbleiben.“, meinte der fröhliche Max.

Ui, diese Ehe schien perfekt zu sein, da flatterten ja direkt noch die Schmetterlinge in seinem Bauch.

„Hast du gehört, Ludwig? Das sind wahrscheinlich die Jamminger Buben gewesen!“, rief der Johann dem Bürgermeister zu.        Dieser nickte nur schwerfällig und trank von seinem Bier. So wirklich wollte er nicht daran glauben und er befürchtete weiterhin Schlimmes. Sein Kopf war noch immer knallrot und der appetitliche Schweiß plätscherte ebenfalls unaufhaltsam sein mitgenommenes Gesicht herab. Dann ging der Johann zum Stammtisch zurück und setzte sich zum Brenner Karl.   „Na Karl, dein Erich und die Sagerer Marie? Musst du heuer gar zwei Hochzeiten ausrichten?“, fragte er ihn.         Der Brenner Karl lachte und antwortete: „Ja, ich habe ihn schon gefragt, er will erst im Herbst heiraten, weil es da romantischer ist, meint er. Aber mein Georg und deine Theresia werden auf jeden Fall am 6. August heiraten, das ist in den Stein gemeißelt.“

Oh, welch spannende Neuigkeiten, da werden also der Johann und der Brenner Karl bald miteinander verwandt sein, das passt doch!

Wie bitte? Wer der Brenner Karl eigentlich war?

Der Brenner Karl war im Prinzip so etwas wie Johanns kleiner Bruder, obwohl er ein halbes Jahr älter war. Wie der Johann war auch der Brenner Karl ein stattlicher Recke, auch wenn er vielleicht ein bisschen schlanker war und er ein paar Gramm an Muskelmasse weniger hatte. Karl war immer der Zweite. Er war der zweitgrößte Bauer in Schöttau, er war der zweitbeste Schütze und er war immer als Zweiter auf den schwierigsten Bergen. Außer ein einziges Mal am berühmten Admonter Reichenstein, Johanns Schicksalsberg. Dort war der Johann einmal abgestürzt und hatte sich dabei schwere Verletzungen zugezogen. Den Abstieg hatte dieser Teufelskerl aber dennoch ohne Hilfe geschafft.  Danach hatte er gehörigen Respekt vor diesem Berg, kehrte oft zurück, versuchte sich erneut an dem bleichen Felsgiganten, drehte aber immer an seiner Absturzstelle wieder um. Er war also doch nicht unbesiegbar, aber dies war auch seine einzige Niederlage.      Obwohl die beiden schon seit der Schule beste Freunde waren und sich immer als Brüder anstatt als Konkurrenten sahen, aber das mit dem Reichenstein hat sich der Brenner Karl einfach nicht verkneifen können.   Und so war er der Erste aus Schöttau, der da oben stand und nicht der Johann, wie sonst immer. Auch wenn es der Johann nie zugab, aber die Aktion hatte ihn schwer getroffen.     Der Brenner Karl als erster Schöttauer auf seinem Schicksalsberg, in your face, wie man heute so schön sagen würde. Außerdem war der Brenner Karl einer der wenigen aus der Schöttauer Schickeria, der sich gut mit dem Xaver verstand. Er unterstützte seine Ansichten nicht wirklich, fand sie aber dennoch interessant und die beiden diskutierten und philosophierten ab und zu bei einem guten Glas Wein über die Welt und alles andere.

Bevor wir schon wieder abdriften, begeben wir uns zurück in den Rathauskeller.

Dort sprang nämlich plötzlich die Türe auf und die edle Frau Gräfin trat herein. Sie wirkte ziemlich aufgebracht und eilte mit entsetzter Miene zu ihrem Göttergatten. Die schick gekleidete Adelige fuchtelte wild herum und schrie wie am Spieß, der feine Herr Graf konnte sie nur schwer beruhigen. „Was ist denn?“, fragte der Johann.    „Eine Katastrophe! Kommt alle mit!“, kreischte die Gräfin.  „Liebste Irmgard, so beruhige dich doch endlich, die Leute schauen schon so komisch.“, sagte ihr mitfühlender Ehemann und strich ihr lieblich über die bleiche Wange.       In Wahrheit machte er sich aber mehr Sorgen um die komischen Blicke der anderen als um seine Gattin.   Die Gräfin wedelte mit ihrem Fächer, atmete tief durch und sprach: „Kommt mit, seht euch die Katastrophe selbst an.“     „Hat man euch einen Zettel an die Türe genagelt?“, fragte der Ludwig, der an diesem Tage selbst schon einen gehörigen Schrecken erlebt hatte. „Viel schlimmer!“, meinte die feine Gräfin.    „Na dann gehen wir eben!“, sagte ihr Gatte und ergänzte: „Johann, Ludwig, Pius, Karl, Walter, ihr geht alle mit! Alfred und Peter, ihr ebenfalls, oder brauchen wir keine Gendarmerie, liebste Irmgard?“ „Natürlich brauchen wir die! Die Armee würden wir benötigen!“, quietschte sie.      „So schlimm wird es schon nicht sein.“, meinte der Johann.

„Erzähl uns doch einmal, was denn da passiert ist.“, sagte der noble Herr Graf zu der noblen Frau Gräfin, als sie am Weg zu ihrer feudalen Villa waren.           „Als ich vorhin von Kirche heimgekommen bin, habe ich schon beim Gartentor bemerkt, dass da etwas mit der Haustüre nicht stimmt.“, sagte sie und fügte noch hinzu: „Übrigens, es ist wieder eine wundervolle Messe gewesen, lieber Pius.“ „Danke, danke! Solch löbliche Worte aus dem Mund einer so fantastischen Dame und einer so vorbildhaften Christin zu hören, ist eine wahre Wohltat in diesen Tagen. Gott schütze Sie.“, bedankte sich der Pfarrer.    „War die Türe denn aufgetreten? Hat wer bei uns eingebrochen? Nicht, dass sie mir mein italienisches Porzellan gestohlen haben.“, meinte der besorgte Graf. Die hysterische Gräfin rang wieder mit den Tränen und antwortete: „Nein! Draufgenagelt haben sie uns etwas! Aber das werdet ihr bald sehen.“ „Jetzt geht es los! Wir werden alle sterben!“, rief der stets optimistische Bürgermeister.       „Unsinn Ludwig, niemand wird sterben.“, meinte der Johann und schüttelte dabei seinen Kopf. „Dass dieser Tag kein guter wird, habe ich schon gespürt, als ich in der Früh das Fenster aufgemacht habe und mir diese eisige Luft ins Gesicht geblasen hat. Der Teufel hat in der Nacht seine Runden gedreht, das habe ich sofort beim ersten Luftzug gemerkt. Es hat nach Schwefel gerochen. Jawohl, der Höllenfürst persönlich geht um!“, sagte der Pfarrer.      Das mit dem Teufel war natürlich nur sein übliches Geschwurbel, aber der Pfaffe hatte schon recht, es war ein seltsamer Tag. Man hatte das Gefühl, es war noch November und nicht schon Anfang April. Neblig war es, so neblig wie schon lange nicht mehr, die Sicht reichte ja kaum mehr als einen Meter weit. Eine graue Walze, die in jedem Winkel Einzug fand und von einem eiskalten Lüftchen begleitet wurde. Ich frage mich nur, wie die werte Frau Gräfin bei diesem Nebel die Haustüre vom Gartentor aus sehen konnte, wie sie uns eben erzählt hatte. Ja, sie stand unter Schock und wir werden in Bälde wissen, ob das auch berechtigt war, oder ob sie maßlos übertrieb.      Die kleine Gruppe war der Villa schon sehr nahe, ein äußerst beschwerlicher Spaziergang bei diesem Wetter.         „Dieser verdammte Nebel wird ja immer dichter! Ich hoffe, wir verlaufen uns hier draußen nicht.“, sagte der Ludwig und der Johann entgegnete ihm: „So ein Blödsinn! Wir gehen ja nur zum Grafen und wandern nicht irgendwo in der Schweiz umher.“   Nach einigen weiteren zurückhaltenden Schritten in der Nebelsuppe, standen sie nun endlich vor der Haustüre und schauten alle dumm aus der Wäsche.

„Das ist ja ein Gamsbock!“, stellte der Graf richtig fest und fuhr mit seiner profunden Analyse fort: „Da hat uns wer den Kopf von einem Gamsbock an die Türe genagelt. Ja, Kruzifix!“ „Während wir alle in der Kirche waren! Ich habe es euch gesagt, der gefallene Engel treibt sich herum!“, ergänzte der Pfarrer und streckte ihnen seinen Zeigefinger ins Gesicht.           „Das ist ein Zeichen! Man wird uns alle holen!“, rief der Ludwig, der von dem kleinen Spaziergang noch immer völlig außer Atem war. Der Empfänger des netten Geschenks wirkte viel gelassener als der Ludwig oder gar die vornehme Gräfin, die wieder Rotz und Wasser heulte und meinte nur: „Den Bock muss ja wer gewildert haben.“ „Freilich, oder glaubst du, dass sich der Bock selbst den Kopf abgeschnitten und ihn dann auf deine Türe genagelt hat? Jetzt haben wir schon wieder einen Wilderer, aber der wird genauso enden wie der Erste.“, sagte der Johann zu unserem adeligen Captain Obvious.

Alfred, der Gendarm, meldete sich jetzt einmal zu Wort, denn bei so einer Untat konnte der Gesetzeshüter nur schwer schweigen: „Sollen wir da ermitteln?“ Der Johann griff sich auf die Stirn und sagte: „Ihr zwei Vögel habt ja noch nie irgendwo ermittelt! Ihr sitzt ja nur in eurer bequemen Wachstube und spielt Karten!“    „Pass ja auf, was du da sagst!“, meinte der Alfred. Der Johann sah ihn aber nur mit einem strengen Blick an und befahl: „Es ist besser, wenn ihr jetzt wieder von hier verschwindet. Und dass das klar ist, die Angelegenheit regeln wir wieder selbst. Ach ja, ihr habt hier nichts gesehen.“ „Was hätten wir bei diesem Nebel auch sehen sollen?“, fragte der Alfred, ehe er mit seinem ähnlich motivierten Kollegen in der grauen Trübung verschwand.

„Ich brauche sofort einen Schnaps, sonst überlebe ich den Tag nicht.“, sagte der verschwitzte Ludwig zum Grafen und der Pfarrer schloss sich diesem Wunsch natürlich an: „Ich auch!“ „Sauft nicht immer so viel, wir brauchen einen klaren Kopf! In drei Wochen werden wieder mehr Gäste kommen und da können wir so einen Wildschütz nicht gebrauchen! Letztes Jahr haben das die Leute noch lustig gefunden, aber es wirft kein gutes Licht auf uns, wenn dauernd irgendwelche Wilderer durch unser Land ziehen.“, meinte der überhaupt nicht erfreute Johann. „Da hat er recht.“, sagte der Graf und fragte noch: „Was sollen wir denn da jetzt machen?“ „Du lässt nun einmal von deinen Leuten den depperten Kopf da entfernen. Und wir machen uns auf die Suche, irgendwo wird ja schließlich noch der Rest von dem Vieh herumliegen.“, antwortete der Johann.    „Ist das derselbe gewesen, der dem Ludwig den komischen Zettel geschrieben hat, oder waren das doch nur die Jamminger Buben und das hier mit dem Gamsbock ist das Werk von einem Verrückten?“, fragte der Graf.            Da war sich niemand zu hundert Prozent sicher, aber einen Zusammenhang hielten doch alle für wahrscheinlich. Nun standen sie vor dem Gamskopf, die mächtigsten Männer aus Schöttau, und blickten ungewohnt ratlos drein. Normalerweise waren sie Weltmeister darin, ungute Sachen relativ unkommentiert unter den Teppich zu kehren. So wie man das eben in Österreich macht, aber irgendetwas war dieses Mal anders.

Während das böhmische Personal des Grafen den ungustiösen Kopf von der Türe entfernte, sagte der Johann: „Karl, du gehst in die Stadt und trommelst alle Jäger zusammen, jeder mit Gewehr natürlich. Wir gehen dann rauf und suchen die tote Gams. Vielleicht finden wir bei ihr brauchbare Spuren, die uns zu dem Wilderer führen. Dann könnten wir heute den ganzen Spuk beenden, bevor noch mehr passiert.“ Der gute Ludwig konnte dem nur zustimmen: „Ja, weil sonst schlitzt er mich morgen auf und nagelt mich ans Kirchentor.“    Die Angst blitzte ihm noch immer aus den Augen, aber der Pfarrer stellte mit erhobenen Zeigefinger klar: „An mein Kirchentor nagelt niemand etwas!“        Einzig der Graf machte sich andere Sorgen: „Bei dem Wetter wollt ihr auf den Berg gehen?“ „Wir haben keine andere Wahl, es ist Krieg!“, sagte der Johann mit einem fahlen Blick.

Na bitte, da gesellt sich doch glatt das uralte Duell Jäger gegen Wilderer zu unserer famosen Story hinzu, ein Traum!            Ich bin ja wahnsinnig darüber erfreut, dass uns dieses Thema nun begleiten wird. In jedem guten Heimatepos muss sich der fleißige Jägersmann mit dem bösen Wildschütz duellieren, jawohl!

3. Der Wildschütz

Im Mai 1898 fanden nicht nur wieder zahlreiche Touristen den Weg vom Ennstal herauf in diese pittoreske Landschaft, sondern auch ein garstiger Wildschütz.