Schriftspracherwerb - Iris Füssenich - E-Book

Schriftspracherwerb E-Book

Iris Füssenich

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Beschreibung

In jeder Eingangsklasse gibt es Kinder, die den Symbolcharakter von Schrift nicht erkennen, die begrifflich nicht zwischen Zahlen und Buchstaben unterscheiden oder Sprache nicht segmentieren können. Diese Kinder benötigen kein einheitliches Training basaler Fähigkeiten, sondern einen Unterricht, der ihren individuellen Entwicklungsstand berücksichtigt. LehrerInnen der Primarstufe brauchen daher aussagekräftige Aufgaben, die die Fähigkeiten und Schwierigkeiten von Kindern beim Schriftspracherwerb feststellen können. Das Buch bietet evaluierte Diagnostikaufgaben zur Einschulung und für die erste und zweite Klasse. Das separat erhältliche Materialheft liefert Kopiervorlagen sowie detaillierte Hinweise zur Durchführung und Auswertung der Aufgaben.

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Seitenzahl: 314

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Prof. Dr. em. Iris Füssenich lehrte für den Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation an der Fakultät für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Reutlingen.

Prof. Dr. Cordula Löffler lehrt Sprachwissenschaft / Sprachdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.

Die Kapitel 2 und 4 wurden von Iris Füssenich verfasst, das dritte Kapitel hat Cordula Löffler geschrieben.

Die Zeichnungen auf den Seiten 123, 147–149 stammen von Maike Küppers, Reutlingen.

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02748-4 (Print)

ISBN 978-3-497-60694-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61042-6 (EPUB)

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos © Bilderbox

Autorenportraitfoto Prof. Löffler von Axel Schwerda

Satz: Rist Satz & Druck GmbH, 85304 Ilmmünster

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort

1        Einleitung

2        Lern- und Lehrprozesse bei der Einschulung

2.1     Schriftspracherwerb aus der Sicht der Lernenden

2.1.1  Wissen über Sprache (Sprachreflexion): Metakommunikation und Extrakommunikation

2.1.2  Schriftspracherwerb als Teil der sprachlich-kognitiven Entwicklung

2.1.3  Beobachten als didaktische Aufgabe

2.2     Beobachtungsaufgaben für die Einschulung

2.2.1  Wahrnehmung von Schrift

2.2.2  Kenntnis von Begriffen

2.2.3  Einsicht in den Aufbau von Schrift

2.3     Ergebnisse aus dem FuN-Teilkolleg „Prävention von Analphabetismus in den ersten beiden Schuljahren“

2.3.1  Wahrnehmung von Schrift

2.3.2  Kenntnis von Begriffen

2.3.3  Einsicht in den Aufbau von Schrift

2.4     Konsequenzen für das Lehren

2.4.1  Der Blick auf Kinder mit Unterstützungsbedarf

2.4.2  Wahrnehmung von Schrift

2.4.3  Kenntnis von Begriffen

2.4.4  Einsicht in den Aufbau von Schrift

3        Lern- und Lehrprozesse im ersten Schuljahr

3.1     Zielsetzungen des ersten Schuljahres

3.1.1  Unterrichtskonzepte zum Schriftspracherwerb

3.1.2  Modelle zum Schriftspracherwerb

3.2     Beobachtungsaufgaben für das erste Schuljahr

3.2.1  Orthographieerwerb

3.2.2  Verfassen von Texten

3.2.3  Leselernprozess

3.3     Ergebnisse aus dem FuN-Teilkolleg „Prävention von Analphabetismus in den ersten beiden Schuljahren“

3.3.1  Orthographieerwerb

3.3.2  Verfassen von Texten

3.3.3  Leselernprozess

3.4     Konsequenzen für das Lehren

3.4.1  Gemeinsames (Vor-)Lesen von Kinderliteratur

3.4.2  Systematische Einführung von Schriftelementen und Leseverfahren

3.4.3  Aufbau und Sicherung eines Grundwortschatzes

3.4.4  Verfassen von Texten

4        Lern- und Lehrprozesse im zweiten Schuljahr

4.1     Zielsetzungen des zweiten Schuljahres

4.1.1  Der Blick auf Kinder mit Unterstützungsbedarf

4.1.2  Bildungsstandards für das zweite Schuljahr

4.2     Beobachtungsaufgaben für das zweite Schuljahr

4.2.1  Verfassen von Texten

4.2.2  Orthographieerwerb

4.2.3  Weiterführendes Lesen

4.2.4  Wissen über Sprache (Sprachreflexion)

4.3     Ergebnisse aus dem FuN-Teilkolleg „Prävention von Analphabetismus in den ersten beiden Schuljahren“

4.3.1  Verfassen von Texten

4.3.2  Orthographieerwerb

4.3.3  Weiterführendes Lesen

4.3.4  Wissen über Sprache (Sprachreflexion)

4.4     Konsequenzen für das Lehren

4.4.1  Verfassen von Texten

4.4.2  Orthographieerwerb

4.4.3  Weiterführendes Lesen

4.4.4  Wissen über Sprache (Sprachreflexion)

5        Schlussbemerkung

Anhang

Quellennachweise

Literatur

Sachregister

Ergänzend zum Buch ist von den Autorinnen das „Materialheft Schriftspracherwerb. Einschulung, erstes und zweites Schuljahr“ in 2. Auflage mit zahlreichen Kopiervorlagen lieferbar. DIN A4. ISBN 978-3-497-02116-1

Vorwort zur 3. Auflage

Eine 3., überarbeitete Auflage ist u. a. aus wissenschaftlichen und bildungspolitischen Gründen notwendig geworden: Aktuelle bildungspolitische Diskussionen und Entscheidungen widmen sich dem Lehren der Schriftsprache, und es werden oft (Vor-)Urteile über die vermeintlich richtige Methode gefällt. Dabei wird oft vernachlässigt, den Blick auf die Lernprozesse der Kinder zu legen, an die das Lehren anknüpfen sollte. In unserem Forschungsprojekt haben wir schulartenübergreifend über die Lern- und Lehrprozesse geforscht und den Blick auf das einzelne Kind gelegt. Durch die Ratifizierung der UN-Konvention zur Inklusion gewinnen die Lern- und Lehrprozesse von Kindern mit und ohne Behinderung an Bedeutung. Aus unseren Daten lassen sich empirisch belegte Konsequenzen für die Inklusion von Kindern ziehen.

Sprachliche Fähigkeiten gelten als Voraussetzung für gute schulische Bildung. Dabei wird vor allem der Blick auf fehlende Deutschkenntnisse von Kindern gelegt, deren Erstsprache nicht Deutsch ist. In unserem Projekt wurden Daten von mehr- und einsprachigen Kindern erhoben. Die Namen der Kinder wurden durch Codenamen verschlüsselt, sodass der Datenschutz gewährleistet ist. Dabei wurde darauf geachtet, dass die gewählten Codenamen das jeweilige Herkunftsland eines Kindes sowie Gender berücksichtigen. Auf diese Weise können die LeserInnen die Besonderheiten der Lernprozesse mehrsprachiger Kinder nachvollziehen.

Mit dem vorliegenden Buch sollen Lehrkräfte eine Unterstützung bei der Beobachtung der Lernprozesse ein- und mehrsprachiger Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen sowie bei den Folgerungen für Unterricht und Förderung erhalten.

Reutlingen und Weingarten, im September 2017

Iris Füssenich  Cordula Löffler

Vorwort

Wenn Kinder in die Schule kommen, befinden sie sich an unterschiedlichen Stationen auf dem Weg zur Schrift. Dies betrifft ihre Zugriffsweisen, ihre Vorstellungen von Schrift und ihr individuelles Lernverhalten.

Unterricht muss die Voraussetzungen der Kinder von Anfang an berücksichtigen. Um eine angemessene Passung zu erzielen, benötigen Lehrerinnen Beobachtungsaufgaben, die sie zu Beginn des ersten Schuljahres und unterrichtsbegleitend bis zum Ende des zweiten Schuljahres einsetzen können.

Das vorliegende Buch mit zugehörigem Materialheft liefert die theoretischen Grundlagen zum Schriftspracherwerb sowie Beobachtungsaufgaben für die ersten beiden Schuljahre und stellt Konsequenzen für die Förderung dar. Es richtet sich an Lehrende und Studierende von Lehramtsstudiengängen (Grund- und Sonderschulen), Lehrerinnen von Grund- und Sonderschulen sowie Seminarleiterinnen der zweiten Ausbildungsphase.

Durch die Einrichtung von Forschungs- und Nachwuchskollegs (FuN-Kollegs) an Pädagogischen Hochschulen von Baden-Württemberg konnten wir im Rahmen unseres FuN-Teilkollegs „Prävention von Analphabetismus in den ersten beiden Schuljahren“ die Lern- und Lehrprozesse ausgewählter Klassen von der Einschulung bis an das Ende des zweiten Schuljahrs begleiten. Wir danken dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg sowie den Pädagogischen Hochschulen Ludwigsburg und Schwäbisch Gmünd für die finanzielle und personelle Ausstattung.

Lehrerinnen und Kinder haben uns einen Einblick in ihren schulischen Alltag gewährt. Von ihnen haben wir viel gelernt und hoffen, dass das Vertrauen, das die Eltern uns entgegen gebracht haben, auch anderen Kindern und Lehrerinnen zugute kommt.

Unser Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen aus dem FuN-Kolleg – Gertrud Binder, Claudia Crämer, Carsten Gehring, Ulrike Graf, Claudia Husen, Regine Morys, Edeltraud Röbe, Annegret von Wedel-Wolff und Manfred Wespel – sowie unseren fachlichen Beraterinnen und Beratern – Hans Brügelmann, Mechthild Dehn, Peter May und Sigrun Richter. Durch ihre Rückmeldungen und kritischen Fragen erhielten wir wertvolle Anregungen.

Wir danken Claudia Crämer für Leseaufgaben, die sie für das FuN-Kolleg entwickelt und uns für dieses Buch zur Verfügung gestellt hat.

Ohne unsere Studierenden, aber vor allem ohne unsere studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräfte hätten wir das Projekt nicht durchführen können. Ihr Engagement und ihre Fachkompetenz waren uns eine große Stütze.

Danken möchten wir auch Stefan Jeuk, Eva Lack, Anneke Kensy und Kathrin Wecker für inhaltliche Rückmeldungen zu diesem Buch und Korrekturlesen.

Die wunderbaren Zeichnungen stammen von Maike Küppers.

Wir benutzen im Folgenden wegen der besseren Lesbarkeit ausschließlich weibliche Personen- bzw. Berufsbezeichnungen. Es sind selbstverständlich jeweils Männer ebenso angesprochen. Begriffe wie Lehrerfortbildung und Lehrerhilfen werden allerdings als feststehende aufgefasst und verwendet.

Die Kapitel 2 und 4 wurden von Iris Füssenich verfasst, das dritte Kapitel hat Cordula Löffler geschrieben.

Reutlingen und Weingarten, im Mai 2008

Iris Füssenich  Cordula Löffler

1      Einleitung

Das vorliegende Buch „Schriftspracherwerb. Einschulung, erstes und zweites Schuljahr“ setzt sich mit dem Lernen und Lehren der Schriftkultur von der Einschulung bis an das Ende des zweiten Schuljahres auseinander. Erste und zweite Klassen wurden im Rahmen eines Projekts in ihren Lern- und Lehrprozessen begleitet.

In Pädagogik und Didaktik der Primarstufe wird die Eigenständigkeit des Kindes beim Erwerb der Schriftsprache betont. Der Zusammenhang zwischen Lern- und Lehrprozessen stellt dabei einen zentralen, aber heute immer noch unzureichend untersuchten Bereich dar. Hierzu gehören auch Entwicklung und Erprobung von Instrumentarien zur Lernbeobachtung, aus denen sich Fördermaßnahmen ableiten lassen. An dieses Defizit wird angeknüpft. Im Folgenden gliedert sich das vorliegende Buch in drei weitere Kapitel: Das zweite Kapitel widmet sich den Lern- und Lehrprozessen bei der Einschulung und den Leistungen, die Kinder vollbringen, wenn sie sich ausgehend von ihrer mündlichen Sprache mit Schrift auseinander setzen. In den Kapiteln drei und vier geht es um Entwicklungsschritte und mögliche Lernschwierigkeiten von Kindern im ersten und zweiten Schuljahr. Um die Unterschiede in ihrer sprachlich-kognitiven Entwicklung und Lernfortschritte herauszuarbeiten, werden in den einzelnen Kapiteln Zielsetzungen der einzelnen Schuljahre aufgeführt, die ausgewählten Beobachtungsaufgaben beschrieben, Ergebnisse dargestellt und anschließend Konsequenzen für Unterricht und Förderung gezogen. In einem zusätzlichen Materialheft (Füssenich/Löffler 2009) sind die erprobten Beobachtungsaufgaben für die Einschulung, für das erste und das zweite Schuljahr sowie die jeweiligen Auswertungskriterien zusammengestellt.

Ziel ist es, Lehrenden Unterschiede in der kindlichen Entwicklung sichtbar zu machen, damit diese im Unterricht angemessen berücksichtigt werden können. Durch Beobachtungsaufgaben bei der Einschulung und unterrichtsbegleitende Beobachtungen sollen potenzielle Lernschwierigkeiten früh erkannt werden, damit entsprechende Unterstützung stattfinden kann.

Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb und die Entstehung von Analphabetismus

Wenn Kinder in die Schule kommen, befinden sie sich an unterschiedlichen Stationen auf dem Weg zur Schrift. Dies betrifft ihre Vorstellungen von Schrift, ihre Zugriffsweisen und ihr individuelles Lernverhalten. Mit dem Schuleintritt dient Sprache nicht nur der Kommunikation, sondern sie wird zunehmend zum Gegenstand der Betrachtung. Der Schriftspracherwerb stellt erhebliche Anforderungen an die sprachlich-kognitiven Fähigkeiten von Schulanfängerinnen. Kinder müssen sich von der subjektiv-erlebnisbezogenen Vorstellung von Sprache lösen und ihre Aufmerksamkeit auf die formalen Aspekte der Sprache lenken. Dies bedeutet, dass sie sich bewusst mit ihrer Sprache auseinander setzen müssen. Bei der Feststellung von Schulfähigkeit sollten deshalb metasprachliche Fähigkeiten Beachtung finden (Kap. 2.1).

Bisher wurden in der (Sonder-)Pädagogik Schwierigkeiten von Kindern im Anfangsunterricht vor allem an Defiziten wie Teilleistungsschwächen und mangelnder Merkfähigkeit festgemacht. Dass Kinder aufgrund ihres sprachlich-kognitiven Entwicklungsstands die Anforderungen des Unterrichts nicht erfüllen können, wird kaum gesehen. Dies hat aber gravierende Konsequenzen für das schulische Lernen und Lehren. Es ist daher erforderlich, Instrumentarien zur Lernstandsbeobachtung, die sich an Entwicklungsmodellen des Schriftspracherwerbs orientieren, zu entwickeln und zu erproben. Auf diese Weise wird es möglich, den Entwicklungsstand jedes einzelnen Kindes detailliert zu erfassen sowie Unterstützung anzubieten.

Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache gelten in der Schule als lese- und schreibschwach. Sofern es ihnen nicht gelingt, ihre schriftsprachlichen Fähigkeiten zu verbessern, besteht die Gefahr, dass sie nach der Schule zu funktionalen AnalphabetInnen werden. Der Begriff funktional bedeutet, dass es sich nicht um Personen ohne Kenntnisse handelt, sondern dass sie mit ihren Fähigkeiten die Funktionen der Schrift in ihrer Gesellschaft nicht nutzen können. Sie haben deshalb Schwierigkeiten, eine Ausbildung zu beginnen und einen Arbeitsplatz zu finden (z. B. Döbert/Hubertus 2000; Füssenich 1993; Löffler 2002). Im Gegensatz zu völligen AnalphabetInnen, die nie lesen und schreiben gelernt haben, weil sie z. B. die Schule nicht besucht haben, verfügen funktionale AnalphabetInnen über Kenntnisse der Schriftsprache – wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß –, meiden aber fast jede Situation, die schriftsprachliche Fähigkeiten erfordert, aus Angst, dass ihre Lese- und Schreibschwierigkeiten von anderen entdeckt werden. Dies geschieht unabhängig davon, ob sie dieser Situation objektiv betrachtet gewachsen sind oder nicht. Ihr subjektives Empfinden, die schriftsprachlichen Anforderungen nicht erfüllen zu können, bestimmt ihr Vermeidungsverhalten. Döbert (1997, 118) bringt dies auf den Punkt:

„Analphabetismus oder unzureichende schriftsprachliche Kenntnisse definieren sich in einem Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Anforderungssituationen, der subjektiven Interpretation dieser schriftsprachlichen Anforderungen, den tatsächlich vorhandenen schriftsprachlichen Fertigkeiten und der subjektiven Interpretation dieser Fertigkeiten.“

Forschungen zum Analphabetismus in Industrienationen zeigen, dass sich (funktionaler) Analphabetismus auf ein Zusammenspiel gesellschaftlicher, familiärer, individueller und schulischer Faktoren zurückführen lässt. Die Lebensgeschichten der Betroffenen sind sehr ähnlich: Sie sind geprägt von Unverständnis und Druck, entweder von Eltern oder Lehrerinnen; häufig fehlt es von beiden Seiten an Unterstützung. Bei den meisten Betroffenen kamen während der Kindheit und in den ersten Schulbesuchsjahren mehrere Faktoren zusammen, die den Schriftspracherwerb beeinträchtigten oder sogar verhinderten. Auch wenn sich nicht die „falsche“ Unterrichtsmethode als einzige Ursache für die Entstehung von (funktionalem) Analphabetismus festhalten lässt, so muss man doch davon ausgehen, dass die fehlende Passung zwischen individuellen Lernvoraussetzungen und schulischen Anforderungen im Anfangsunterricht an der Problematik maßgeblich beteiligt ist. Diese Passung zwischen individuellen Voraussetzungen und schulischen Anforderungen muss nicht nur bezogen auf den Lerngegenstand Schrift und angebotene Unterrichtsmaterialien stimmig sein, sondern auch hinsichtlich des Handelns von Lehrerinnen.

Das FuN-Teilkolleg „Prävention von Analphabetismus in den ersten beiden Schuljahren“

„Prävention von Analphabetismus in den ersten beiden Schuljahren“ heißt ein Teilkolleg des Forschungs- und Nachwuchskollegs (FuN-Kolleg) „Lehr- und Lernprozesse bei der Ausbildung und Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeit in der Primarstufe“.

Ziel des FuN-Teilkollegs war es, Lehrenden die Unterschiede in der kindlichen Entwicklung im Hinblick auf den Schrifterwerb sichtbar zu machen, damit diese im Unterricht angemessen berücksichtigt werden können. Schon zu Beginn des ersten Schuljahres wurden Fähigkeiten und Schwierigkeiten im Rahmen von Beobachtungsaufgaben zur Einschulung erfasst. Dies wurde durch eine unterrichtsbegleitende Beobachtung bis zum Ende des zweiten Schuljahres (in einem Folgeprojekt bis Ende des vierten Schuljahres) fortgesetzt. Potenzielle Lernschwierigkeiten sollten möglichst früh erkannt werden, und entsprechende Fördermaßnahmen wurden erarbeitet. Gemeinsame Besprechungen und Fortbildungen mit den Lehrerinnen dienten der Integration dieser Fördermaßnahmen in den Unterricht. Der Blick der Lehrenden wurde für mögliche Schwierigkeiten von Kindern geschärft, um Kinder frühzeitig zu unterstützen und so Lese- und Schreibschwierigkeiten möglichst zu verhindern. Die Fragestellungen des FuN-Teilkollegs lauteten

bezogen auf die Lernprozesse der Kinder:

  Welcher Zusammenhang besteht zwischen Schwierigkeiten mit der mündlichen Sprache und Problemen beim Schriftspracherwerb (Füssenich 2002; 2004 b)?

  Welche Unterschiede innerhalb einzelner Entwicklungsverläufe lassen sich aufzeigen?

bezogen auf die Lehrprozesse der Lehrerinnen:

  Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Ergebnissen der Beobachtung für Unterricht und Förderung?

  Erweitert der Blick auf die Kinder mit Schwierigkeiten das eigene Konzept von Unterricht und Förderung?

  Erweitert der Blick auf die Kinder mit Schwierigkeiten den Unterricht auch für die Kinder ohne Schwierigkeiten?

Im Rahmen des FuN-Teilkollegs bestand in den Jahren 2000 bis 2003 eine Kooperation mit 20 Lehrerinnen von Grundschulen, Grundschulförderklassen, Schulen für Sprachbehinderte und Förderschulen (Schulen für Lernbehinderte). Aus dieser Gruppe nahmen in einer ersten Staffel ab dem Schuljahr 2000/01 zehn Lehrkräfte mit ihren Schülerinnen teil. Die zweite Staffel setzte sich aus weiteren vier Klassen zusammen und war ab dem Schuljahr 2001/02 beteiligt. Für die gesamte Gruppe fand einmal im Monat eine Fortbildungsveranstaltung statt. In den einzelnen Sitzungen wurden Projektergebnisse vorgestellt und diskutiert sowie relevante Themen aufgegriffen, z. B. Schreiben von Anfang an oder der Erwerb von Phonem-Graphem-Beziehungen. An den Erhebungen nahmen insgesamt 200 Kinder aus zehn Grund- und Sonderschulklassen teil sowie zwei Grundschulförderklassen bei der Eingangsdiagnose. Zu Beginn des ersten Schuljahres wurden Beobachtungsaufgaben zur Einschulung sowie während des ersten und zweiten Schuljahres unterrichtsbegleitend Lernbeobachtungen zum Stand der (schrift-)sprachlichen Fähigkeiten der Kinder durchgeführt. In der Fortsetzung des Projekts – die in diesem Buch nicht dargestellt wird – wurde in ausgewählten Klassen eine unterrichtsbegleitende Beobachtung bis zum Ende der vierten Klasse weitergeführt.

Im vorliegenden Buch werden einige theoretische Inhalte – soweit nötig – an mehreren Stellen thematisiert, Überschneidungen aber weitestgehend vermieden. Die Materialien zu den Beobachtungsaufgaben finden sich (außer: Hamburger Schreib-Probe HSP sowie die Lernbeobachtungen von Dehn 2013) im zugehörigen Materialheft (Füssenich/Löffler 2009). Die beschriebenen Beobachtungsaufgaben für das erste und zweite Schuljahr sind in den Tabellen 1 und 2 aufgeführt. Die Zeiteinteilung in den Tabellen richtet sich nach dem Schuljahr in Baden-Württemberg. Beginnt die Schule eher, sollten die Beobachtungsaufgaben entsprechend vorgezogen werden.

Tab. 1: Beobachtungsaufgaben im ersten Schuljahr

Beobachtungsaufgaben für die Einschulung

Monat

Bereich

Beobachtungsaufgabe

September (Einschulung)

Wahrnehmung von Schrift

Gezinktes Memory Embleme lesen

Kenntnis von Begriffen

Leeres Blatt Zeichen kategorisieren

Einsicht in den Aufbau von Schrift

Reime erkennen Silbensegmentierung Phonemanalyse (Anlaute)

Unterrichtsbegleitende Beobachtungsaufgabe: erstes Schuljahr

Monat

Bereich

Beobachtungsaufgabe

Dezember

Orthographie

Lernbeobachtung Schreiben (Dehn 2013)

Lesen

Lernbeobachtung Lesen „November“ (Dehn 2013)

Januar

Orthographie

Anlautaufgabe

Februar

Orthographie

Lernbeobachtung Schreiben (Dehn 2013)

April

Lesen (Sinnverständnis)

Tierrätsel 1

Mai

Verfassen von Texten

Leeres Blatt

Juni

Orthographie

Lernbeobachtung Schreiben (Dehn 2013)

Tab. 2: Beobachtungsaufgaben im zweiten Schuljahr

Beobachtungsaufgaben für die Einschulung

Monat

Bereich

Beobachtungsaufgabe

Oktober

Orthographie

Hamburger Schreib-Probe (HSP 1-E1) (May 2013)

November

Lesen (Sinnverständnis)

Leseaufgabe „Fisch“

Dezember

Verfassen von Texten

„Das mag ich! Das mag ich nicht!“

Januar

Orthographie

Alphabetisches Schreiben

März

Wissen über Sprache (Sprachreflexion)

Einsicht in den Aufbau von (Schrift-)Sprache Kenntnis von Begriffen

April

Verfassen von Texten

Leeres Blatt

Lesen (Taktiken des Lesens)

Tierrätsel 2

Mai

Verfassen von Texten

„Schellen-Engel“ von Paul Klee (Rabkin 1992)

Juni

Lesen (Sinnverständnis)

Sachtext „Feuerwehr“

Das FuN-Kolleg „Lehr- und Lernprozesse bei der Ausbildung und Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeit in der Primarstufe“

Die Einrichtung von Forschungs- und Nachwuchskollegs an Pädagogischen Hochschulen (FuN-Kollegs) wurde von der Landesregierung Baden-Württembergs beschlossen, um die Eigenständigkeit dieser Hochschulart auch im Bereich der Forschungs- und Nachwuchsförderung zu stärken und das spezifische Forschungspotenzial der Pädagogischen Hochschulen für schulnahe Forschung nutzbar zu machen. Das FuN-Kolleg „Lehr- und Lernprozesse beim Erwerb von Lese- und Schreibfähigkeit in der Primarstufe“ begann im Wintersemester 1999/2000 und endete im Wintersemester 2005/06. Beteiligt waren die Fächer Förderschwerpunkt Sprache und Erziehungswissenschaft der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg sowie die Fachdidaktik Deutsch der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

Die interdisziplinär angelegte Untersuchung sollte helfen, Lern- und Lehr- prozesse beim Erwerb der Schriftsprache zu reflektieren (Crämer et al. 2003). Die Beteiligung der Sonderpädagogik (Förderschwerpunkt Sprache) gewährleistete, dass der Blick vor allem auf Kinder mit Lernschwierigkeiten gelenkt wurde. Der erziehungswissenschaftliche Beitrag bestand in der Untersuchung des kindlichen Fähigkeitskonzepts im Kontext des Schriftspracherwerbs. Auf der Basis von Lernbeobachtungen und der Analyse von Schüler- und Lehreräußerungen wurden Lernentwicklungen und -hürden im Anfangsunterricht sowie im weiterführenden Lesen im Zusammenhang mit dem Selbstkonzept von Schülerinnen ausgewertet und in ein Handlungskonzept umgesetzt.

Der Schwerpunkt des Teilkollegs „Ausbau fortgeschrittener Lesestrategien nach dem Erwerb der alphabetischen Phase. Förderung von Kindern mit Leseschwierigkeiten“ (Annegret von Wedel-Wolff, Manfred Wespel und Mitarbeiterinnen, Schwäbisch Gmünd) war die Entwicklung und Erprobung von Fördermaßnahmen zur Ausgestaltung der Lesestrategien mit den damit verbundenen Beobachtungsmöglichkeiten. Erforscht wurde, welche Lesestrategien sich bei Kindern mit Leseschwierigkeiten vom zweiten bis vierten Schuljahr feststellen lassen und welche Förderkonzeption sowie Fördermaterialien die Ausgestaltung der Lesestrategien und das Leseverstehen unterstützen. Dazu wurden an der Projektschule im zweiten, dritten und vierten Schuljahr Beobachtungsaufgaben zu den Lesestrategien und zum Leseverstehen sowie darauf aufbauend Fördermaßnahmen durchgeführt und eine Konzeption zur Förderung von leseschwachen Kindern entwickelt.

Im FuN-Teilkolleg „Leistung in der Grundschule – Wie Grundschulkinder ihre Schulleistungen sehen und verstehen“ (Edeltraud Röbe und Mitarbeiterinnen, Ludwigsburg) wurden Kinder in prägnanten Leistungssituationen teilnehmend beobachtet; ihre Äußerungen zur eigenen Leistung wurden als Ausdruck ihres Leistungsprofils in Wort und Bild dokumentiert. Die Untersuchung geht davon aus, dass die gesellschaftlichen und familalen Wandlungsprozesse auch die kindliche Leistungsbereitschaft und -fähigkeit beeinflussen können. Wenn heute die Bedeutung der Bildungsabschlüsse im öffentlichen und privaten Bewusstsein einen so hohen Stellenwert einnimmt, ist anzunehmen, dass sich dies im Umgang der Kinder mit der Leistungsthematik spiegelt.

2      Lern- und Lehrprozesse bei der Einschulung

2.1     Schriftspracherwerb aus Sicht der Lernenden

Eine Lehrerin fragt ein Kind anhand von Bildern bei welchen Wörtern eseinen entsprechenden Laut hört. Statt einer Antwort hält sich das Kind die Bildkarten nacheinander ans Ohr und schüttelt bei jedem Bild verneinend den Kopf (Crämer/Schumann 2002).

In einem Alphabetisierungskurs äußern sich erwachsene Nullanfänger über Rechtschreibregeln. Peter (29 Jahre) meint: „Messer schreibt man mit <ss>, also schreibt man ein kleines Messer mit <s>.“ (Crämer/Schumann 1990, 217)

Petra (22 Jahre) wundert sich: „Eichhörnchen! So ein langes Wort für so ein kleines Tier.“ (Crämer/Schumann 1990, 217) Sie ist in ihrer sprachlich-kognitiven Entwicklung bereits auf einer fortgeschritteneren Stufe als das Schulkind und der Analphabet. Petra hat schon verstanden, dass die (mündliche) Sprache nicht die Realität selbst ist, sondern sie symbolisiert. Sie hat außerdem erkannt, dass Sprache aus einer inhaltlichen Aussage und einer sprachlichen Form besteht. Über diese Fähigkeiten verfügen die anderen beiden noch nicht, wie man an ihren (sprachlichen) Handlungen erkennen kann. Da sich Petra wundert, ist offensichtlich, dass sie über diese Erkenntnis noch nicht lange verfügt.

Der Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben vermittelt oft den Eindruck, als würden alle Erstklässlerinnen einheitlich mit dem Erwerb der Schrift beginnen. Doch schon nach kurzer Zeit zeigen sich Unterschiede, die bereits bei Schuleintritt bestehen, denn es gibt Schulanfängerinnen, die schon lesen und schreiben können, während andere noch nicht die Funktion von Schrift erkennen.

Die Darstellung der notwendigen Fähigkeiten für den erfolgreichen Erwerb der Schriftsprache hängt von dem Verständnis des Lerngegenstands Schriftsprache ab. Wird der Schriftspracherwerb als Aneignung von Teilleistungen, wie visueller oder motorischer Fähigkeiten, verstanden, so wird als Lernvoraussetzungen auch die Förderung dieser Bereiche für den erfolgreichen Erwerb der Schriftsprache angesehen. Es gibt zahlreiche Materialien, mit denen der Erwerb dieser Teilleistungen geübt werden kann, ohne den Entwicklungsprozess einzelner Kinder zu berücksichtigen. Demgegenüber hat sich die Ansicht durchgesetzt, lesen und schreiben lernen aus dem Blick der Lernerinnen zu betrachten.

Kinder eignen sich Schriftsprache nicht nur in der Schule an, sondern unter bestimmten Bedingungen hat sie bereits vor Schuleinritt ihre Bedeutung (Füssenich et al. 2018). Die Aneignung der Schrift ist als Entwicklungsprozess zu sehen, bei dem sich das Kind schrittweise das System unserer Schrift erarbeitet und selbstständig Regeln zur Verschriftung gesprochener Sprache entdeckt. Somit rücken im Unterricht Lernverhalten und -strategien des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt. Um lesen und schreiben zu lernen, ist zwar ein gewisser Entwicklungsstand an sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten nötig, doch andererseits erweitert die Beschäftigung mit Schrift schon vorhandene Fähigkeiten.

Wie lässt sich nun erklären, dass Kinder bereits zu Beginn der Einschulung gravierende Unterschiede in ihrer Zugriffsweise auf (Schrift-)Sprache zeigen? Kinder lernen nicht nur das System der Aussprache und der Grammatik sowie die Fähigkeiten auf den anderen Sprachebenen, sondern sie lernen auch, über Sprache nachzudenken. Kinder müssen metasprachliche Fähigkeiten erwerben, um (schrift-)sprachlich erfolgreich zu sein.

2.1.1   Wissen über Sprache (Sprachreflexion): Metakommunikation und Extrakommunikation

Andresen (1985, 1998, 2002) und Augst (1978) unterscheiden zwischen metasprachlichen Fähigkeiten, die vor allem mit der mündlichen Sprache erworben werden, und solchen, die eher durch die Auseinandersetzung mit der Schriftsprache gelernt werden. Um das unterschiedliche Niveau dieser metasprachlichen Äußerungen zu verdeutlichen, unterscheidet Augst zwischen Metakommunikation und Extrakommunikation. Durch metakommunikative Äußerungen versuchen Kinder schon während des Erwerbs der mündlichen Sprache Kommunikationsschwierigkeiten im Gespräch zu beheben. Wenn ein Kind etwas nicht versteht, wird es nachfragen und den Dialog anschließend fortsetzen, wie in folgendem Beispiel:

Mutter: „Das Kind hat Sommersprossen.“

Kind: „Welche Sommersprossen? Es ist doch Winter.“

Zur Extrakommunikation gehören Äußerungen, die explizit sprachliche Phänomene thematisieren, ohne dass Kommunikationsschwierigkeiten vorliegen, wie in folgenden Beispielen:

Ein siebenjähriger Junge sieht ein Buch mit der Aufschrift Angst. Er liest den Titel und sagt: „Wenn das am Schluss ein <scht> hätte, würde das Wort Angscht heißen“.

K:„SchwarzeFlecken ist einEigenschaftswort,weil dieKätzchen so aussehen.“

Im Unterschied zu metakommunikativen Äußerungen sprechen Kinder bei der Extrakommunikation über Sprache, obwohl keine unmittelbaren Kommunikationsschwierigkeiten vorliegen. Dieses Gespräch findet entweder aus eigenem Interesse statt, wie im ersten Beispiel, oder im Rahmen des Unterrichts, wie beim zweiten. Die sprachlichen Inhalte beziehen sich hier auf Konventionen der Rechtschreibung und auf die grammatische Kategorie „Eigenschaftswort“. Dass Kinder über diese sprachlichen Inhalte reflektieren können, liegt daran, dass sie in der Lage sind, explizit sprachliches Wissen zu dekontextualisieren (Waller 1988). Je mehr Begriffe ein Kind erworben hat, um über Sprache zu sprechen, desto eher tritt Extrakommunikation auf. Dies lässt sich im zweiten Beispiel an dem Begriff Eigenschaftswort erkennen. Anhand der Begründung wird aber offensichtlich, dass das Kind noch sehr inhaltsbezogen argumentiert und dabei seine Unsicherheit mit dem Wortbegriff zeigt.

Die Fähigkeit zur Extrakommunikation setzt voraus, Sprache auf der Ebene der Metakommunikation zu reflektieren, weil dies erste Äußerungen der Auseinandersetzung mit Sprache sind. Bei der Extrakommunikation muss das Kind bereits über Begriffe verfügen, um über Sprache sprechen zu können. Dass es fließende Übergänge gibt, verdeutlicht das letzte Beispiel.

Bei vielen Kindern lassen sich kurz vor der Einschulung – und bei manchen Kindern schon früher – Ansätze zu extrakommunikativen Fähigkeiten erkennen: Sie entwickeln Freude an Sprachspielen, dabei tauschen sie bewusst Einheiten wie Silben oder Phoneme aus. Dies zeigt sich z. B. in Sprachspielen wie Hagelstein, Stachelschwein oder Willi, Pilli. Diese Äußerungen weisen darauf hin, dass Kinder die Fähigkeit erwerben, Sprache auch außerhalb von Kommunikationssituationen zum Gegenstand der Betrachtung zu machen.

Erste metakommunikative Fähigkeiten entwickeln sich vor allem mit dem Erwerb von semantischen Fähigkeiten (Füssenich 2002). Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr erweitern Kinder ihre semantischen Fähigkeiten, was auch mit Wortschatzspurts umschrieben wird. In dieser Zeit bauen Kinder ihr Lexikon nicht nur in quantitativer Hinsicht auf, sondern sie erwerben Strategien, ihre semantischen Fähigkeiten zu erweitern. In den Dialogen zwischen Kindern und Erwachsenen nimmt das Gespräch über Sprache einen wichtigen Stellenwert ein. Kinder erwerben die Fähigkeit, über Sprache nachzudenken, vor allem dann, wenn in der Kommunikation mit anderen Menschen Verständigungsprobleme auftreten, die zu lösen sind. Vonseiten der Kinder zeigt sich dies z. B. darin, dass sie nachfragen, wenn sie einzelne Äußerungen nicht verstehen, oder dass ihnen Begriffe fehlen, um sich verständlicher zu machen.

Kinder bemühen sich um Verständlichkeit, was sich u. a. darin zeigt, dass sie folgende Verhaltensweisen einsetzen:

Sie fragen nach unbekannten Begriffen:

E: „Ich muss habilitieren.“

K: „Ich kenne die Tieren nicht.“

… teilen mit, dass sie Äußerungen nicht verstehen:

„Was ist das?“ oder „Ich kenne das nicht.“

… geben Kommentare über Sprache ab:

E: „Sag der Tante Guten Tag.“

K: „Das ist keine Tante. Das ist eine Frau.“

… korrigieren ihre eigenen Äußerungen:

„Blumentohl“ zu Blumenkohl

oder die der Kommunikations-partnerin:

K: „Darf ich die Milch heute mal schnell trinken.“

E: „Das ist dein Bier.“

K: „Das ist kein Bier, das ist Milch!“

E: „Ja, ich meinte, das ist deine Sache.“

K: „Dann sag’s auch.“ (Augst 1978, 334)

… nehmen Überdehnungen vor:

„Hund“ für alle Vierbeiner

… bilden Neuschöpfungen:

„Baumarm“ für Ast

Dass Kinder sich nicht nur über die Sprache der Kommunikationspartnerinnen wundern und entsprechend ihrem Wissen korrigieren, sondern auch Selbstkorrekturen vornehmen, hat bereits Haarmann (1973) aufgezeigt. Er hebt die Bedeutungen von sprachlichen Korrekturen bei Schulanfängerinnen als Indiz für den „Zuwachs an individuellem Sprachvermögen“ hervor. Aufgrund der Beobachtung von Kindern in kommunikativen Situationen stellt er verschiedene Formen spontaner Selbstkorrekturen fest: Sie treten bei Kindern auf, wenn

  falsche oder unzureichende Aussagen gemacht werden,

  sprachlich unzureichende Ausdrücke vom Kind verbessert werden,

  längere Äußerungen korrigiert werden oder

  der Satzplan verändert wird.

Diese Verhaltensweisen zeigen, dass Kinder sprachanalytisch tätig sind. Dabei segmentieren sie gesprochene Sprache und entdecken linguistische Einheiten wie Wörter, Morpheme sowie Phoneme und operieren mit ihnen. Doch erwerben alle Kinder die Fähigkeit, über Sprache nachzudenken sowie Ansätze von metasprachlichen Fähigkeiten? Kinder mit Problemen beim Erwerb semantischer Fähigkeiten haben nicht nur einen geringen Wortschatz, sondern zeigen auch, dass sie über geringere Verhaltensweisen verfügen, ihre semantischen Fähigkeiten zu erweitern. In Situationen, in denen ihnen lexikalisches Wissen fehlt, sind folgende Verhaltensweisen zu beobachten (Füssenich 2002; Füssenich/Menz 2014):

Rückgriff auf Verständigungsmöglichkeiten aus der frühen sprachlichen Kommunikation:

„Ich will das da.“ Kind zeigt auf den gewünschten Gegenstand.

Schweigen:

E: „Hast du die Karte von dem Hund?“

K: schweigt

Ausweichendes Handeln:

Ein Kind weigert sich beim Kaufladen-Spiel, den Einkäufer zu spielen, weil es dann seine Einkaufswünsche präzise benennen müsste.

Ausweichende Antworten:

Bei einem Spiel wollte eine Erwachsene einem Kind den Unterschied zwischen Waage und Wiege erklären. Als das Beharren auf diesem Unterschied dem Kind zu viel wurde, fragte es: „Welches Zeichen bist du? Steinbock oder Waage?

Antworten mit Ganzheiten:

E: „Was hast du gestern gemacht?“

K: „Weiß nicht mehr.“

Umschreibungen:

Einem Kind fehlte der Begriff „Fußballtrikot“. Stattdessen sagte es: „Anziehen. Fußball.“

Ersetzungen:

„Ich habe das Brötchen leer getrunken.“

Neben Problemen im Bereich der Semantik verfügen diese Kinder meist über keine oder nur geringe Fähigkeiten, über Sprache nachzudenken. Dies hat zur Folge, dass sie nicht lernen, mit sprachlichen Einheiten wie Lexemen, Wörtern und Phonemen zu operieren. Darüber hinaus entwickeln sich auch nur unzureichend metasprachliche Fähigkeiten. In der Regel haben diese Kinder auch keine Freude an Sprachspielen und haben oft Schwierigkeiten, Reime zu erkennen. Dementsprechend werden sie in der Schule kaum in der Lage sein, Sprache aus dem Handlungszusammenhang zu lösen und über Sprache sprechen.

Fehlende metasprachliche Fähigkeiten und Schwierigkeiten auf der semantischen Ebene werden oft von Eltern, aber auch von Lehrerinnen, nicht als Problembereiche erkannt. So verschleppen viele Kinder diese Schwierigkeiten. Oft werden sie erst nach der Einschulung entdeckt. Dabei wird aber meist nicht der Bezug zur mündlichen Sprache gesehen, sondern diese Schwierigkeiten werden dann mit Merkschwäche oder Teilleistungsschwäche in Verbindung gebracht.

An welche metasprachlichen Fähigkeiten kann in der Schule nun angeknüpft werden? Ein Kind im Elementarbereich ist in der Regel noch nicht zur Extrakommunikation fähig, weil Sprache in diesem Alter nicht als Objekt, sondern ausschließlich in Kommunikationszusammenhängen erlebt wird. Die Schule kann nicht ohne weiteres mit der Extrakommunikation beginnen, sie sollte vielmehr an die metasprachlichen Äußerungen anknüpfen bzw. berücksichtigen, dass es Kinder gibt, die nur über geringe metasprachliche Fähigkeiten verfügen. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass Schulanfängerinnen kaum über Begriffe verfügen, um extrakommunikativ über Sprache zu sprechen (Füssenich/Menz 2014).

Wenn Kinder in die Schule kommen, finden sie sich auf unterschiedlichen Stufen, die mündliche und die schriftliche Sprache zu erwerben. Dies betrifft ihre Zugriffsweisen, ihre Vorstellungen über Schrift und ihr individuelles Lernverhalten. Der Schriftspracherwerb stellt erhebliche Anforderungen an die sprachlich-kognitiven Fähigkeiten der Kinder. Sie müssen sich von der subjektiv erlebnisbezogenen Vorstellung von Sprache lösen und ihre Aufmerksamkeit auf formale Aspekte von Sprache lenken und ihre mündliche Sprache erneut zum Gegenstand der Betrachtung machen. Mit der Schriftsprache lernen Schreibanfängerinnen eine zweite Symbolstufe der Sprache kennen.

Beim Lesen und Schreiben lernen muss das Kind die Einsichten in die Schriftsprache nahezu selbst rekonstruieren und die Beziehungen, die zwischen der mündlichen und schriftlichen Sprache bestehen, entdecken (Valtin 2000), wobei sich dieser Prozess vor allem auf zwei Aspekte bezieht:

  die Erkenntnis der kommunikativen Funktion von (Schrift-)Sprache

  die Einsicht in den Aufbau der Schrift

Ein erfolgreicher Schriftspracherwerb macht Sprache zum Gegenstand von Aufmerksamkeit und Reflexion (Haueis 2000, 142ff). Es handelt sich um unterschiedliche Grade von metasprachlichen Fähigkeiten. Zu Beginn des Schriftspracherwerbs handelt es sich mehr um implizites deklaratives Wissen, das durch explizit deklaratives Wissen abgelöst wird, z. B. zu wissen, ob Wörter groß oder klein geschrieben wird. Dabei ist zu unterscheiden zwischen metaspachlichen Fähigkeiten, die bei jeder Art des Schrifterwerbs eine Rolle spielen, und solchen, die für Alphabetschriften und insbesondere für den Erwerb des orthographischen Systems des Deutschen eine Rolle spielen. Dass Kinder hierzu in der Lage sind, setzt voraus, explizit sprachliches Wissen aus dem Handlungskontext herauslösen zu können.

2.1.2   Schriftspracherwerb als Teil der sprachlich-kognitiven Entwicklung

Der Schriftspracherwerb stellt erhebliche Anforderungen an die sprachlich-kognitiven Fähigkeiten von Schreibanfängerinnen. Durch die Schrift bilden sich bestimmte sprachliche Einheiten, z. B. der Begriff von einem Wort oder einem Satz, heraus. Erst durch den Schrifterwerb wird das Wort als eine isolierbare bedeutungstragende Einheit erfasst. In der Schule wird das Kind mit einem formalen Wortbegriff konfrontiert, während seine Alltagsvorstellung vom Wort handlungs- und kontextbezogen ist:

„In den Verschriftungen der Kinder spiegeln sich ihre Einsichten vom Wortkonzept wider. Kinder gelangen erst allmählich zu der Erkenntnis, dass alle Redeteile aufgeschrieben werden, und sie schreiben zunächst die Wörter ohne Lücken hintereinander. Mit der Erkenntnis des Wortkonzepts setzen einige Kinder – und auch das ist eine originelle Regelbildung – Striche zwischen die Wörter, um Wortgrenzen zu markieren.“ (Valtin 2000, 54)

Dass Kinder bei ihren ersten eigenen Schreibungen noch keine Wortgrenzen einhalten, zeigen folgende Beispiele aus unserem Projekt:

<IchGomme ch esnisuspetsuspot>

(Ich komme jetzt nicht zu spät zu Sport.)

<IchwaRGesTRNINLAINERFAREN>

(Ich war gestern Inliner fahren.)

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff von Graphemen. Valtin weist darauf hin, dass Kinder mit Lese- und Schreibschwierigkeiten oft alle Buchstaben einzeln erkennen und schreiben können. Meist fehlt ihnen aber das Wissen über die Funktion der Buchstaben in einem Wort, denn sie erkennen nicht den Zusammenhang zwischen dem Phonem und dem entsprechenden Graphem, was aber sowohl für das Schreiben als auch für das Lesen notwendig ist.

Kinder müssen sich von der subjektiv erlebnisbezogenen Vorstellung über Sprache lösen und ihre Aufmerksamkeit auf formale Aspekte der Sprache lenken. Für Lernende bedeutet das, dass sie bewusst und willkürlich mit ihrer Sprache umgehen müssen. „Lesen- und Schreibenlernen ist ein kognitiver Konstruktionsprozess. Es wird das Haus der Sprache neu und großzügig eingerichtet. Das Wichtigste dabei ist das Schreiben selbst, das elementare Hantieren mit den neuen Bauteilen.“ (Günther 1993, 91)

„Das Schreiben konstruiert das Denken neu“, schreibt Ong (1987, 81). Ist das Wort bei kleinen Kindern Bestandteil der Handlung, so löst es sich im Laufe der Entwicklung von dieser Handlung und wird als selbstständiges Zeichen benutzt. Das Kind eignet sich früh eine Reihe von Wörtern an, die es der Sprache der Erwachsenen entnimmt. Es bewahrt aber in Wirklichkeit den engen Zusammenhang mit der praktischen Handlung und bezeichnet weiterhin noch nicht den Gegenstand, sondern irgendein Merkmal desselben (Lurija 1982). Die dahinter stehenden eigenen Denkstrukturen von Kindern werden Erwachsenen erst bewusst, wenn Missverständnisse auftreten, Kinder nachfragen oder wenn sie aufgefordert werden, einen Begriff zu definieren. Vielfältige Beispiele für kindliche Denkstrukturen finden wir in der Fernsehsendung Dingsda. Sicherlich wird kein Erwachsener romantisch so umschreiben, wie Stephanie, 9 Jahre, dies in der Sendung vom 12. 1. 1988 macht:

„Meine Eltern, die waren es früher, als sie verliebt waren. Aber jetzt sind sie es nicht mehr, weil sie verheiratet sind. Jetzt lieben sie sich bloß noch.“

Dass Kinder dabei gute Beobachter sein können, zeigt folgende Definition von verheiratet:

„In der Früh stehn sie auf, dann frühstücken sie zusammen, sagen wir mal, bloß einer arbeitet. Dann geht er…dann verabschiedet er sich halt, und dann geht er…die andere zum Einkaufen, und dann kocht se was. Und am Mittag isst se dann alleine, und am Abend also, dann spült se nachmittags ab, und am Abend kommt dann der wieder heim, und dann will er natürlich Abendessen, und dann kriegt er au was.“ (Karia/Rosenberg, 1986, 243)

In der kindlichen Entwicklung verändern sich die Bedeutungen von Wörtern. Das Kind lernt von seinen subjektiven Erlebnissen zu abstrahieren und entdeckt die objektiv bestehenden Beziehungen zwischen den bezeichneten Gegenständen. Zu Beginn des Schulalters werden dem bezeichneten Gegenstand Ober- und Unterbegriffe und andere Vernetzungen zugeordnet. Das Wort erhält somit kategoriale Bedeutung.

Dass bestimmte kognitiv-sprachliche Leistungen nicht möglich sind, solange Schrift nicht verfügbar ist, haben eine Forschergruppe aus Brüssel sowie der sowjetische Psychologe Lurija (1986) in den dreißiger Jahren gezeigt (auch Günther 1993). Die Brüsseler Forscher haben ihren Probanden mündliche Aufgaben wie „Lassen Sie den ersten Teil des Wortes Opa weg.“ gestellt. Durch den Vergleich der Leistungen von Erwachsenen mit und ohne Schriftkenntnissen und denen von Kindern konnten sie nachweisen, dass es das Verfügen über Schrift allein ist, das die Lösung solcher Aufgaben ermöglicht. Menschen ohne Schriftkenntnis waren nicht in der Lage, sie über das Zufallsprinzip hinaus richtig zu beantworten. Aus diesen Ergebnissen zieht Günther (1993, 86) den Schluss, dass es die zentrale Leistung der Schrift ist, Sprache zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, sie ihrer Situationsgebundenheit zu entreißen und so neue kognitive Möglichkeiten zu schaffen.

Anfang der dreißiger Jahre führte Lurija (1986) mit Bauern aus Usbekistan und Kirgisien, die ohne jede Schriftkenntnis waren, eine Reihe von Experimenten durch, die zeigen, dass der Mensch unter den Bedingungen der reinen Mündlichkeit in einer alphabetisierten Gesellschaft die Wirklichkeit nicht in wissenschaftlichen Begriffen abbildet. Lurija legte den Probanden als erstes Zeichnungen von einfachen geometrischen Figuren vor. Bauern, die keinerlei Lese- und Schreibkenntnisse besaßen, benannten die einzelnen Figuren niemals mit ihren abstrakten Namen wie Kreis oder Rechteck. Vielmehr sahen sie in einem Kreis einen Teller, eine Münze oder den Mond. Die Figuren mussten immer etwas mit ihrer Erfahrungswelt zu tun haben. Von einem runden Gegenstand in ihrer unmittelbaren Umgebung abstrahierten sie nie die Eigenschaft Rundheit als solche.

Bei einem anderen Experiment zeigte Lurija seinen Probanden vier Gegenstände, von denen drei derselben Kategorie angehörten, der vierte hingegen einer anderen, wie die Wörter „Hammer – Säge – Holzscheit – Spaten“. Die Antworten eines 39-jährigen Analphabeten zeigen den engen Bezug zur praktischen Handlung:

„‚Alle sind ähnlich. Ich denke, dass sie alle gebraucht werden. Sehen Sie, um zu sägen, ist eine Säge nötig. Und zum Zerkleinern braucht man den Spaten…Alle sind nötig…‘

Einer hat aber nur drei Gegenstände ausgewählt, die sich ähnlich sind: Hammer – Säge – Spaten. Die Begründung:

‚Säge, Hammer und Spaten sind füreinander sehr nötig!... Und das Holzscheit ist hier auch nötig!‘

Warum wählte er diese aus und nahm das Holzscheit nicht dazu?

‚Wahrscheinlich hat er viel Holz! Wenn wir kein Holz haben, können wir überhaupt nichts machen.‘“ (Lurija 1986, 82f)

Einige Untersuchungsergebnisse können auch heute durch Beobachtungen in Alphabetisierungskursen bestätigt werden. Für manche Menschen ohne Schriftkenntnisse ist z. B. der Kreis ein Teller oder die Welt. Wer Schrift nicht erworben hat, sieht oft auch keine Notwendigkeit, sich von der subjektiv erlebnisbezogenen Vorstellung von Sprache zu lösen. Folgende Äußerungen, die Crämer/Schumann (1990, 217) in einem Anfänger-Kurs gesammelt haben, zeigen dies:

Wenn in einer Schüssel viel Salat ist, schreibt man Salat mit <ll>.

Wenn der Maler berühmt ist, schreibt man Maler mit <ll>.

Die mangelnde Distanz zur Sprache zeigt sich auch in einer Äußerung eines Analphabeten, den Giese/Gläß (1984, 30) zitieren:

„Ich hatte Angst, mich mit meinem Nachbarn zu unterhalten, weil ich fürchtete, sie könnten hören, dass ich nicht lesen und schreiben kann.“

Sprache bewusst in kleinere Einheiten, zum Beispiel in Silben oder in Phoneme, zu gliedern, fällt Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ohne Schriftkenntnisse schwer:

So beginnt zum Beispiel für den 17-jährigen Uli das Wort Auto mit [t] und bei Bus hört er am Anfang ein [u].

Ähnlich verhielt sich das Kind, von dem Crämer/Schumann (2002) berichten, das bei der Frage der Lehrerin, bei welchen Wörtern es einen entsprechenden Laut hört, die Bildkarten nacheinander ans Ort hält und verneinend den Kopf schüttelt.

Abstraktere Einheiten, wie Wort oder Satz, sind schriftunkundigen Menschen nicht bekannt. Stellt man ihnen zum Beispiel die Aufgabe, gemeinsam einen Satz zu formulieren, wobei der Reihe nach von jedem ein Wort hinzugefügt werden soll, merkt man, dass ein Wortkonzept noch nicht vorhanden ist. Viele können dieser Aufgabenstellung nicht nachkommen. Sie äußern nicht nur ein Wort, sondern größere Einheiten.