Schritt in die Vergangenheit - Karin Bucha - E-Book

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Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. Als Käthe Dickhoff aus dem Verwaltungsgebäude der Kerstinschen Fleisch- und Wurstwarenfabriken hinaus in die grelle Sonne tritt, muß sie ein wenig die Augen schließen. Sie ist eine schöne Frau mit dunkelglänzenden Haaren und warmen grauen Augen unter dunklen dichten Wimpern. Ihre Figur gleicht der einer Fünfundzwanzigjährigen, dabei ist Käthe Dickhoff siebenunddreißig Jahre alt und gehört zu dem alten Stamm der Fabrik. Schon als junges Mädchen hat sie in der Fabrik gearbeitet und sich seitdem durch seltenen Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit Ansehen erworben. Sie öffnet die Augen wieder, bleibt sekundenlang in der warmen Sonne stehen und glaubt, die blonden Haare ihres Sohnes Uwe zu erkennen, der beladen den Fabrikhof überquert. Aber sie kann sich auch täuschen. Sie hört das tiefe Brummen eines Wagens und springt schnell zur Seite. Die dunkle Limousine rollt an ihr vorbei, um auf dem weiten Hof zu wenden. Ein Schrei läßt sie herumwirbeln, und dieser Schrei pflanzt sich fort. Aus den Gebäuden kommen die Arbeiter und Arbeiterinnen gelaufen. In Käthe Dickhoffs Ohren schwillt das Kreischen der Bremsen zu einer Lawine an. Sie stürzt vorwärts. Jetzt weiß sie, daß es Uwe war, der diesen Schrei ausgestoßen hat. Der schwere schwarze Wagen steht. Käthe beachtet ihn nicht. Sie stürmt auf die Stelle zu, wo die Arbeiter einen Ring gebildet haben. Man macht ihr beinahe ehrfurchtsvoll Platz. »Uwe!« Sie sinkt neben der reglosen Gestalt auf die Knie. Da liegt ihr Sohn, der Halt ihres Lebens, der einzige Mensch, den sie abgöttisch liebt.

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Karin Bucha Classic – 53 –

Schritt in die Vergangenheit

Karin Bucha

Als Käthe Dickhoff aus dem Verwaltungsgebäude der Kerstinschen Fleisch- und Wurstwarenfabriken hinaus in die grelle Sonne tritt, muß sie ein wenig die Augen schließen.

Sie ist eine schöne Frau mit dunkelglänzenden Haaren und warmen grauen Augen unter dunklen dichten Wimpern. Ihre Figur gleicht der einer Fünfundzwanzigjährigen, dabei ist Käthe Dickhoff siebenunddreißig Jahre alt und gehört zu dem alten Stamm der Fabrik. Schon als junges Mädchen hat sie in der Fabrik gearbeitet und sich seitdem durch seltenen Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit Ansehen erworben.

Sie öffnet die Augen wieder, bleibt sekundenlang in der warmen Sonne stehen und glaubt, die blonden Haare ihres Sohnes Uwe zu erkennen, der beladen den Fabrikhof überquert. Aber sie kann sich auch täuschen.

Sie hört das tiefe Brummen eines Wagens und springt schnell zur Seite. Die dunkle Limousine rollt an ihr vorbei, um auf dem weiten Hof zu wenden.

Ein Schrei läßt sie herumwirbeln, und dieser Schrei pflanzt sich fort. Aus den Gebäuden kommen die Arbeiter und Arbeiterinnen gelaufen. In Käthe Dickhoffs Ohren schwillt das Kreischen der Bremsen zu einer Lawine an. Sie stürzt vorwärts. Jetzt weiß sie, daß es Uwe war, der diesen Schrei ausgestoßen hat.

Der schwere schwarze Wagen steht. Käthe beachtet ihn nicht. Sie stürmt auf die Stelle zu, wo die Arbeiter einen Ring gebildet haben. Man macht ihr beinahe ehrfurchtsvoll Platz.

»Uwe!«

Sie sinkt neben der reglosen Gestalt auf die Knie. Da liegt ihr Sohn, der Halt ihres Lebens, der einzige Mensch, den sie abgöttisch liebt.

»Uwe!« flüstert sie, und dann hebt sie hilfeflehend den Kopf. Sie sieht in bleiche, entsetzte Gesichter. Vor Schreck über das Unglück vergessen sie zu handeln.

Kurt von Cleven, Schwiegersohn des alten Kerstin, ist aus dem Wagen gestiegen. Eine wuchtige Gestalt, sehr selbstbewußt, mit einem hochmütigen Zug um den schmalen Mund und trotz seiner Jugend schon recht schütterem Haar.

Er strebt der Ansammlung zu. Nur widerwillig macht man ihm Platz.

»Platz da!« herrscht er die Arbeiter an, und langsam öffnet sich eine Gasse. Er sieht die schlanke Frauengestalt neben dem jungen Menschen knien.

Hilfreiche Hände helfen der verstörten Käthe, den Jungen auf den Rücken zu legen. Säcke werden herbeigezaubert und unter den Kopf des ohnmächtigen Siebzehnjährigen gehoben. Aus der Stirnwunde tropft Blut, langsam rinnt es über die Wangen.

»Einen Arzt!« ruft einer aus dem Kreis.

»Wo ist Dr. Herzfeld?« ruft ein anderer, und schon saust einer davon.

Kurt von Cleven steht ratlos. »Er muß mir in den Wagen gelaufen sein«, murmelt er wie zu sich selbst.

Der alte Wiechert, der schon ein Menschenleben im Werk arbeitet und den jungen Dickhoff besonders ins Herz geschlossen hat und jetzt mit zitternden Händen den Körper abtastet, fährt herum.

»Sie irren sich, Herr von Cleven, Sie haben Dickhoff von hinten angefahren. Sie kamen hinter dem Lieferwagen hervorgeschossen, ohne sich zu überzeugen, ob der Hof auch leer ist. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

Dann dreht er sich gelassen um und raunt der vor Schreck wie erstarrten Käthe zu:

»Ich glaube, gebrochen ist nichts. Da kommt schon Dr. Herzfeld.«

Käthe Dickhoff hört kaum auf diese Worte. Sie hält die leblose Hand ihres Jungen fest umklammert.

Ihr Einziger, ihr fröhlicher, aufgeschlossener Uwe, für den allein sie gearbeitet hat. Der einzige Lichtblick ihres selbstgewählten einsamen Lebens. Aus Liebe zu diesem Kind ist sie allein geblieben, hat einen Antrag nach dem anderen abgelehnt. Uwe ist das Unterpfand einer großen, einmaligen Liebe.

»Mein Junge!« flüstert sie. Wenn er ihr genommen würde, ihr Leben wäre ohne Sinn und Zweck.

Dr. Herzfeld, der Werksarzt, faßt selbst mit an, und behutsam wird Uwe Dickhoff in das einstöckige Gebäude getragen, wo Herzfeld seine Praxis hat, wo er Unglücksfälle behandelt und Arbeiter und Angestellte in vorbildlicher Weise betreut.

Käthe Dickhoff wankt hinter dem traurigen Zug her, etwas unsicher auf den Beinen, aber in aufrechter Haltung. Jede Hilfe hat sie abgelehnt, wie sie überhaupt in persönlichen Dingen

überaus verschlossen ist.

Zurück bleibt Kurt von Cleven, mit scheuen Seitenblicken gemessen. Er ist wenig beliebt, dieser Schwiegersohn des alten Kerstin.

Dickhoff heißt die Frau – geht es ihm durch den Kopf –, die er schon lange mit verlangenden Blicken verfolgt hat, an deren Stolz auch die geringste Annäherung seinerseits abgeprallt ist

Und dieser hochaufgeschossene Junge mit dem blonden Haar ist ihr Sohn? Hm! Er schaut sich prüfend um. Der Hof hat sich von den herbeigelaufenen Arbeitern wieder geleert. Drüben an der Verladerampe geht der Betrieb weiter, und drinnen in dem Zimmer des Arztes liegt der Sohn jener Frau, die ihm nicht mehr aus dem Sinn geht.

Unschlüssig verharrt er, dann rafft er sich entschlossen auf und geht mit weithin hallenden Schritten zur Praxis Dr. Herzfelds In der Tür bleibt er stehen und lauscht auf die Worte des Arztes, mit denen er begütigend auf Käthe Dickhoff einredet.

»Ist noch mal gutgegangen, Frau Dickhoff. Die kleine Platzwunde an der Stirn wird bald heilen. Eine leichte Gehirnerschütterung. Ihr Sohn muß sofort heim und ins Bett. Ich sehe heute noch nach ihm.«

»Danke!« Das ist nur ein Hauch, aber in ihr soeben noch todblasses Gesicht steigt wieder natürliche Farbe. »Ich bin so glücklich. Er ist –«

Sie kann nicht weitersprechen. Sie fühlt die Hand des Arztes auf ihrer Schulter. Er vollendet ihren Satz: »Ich weiß, er ist Ihr einziges Kind. Sie sehen aus, als hätten Sie meine Hilfe ebenso nötig wie Ihr Uwe.«

Geistesabwesend streicht sie sich über Stirn und Augen.

»Mir geht es sehr gut, Herr Doktor. Kann ich Uwe mit heimnehmen?«

Ehe Herzfeld antworten kann, läßt Cleven sich von der Tür her vernehmen. »Ich selbst bringe Sie und Ihren Sohn nach Hause.«

Käthes Kopf fährt herum. Sie erkennt Cleven, und ihr Gesicht nimmt einen abweisenden Ausdruck an. »Danke«, sagt sie hart, so daß sogar der Arzt aufhorcht. »Ich benötige Ihre Hilfe nicht.« Und an den Arzt gewendet fragt sie: »Kann man Uwe nicht mit dem Krankenwagen in unsere Wohnung bringen?«

»Ich bringe Sie und Ihren Sohn heim«, fällt Cleven gebieterisch ein. »In meinem Wagen liegt er sehr bequem, und ich fahre langsam. Schließlich trage ich die Schuld an dem Unfall.«

Käthes Augen suchen Hilfe bei dem Arzt, doch dieser wendet sich mit einem Achselzucken ab. Kurt von Cleven kann verdammt unangenehm werden.

Schwester Elsa, der Arzt und Cleven tragen Uwe hinaus in den Luxuswagen, und Käthe bettet ihn liebevoll. Wohl oder übel muß sie neben Cleven Platz nehmen. Sie tut es mit großem Widerwillen. Etwas warnt sie vor diesem Mann.

»Es ist selbstverständlich, daß ich für alles aufkomme«, hört sie ihn sagen, als sie das Gelände des Werkes verlassen haben und er im langsamen Tempo den Wagen über die Straßen lenkt, hinaus zu der Siedlung, wo auch Käthe Dickhoff ein kleines Haus besitzt. Vor Jahren hat der alte Kerstin die Siedlung für seine Leute bauen lassen. Käthe Dickhoff hat es abgearbeitet. Es ist ihr Eigentum geworden, und es soll einmal ihrem Uwe gehören.

»Ist nicht nötig«, erwidert sie ablehnend. »Das zahlt die Krankenkasse. Hauptsache, mein Junge wird wieder gesund.«

Nie würde sie von diesem Mann etwas annehmen.

»Sie sind sehr stolz«, knirscht Cleven zwischen den Zähnen. »Können Sie sich das in Ihrer Lage überhaupt erlauben?«

Sie ruckt auf ihrem Sitz herum. Ihre Augen flammen. »Was gehen Sie meine Verhältnisse an.«

Die Röte der Wut steigt ihm bis unter das dünne Haar, das einen kantigen Schädel wie ein Kranz umgibt. Er schweigt verbissen.

Mit Sicherheit findet er ihr Haus mit dem kleinen liebevoll gepflegten Vorgarten, den grüngestrichenen Fensterläden und dem roten, weithin leuchtenden Dach. Wie kann sie wissen, daß er nicht nur einmal dieses Haus umschlichen hat. Er weiß selbst nicht, was in ihn gefahren ist. Die Frau sitzt ihm im Blut. Ihre herbe Schönheit ihre auffallende Zurückhaltung, ihr Stolz reizen ihn

»Wir sind da«, reißt ihre Stimme ihn aus seinen Gedanken. Langsam läßt er den Wagen ausrollen, und gemeinsam tragen sie Uwe ins Haus. Unter dem Dach hat er sein eigenes kleines Reich.

Ein selbstgewebter Teppich bedeckt die Dielen. Alles atmet Sauberkeit und Frische. Die Blumenvase an der Wand mit dem hängenden Blattgewächs, die Bilder an der Wand, alles zeugt von einer glücklichen Hand, die dieses Zimmer eingerichtet hat, in dem ein junger Mensch sich wohl fühlen kann.

Sekundenlang vergleicht Cleven damit die prunkvollen Räume seiner Villa.

Uwe Dickhoff liegt in seinem Bett. Mit flinken Händen hat Käthe ihrem Sohn das Lager bereitet. Die Anwesenheit Clevens scheint sie völlig vergessen zu haben.

Sie fährt zusammen, als sie seine Stimme vernimmt.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Nichts, danke«, erwidert sie kurz, beinahe unhöflich. Er soll sie endlich mit ihrem Kind allein lassen.

»Sie werden mir hoffentlich gestatten, den Patienten einmal zu besuchen.«

Käthe zieht die Brauen zusammen. »Über den Verlauf der Krankheit können Sie sich bei Doktor Herzfeld erkundigen. Es ist unnötig, daß Sie sich persönlich hierher bemühen.«

Langsam kommt er auf sie zu. Seine schweren Hände – besitzergreifende, zerstörende Hände muß sie denken – legen sich auf ihre Schultern. Er fühlt die weiche Haut und muß sich beherrschen, sie nicht an sich zu ziehen.

»Ich glaube, Sie gehen zu weit in Ihrem Haß«, stößt er erregt hervor.

Ihre großen grauen Augen sehen hilflos zu ihm auf. »Ich hasse Sie nicht. Aber, bitte, gehen Sie jetzt.«

Da wendet er sich wortlos um. Sie hört seine Schritte auf der Holztreppe poltern. Sie lauscht mit angehaltenem Atem, bis das Brummen des Motors sich verliert und es still um sie wird.

Sie zieht sich den Sessel herbei und nimmt neben dem Bett ihres Sohnes Platz.

Jetzt erst spürt sie, daß sie an allen Gliedern bebt. Die furchtbare Angst, der ausgestandene Schock und dieser widerliche Cleven haben ihren Nerven arg zugesetzt.

Ein Tränenstrom bringt ihr Erleichterung, dann eilt sie hinunter in die blitzsaubere Küche und sucht alles zusammen, was sie zur Pflege ihres Jungen nötig hat.

*

Im kleinen Sitzungssaal des Werkes sitzen die Schwiegersöhne des alten Kerstin zu einer Besprechung zusammen. Sie warten nur noch auf Kurt von Cleven.

Direktor Ernst Glaser und der Prokurist Hans Helmer sind ebenfalls dazu aufgefordert. Beide sind Freunde der Schwiegersöhne und haben im Werk Schlüsselstellungen inne.

»Niemals kann Kurt pünktlich sein«, murrt Fredy Manner, Ursula Kerstins Mann, und sucht in seiner Zigarrentasche nach etwas Rauchbarem.

»Sicher hat er wieder die Nacht durchgesoffen«, erwidert Egon Berger, Monika Kerstins Mann, und schiebt dem Schwager den Aschenbecher zu. Er ist Nichtraucher, dafür angelt er sich die Kognakflasche herbei und gießt sich ein Glas voll.

Fredy Manner, der eigentlich Alfred heißt, aber den Namen Fredy schicker findet, wirft dem Schwager einen lä­chelnden Seitenblick zu. »Darüber brauchen wir zwei uns nicht zu unterhalten, mein Lieber«, sagt er nicht ohne Spott. »Wir haben uns in letzter Zeit die Nächte geradezu genügend vollgegossen – ohne Kurt. Also wollen wir nicht mit Steinen werfen, wenn wir selbst im Glashaus sitzen.«

Erstaunt mißt der Angesprochene Fredy mit einem Seitenblick. »Seit wann bist du so einsichtsvoll?« Dann macht er eine lässige Handbewegung. »Na ja, stimmt schon. Warten wir noch ein paar Minuten.«

Er wendet sich an Direktor Glaser. »Haben Sie Fühlung mit der Darfler AG genommen?«

Dieser nickt und antwortet: »Wollen wir nicht warten, bis Kurt da ist?«

»Meinetwegen.«

Sie beginnen eine leise geführte Unterhaltung, und als endlich Kurt von Cleven erscheint, ein wenig abgehetzt und ärgerlich, atmen die Teilnehmer auf.

»Entschuldigung«, murmelt er und nimmt neben Direktor Glaser Platz, der sein spezieller Freund ist, und den er auch ins Werk gebracht hat. »Hatte einen kleinen Unfall –«

»Unfall?«

Cleven winkt ab. »War nicht schlimm, passierte mir hier im Hof, hielt es aber für meine Pflicht, den Verletzten heimzufahren«

»Wie konnte der Unfall denn passieren?« mischt Hans Helmer sich erstmals ins Gespräch. Wieder winkt Cleven ab.

»Sprechen wir von den nächstliegenden Dingen. Ich habe die Sache schon in Ordnung gebracht.«

Egon Berger, der so etwas Ähnliches wie den Vorsitz führt, denn er ist der Älteste im Kreise, beginnt zu sprechen.

»Das Werk ist so heruntergewirtschaftet, daß wir einen Verkauf an die Darfler AG. anstreben. Auf diese Weise könnten wir für uns persönlich noch retten, was zu retten ist. Ich habe keine Lust, als Bettler aus dem Werk zu gehen. Schließlich habe ich ein paar Jahre geschuftet.«

Er merkt wohl selbst, wie theatralisch er seine Worte setzt und erntet auch nur ein schiefes Lächeln. Aber es steht den Anwesenden förmlich auf der Stirn geschrieben, daß sie auch ihr Schäfchen ins Trockene bringen möchten.

»Das Werk ist doch eine Familienaktiengesellschaft. Um zu einem Abschluß zu kommen, müßten wir unbedingt die Zustimmung Ihrer Gattinnen haben.«

Momentane Stille tritt ein. Es stimmt, was Helmer vorbringt

Kurt von Cleven lacht kurz auf. »Anita werde ich schon zu überzeugen wissen.«

»Und wie ist es mit Hubert Kerstin, dem Seniorchef?« fragt Helmer weiter. »Er ist ein nicht zu unterschätzender Gegner und wird niemals für einen Verkauf stimmen.«

»Dann muß er eben vor vollendete Tatsache gestellt werden«, sagt Cleven rücksichtslos.

Manner kratzt sich hinter dem Ohr. »Offengestanden, das bereitet mir die größten Sorgen. Der Alte hat sich zwar vom Geschäft zurückgezogen, doch ohne seine Zustimmung können wir nichts unternehmen.«

Cleven macht eine großspurige Handbewegung. »Den Schwiegerva-

ter überlaßt mir. Mit ihm werde ich schon fertig. Schließlich ist er ein alter Mann –«

»Für seine siebzig Jahre aber noch recht vital«, bemerkt Heiner hartnäckig. »Da werden Sie eine harte Nuß zu knacken bekommen.«

»Weshalb sitzen wir denn eigentlich zusammen«, braust Cleven auf, »wenn von allen Seiten nur Einwände gemacht werden? Wollen wir doch erst reine Bahn schaffen – und uns dann wieder zusammensetzen. Hauptsache, daß die Darfler AG. einverstanden ist.«

Helmer sieht grübelnd vor sich hin. Etwas wie Scham überkommt ihn. Der alte Kerstin hat hart gearbeitet, hat seinen Schwiegersöhnen vertrauensvoll sein Lebenswerk zur Weiterführung in die Hände gegeben. Und was haben Sie daraus gemacht?

Er erhebt sich auch als erster. »Ich habe noch Unterschriften zu geben«, erklärt er und rafft seine mitgebrachten Papiere zusammen.

Einigermaßen aus der Fassung gebracht, starren die Zurückgebliebenen hinter dem Mann her, der der Jüngste im Kreise ist. Wohl haben sich damit seiner unbedingten Zugehörigkeit versichert zu haben. Sie müssen aber bei sich feststellen, daß er der einzige ist, der wirklich produktiv arbeitet, wäh­rend sie den Rahm abschöpfen.

»Schade«, meint Glaser aus seinen Gedanken heraus. »Mit einigem guten Willen wäre das schöne Werk zu halten. Man müßte wieder die alten Zustände einführen, so wie sie zur Zeit des alten Kerstin herrschten. Uns wäre allen geholfen. Ich glaube, wir werden schwere Kämpfe zu führen haben.«

»Sie vergessen, daß wir, falls wir die Werte realisieren können, ein Leben führen können nach unserem Geschmack. Was geht uns schließlich an, ob das Werk den Kerstinschen Namen trägt oder ein Zweigunternehmen der Darfler AG. geworden ist.«

»Ich weiß nicht«, Glaser wiegt seinem schmalen Kopf bedächtig hin und her, »man hätte den Sörrensen nicht hinauswerfen sollen. Er war eine Kanone. In seinen Händen liefen die Fäden zusammen. Ich muß zugeben, er hat geschuftet wie ein Besessener und dabei nur das Wohl des Werkes im Auge gehabt. Hingegen jetzt –«

»Du redest plötzlich wie eine wehleidige Jungfer«, fährt Manner ihn grob an. »Es bleibt dabei. Das Werk wird an die Darfler AG. verkauft. Wir holen uns die nötigen Zustimmungen.«

Glaser verstummt, stürzt das Glas in einem Zug in sich hinein, das Manner ihm gefüllt hat, und beteiligt sich an dem folgenden allgemeinen Gespräch, das nichts mehr mit dem Werk zu tun hat.

Wenig später gehen sie auseinander. Jeder jagt seinen Privatinteressen nach. Nur Helmer hat sich in den Betrieb begeben, um die Post zu sichten.

Kurt von Cleven hat seinen Plan geändert. Anstatt in die Stadt zu fahren, sucht er seine Villa auf.

*

Hubert Kerstin liebt es, ausgedehnte Spaziergänge zu machen.

Er geht gern durch die Straßen, mischt unter die Fußgänger und sieht sich Schaufenster an. Natürlich sucht er meistens die Straßen auf, in denen die Filialen der Kerstinschen Fabrik verkauft werden.

Er steht vor den Läden, beobachtet den Zustrom der Käufer, begutachtet die Auslagen und den Anschnitt der ausgelegten Wurstsorten.

Er hat vor zwei Jahren den Betrieb an seine Schwiegersöhne übergeben. Aber innerlich kann er sich nie davon lösen. Immer wieder zieht es ihn vor die Geschäfte, die über die ganzen Stadtteile verteilt sind, und die man in dem nächstgelegenen Ortschaften errichtet hat.

Auch heute, an dem schönen Vorfrühlingstag, schlendert er durch die Straßen. Es ist die Hauptverkehrszeit. Teilweise sind schon die Schaufenster erleuchtet, an denen er vorüberwandert. Er ist eine auffallend gute Erscheinung, hochgewachsen, hager. Aufmerksame Augen, von einem Kranz Lachfältchen umgeben, ein energiches Kinn, das Haar voll und schneeweiß.

Vom Schlachtermeister hat er sich emporgearbeitet. Er hat einen stark ausgeprägten Spürsinn, geradezu den sechsten Sinn im Ausfindigmachen guter Verdienstmöglichkeiten.

Aber noch etwas hat er besessen und besitzt es heute noch. Er ist ungeheuer vital und war Zeit seines Lebens ein Arbeitsmensch. Er tauchte in seinen Betrieben zu den unmöglichsten Zeiten auf, nicht um zu tadeln oder zu schikanieren. Nein, er erteilte Ratschläge in einem Ton, die ihm keiner übelnahm. Im Gegenteil, unter seiner Leitung arbeitete man mit Lust und Liebe.

Er selbst besaß zu seiner Belegschaft so etwas wie die Liebe eines Vaters zu seinen Kindern.

Drei Töchter hat ihm die treue Lebensgefährtin, die vor zehn Jahren an einer Gallenoperation gestorben ist, hinterlassen, und der einzige Sohn und Erbe fiel im zweiten Weltkrieg.

Er hätte den Jungen, an dem sein ganzes Herz hing, ohne weiteres zurückstellen lassen können, aber Hubert junior war mit so echter Begeisterung in den Krieg gezogen, erfüllt von dem einen Gedanken, die Heimat zu schützen.

Damals brachte er es einfach nicht übers Herz, den Jungen zurückzuhalten. Indessen hat er es unzählige Male bereut. Seine drei Mädel haben geheiratet, haben ihm Männer gebracht, mit denen er, wenn er ehrlich sein soll, sich nicht versteht.

Man hat ihn förmlich gezwungen, seine Arbeit im Werk aufzugeben. Man hat solange auf ihn eingehämmert, daß er sich schonen müsse, daß er genug gearbeitet und der Jugend Platz zu machen habe, bis er, mürbe geworden, nachgegeben hatte.

Aber er weiß mit dieser nun schon zwei Jahre währenden Untätigkeit nicht viel anzufangen. So hat er Freude an den täglichen Spaziergängen gewonnen.

Eine Frauenstimme reißt ihn aus seinen Überlegungen.

»Ich kaufe bei Darfler ein. Mit den Kerstinschen Sachen ist doch nichts mehr los. Neulich habe ich eine ganze Wurst wegwerfen müssen. Nee, meine Liebe, dazu ist mir mein Geld doch zu schade.«

Kerstin verhält den Schritt. Die Worte treffen ihn wie ein Schlag. Als würde ihm einer eine Binde von den Augen reißen, erkennt er, daß die Frau richtig urteilt.

Er hat es schon oft bemerkt, aber nicht zugeben wollen. Die Erzeugnisse haben sich geändert. Er hat sich innerlich gesträubt, hat tausend Entschuldigungen gesucht. Und nun kommt eine fremde Frau daher und öffnet ihm die Augen. Auch die Antwort wartet er noch ab.

»Das habe ich auch schon festgestellt. Das Zeug taugt nichts mehr. Komm, Frieda, wir gehen ein paar Straßen weiter. Dort ist die Ware besser und einwandfrei.«

Wie betäubt lehnt Kerstin sich gegen das von Neonlicht erhellte Schaufenster. Der Laden ist fast leer. Nicht wie früher ein ununterbrochenes Kommen und Gehen. Jetzt fällt ihm auch auf, daß sich die Bedienung in den einzelnen Geschäften verringert hat.

Gütiger Himmel! Was hat sich hier abgespielt? War er blind? Hat er sich wie ein Narr aufgeführt, der sich auf den Lorbeeren seiner errungenen Erfolge gemächlich ausgeruht hat, ohne den Verfall zu bemerken, ganz einfach, weil er ihn nicht bemerken wollte?

Wie durch einen Nebelschleier sieht er die Passanten an sich vorüberziehen. Er gibt sich einen Ruck, Unsinn! Er muß sich irren. Nichts gegen die Kerstinschen Erzeugnisse! Er bildet sich etwas ein, was nie, nie wahr sein kann.

Ins Werk, ist sein nächster Gedanke. Aber dann verwirft er ihn sofort wieder. Er wird Direktor Sörrensen aufsuchen, der ihm treu ergeben ist und mit dem ihn eine gute Freundschaft verbindet.

Er ist so weich in den Knien, daß er sich eine Taxe nimmt und hinaus zu dem kleinen Haus fährt, das Sörrensen als Junggeselle mit einer jahrelang bewährten Wirtschafterin bewohnt.

Es ist ein wundersamer Abend, und die Sonne, schon zum Untergang bereit, ergießt ihre letzten rötlichen Strahlen über Sörrensens gepflegten Vorgarten, in dem bereits die Tulpen in allen Farben blühen.

Er stößt auch gleich darauf auf Sven, der sich von seinen Tulpen abwendet und Kerstin ein paar Schritte auf dem Plattenweg entgegengeht.

»Tag, Hubert, läßt du dich auch mal wieder sehen?« Das klingt nicht sehr ermunternd, und Kerstin steckt den Vorwurf widerspruchslos ein.

»Tag, Sven. Schon zurück aus dem Werk?« Kerstin schüttelt die Hand des Freundes kräftig. Auf den ersten Blick stellt Sven Kerstins Verstörtheit fest. Ihm ist unbehaglich zumute. Was er dem Freund hat verschweigen wollen, scheint jetzt zur Sprache zu kommen. Er brummt.

»Schon seit anderthalb Jahr!«

Kerstin stutzt, geht aber wortlos neben dem Freund dem Hauseingang zu. Zur ebenen Erde führt er ihn in seine Bibliothek. Sie sind ein ungleiches Gespann. Kerstin ist zwanzig Jahre älter. Aber sie haben sich immer glänzend verstanden, und wenn es um das Wohl des Werkes ging, waren sie sich stets einig.

Sörrensen holt aus dem Bücherschrank eine Flasche Rotwein und stellt sie nebst Gläsern zwischen sich und Kerstin.

»Was – was wolltest du damit andeuten, Sven?« fragt Kerstin gespannt. »Überhaupt, wie kommt es, daß du einmal so früh das Werk verläßt? Hast du Urlaub?«

Sörrensen meidet den forschenden Blick seines Gegenübers, indem er sich mit dem Einschenken des Weines beschäftigt.

»Ich sagte dir sehr richtig, ich habe seit anderthalb Jahren Urlaub.«

Kerstin spürt abermals das unangenehme Gefühl in der Magengegend. »Ich verstehe nicht –«

»Trink erst mal, Hubert«, ermuntert Sörrensen und sieht, wie Kerstins Hand, die nach dem Glas greift, zittert. »Mir scheint, du hast eine Stärkung nötig. Du wirst allerhand erfahren, was dich umwerfen könnte.«

»Hängt es mit dem Werk zusammen?«

Sörrensen preßt sekundenlang die Lippen zusammen. Verdammt noch mal – denkt er! Warum habe ich nicht längst schon gesprochen? Warum habe ich mich aus all den Dingen herausgehalten und dem Verfall tatenlos zugesehen? Weil ich diesen alten herzensguten Mann schonen wollte?

»Du hast dich nicht verhört, Hubert«, sagt er nach einer Weile, die Kerstin endlos erscheint. »Man hat mich entlassen, einer deiner Schwiegersöhne. Wer es war, ist gleichgültig. Ich habe ihnen zu sehr auf die Finger gesehen, und das war ihnen unbequem. Ich sehe ein, ich hätte es dir längst sagen sollen. Aber sie haben ja an meiner Stelle einen tüchtigeren Direktor engagiert, Glaser heißt er.«

Kerstin muß erst alles verdauen, was der Freund gelassen ausspricht. Seit ein paar Stunden wirbelt es sowieso in seinem Kopf. Sven nicht mehr im Werk? Ein anderer an seiner Stelle? Und er hat nichts davon gewußt? Er hat sich um nichts mehr gekümmert, er hat seine Freizeit auf eigene Weise verbracht.

Er atmet einmal tief und spöttelt. »Dieser Glaser muß unerhört tüchtig sein, Sven, so tüchtig, daß es mit dem Werk bergab geht. Mensch, Sven, warum hast du nicht längst gesprochen?« Er nimmt voll Grimm einen tiefen Schluck aus seinem Glas und herrscht Sven an. Jetzt ist er wieder ganz der alte, energische Kerstin. »Und wo arbeitest du jetzt?«

»In meinem Garten«, gibt Sörrensen gelassen zurück. »Bis heute hat es mir ganz gut gefallen, doch seitdem du mir gegenübersitzt, hängt es mir buchstäblich zum Hals heraus. Ich werde mich wieder um eine Stellung bewerben –«

»Den Quatsch wirst du sein lassen, Sven.« Kerstins Augen leuchten vor Arbeitsfieber. »Wir beide werden unsere Plätze im Werk wieder einnehmen, hörst du?«

Sörrensen zieht den Kopf etwas ein. »Wenn es nicht schon zu spät ist –«

»Du bist verrückt«, empört Kerstin sich. »Ein Werk wie das meine kann man nicht in zwei Jahren zugrunderichten.«

Kerstin erhebt sich umständlich. Ihm wird plötzlich alles zu eng. Langsam durchmißt er den weiten Raum. Vor dem Schreibtisch bleibt er stehen, nimmt das Bild auf und betrachtet es gedankenvoll. Sörrensen läßt ihn nicht aus den Augen. Deutlich sieht er, wie die Backenmuskel Kerstins arbeiten.

»Der müßte noch leben«, sagt er endlich, die bedrückend sich auswirkende Stille unterbrechend.

»Bei meinem Sohn wäre das nicht passiert.« Seine Hand streicht über die Glasplatte, hinter der das Bild seines Sohnes Hubert steckt.

Langsam dreht er sich Sven zu. »Hubert wäre heute fast vierzig Jahre alt, sicher verheiratet und hätte vielleicht einen Sohn.«

Sörrensen schweigt dazu. Ihm ist der Hals wie zugeschnürt. Er kann sich gut in die Seele des alten Mannes versetzen, der ihm Freund und Vater zugleich war.

Kerstin spricht weiter, diesmal wie zu sich selbst. »Drei Töchter und kein Enkel.«

»Hast du dich immer noch nicht mit dieser Tatsache abgefunden?« fragt Sörrensen behutsam.

Behutsam stellt Kerstin das Bild auf seinen Platz zurück.

»Nein, alter Junge, das ist mein heimlicher Kummer. Ich habe gewußt, daß meine Schwiegersöhne Nieten sind, aber ich wußte nicht, daß sie dich von deinem Platz verdrängt haben. Meine Töchter haben mich solange bearbeitet, bis sie mich kleingekriegt haben. Nicht einen Schritt habe ich mehr ins Werk getan. Das war mein größter Fehler –«