Schulvermeidung - Daniel Walter - E-Book

Schulvermeidung E-Book

Daniel Walter

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Beschreibung

Wenn es Kindern und Jugendlichen nicht gelingt, regelmäßig die Schule zu besuchen, ist dies ein ernsthaftes Problem, das mit einer deutlichen Entwicklungsgefährdung der Betroffenen einhergeht. Schulvermeidung ist häufig mit emotionalen Störungen und auch expansiven Störungen assoziiert. Gerade bei ausgeprägten Fehlzeiten ist das Chronifizierungsrisiko hoch und daher sind zeitnahe Interventionen notwendig. Der Band gibt einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand zu Schulvermeidung. Anhand von Leitlinien zur Diagnostik wird das Vorgehen zur Erhebung störungsrelevanter Informationen mit allen Beteiligten praxisnah beschrieben. Weiterhin werden Leitlinien zu verschiedenen Behandlungsindikationen wie ambulanter, teil- oder vollstationärer Therapie dargestellt. Die Behandlungsleitlinien informieren über das therapeutische Vorgehen bei Schulvermeidung und assoziierten psychischen Symptomen. Materialien für die Praxis erleichtern die Umsetzung der Leitlinien. Ein ausführliches Fallbeispiel veranschaulicht das Vorgehen.

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Daniel Walter

Manfred Döpfner

Schulvermeidung

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 29

Schulvermeidung

PD Dr. Daniel Walter, Prof. Dr. Manfred Döpfner

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

PD Dr. Daniel Walter, geb. 1972. 1992–1997 Studium der Psychologie in Bonn. 2004 Promotion, 2012 Habilitation. Dozent, Supervisor und KBV-Gutachter für Verhaltenstherapie. Seit 1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Köln. Seit 2009 Leitung des Ausbildungsbereiches des Ausbildungsinstituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (AKiP) an der Uniklinik Köln.

Prof. Dr. Manfred Döpfner, geb. 1955. 1974–1981 Studium der Psychologie in Mannheim. 1990 Promotion. 1998 Habilitation. Seit 1989 Leitender Psychologe an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln und dort seit 1999 Professor für Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit 1999 Leiter des Ausbildungsinstituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (AKiP) an der Universitätsklinik Köln.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Matthias Lenke, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2020

© 2020 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2810-9; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2810-0)

ISBN 978-3-8017-2810-6

https://doi.org/10.1026/02810-000

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Anmerkung:

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|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Schulvermeidung bei Kindern und Jugendlichen ist ein sehr häufiges Problem in unserer Gesellschaft. Die Abwesenheitsdauer reicht dabei von einigen Schulstunden wöchentlich bis hin zu Monaten oder gar Jahren andauernder kompletter Schulabwesenheit. Die Betroffenen sind in ihrer weiteren Entwicklung nachhaltig gefährdet und unbehandelt ist das Chronifizierungsrisiko hoch. Die häufigsten mit Schulvermeidung assoziierten psychischen Störungen sind Angst- und depressive Störungen sowie Störungen des Sozialverhaltens, die allein oder in Kombination vorkommen können. Aufgrund der Vielfältigkeit der Symptomatik und auch der sehr unterschiedlichen Ursachen stellt die Behandlung von Schulvermeidung eine therapeutische Herausforderung dar.

Grundlage der Behandlung ist zunächst eine zeitlich umschriebene, umfassende, multimodale Diagnostik, die neben dem betroffenen Patienten auch das familiäre und schulische Umfeld einschließt. Die Kooperation und sinnvolle Abstimmung aller Beteiligten stellen damit ein wichtiges therapeutisches Ziel dar, um gemeinsam zunächst das vordringlichste Ziel zu erreichen – die möglichst rasche Wiederherstellung eines regelmäßigen Schulbesuchs.

Die Erforschung der Therapie von Kindern und Jugendlichen hat eine lange Geschichte und die Ergebnisse etlicher kontrollierter Studien zeigen, dass die kognitive Verhaltenstherapie aktuell als Methode der Wahl angesehen werden muss. Ergebnisse zu Pharmakotherapie sind demgegenüber bislang widersprüchlich – hier ist weitere Forschung notwendig.

Der vorliegende Leitfaden ist das Ergebnis einer langjährigen wissenschaftlichen und praktischen Arbeit der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und des angegliederten Ausbildungs- und Forschungsinstituts für Kinder- Jugendlichenpsychotherapie (AKiP) in Köln. Der Leitfaden basiert auf den Leitlinien zur Diagnose und Behandlung der jeweiligen assoziierten psychischen Störung deutscher und internationaler Fachgesellschaften und Arbeitsgruppen, die vor dem Hintergrund langjähriger Praxiserfahrung auf die Behandlung von Patienten mit Schulvermeidung zugeschnitten wurden.

Der Leitfaden unterteilt sich in insgesamt fünf Kapitel:

1Im ersten Teil des Buches werden die für die Leitlinien relevanten Aspekte des Forschungsstands hinsichtlich Definitionen und Formen von schulabwesendem Verhalten, der Häufigkeit, Ätiopathogenese, dem Verlauf und der Therapie zusammengefasst.

2Im zweiten Teil werden die Leitlinien und ihre Umsetzung in die Praxis zu folgenden Bereichen formuliert:

Diagnostik und Verlaufskontrolle

Behandlungsindikationen

Therapeutische Interventionen

3|VI|Im dritten Kapitel wird das einzige deutschsprachige Verfahren zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Schulvermeidung kurz und prägnant beschrieben. Weiterhin wird ein Fragebogen und eine Checkliste vorgestellt, mit deren Hilfe die funktionalen Bedingungen von Schulvermeidung erfasst werden können.

4Das vierte Kapitel enthält Materialien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle und erleichtert damit die Umsetzung der Leitlinien in die konkrete klinische Praxis.

5Im fünften Kapitel wird anhand eines Fallbeispiels die Umsetzung der Leitlinien in die klinische Praxis abschließend dargestellt. Der Fall illustriert dabei sowohl ambulante als auch stationäre Behandlungselemente und orientiert sich an den Gliederungspunkten für Psychotherapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversorgung.

Den Kern dieses Buches bilden die in Kapitel 2 dargestellten insgesamt 13 Leitlinien zur Diagnostik, Verlaufskontrolle und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Schulvermeidung. Die Darstellungen von Verfahren und Materialien zur Diagnostik, Verlaufskontrolle und Behandlung in den beiden folgenden Kapiteln ergänzen die Leitlinien und erleichtern ihre Umsetzung.

Außerdem wird dieser Band durch einen kompakten Ratgeber Schulvermeidung (Walter & Döpfner, in Vorb.) ergänzt, der Informationen für Betroffene, Eltern und Lehrer enthält. Der Ratgeber informiert über die Symptomatik, die Ursachen, den Verlauf und die Behandlungsmöglichkeiten bei Schulvermeidung. Die Eltern, Lehrer und Erzieher erhalten konkrete Ratschläge zum Umgang mit der Problematik in der Familie und in der Schule.

Köln, Dezember 2019

Daniel Walter und Manfred Döpfner

Inhaltsverzeichnis

1 Stand der Forschung

1.1 Definition und Formen von schulabwesendem Verhalten

1.2 Häufigkeit

1.3 Ätiopathogenese

1.4 Verlauf

1.5 Therapie

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle

2.1.1 Exploration des Kindes/Jugendlichen, seiner Eltern und Lehrer

2.1.1.1 Exploration und Beobachtung der aktuellen Schulvermeidungssymptomatik des Kindes/Jugendlichen

2.1.1.2 Exploration der begleitenden psychischen Symptomatik und diagnostische Abklärung

2.1.1.3 Exploration der relativen Stärken, Kompetenzen, Interessen und positiven Eigenschaften des Kindes/Jugendlichen und weiterer wichtiger Bezugspersonen

2.1.1.4 Exploration der Schulanamnese und der aktuellen schulischen Leistungen des Kindes/Jugendlichen (hauptsächlich Elternexploration)

2.1.1.5 Exploration des familiären und sozialen Hintergrunds

2.1.1.6 Exploration zur störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte des Kindes/Jugendlichen (hauptsächlich Elternexploration)

2.1.1.7 Exploration der Einstellungen zur Therapie

2.1.2 Fragebogenverfahren zur Erfassung der schulvermeidenden sowie der komorbiden Symptomatik

2.1.3 Weitere psychologische Diagnostik

2.1.4 Integration der Ergebnisse der multimodalen Diagnostik, Problemdefinition und -analyse

2.1.5 Verlaufskontrolle und Qualitätssicherung

2.2 Leitlinien zu Behandlungsindikationen

2.3 Leitlinien zur Therapie

2.3.1 Erarbeitung eines gemeinsamen Störungsmodells, Psychoedukation und Festlegung von Therapiezielen

2.3.2 Kognitiv-behaviorale Therapie des Kindes/Jugendlichen

2.3.3 Eltern- und familienzentrierte Interventionen

2.3.4 Schulzentrierte Interventionen

2.3.5 Medikamentöse Therapie

2.3.6 Jugendhilfe- und schulrechtliche Maßnahmen

3 Verfahren zur Diagnostik und Therapie

4 Materialien

M01 Checkliste zur Exploration von Schulvermeidung

M02 Deutschsprachige Fassung der School Refusal Assessment Scale-Revised (SRAS-R) – Fragebogen Schulvermeidung (Elternversion, Schülerversion)

M03 Checkliste funktionale Faktoren von Schulvermeidung (CL-FFSV)

M04 Behandlungsvertrag

5 Fallbeispiel

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

1.1 Definition und Formen von schulabwesendem Verhalten

Vielen Kindern und Jugendlichen gelingt es nicht, die Schule regelmäßig zu besuchen. Begriffe wie „Schulangst“, „Schulmüdigkeit“, „Schulphobie“, „Schule schwänzen“, „Schulverweigerung“ oder „Schulabsentismus“ versuchen, dieses Phänomen zu umschreiben (Walter & Döpfner, 2009a). Auf den ersten Blick erscheint das Fernbleiben von der Schule als relativ klar zu konzeptualisierendes Phänomen. Dennoch existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte und Definitionen im Zusammenhang mit der Problematik des Fernbleibens von der Schule, die häufig auf unterschiedlichen Annahmen über zugrunde liegende Bedingungen der Schulabwesenheit fußen (Heyne et al., 2019; Ingles et al., 2015; Kearney, 2016; Lenzen et al., 2016). Erste Konzeptualisierungen sind bereits mehr als 100 Jahre alt und finden sich Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. Broadwin, 1932; Hiatt, 1915; Patridge, 1939). Diese Arbeiten zeigen, dass die Erforschung des Schulfernbleibens eine lange Tradition hat. Allerdings erschweren diese unterschiedlichen, sich überlappenden Konzeptionen, die bislang weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen, die Vergleichbarkeit und Integration von Studienergebnissen und auch die Entwicklung geeigneter Behandlungsansätze (Heyne et al., 2019; Heyne & Sauter, 2013; Kearney, 2008b; Pflug & Schneider, 2016). Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, vor dem Hintergrund der vorliegenden Konzepte eine Klärung herbeizuführen und einen angemessenen konzeptuellen Rahmen schulabwesenden Verhaltens zu schaffen.

Eine mögliche Konzeptualisierung stellt die Unterteilung zwischen elternmotiviertem Schulfernbleiben und solchem aus vorwiegend Kind bedingten Ursachen dar (Heyne & Sauter, 2013; Kearney, 2003). Elterlich bedingtes Schulfernbleiben kann dabei dadurch begünstigt werden, dass die Eltern selbst dem Schulbesuch ambivalent bis ablehnend gegenüberstehen und daher nur unzureichend für einen regelmäßigen Schulbesuch sorgen (Kahn & Nursten, 1962). Weitere elterliche Ursachen können darin begründet sein, dass das Kind einem gesunden oder kranken Familienmitglied Gesellschaft leisten (Hersov, 1990) oder die Eltern dabei unterstützen soll, auf Geschwister aufzupassen bzw. im Haushalt zu helfen (Amatu, 1981; Galloway, 1985; Hersov, 1990; Obondo & Dhadphale, 1990). Aber auch Konflikte zwischen Eltern mit der Schule direkt (Kearney, 2001) oder auch deviante Eltern, die in diesem Zusammenhang ihre Verpflichtungen als Sorgeberechtigte nicht wahrnehmen, können auf der Elternebene angeführt werden (Berg et al., 1978). Stehen demgegenüber kindliche Faktoren im Vordergrund, so können psychopathologische Fak|2|toren wie soziale Unsicherheit, unterschiedliche Ängste, depressive Symptome oder auch ausgeprägte motivationale Defizite mit Anstrengungsvermeidung vorliegen. Weitere kindliche Faktoren betreffen den Autoren zufolge schulbezogene Schwierigkeiten wie Defizite im Bereich Lern- und Arbeitsorganisation, eine beeinträchtigte Beziehung zu den Eltern, aber auch gesellschaftliche Bedingungen, die auf das Kind einwirken (etwa hohe Erwartungen in einer Leistungsgesellschaft) (Heyne, 2006; Heyne et al., 2004). Diese oben dargestellte Unterteilung erscheint auf der einen Seite hilfreich, da sie es ermöglicht, ätiopathogenetische Faktoren zu gruppieren. Auf der anderen Seite ist sie sicherlich nicht dazu in der Lage, alle Formen von Schulabwesenheit zu berücksichtigen, zumal eine Mischung aus eltern- und kindmotiviertem Schulfernbleiben häufig ist (Walter & Döpfner, 2009a, im Druck).

In der kinder- und jugendpsychiatrischen Literatur dominierte lange Zeit die Dreiteilung zwischen „Schulangst“, „Schulphobie“ und „Schule schwänzen“ (z. B. Steinhausen, 2016). Während Schulschwänzer der Schule fernbleiben, da sie lieber anderen Tätigkeiten nachgehen und häufig mit einer Störung des Sozialverhaltens assoziiert sind, dominieren bei den schulängstlichen und schulphobischen Kindern und Jugendlichen verschiedene Formen von zugrunde liegenden Ängsten. Allerdings schließen sich diese Dimensionen keinesfalls aus, im Gegenteil – phänomenologische Überschneidungen sind sogar häufig (Egger et al., 2003).

Viele Autoren unterscheiden zwischen Schule schwänzen und Schulverweigerung (Berg, 1997, 2002; Berg et al., 1969; Bools et al., 1990; Goodman & Scott, 2012; Hella & Bernstein, 2012). Während Schulschwänzer ohne Wissen ihrer Eltern der Schule fernbleiben, um angenehmeren Tätigkeiten nachzugehen (z. B. Spielkonsolen im Kaufhaus) zeichnen sich ihnen zufolge Schulverweigerer durch folgende Merkmale aus: (1) starker Widerstand oder Weigerung, die Schule zu besuchen, mit häufig langen Abwesenheitszeiten; (2) die Schulzeit wird zu Hause verbracht (und nicht vor den Eltern verborgen); (3) deutlicher emotionaler Stress in Zusammenhang mit Schulbesuch (z. B. somatische Beschwerden, Angst, Unglücklichsein); (4) Abwesenheit von weiteren externalisierenden Symptomen neben der Weigerung des Schülers, die Schule zu besuchen; (5) elterliche Versuche, das Kind der Schule zuzuführen. Es gibt Befunde, die diese Unterscheidung stützen, allerdings können sich die Ursachen von Schulverweigerung und Schule schwänzen auch überlappen. So fanden Egger und Mitarbeiter in einer epidemiologischen Untersuchung 5 % (Egger et al., 2003), Berg und Mitarbeiter 9 % (Berg et al., 1993) und Bools und Mitarbeiter (1990) 10 % der von ihnen untersuchten Schulfernbleiber, die sowohl Merkmale der Schulschwänzer als auch der Schulverweigerer aufwiesen. Walter und Mitarbeiter (2010a) fanden an einer klinischen Inanspruchnahme-Population von 147 jugendlichen Schulfernbleibern, die stationär behandelt wurden, 33,3 % der behandelten Patienten, die beide Merkmale |3|aufwiesen. Insgesamt scheint also auch diese Unterscheidung nicht dazu geeignet, eine abschließende konzeptuelle Klärung herbeizuführen.

Neuere deutsche und internationale Arbeiten problematisieren die o. g. Konzepte aufgrund ihrer hohen Überlappungen und phänomenologischen Unschärfe und nehmen eine rein deskriptive Sicht ein (Kearney, 2008b; Kearney & Ross, 2014; Lenzen et al., 2016; Tanner-Smith & Wilson, 2013; Walter & Döpfner, 2009a). Der Begriff Schulabsentismus impliziert dabei ausschließlich die Tatsache, dass der Schüler dem Unterricht fernbleibt, ohne dabei Annahmen über zugrunde liegende Ursachen zu machen. Diese Konzeption ist sehr breit angelegt und hat den großen Vorteil, die Gesamtheit aller Kinder und Jugendlichen zu integrieren, denen es nicht gelingt, regelmäßig die Schule zu besuchen. Allerdings bleibt ein nicht unerheblicher Teil von Schülern aus rein somatischen Ursachen der Schule fern (etwa Asthma oder andere Atemwegserkrankungen, eine Übersicht findet sich beispielsweise bei Kearney, 2008b), in der Regel legitimiert durch Eltern oder Ärzte. Bei diesen Schülern spielen psychische Faktoren bei der Schulabwesenheit in der Regel keine Rolle.

Aus diesem Grund wird als Binnenkonzept der Begriff „Schulvermeidung“ vorgeschlagen. „Schulvermeidung“ impliziert, dass es letztendlich eine Entscheidung des betreffenden Schülers ist, der Schule fernzubleiben, und dass keine eindeutigen somatischen Erkrankungen im Vordergrund stehen (während Kinder und Jugendliche mit Somatisierungstendenzen wie Kopf- oder Bauchschmerzen in Zusammenhang mit dem Schulbesuch eingeschlossen werden). Auf diese Weise werden die o. g. Konzepte mit allen intrapsychischen oder interpersonellen Ursachen eingeschlossen, zudem werden die rein somatisch bedingten Schulfernbleiber nicht berücksichtigt. Damit liegt dieses Konzept recht nah an der aus unserer Sicht sinnvollen Konzeption der Schulverweigerer, integriert allerdings auch diejenigen Schüler, die zumindest auch teilweise der Schule fernbleiben, weil sie lieber andere Dinge tun (die sog. Schulschwänzer) und häufiger mit einer Störung des Sozialverhaltens assoziiert sind.

Als Nächstes stellt sich die Frage, ab wann denn das Fernbleiben von der Schule überhaupt als problematisch zu erachten ist. Kearney (2008a) schlägt in diesem Zusammenhang auf der Basis von Befunden an amerikanischen Kohorten vor (beispielsweise Corville-Smith et al., 1998; DeSocio et al., 2007; Lyon & Cotler, 2007), von problematischem Schulfernbleiben zu sprechen, wenn (1) der betreffende Schüler innerhalb der letzten zwei Wochen mindestens 25 % (entspricht 2,5 ganzen Tagen) oder in den letzten 15 Schulwochen mindestens 15 % dem Unterricht ferngeblieben ist (entspricht etwa ganzen 11 Tagen) und (2) in diesem Zeitraum erhebliche Schwierigkeiten dabei hatte, an dem Unterricht teilzunehmen und dies den Tagesablauf des Kindes bzw. der Familie deutlich stört. Diese Fehlzeiten können dabei nicht auf legitime Ursachen wie körperliche Erkrankungen |4|zurückgeführt werden. Diese Definition erscheint sinnvoll, da sie rein deskriptiv angelegt ist und eine überprüfbare Konzeption von Schulabwesenheit darstellt, wobei Fehlzeiten von mehr als 15 % als problematisch anzusehen sind (Heyne & Sauter, 2013). Allerdings basieren diese Cut-offs auf amerikanischen Daten. Wendet man diese Kriterien auf deutsche Kohorten, beispielsweise der von Lenzen und Mitarbeitern (2013) an, so entspräche dies einer Prävalenz von etwa 7 bis 8 % der Neuntklässler im Selbsturteil, die das Kriterium zu Fehlzeiten erfüllen würden, was auch gut zu den in Kapitel 1.2 dargestellten epidemiologischen Untersuchungen passt. Somit erscheint diese Operationalisierung problematischer Fehlzeiten auch inhaltlich sinnvoll. Natürlich sollte auch bei Fehlzeiten unter diesen Cut-offs geprüft werden, ob nicht trotz geringerer Fehlzeiten eine klinisch relevante Symptomatik mit bedeutsamer Funktionsbeeinträchtigung und daraus resultierender Entwicklungsgefährdung vorliegt, die eine Therapie erfordert.

Zusammenfassend werden folgende Kriterien zur Abklärung von Schulvermeidung vorgeschlagen, wobei alle Kriterien erfüllt sein müssen (vgl. Walter & Döpfner, im Druck).

Kasten 1:Kriterien zur Abklärung von Schulvermeidung (Walter & Döpfner, im Druck)

Vorliegen von ausgeprägten schulischen Fehlzeiten: Mindestens 25 % der Unterrichtszeit innerhalb der letzten 14 Tage (entspricht 2,5 ganzen Schultagen) oder mindestens 15 % Fehlzeiten innerhalb der letzten 15 Wochen (entspricht etwa 11 ganzen Schultagen), Validierung vorzugsweise durch das Lehrerurteil.

Erheblicher Widerstand in Zusammenhang mit dem Schulbesuch: Deutlich emotionale Symptomatik (wie Angst, Unmut, Verzweiflung, Wut, Traurigkeit) oder Ablehnung, Desinteresse, Widerstand.

Die schulischen Fehlzeiten führen zu einer deutlichen Funktionsbeeinträchtigung im Alltag (beispielsweise deutlicher Leistungsabfall, ausgeprägter sozialer Rückzug, negative Konsequenzen innerhalb der Schule; erhebliche Konflikte mit den Eltern).

Die schulischen Fehlzeiten können nicht auf körperliche Erkrankungen zurückgeführt werden und sind nicht direkte Folge von externen Vorgaben (z. B. Klassenausschluss, Verbot der Eltern, die Schule zu besuchen).

1.2 Häufigkeit

Zur Häufigkeit von Schulvermeidung und Schulabsentismus liegen international und auch in Deutschland einige Studien vor, wenngleich es bislang kaum repräsentative Zahlen gibt. Zudem zeigen sich eine ganze Reihe von Inkonsistenzen in Zusammenhang mit dem untersuchten Kriterium, also Fehlzeiten (Ausmaß und untersuchter Zeitraum), der Population (Region, einzelne Schulklassen oder -typen) und der eingesetzten Methode |5|(Exploration vs. Fragebögen; Beurteiler: Schüler, Lehrer, Eltern), die allesamt eine Vergleichbarkeit der vorliegenden Befunde erschweren. Dennoch werden im Folgenden größere internationale und einige deutsche Arbeiten kurz angerissen. Kearney (2008b) analysierte die Häufigkeit von Schulabsentismus anhand von Daten des „National Center for Education Statistics“ (National Center for Education Statistics, 2006). Demnach waren in den USA im Jahre 2005 19 % der Viert- und 20 % der Achtklässler mindestens drei Tage im letzten Monat ferngeblieben (mindestens 5 Tage: 7 %), wobei diese Zahlen seit 1994 stabil geblieben waren. Guare und Cooper (2003) untersuchten die Häufigkeit von Schulabsentismus bei 230 Jugendlichen, die die Oberstufe von vier und die Mittelstufe einer fünften Schule in den USA besuchten. Demnach blieben 29,1 % der Schüler manchmal und weitere 9,1 % häufig dem Unterricht ganztags fern. Weitere 54,6 % fehlten manchmal und weitere 13,1 % häufig einzelne Schulstunden – insgesamt war der Schulabsentismus dabei gleichhäufig bei Jungen und bei Mädchen.

Vaughn und Mitarbeiter (2013) befragten eine sehr große repräsentative Stichprobe von mehr als 18.000 Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren (M = 14,6 Jahre) in den USA zu Fehltagen in der Schule innerhalb der letzten 30 Tage. Insgesamt berichteten 11 % der Jugendlichen, in diesem Zeitraum mindestens einen Tag der Schule ferngeblieben zu sein (davon 2 % vier oder mehr Fehltage).

Nach einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung und der Hertie-Stiftung (Buhse & Fileccia, 2003) blieben in Deutschland im Jahr 2002 rund eine halbe Million Schülerinnen und Schüler regelmäßig dem Unterricht fern, was einem Anteil von etwa fünf Prozent entspricht. Wagner und Mitarbeiter (2004) befragten mehr als 1.800 Kölner Schüler an weiterführenden Schulen zwischen 12 und 18 Jahren. Fast die Hälfte besuchten das Gymnasium, jeweils etwa 20 % die Haupt- oder Realschule und fast 7 % eine Förderschule. 35,1 % berichteten, jemals mindestens einen ganzen Tag geschwänzt zu haben, davon 29,0 % innerhalb der letzten 12 Monate. 7,9 % hatten sechs Tage oder mehr unentschuldigt gefehlt. Bei dieser Gruppe der Schüler mit häufigen Fehlzeiten zeigte sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Schultypen – Haupt- und Förderschüler waren besonders häufig betroffen (14,7 % der Haupt-, 12,8 % der Förder-, 6,1 % der Realschüler und 4,7 % der Gymnasiasten). Es zeigte sich zudem ein deutlicher Anstieg mit zunehmendem Lebensalter. Während der Anteil von Schülern mit häufigen Fehlzeiten im Alter von 13 Jahren 2,2 % betrug, so stieg er auf 14,8 % bei den 17 Jahre alten Schülern. Insbesondere an Gymnasien kam Schulabsentismus bei Jungen häufiger vor. Baier et al. (2009) untersuchten eine repräsentative Stichprobe von mehr als 60.000 Neuntklässlern in Deutschland. Es zeigte sich, dass Mädchen mit 46,4 % häufiger sporadisch (weniger als fünf Tage im letzten Schulhalbjahr) der Schule fernblieben im Vergleich zu Jungen (43,2 %), letztere aber häufiger fünf oder mehr Tage unerlaubt gefehlt hatten (13,0 % im Vergleich zu 11,1 %). Zudem zeigte sich, |6|dass auf den Gesamtschulen am häufigsten sporadisch der Schule ferngeblieben wurde (51,6 %), dass auf der anderen Seite Hauptschüler am häufigsten zu den Mehrfachfernbleibern gehörten – 20 % waren innerhalb des letzten Schulhalbjahres mindestens fünf ganze Tage der Schule ferngeblieben, gefolgt von den Förderschulen mit 19,4 %. Gymnasiasten gehörten mit 7,3 % am seltensten zu den Schülern mit häufigem Schulabsentismus.

Lenzen und Mitarbeiter (2013) führten eine Fragebogenuntersuchung an fast 2.700 Schülern im Alter zwischen 11 und 19 Jahren in Deutschland durch. 4,1 % der Befragten gaben an, an mehr als vier Tagen pro Monat im vergangenen Schuljahr unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben zu sein (weitere regionale deutsche Untersuchungen, die an dieser Stelle nicht dargestellt werden sollen, finden sich bei Baier et al., 2006; Schreiber-Kittl & Schröpfer, 2002; Wetzels et al., 2000; Wilmers et al., 2001). Pflug und Schneider (2016) führten eine anonyme Online-Befragung an N = 1.359 Schülerinnen und Schülern zwischen 10 und 21 Jahren (M = 15,1 Jahre) in sozialen Medien durch (Facebook, Schüler-VZ). 46,8 % der Teilnehmer besuchten ein Gymnasium, 23,5 % die Realschule und jeweils etwa 10 % die Haupt- und die Gesamtschule. 33,7 % gaben an, innerhalb der letzten 7 Tage überhaupt der Schule ferngeblieben zu sein. Jeweils ein Drittel dieser Schüler mit Fehlzeiten hatten entweder einzelne Schulstunden, einen Tag oder auch zwei oder mehr Tage gefehlt. 43,3 % der schulabsenten Schüler gaben Krankheit, Unfall oder ein besonderes Ereignis (etwa Einladung zu einer Hochzeit oder Beerdigung) als Ursache an, 56,7 % berichteten von anderen Ursachen wie Langeweile, Müdigkeit, Unwohlsein. 118 Schüler gaben an, der Schule häufig fernzubleiben aus anderen Gründen als körperliche Erkrankungen oder spezielle Ereignisse, etwa weil sie lieber mit ihren Freunden zusammen sein wollten, Angst vor Mitschülern hatten oder ihrem Job nachgehen mussten. Damit fanden die Autoren eine Ein-Wochen-Prävalenz von Schulvermeidung von 8,7 %. Die betroffenen Schüler waren tendenziell älter, lebten häufiger mit nur einem Elternteil zusammen und stammten aus Familien mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status. Zudem hatten sie häufiger eine Klasse wiederholt.

Insgesamt zeigen diese Prävalenzzahlen zu Schulabwesenheit deutliche Schwankungen in Abhängigkeit von der untersuchten Kohorte und den zugrunde gelegten Kriterien (insbesondere Abwesenheitsdauer). Daher sind diese Zahlen nur schwer miteinander in Verbindung zu setzen. Tendenziell lässt sich aber schlussfolgern, dass je nach Alter, Schultyp und Region zwischen 5 und 10 % der Schüler regelmäßig der Schule fernbleiben.

Aus den angeführten Daten, die mehrheitlich die Häufigkeit von Schulabsentismus widerspiegeln, wird allerdings nur unzureichend ersichtlich, wie hoch der Anteil der Schulvermeider war, also der Anteil derjenigen Schüler, bei denen im Kontext von Fehlzeiten psychische bzw. psychosoziale Bedingungen im Vordergrund standen. Interessant ist es daher, zu |7|überprüfen, wie hoch der Anteil der körperlichen Erkrankungen in Zusammenhang mit Schulabsentismus ist. In diesem Zusammenhang erscheinen – beispielhaft für asthmatische Erkrankungen – Zahlen des „National Center for Health Statistics“ (Akinbami et al., 2011) aus dem Jahr 2011 interessant: Schüler mit Asthma im Alter zwischen 5 und 17 Jahren waren durchschnittlich 10,5 Tage dem Unterricht komplett fern geblieben. Fast 60 % aller Asthmaschüler hatten mindestens einen Fehltag im vergangenen Schuljahr gehabt. Diese Zahlen verdeutlichen exemplarisch, dass körperliche Ursachen einen beträchtlichen Anteil bei Schulabsentismus ausmachen können, wenn man bedenkt, dass in dieser Kohorte allein Schüler mit Asthma durchschnittlich 10 komplette Schultage fehlten. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass in diesen Zahlen auch diejenigen Schülerinnen und Schüler enthalten sind, die aufgrund von Somatisierungstendenzen, etwa Bauch- oder Kopfschmerzen bzw. Übelkeit, der Schule entschuldigt fernblieben, bei denen also der Schulabsentismus eher auf psychische Belastungsfaktoren als auf körperliche Erkrankungen zurückzuführen ist (McShane et al., 2001). Möglicherweise ist also die Rate rein körperlich bedingter Schüler mit Schulabsentismus niedriger.

Egger et al. (2003) untersuchten gezielt die Häufigkeit von Schulvermeidung in einer großen epidemiologischen Untersuchung in den USA, der Great Smokey Mountains Study. Mehr als 1.400 Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 16 Jahren nahmen an der Studie teil. Insgesamt waren 8,2 % der Schüler in den letzten drei Monaten mindestens einen Tag der Schule ferngeblieben. Bei vorwiegend dissozial bedingter Schulvermeidung waren mit 65 % häufiger Jungen betroffen, während die Geschlechterverteilung ausgeglichen war, wenn auch oder ausschließlich emotionale Ursachen zugrunde lagen.

Schließlich erscheint es sinnvoll, zu analysieren, wie hoch der Anteil psychischer Störungen innerhalb der Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Schulvermeidung ist. In der Great Smokey Mountains Study wiesen 24,5 % bis 88,2 % aller untersuchten Schüler mindestens eine psychische Störung auf, während die Prävalenz psychischer Störungen bei den Schülern, die regelmäßig die Schule besuchten, bei gerade mal 6,8 % lag. Bei den Schülern, die entweder rein angstbedingt oder aus primär dissozialen Gründen der Schule fernblieben, waren diese Prävalenzraten geringer (24,5 % und 25,4 %) als bei Schülern, bei denen eine Mischung aus angstbedingten und dissozialen Ursachen zum Tragen kam – bei letzteren lag die Rate psychischer Störungen besonders hoch (88,2 %). Innerhalb der psychischen Störungen dominierten verschiedene Formen von Angststörungen, in erster Linie Leistungs-, soziale und Trennungsängste, weniger häufig waren agoraphobische Ängste oder Panikstörungen. Aber auch depressive Symptome oder voll ausgeprägte Depressionen kamen häufig vor. Neben den emotionalen Störungen fanden sich auch expansive Störungen wie Störungen des Sozialverhaltens und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen, |8|im Jugendalter kam zusätzlich Substanzmissbrauch hinzu. Kearney und Albano (2004) untersuchten eine klinische Inanspruchnahme-Population von N = 143 Kindern und Jugendlichen mit Schulabsentismus im Alter von fünf bis 17 Jahren, die zum Zeitpunkt der Untersuchung durchschnittlich 37 % Fehlzeiten aufgewiesen hatten. Basierend auf strukturierten klinischen Interviews zeigten 67,1 % der Schülerinnen und Schüler mindestens eine psychische Störung. Emotionale Störungen mit Trennungsangst (22,4 %) und generalisierte Angststörungen (10,5 %) kamen am häufigsten vor, gefolgt von oppositionellen Verhaltensstörungen (8,4 %) und depressiven Störungen (4,9 %).

McShane et al. (2001) untersuchten eine weitere klinische Inanspruchnahme-Population von fast 200 Jugendlichen, die durchschnittlich 14,2 Jahre alt waren und wegen Schulvermeidung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik vorgestellt wurden. Mehr als die Hälfte der Patienten wiesen mindestens zwei Achse-1-Störungen auf. Am häufigsten wurde eine Angststörung diagnostiziert (54 %, hierunter eine emotionale Störung mit Trennungsangst bei 20 %, gefolgt von einer sonstigen Angststörung bei 12 % und einer generalisierten Angststörung bei 8 %). Panikstörungen und Agoraphobien kamen seltener vor. 30 % der Patienten erfüllten die Kriterien einer depressiven Episode, 22 % einer Dysthymie. Eine Störung des Sozialverhaltens wiesen 38 % der Jugendlichen auf (darunter 24 % eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten). 6,5 % hatten eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

Insgesamt lässt sich also festhalten, dass je nach Studie etwa fünf bis zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler regelmäßig der Schule fernbleiben, wobei bei einem Teil körperliche Erkrankungen im Vordergrund stehen. Unter den Kindern und Jugendlichen mit Schulvermeidung scheinen emotionale Auffälligkeiten am häufigsten vorzukommen, allerdings zeigt ein Teil zusätzlich oder alternativ auch externalisierende Symptome. Schließlich ist die Prävalenz psychischer Störungen bei Schulvermeidung sehr hoch (Heyne & Sauter, 2013).

1.3 Ätiopathogenese

Die Ursachen von Schulvermeidung sind sehr vielfältig und beeinflussen und verstärken sich häufig wechselseitig. In der Literatur existieren zahlreiche Befunde, die allerdings mehrheitlich unverbunden nebeneinanderstehen; zudem handelt es sich in der Regel um Querschnittserhebungen, daher ist unklar, inwieweit die identifizierten Risikofaktoren Ursache oder Folge von Schulvermeidung darstellen (Kearney, 2016; Maynard et al., 2015b; Maynard et al., 2012; Melvin et al., 2019; Thambirajah et al., 2007). Viele ältere Studien wurden in den USA, England, Kanada und Australien durchgeführt, allerdings gibt es inzwischen auch Befunde aus anderen |9|europäischen Ländern und auch aus Südafrika, die mehrheitlich frühere Befunde unterstreichen, was für eine Stabilität ätiologischer Bedingungen über verschiedene Kulturen hinweg spricht (Kearney, 2008b, 2016). Aus klinischer Sicht müssen auch aufrechterhaltende Faktoren unbedingt miteinbezogen werden, hierzu ist allerdings weitere Forschung wünschenswert. So tragen unklare Zuständigkeiten zwischen Schule, Familie und eventuell weiteren beteiligten Institutionen wie ärztliche Kollegen, Jugendamt, Therapeuten und auch eine mangelnde Rückmeldung der Schule zu Fehlzeiten an die Beteiligten zur Aufrechterhaltung und Chronifizierung der Schulvermeidung bei. Auch (häufig gut gemeinte) längere Krankschreibungen sind in der Regel nicht hilfreich, sondern halten die Schulvermeidung aufrecht. Langes Zuwarten und ein auf Entlastung ausgerichteter Umgang hat sich häufig als nachteilig erwiesen, demgegenüber ist rasches Handeln mit klaren Zuständigkeiten und Abläufen hilfreich (vgl. Leitlinien L6 ff.).

Walter und Döpfner (2009a) präsentieren auf der Basis von Carr (1999) sowie Ihle und Mitarbeitern (2003) ein Modell zur Erklärung von Schulvermeidung, das einen heuristischen Rahmen bietet, um wesentliche Befunde zu integrieren. Hierzu erscheint es sinnvoll, zwischen folgenden Ebenen zu unterscheiden, auf die nachfolgend näher eingegangen werden soll: Merkmale des Patienten, Merkmale der Familie, Merkmale der Schule, Merkmale der Gesellschaft (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Ätiopathogenetisches Modell von Schulvermeidung (modifiziert nach Carr, 1999; Ihle et al., 2003; Walter & Döpfner, 2009a)