Schüsse am Schiffercafé - Jochen Bender - E-Book

Schüsse am Schiffercafé E-Book

Jochen Bender

0,0

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Furcht an der Förde Vom Tiessenkai tropft Blut in die Ostsee. Es gehört zu einer riesigen Blutlache, in deren Mitte eine Leiche liegt. Trieb unbändige Wut jemanden zu diesem grausamen Mord an dem harmlosen Rentner? War es vielleicht der Unbekannte, mit dem er sich in einem Holtenauer Kiosk stritt? Oder ermordet ein Psychopath willkürlich arglose Kieler Bürger? Die Kommissarinnen Frauke Knoop und Uta Meyer ermitteln im Umfeld des Toten, der Spenden für ein russisches Waisenhaus sammelte und sie über die Ostsee verschiffte. Sie fragen sich, welche Rolle der charmante Porschefahrer spielt, der die Tochter des Toten umgarnt? Schwierige Ermittlungen für Frauke Knoop. Sie kämpft noch immer mit den Folgen ihrer Entführung durch den Kieler Frauenmörder und lebt in ständiger Angst, dass er erneut aus dem Dunkel auftauchen könnte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 375

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com + Adobe StockEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9779-5

Jochen BenderSchüsse am Schiffercafé

Viele Menschen versäumendas kleine Glück,während sie auf das großevergebens warten.Pearl S. Buck

Sonntag, 20. Februar 2022

Ein leuchtendblauer Himmel spannte sich über das dunkelblaue Wasser der Kieler Förde. Die Möwen kreischten aufgeregt am Himmel, während hinter Frauke Knoops Rücken gemächlich ein Frachter in den Nord-Ostsee-Kanal einfuhr. Tief in ihre Gedanken versunken stand die Kommissarin auf dem Tiessenkai und betrachtete das Schiffercafé. In ihren ruhelosen Jahren hatte sie dort in Gesellschaft ihrer besten Freundin Melanie vergnügliche Stunden verbracht. Sei es sonntags beim Tango mit mehr oder weniger temperamentvollen Tänzern oder auch einfach bei Musik, gutem Essen und heiteren Gesprächen. Jetzt war ihr alles andere als heiter zumute, lag vor ihr doch das Opfer einer brutalen Gewaltorgie.

Seit den qualvollen Stunden in der Gewalt des Kieler Frauenmörders fiel ihr die notwendige Distanz zur alltäglichen Brutalität ihres Jobs schwer. Ein Mord in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, so nahe, dass sie zu Fuß zum Tatort gekommen war, machte es ihr nicht gerade leichter.

Der streng logische und analytische Teil ihres Ichs beschwerte sich darüber, dass sie Trauer und Schmerz zu sehr zuließ.

„Träumst du?“

Die Kommissarin zuckte zusammen und schüttelte sich, ehe sie sich ihrer Kollegin Uta zuwandte.

„Ist die Gerichtsmedizinerin fertig?“

„Ja, sie bestätigt unsere Vermutung, dass er von hinten erschossen wurde. Vier Projektile trafen ihn im Rücken, mindestens eines davon perforierte sein Herz. Als er auf dem Boden lag, wurde ihm dann noch zweimal in den Kopf geschossen.“

Vor lauter Abscheu schüttelte Frauke sich erneut.

„Also eine Übertötung? Anscheinend wollte da jemand ganz sichergehen. Klingt nach einem Profi, einem Auftragskiller von der organisierten Kriminalität, Mafia oder so.“

„Oder jemand war einfach saumäßig wütend auf ihn. Jedenfalls handelt es sich bei Herrn Sterz um kein Zufallsopfer. Ich vermute, er spazierte arglos den Tiessenkai entlang, während sein Mörder hinter der Gebäudeecke hier auf ihn lauerte. Als er vorbei war, trat hinter ihm der Täter hervor und schoss.“

Uta zeigte in die entsprechenden Richtungen. Fraukes Blicke folgten ihr.

„So könnte es gewesen sein. Das würde allerdings bedeuten, ...“

„... dass der Mörder wusste, dass er hier entlangkommen würde.“

„Außerdem ging der Täter ein hohes Risiko ein. Sonntagmorgens sind hier zwar sicherlich keine Menschenmassen unterwegs, aber durchaus hin und wieder ein Jogger oder Hundebesitzer. Und sechs Schüsse sind nicht zu überhören.“

„Trotzdem haben wir bisher niemanden gefunden, dem eine verdächtige Person aufgefallen ist.“

„Was wiederum für die Verwendung eines Schalldämpfers und somit für einen Profi-Killer spricht!“

Nachdenklich betrachtete Frauke den Toten und murmelte:

„Wen hast du derart verärgert, dass er sich so grausam an dir rächte? Du bist doch bestimmt schon siebzig...“

„Er ist erst sechsundsechzig und wohnte nicht weit von hier in der Richthofen Straße. Dort wartet übrigens vermutlich seit einigen Stunden seine Frau vergeblich auf ihn. Wir sollten sie über seinen Tod informieren, ehe sie es auf anderen Wegen erfährt.“

Die Adresse des Toten entpuppte sich als ein gesichtsloses Mietshaus. Beim Eintreffen der Kriminalistinnen stand eine ältere Frau in der Tür des Gebäudes und starrte sorgenvoll die Straße hinunter. Uta und Frauke tauschten einen Blick. Vermutlich handelte es sich um die Witwe Sterz, die noch nicht wusste, dass sie Witwe war.

Während die Beamtinnen direkt vor dem Haus parkten und ausstiegen, verfolgte die Alte die beiden Fremden mit ihren Blicken. Als die sich ihr zuwandten, schüttelte sie ihren Kopf hin und her, flüsterte erst, steigerte die Lautstärke dann, bis sie schließlich laut brüllte:

„Nein! Nein! Nein! Nein!“

Uta schritt energisch auf sie zu, ergriff ihre Hand und packte sie fest genug am Oberarm, um sie jederzeit vor einem Sturz bewahren zu können, während Frauke nach einem Notfallseelsorger und einem Notarzt telefonierte.

„Wir sind von der Polizei, bitte lassen Sie uns ins Haus gehen!“, sprach Uta freundlich, aber bestimmt auf die Alte ein.

Frauke folgte den beiden hoch in den zweiten Stock. Das Innere der Wohnung war sauber und aufgeräumt, wirkte aber bescheiden. Geld fiel somit wohl als Mordmotiv aus, zumindest auf den ersten Blick. Uta setzte sich mit der Witwe aufs Sofa, hielt tapfer ihre zittrige Hand und tätschelte sie gelegentlich, während die Frau in einem kaum verständlichen Dialekt laut klagte und heulte. Zwischendurch wurde Frau Sterz von Weinkrämpfen geschüttelt. Frauke redete beruhigend auf die Alte ein, getrieben von der Hoffnung, ihr vielleicht doch noch die ein oder andere Frage stellen zu können. Letztlich waren beide Beamtinnen froh, als nach wenigen Minuten fast zeitgleich der Notarzt und der Notfallseelsorger eintrafen. Die Polizistinnen überließen die Hausherrin den professionellen Helfern, zwar erleichtert, aber ohne von ihr etwas erfahren zu haben.

Tausende Kilometer entfernt quälte Roland die Frage, wie viel Lüge eine Liebe vertrug. Nervös wartete er in einem kleinen Lokal auf Melek, seine letzte Beziehung vor seiner jetzigen Liebe Frauke. Jene war mit ihren Sommersprossen und den rötlich-blonden Haaren nicht nur ein ganz anderer Typ als die südländische Melek, sondern wäre sicher nicht amüsiert, erführe sie, dass er sich heimlich mit seiner Ex traf. Er war auch nicht in Sankt Petersburg oder sonst wo in Russland, wo Frauke ihn vermutete, sondern im türkischen Izmir. Der Gedanke, Frauke erführe von seinem Verrat und würde ihn daraufhin in die Wüste schicken, lag ihm schwer im Magen.

Roland verspürte den starken Drang, sie anzurufen und mit ihr offen über alles zu reden. Aber das war völlig unmöglich, auch wenn er einzig hier war, um sie zu schützen und das gleich in zweifacher Hinsicht.

„Hey!“

Roland sah vom Tisch auf. Melek stand in einem sich eng an ihren Körper schmiegenden, knallroten Kleid vor ihm und lächelte auf ihn herab. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Ihr schwarzes Haar glänzte seidig, ihre mandelförmigen Augen strahlten und ihre herzförmigen Lippen schimmerten in einem verführerischen Rot. Vor lauter Überraschung sprang er so hektisch auf, dass sein Stuhl nach hinten umkippte, woraufhin sich die übrigen Gäste sowie die Kellner ihm zuwandten. Missbilligend starrten sie alle ihn an.

„Oh … hey! Ich habe dich gar nicht kommen sehen.“

Roland drehte sich um, bückte sich und stellte den Stuhl wieder hin. Dann stand er unsicher Melek gegenüber. Sie musterten einander, besonders gründlich ihre Gesichter, ehe sie ihre Blicke über den Körper des jeweils anderen gleiten ließen. Ihre Brüste zogen seine Augen magisch an, er zwang seine Blicke stattdessen auf ihre nackten Schultern, was ihm unverfänglicher erschien.

„Gut siehst du aus!“, teilte Roland ihr das Ergebnis seiner Überprüfung mit.

„Du auch!“

Melek breitete ihre Arme aus und lächelte einladend. Er zauderte kurz, machte dann aber den fehlenden Schritt auf sie zu und schloss sie in die Arme, erst zögerlich, dann immer fester. Ihre Nähe und ihr süßlich-blumiger Duft mit einer deutlichen Lavendel-Note raubten ihm schier die Sinne.

„Du riechst gut, aber anders als früher.“

Sie schnaubte kurz.

„Mein bevorzugtes Parfüm ist nicht das Einzige, was sich verändert hat!“

Das ehemalige Liebespaar ließ voneinander ab. Roland trat wieder einen Schritt zurück, lief um die schlanke Schönheit herum auf die andere Seite des kleinen Tisches und zog den dort auf sie wartenden Stuhl zurück.

„Setz dich doch bitte!“

„Danke!“

Melek nahm Platz, rückte dann ihre zierliche Handtasche auf ihrem Schoss zurecht, musterte die kleinen Tische mit den weißen Decken und den brennenden Kerzen, die Natursteinmauern des Kellergewölbes sowie die Kellner in ihren schwarzen Hosen und weißen Hemden.

„Hübsch hier, du hast das Lokal gut gewählt!“

„Danke. Du bist selbstverständlich mein Gast.“

Ein Kellner trat an den Tisch und reichte ihnen die Speisekarten.

„Darf ich Ihnen vielleicht schon etwas zu trinken bringen?“

Nachdem sie sich entschieden und ihre Bestellungen aufgegeben hatten, sahen sie einander befangen an. Der Kellner kehrte rasch zurück, brachte ein kleines Bier für Roland und einen Aperol Sprizz für Melek. Sie prosteten einander zu und tranken je einen kleinen Schluck. Endlich brach sie das Schweigen:

„Ich dachte, von dir höre ich nie wieder etwas.“

„So hatten wir es ja auch vereinbart.“

„Aber?“

Roland vermeinte, das zarte Glimmen leiser Hoffnung in ihren Augen zu erkennen.

„Du bist der einzige Mensch, dem ich vollkommen vertraue und mit dem ich wirklich offen über alles reden kann. Du weißt mehr über mich als jeder andere. Gerade kannst nur du mir helfen. Und glaub mir, Hilfe habe ich gerade bitter nötig! Wobei …“

„Bevor du weitersprichst“, unterbrach sie ihn, „ich bin jetzt verheiratet!“

„Du?“ Ungläubig starrte er sie an. „Du wolltest doch nie …“

„Ich hatte keine Wahl!“

„Weil du schwanger …“

„Nein!“

Sie blitzte ihn erst zornig an, senkte dann ihren Kopf und verbarg ihr Gesicht hinter ihren Haaren. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihr Handtäschchen und kramte darin herum, während sie gegen ein Schluchzen ankämpfte. Roland schluckte schwer. Sie zog ein Taschentuch aus der Packung und tupfte sich damit behutsam die Augen ab.

„Hat dein Onkel deinen Bräutigam ausgesucht?“

Melek nickte schwach.

„Oh Gott! Auch das noch, dabei …“

„Mehmet ist in Ordnung!“

Ihr Onkel war der Pate einer lokalen Mafia-Organisation rund um die türkische Stadt Bodrum. Wie alle Paten legte er großen Wert darauf, dass jeder, der etwas Relevantes über ihn oder seine schmutzigen Geschäfte wusste, heiratete und möglichst bald Kinder bekam. Wer einen geliebten Menschen zu verlieren hat, schweigt zuverlässiger. Um dem ihr vorherbestimmten Leben in der Halb- oder Unterwelt zu entkommen, war Melek vor ein paar Jahren als junge Frau nach Deutschland geflüchtet.

„Dabei war dir deine Freiheit immer so wichtig! Du wolltest nie …“

„Mehmet ist schwul! Wir haben keinen Sex miteinander und er lässt mir alle Freiheiten!“

„Schwul?“ Verblüfft starrte Roland sie an. „Aber …“

„Genug von mir geredet! Wie kann ich dir helfen?“

Roland zauderte, sah sie fragend an. Melek erwiderte seinen Blick jedoch nicht, sondern starrte durch ihn hindurch. Er seufzte.

„Arbeitet Igor noch für deinen Onkel?“

Melek schnaubte unwillig.

„Was soll die Frage? Du weißt, dass man bei der Mafia nicht einfach kündigen kann!“

„Dann gib ihm bitte das hier von mir und sag ihm, er soll mich so schnell wie möglich damit anrufen.“

Roland legte ein billiges Prepaid-Handy auf den kleinen Tisch. Melek starrte nachdenklich erst das Gerät, dann ihn an. Gerade als sie etwas sagen wollte, traten zwei Kellner mit dampfenden Tellern und Schüsseln an ihren Tisch. Wortlos nahm sie das Handy und verstaute es in ihrer Handtasche, während die Kellner die verführerisch duftenden Speisen servierten. Augenblicklich meldete sich Rolands Magen.

Sie wünschten einander einen guten Appetit. Rolands Köfte mit Bulgursalat waren einfach himmlisch und auch die vorsichtshalber dazu bestellte Sucuk-Wurst schmeckte so, wie er es mochte. Ach! Wie sehr er doch die türkische Küche mit ihren kräftigen, gut aufeinander abgestimmten Aromen vermisst hatte!

„Igor schuldet dir noch einen Gefallen, und zwar einen großen!“, meinte Melek kauend. „Willst du diesen jetzt von ihm einfordern?“

In Kiel wälzte Frauke sich schweißnass im Bett. In ihrem Traum erlebte sie erneut den Horror ihrer Entführung auf der Sunseeker. Der Frauenmörder hatte soeben außerhalb des deutschen Hoheitsgebiets die Motoren der schnellen Yacht gestoppt. Während jene ausfuhr, starrte er seine Geisel forschend an. Frauke war ihm mit ihren an der Decke gefesselten Händen wehrlos ausgeliefert.

„Bist du wirklich mit diesem Irren zusammen?“

„Ja! Unter den Fotos auf meinem Smartphone findest du reichlich Bilder von ihm!“

Ihr Entführer zögerte kurz, schnappte sich dann ihr Handy, öffnete das Verzeichnis und scrollte solange durch die Bilder, bis er ein Selfie von Frauke und Roland fand. Akribisch verglich er Rolands Gesicht mit dem Foto des Zeitungsartikels.

„Er könnte es sein. Sie sehen sich zumindest ähnlich. Und der soll kaltblütig zwei Mafia-Killer erschossen haben? Eigentlich sieht er ganz harmlos aus.“

„Das tust du auch!“

Er grinste breit.

„Da hast du auch wieder recht. Was ich nicht verstehe: Warum verliebt sich eine Mordermittlerin wie du ausgerechnet in einen Mörder? Wobei ich zugeben muss, dass das schon irgendwie etwas hat. Schließlich bin ich selbst ein Mörder.“

Sein Lächeln wurde anzüglich.

„Als ich mich in Roland verliebte, wusste ich schlicht nichts von seiner dunklen Seite!“, fauchte sie.

„Also gut! Du bist mir nicht das Risiko wert, dass der Irre sich wie ein Bluthund auf meine Fährte setzt, um seine ganz persönliche Rache zu befriedigen. Ich lasse dich also frei.“

„Hier? Mitten auf dem Meer?“

„Klar! Glaubst du etwa, ich laufe deinetwegen einen Hafen an!“

„Das ist Mord! Wenn du mich hier über Bord schmeißt ...“

„Keine Sorge, du bekommst meine Rettungsinsel! Darf ich bitten!“

Er trat hinter sie, presste sich an ihren Rücken und umfasste sie mit seinem kräftigen rechten Arm so, dass seine Pistole ihr Kinn nach oben drückte. Die leiseste Zuckung seines Fingers würde ihr das Gehirn aus dem Schädel blasen. Frauke erstarrte, während er ihre Handschellen von der Decke löste. Er fesselte ihre Hände vor dem Körper, trat von ihr zurück und wies mit der Hand in Richtung Heck. Frauke zögerte.

„Nun mach schon! Ich warte hier bestimmt nicht, bis meine Häscher kommen! Willst du frei sein oder nicht?“

„Klar will ich meine Freiheit.“

Zögernd lief sie ihm voraus Richtung Heck, als hinter ihr ein Schuss explodierte, dem drei weitere folgten. Vier Geschosse schlugen tief in ihren Rücken ein und warfen sie zu Boden. Als sie wehrlos vor ihm lag, beugte er sich über sie, setzte die Pistole auf ihre Schläfe auf und drückte zwei weitere Male ab.

Schreiend erwachte Frauke. Mit wild rasendem Herzen saß sie schweißnass im Bett und blickte sich um. Sie befand sich in ihrem Schlafzimmer, in Sicherheit, zumindest vorläufig. Langsam beruhigte sie sich. Ihre Psychologin Rita Obermayer hatte sie gewarnt, dass die Konfrontation mit brutaler Gewalt ihr Trauma triggern könnte. Jetzt war es tatsächlich passiert. Im Traum hatte sie erneut ihre Todesangst empfunden, wie vor fünf Monaten, als sie an ihrem Entführer vorbeigelaufen war. Damals hatte er sie tatsächlich in die Rettungsinsel gesetzt. In ihrem Traum hatte sie hingegen das Schicksal des Opfers ihres aktuellen Mordfalles ereilt.

In der Rettungsinsel hatte sie vor Erleichterung geweint und zugleich Angst gehabt, er würde es sich anders überlegen, umdrehen und sie doch noch töten. Aber sie hatte nicht lange darin gelegen, als das Knattern starker Rotoren über ihr einen Höllenlärm verursachte. Ein Polizeihubschrauber hatte sie geborgen und zurück nach Kiel geflogen, während der Frauenmörder mit seiner Sunseeker hinaus auf die Ostsee geflüchtet war.

Ihr Chef und Freund Andreas Bode hatte seinerzeit die Jagd nach ihm vom Lagezentrum aus verfolgt. Zwischendurch hatte er sich in der Klinik persönlich davon überzeugt, dass sie körperlich unversehrt war. Er hatte ihr hautnah von seiner Genugtuung berichtet, als am folgenden Vormittag der Yacht der Sprit ausging und sie hilflos in schwedischen Gewässern trieb. Andreas hatte live mitgehört, als die schwedische Küstenwache schließlich die Sunseeker enterte, voller ingrimmiger Vorfreude auf die Verhaftung des Mörders. Der folgte bittere Enttäuschung, als man an Bord der Yacht nicht ihn, sondern nur einen Abschiedsbrief vorfand.

Frauke hatte damals nur zu gerne geglaubt, dass ihr Entführer den Freitod in der Ostsee dem lebenslangen Knast vorgezogen habe. Andreas war skeptischer gewesen, hatte die Dänen bedrängt, ihre Fahndung auf Falster zu intensivieren. Schließlich war die Sunseeker knapp an der Insel vorbeigefahren und hatte genau dort begonnen ihre Fahrt zu verlangsamen. Erst als der Gesuchte spurlos verschwunden blieb, hatte auch Andreas geglaubt, dass er seinen Versuch, die Insel schwimmend zu erreichen, wohl mit dem Leben bezahlt hatte.

Frauke hatte sich eine Auszeit genommen und war mit Roland wochenlang durch die Welt gereist. In Vietnam, im süßen Städtchen Hoi An, hatten sie entspannt zu Abend gegessen, als eine SMS auf ihrem Handy einging. Nichts Böses ahnend, hatte sie Nachricht geöffnet. Einen Schrei ausstoßend hatte sie das Telefon fallen lassen. Seither lebte sie in ständiger Angst vor seiner Rache.

Montag, 21. Februar 2022

Auch am nächsten Morgen war die Witwe noch nicht ansprechbar. Frauke musste sich mit einer Vernehmung weiter gedulden. Dafür lieferte die Kriminaltechnik rasch erste Erkenntnisse. Die Projektile im Körper des Toten waren vom seltenen Kaliber 7,62 mm. Vermutlich stammten sie von einer Tokarev, einer Militärpistole aus Sowjet-Zeiten. Eine solche Waffe hatte sicher noch ihre Liebhaber, war aber sehr selten. In Kiel waren nur wenige Exemplare gemeldet, im Stadtteil Holtenau kein einziges.

Wenig später rief ein Kollege der Polizeistation Friedrichsort bei ihr an. Bei ihm hatte sich ein Zeuge gemeldet, mit dem zu sprechen sich für die Mordermittlerinnen lohnen könnte.

Keine halbe Stunde später parkten Frauke und Uta in der Nähe vom Kiosk des Zeugen. Zu Fuß liefen sie hin, betraten es und baten darum, Herrn Papadakis zu sprechen. Der gebürtige Grieche stand selbst hinter der Theke. Beim Anblick ihrer Kripomarken erblasste er sichtlich, warf nervöse Blicke in alle Richtungen und bat dann die Polizistinnen in Zivil eilig nach hinten. Durch einen Blick gab er einer Frau zu verstehen, dass sie den Verkauf übernehmen sollte.

Vor ihnen hergehend führte er sie in ein winziges Hinterzimmer. Es war vollgestopft mit Regalen und einem Schreibtisch, samt dazugehörigem Drehstuhl, den er Uta anbot. Als zuerst jene und dann auch Frauke ablehnte, nahm er missmutig vor sich hin murmelnd selbst darin Platz. Nur so passten die drei in den Raum und konnten sogar noch die Tür hinter sich schließen. Frauke überlegte, den Zeugen kurzerhand aufs Revier Holtenau zu bitten, ließ es jedoch sein, um seine Bereitschaft auszusagen nicht zu schmälern.

„Ich wollte nicht zur Polizei!“, stellte er klar. „Ich habe eine Scheiß-Angst, dass er davon erfährt und mich ebenfalls kaltmacht!“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu den beiden Polizistinnen hoch, wobei seine Pupillen hektisch zwischen ihnen hin und her pendelten.

„Vor wem haben Sie Angst?“

„Na, vor dem Typen vom Samstag, der Fritz erschossen hat!“

„Fritz? Meinen Sie damit Friedrich Sterz?“

„Klar!“

„Der wurde aber am Sonntag erschossen, nicht am Samstag!“

„Schon, aber ...“

Er brach ab, sackte förmlich in sich zusammen.

„Aber was?“

Herr Papadakis reagierte zunächst nicht. Düster starrte er vor sich hin. Gerade als Frauke ihre Frage wiederholen wollte, hob er seine Augen wieder und antwortete:

„Die beiden sind sich hier, in meinem Kiosk, über den Weg gelaufen und haben sofort Stress miteinander bekommen! Und ich bin schuld daran, weil ich den Typen vorher so provoziert habe! Der Fritz ist ja eine Seele von einem Menschen! Der alleine hätte nie Stress mit ihm bekommen! Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass der Typ so brutal reagiert! Schließlich ...“

„Stopp!“

Mit einer energischen Geste unterstrich die Kommissarin ihre Aufforderung. Herr Papadakis zuckte zusammen, beendete aber seine Tirade und blickte stattdessen mit großen Augen zu ihr hoch.

„Wie heißt der Mann, von dem Sie reden?“

„Das weiß ich doch nicht!“

„Aber er kam zu Ihnen in den Kiosk?“

„Ja! Nachdem er seine Karre direkt davor auf dem Fußgänger-Überweg geparkt hatte! Ich habe gleich gedacht ...“

„Stopp! Erzählen Sie bitte ganz langsam und der Reihe nach, was wann am Samstag passiert ist!“

„Also gut, kurz vor Ladenschluss ...“

Das aufgeregte Zetern einer Passantin dringt durch die offene Ladentür in den Kiosk. Um nachzusehen, was los ist, verlässt Herr Papadakis die Theke und tritt an die offenstehende Tür. Ein tiefergelegter und aufgemotzter Mercedes ganz in Schwarz parkt mitten auf dem Fußgänger-Überweg. Ein junger Schnösel steigt soeben aus, während ihn eine alte Frau lautstark beschimpft. Er grinst sie provozierend an, schließt den Wagen ab und wendet sich dem Kiosk zu.

Herr Papadakis tritt schnell zurück und flüchtet hinter die Verkaufstheke. Er ahnt, dass Ärger ansteht und mahnt sich zur Ruhe. Der Fremde tritt ein, checkt mit einem Blick, ob sich noch jemand im Kiosk befindet, und grinst dann provozierend in Richtung des Inhabers.

„Merhaba!“

„Guten Tag!“

Papadakis nickt leicht.

„Guten Tag? Woher kommst du? Griechenland?“

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ihr Griechen seid allesamt Räuber! Ihr habt uns unser Land gestohlen! Und ihr haltet euch für was Besseres! Aber wir werden es euch schon noch zeigen! Bald!“

„Wollen Sie etwas kaufen? Falls nicht, ich wollte soeben den Kiosk schließen!“

„Natürlich will ich kaufen!“ Der Mercedes-Fahrer schlägt mit der flachen Hand auf die Theke. „Warum glaubst du, bin ich hier? Eine Kahve!“

Papadakis ist hin und her gerissen. Am liebsten würde er den jungen Schnösel einfach rauswerfen, ahnt aber, dass der sich nicht so leicht rauswerfen lassen wird. Soll er ihm daher um des lieben Friedens willen einfach einen Kaffee verkaufen? Da fällt ihm eine Filmszene mit Tom Schilling ein. Seine Laune hebt sich schlagartig. Wie oft er sich schon ausgemalt hat, die Szene mit einem Kunden, der ihm dumm kommt, nachzuspielen! Jetzt ist der perfekte Moment dafür! Er kann sein Grinsen kaum unterdrücken, so sehr freut er sich darauf. Er stimmt sich in die Rolle des Barista ein, räuspert sich gestelzt und setzt seine Stimme eine halbe Oktave höher.

„Wir führen keinen ordinären Kaffee, sondern ausschließlich die exzellenten Produkte der Firma Schwarzmahler. Bei der Firma handelt es sich um eine exklusive, kleine Kaffee-Manufaktur, die ihre Röstung täglich neu auf die sich ändernden Umwelteinflüsse abstimmt! Deliver, Pechschwarz oder Heimat?“

Der junge Schnösel starrt ihn an, als habe er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Papadakis hält ungerührt mit einer Grinse-Maske dagegen.

„Was?“

Der unwirsche Ton schreckt ihn nicht, im Gegenteil.

„Will der Herr Deliver, Pechschwarz oder Heimat? Was darf ich Ihnen zubereiten?“

„Ne oluyor be...“

„Es handelt sich hierbei um die verschiedenen exquisiten Sorten, die wir von Schwarzmahler im Angebot haben! Sie unterscheiden sich in …“

„Willst du mich verarschen? Ich will einfach nur einen Kaffee!“

Diesmal donnert seine Faust auf die Theke.

„Aber das sind alles Kaffeesorten! Alle drei sind exzellente Röstungen, bestehen vorwiegend aus Arabica Bohnen!“

Der Fremde verharrt unschlüssig, starrt den Ladeninhaber böse an.

„Also gut, dann halt Pechschwarz!“

„Zimt, amerikanisch oder wienerisch?“

„Wenn du mich verarschen willst ...“

„Die Röstung! Zimt ist hell geröstet, amerikanisch mittel und stark geröstet heißt wienerisch!“

Der unerwünschte Kunde tritt zwei Schritte zurück und starrt Papadakis noch finsterer als zuvor an. Jener hofft, dass es dem anderen jetzt reicht, er endlich seinen Kiosk verlässt und freut sich schon darauf, die Story seinen Freunden zu erzählen. Er wird sie sicher nicht nur einmal erzählen, sondern sehr lange etwas davon haben!

In genau diesem Augenblick höchster Anspannung betritt Fritz hektisch den Kiosk und eilt, ohne den anderen Kunden wahrzunehmen, an die Theke.

„Papa! Du bist noch da! Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich wäre zu spät dran und ...“

„Ey Alter! Hier wird nicht gedrängelt!“

Der Fremde macht zwei Schritte vor an die Theke und befördert mittels eines Body-Checks Herrn Sterz rüde zur Seite. Jener strauchelt, kann nur mit Mühe einen Sturz verhindern. Papadakis Laune schlägt schlagartig um. Sein Herz rutscht ihm in die Hose. Starre befällt ihn.

„Was … ?“, stammelt Fritz. „Was soll das! So eine Unverschämtheit ...“

„Zisch ab! Oder ich polier dir die Fresse!“

Mit geballter Faust wendet der Prolet sich drohend dem Alten zu.

„Aber ich will doch nur...“

„Hörst du schlecht? Ihr Kartoffeln haltet euch für was Besseres, aber mach dich sofort vom Acker! Sonst schlag ich dir alle Zähne aus! Und du“, er wendet sich Papadakis zu, „machst mir sofort einen Kaffee! Und wenn du weiter dumm rumlaberst, kriegst du auch eine aufs Maul!“

Der Kioskbesitzer schüttelt seine Starre ab.

„Okay, okay, alles klar! Ihr Kaffee kommt! Aber lassen Sie bitte den alten Herrn in Frieden, er hat Ihnen nichts getan!“

Herr Papadakis beendete seinen Bericht. Zusammengesunken saß er vor ihnen. Die Ermittlerinnen wechselten fragende Blicke. Beide wussten nicht so recht, was sie von der Sache halten sollten.

„War das alles?“

„Reicht Ihnen das nicht?“ Ehrlich empört blitzte er Frauke an. „Hätte der Ihrer Meinung nach gleich bei mir im Laden seine Knarre ziehen und um sich ballern sollen?“

„Nein, natürlich nicht! Aber wie ging die Sache zwischen den beiden Männern weiter?“

„Fritz war klug genug, den Kiosk zu verlassen. Und ich begriff, wie dumm es von mir gewesen war, einen solchen Typen zu verarschen. Ich versuchte, meinen Fehler auszubügeln und tat alles, um ihn zu besänftigen, gab ihm sogar den Kaffee umsonst!

Fritz stand währenddessen draußen und quatschte mit ein paar Leuten aus der Nachbarschaft, die sich darüber aufregten, dass da einer den Fußgänger-Überweg zuparkte. Wahrscheinlich erzählte er denen, was er in meinem Kiosk soeben erlebt hatte. Ich weiß es aber nicht. Jedenfalls wäre es mir lieber gewesen, wenn Fritz abgehauen wäre, um keine erneute Konfrontation mit dem Typen zu riskieren.

Drinnen köchelte der Fremde vor sich hin, trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken. Als er endlich meinen Kiosk verließ, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich sperrte hinter ihm sofort zu. Außerdem nahm ich mein Handy in die Hand und beobachtete vom Schaufenster aus vorsichtig, was draußen vor sich ging, um zur Not schnell die Polizei zu rufen. Durchs Fenster sah ich, wie er und die anderen sich gegenseitig angifteten, konnte aber nur einzelne Worte verstehen. Dafür habe ich den Vorfall mit dem Handy gefilmt. Hier sehen sie ihn und sein Autokennzeichen.“

Herr Papadakis führte den Polizistinnen das Video vor. Auf ihre Bitte hin schickte er es ihnen anschließend zu. Die beiden bedankten sich und verließen sein Kiosk. Draußen im Auto diskutierten Frauke und Uta das Gehörte.

Der Streit mit dem Unbekannten hatte samstags um vierzehn Uhr stattgefunden. Erst am Sonntag um sieben Uhr war auf Herrn Sterz geschossen worden, also mit einer Verspätung von siebzehn Stunden. War der Fremde tatsächlich so verärgert gewesen, dass er Herrn Sterz unbemerkt bis zu seinem Haus gefolgt war und die ganze Nacht über auf ihn gelauert hatte? War er ihm, als jener am nächsten Morgen das Haus zu einem Spaziergang verließ, bis an den Tiessenkai gefolgt? Das erschien den Kriminalistinnen zwar möglich, aber äußerst unwahrscheinlich. Sie mussten dringend seine Witwe hierzu befragen. Vielleicht war sie ja jetzt aus der Klinik entlassen worden. Da sie ganz in der Nähe wohnte, fuhren sie kurzentschlossen bei der Adresse vorbei.

Als die Beamtinnen vor dem Mietshaus standen und mehrmals ausgiebig klingelten, öffnete sich schließlich bei der Wohnung unter der Witwe Sterz ein Fenster. Eine Frau lehnte sich heraus.

„Frau Sterz ist noch in der Klinik. Sie sind doch die Polizistinnen, die den schrecklichen Mord untersuchen. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“

„Das Angebot nehmen wir gerne an!“, flötete Uta, während sie Frauke auf den Fuß trat.

„Aua!“, fluchte jene unterdrückt.

„Dann kommen Sie doch bitte herauf!“, meinte Frau Widmann, ehe sie das Fenster schloss.

„Das hätte jetzt nicht sein müssen!“, schimpfte Frauke. „Mir ist selbst klar, dass wir hier eine einmalige Chance der Informationsgewinnung haben.“

„Dann entschuldige bitte!“

Utas süffisantes Lächeln strafte ihre Worte Lügen. Leicht grummelnd folgte Frauke ihrer Kollegin ins Haus und stieg hinter ihr die Treppen hoch.

Die Flurwände in Frau Widmanns Wohnung waren vollgepflastert mit Fotos von Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen bei diversen Tätigkeiten und an den verschiedensten Plätzen dieser Welt. Offensichtlich hatte sie nicht nur ein reges Familienleben, sondern stellte jenes auch gerne aus.

Frau Widmann bat die Beamtinnen in eine Küche, deren helle Holzfronten gut mit den Terrakotta-Fliesen des Bodens harmonierten. Der Raum wirkte gerade noch sauber und aufgeräumt genug, um eine gemütliche Atmosphäre zu verbreiten. Mit einer elektrischen Mühle mahlte die Gastgeberin Kaffeebohnen und füllte das aromatisch duftende Pulver in eine Siebträger-Maschine, mit der sie wenig später fauchend und röchelnd Milch aufschäumte, ehe jene eine herrlich dunkle Flüssigkeit ausspie. Solchermaßen verwöhnt fiel es Frauke leicht, die Gesprächsführung Uta zu überlassen, zumindest vorläufig.

„Hat Herr Sterz Ihnen von seiner unschönen Begegnung im Kiosk erzählt?“

„Aber natürlich hat Fritz mir die Sache haarklein und bis ins letzte Detail erzählt! Und zwar gleich, als er zurückkam. Ich war die Erste aus unserem Haus, der Fritz davon erzählte, erfuhr es sogar noch vor seiner Frau Klara! Wir trafen uns zufällig unten vor dem Haus. Ich sah ihm gleich an, dass etwas passiert war! Ist es nicht empörend, was für unverschämte Menschen es heutzutage gibt? Fritz regte sich vor allen Dingen darüber auf, dass er wegen des unverschämten Typen nicht dazu gekommen war, seinen Lottoschein abzugeben. Sie müssen wissen, dass Klara und er leidenschaftliche Lottospieler sind. Da schmerzt es sehr, wenn man einmal aussetzen muss. Zumal ...“

„Haben Sie in den Stunden nach Herrn Sterz’ Rückkehr ungewöhnliche Beobachtungen auf der Straße vor dem Haus gemacht?“

Der redseligen Nachbarin verschlug es für einen Moment die Sprache. Mit offenem Mund starrte sie abwechselnd die beiden Beamtinnen an.

„Ungewöhnliche Beobachtungen?“ Sie schluckte schwer. „Was meinen Sie damit?“

„Nun, haben Sie beispielsweise eine Person gesehen, die nicht hierher gehört oder ...“

„Oh Gott! Sie gehen also davon aus, dass der Mann aus dem Kiosk auf Fritz geschossen hat! Das ist ja schrecklich! Der hätte genauso gut ...“

„Das will ich damit nicht sagen ...“

„Nein, mir fiel kein Fremder auf der Straße auf! Zumal so eine Karre, von der Fritz mir erzählt hat, absolut nicht in unsere Straße passt! Ein dicker Mercedes, tiefergelegt und mit Spoilern! Das auch noch in Schwarz! So etwas Geschmackloses fährt bei uns hier keiner!“

„Nun, vielleicht hatte er das Auto weiter entfernt geparkt und stand ohne Auto schräg gegenüber?“

„Sie meinen, ein fremder Mann könnte einfach so stundenlang oder gar die ganze Nacht hindurch auf dem Gehweg gestanden haben, ohne dass es jemandem auffiel? Das ist völlig ausgeschlossen! Wir passen in unserer Nachbarschaft hier nämlich gut aufeinander auf! Die Caro hat sich erst kürzlich von einem Typen getrennt, der meinte, er könne sie stalken. Als der Caro hier bei uns auflauern wollte, haben wir unsere Männer rausgeschickt. Die haben ihn aus dem Auto gezogen und ihm deutlich gesagt, was sie von Männern halten, die Frauen schlagen. Seither passen wir noch besser auf als bisher! Wir hätten ihn mit absoluter Sicherheit gesehen!“

Uta fiel es schwer, geduldig zu bleiben, was Frauke nicht entging.

„Hatte Herr Sterz Feinde?“

„Feinde? Der Fritz!“ Die Nachbarin schnaubte. „So etwas kann nur jemand fragen, der ihn nicht kannte! Der Fritz war eine gute Seele! Der tat nie jemandem etwas zuleide! Im Gegenteil, er half gerne und engagierte sich für andere. Der hatte bestimmt keine Feinde!“

Zur Bekräftigung ihrer Worte schüttelte sie ihren Kopf.

„Wie nahm seine Frau denn seine Begegnung im Kiosk auf?“, mischte Frauke sich ein.

„Keine Ahnung.“

Frau Widmann zuckte mit den Schultern.

„Das Haus ist alt und hellhörig. Da bekommt man doch, ob man will oder nicht, mit, was in der anderen Wohnung gesagt wird! Zumindest, wenn es lauter gesagt wird.“

„Lauter wurde es tatsächlich am Samstag, aber erst viel später. Am Abend haben die beiden sich gegenseitig so heftig angeschrien, dass ich den Fernseher lauter stellen musste.“

„Worüber haben die Eheleute Sterz denn am Samstagabend gestritten?“

„Wieso gestritten? So habe ich das nicht gemeint! Die Klara ist eigentlich auch eine Liebe.“

„Eigentlich? Aber ...“

Die Kommissarin sah sie auffordernd an. Die Nachbarin holte tief Luft.

„Klara ist halt hinterm Eisernen Vorhang aufgewachsen und kam erst Anfang der Achtziger frei. Drüben musste sie bestimmt viel Schreckliches erleben. Als ich sie kennenlernte, war sie eine ganz Stille, Verängstigte. Erst als ihre beiden Kinder kamen, taute sie langsam etwas auf. Das beide Kinder nichts mehr von sich hören lassen, bricht ihr Mutterherz jeden Tag aufs Neue. Wer kann ihr da schon verübeln, dass sie manchmal schlechte Laune bekommt?“

„Frau Sterz stammt also aus der DDR?“

„Nein, noch viel weiter aus dem Osten! Sie ist eine Russlanddeutsche und kam als Spätaussiedlerin hierher nach Kiel.“

Bei der Erwähnung des Landes, in dem Frauke ihren Entführer vermutete, griff erneut kalte Angst nach ihr. Sie stockte. Ob Roland schon etwas erreicht hatte? Warum meldete er sich nicht?

Uta warf ihrer Kollegin einen prüfenden Seitenblick zu und übernahm dann die Vernehmung wieder.

„Worüber haben Ihre Nachbarn denn am Samstag gestritten?“

„Wie ich bereits sagte, haben die beiden nicht gestritten, sondern sich nur etwas lauter unterhalten!“

Uta stöhnte innerlich auf, hoffte, sich ihren Unmut nicht anmerken zu lassen.

„Also gut: Worüber haben die beiden sich unterhalten?“

„Das weiß ich doch nicht!“

„Ganz sicher nicht? Haben Sie nicht vielleicht doch das ein oder andere Wort gehört?“

Frau Widmann verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Uta herausfordernd an.

„Bitte! Jede Kleinigkeit kann wichtig sein! Oder wollen Sie etwa nicht, dass wir den Mord an Ihrem herzensguten Nachbarn aufklären?“

Die Nachbarin rang sichtlich mit sich und gab schließlich nach.

„Ich habe nur gehört, wie Klara mehrmals laut rief, wie man nur so dämlich sein kann. Das hat mir gereicht! Davon wollte ich nichts hören, zumal Fritz sich nie gegen sie wehrt. Statt mir das länger anzuhören, stellte ich daher lieber den Fernseher lauter.“

„Kam es denn öfters vor, dass Frau Sterz ihren Mann als dämlich bezeichnete?“

„Öfters würde ich nicht sagen.“

„Aber es war auch nicht das erste Mal?“

„Das weiß ich wirklich nicht! So laut sind die beiden normalerweise nicht!“

„Besitzt Familie Sterz eine Pistole?“

„Sind Sie verrückt!“ Frau Widmann schnappte nach Luft. „Wollen Sie jetzt allen Ernstes die arme Klara des Mordes an ihrem Mann verdächtigen? Nach vierzig Jahren Ehe!“

„Ich verdächtige niemanden, sondern stelle Ihnen nur eine ganz einfache Frage. Ist Ihnen bekannt, dass ...“

„Nein! Ich habe nie davon gehört, dass einer von den beiden dort oben eine Pistole sein Eigen nennt! Sind Sie jetzt zufrieden?“

Sie warf der Polizistin einen Blick zu, der offensichtlich töten sollte.

„Bitte beruhigen Sie sich, meine Kollegin hat es nicht so gemeint!“

Frauke gab Uta durch einen Blick zu verstehen, dass sie sich zurückhalten sollte. Dabei hatte sie es durchaus so gemeint.

„Ging Herr Sterz des Öfteren so früh an der Förde spazieren?“

„Fast täglich, Fritz war ein Frühaufsteher.“

„Wer wusste davon?“

„Hier in der Nachbarschaft? Jeder.“

Frauke stellte noch weitere Fragen, aber Frau Widmann wurde immer einsilbiger. Schließlich verabschiedeten sich die beiden. Vorher drückte Frauke Frau Widmann ihre Visitenkarte in die Hand und bat inständig darum, dass die Zeugin sich meldete, sollte ihr noch etwas einfallen, wie unwichtig es ihr auch erscheinen möge. Zurück im Auto fragte sie Uta: „Hältst du es wirklich für möglich, dass Frau Sterz Ihren Mann erschossen hat?“

„Du kennst selbst die Statistiken! Wir müssen sie zumindest gründlich überprüfen.“

„Die Statistiken gelten meist andersherum! Frauen erschießen so gut wie nie ihre Männer.“

„Einzelfälle sind durchaus bekannt ...“

„... in denen es aber meist um Frauen geht, die zuvor jahrelang von ihren Männern misshandelt wurden und sich nicht anders zu wehren wussten. Das scheint hier eindeutig nicht der Fall zu sein. Wenn, dann hat sie ihn schlecht behandelt!“

„Unsere Techniker vermuten eine Tokarev und sie ist in der Sowjetunion aufgewachsen.“

„Schon, aber die Russen haben damals bestimmt aufgepasst, dass die Aussiedler bei ihrer Übersiedlung in den Westen keine Pistole in ihrem Gepäck hatten. Außerdem wurden auch in Tschechien, Jugoslawien, China und zahlreichen anderen kommunistischen Ländern Pistolen des gleichen Kalibers gebaut. Solche Waffen wurden massenweise nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf Märkten in Polen oder in der Tschechei verkauft und fanden von dort ihren Weg zu uns.“

Uta erwiderte darauf nichts. So saßen sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander. Schließlich fragte sie: „Wie geht es dir eigentlich?“

„Gut!“

Frauke presste ihre Lippen aufeinander.

„Bist du sicher?“

Die derart unangenehm Angesprochene wollte unwirsch reagieren, hielt sich aber zurück. Immerhin meinte Uta ihre Frage nett. Also seufzte Frauke und antwortete: „Meistens geht es mir wirklich gut! Nur manchmal kommen blöde Erinnerungen, auf die ich gerne verzichten würde!“

„So wie vorhin? Als Frau Widmann Russland erwähnte, bist du richtig zusammengezuckt.“

Frauke erschrak. Sah man ihr das so deutlich an? Während einer Vernehmung? Das durfte nicht sein!

„In Russland versteckt sich doch der Frauenmörder, der dir Rache schwor“, fuhr Uta fort. „Wenn du ...“

„Lass uns lieber über unseren Fall reden!“

Sie warf Uta einen grimmigen Blick zu, um jeglichen Widerspruch im Keim zu ersticken.

„Wer außer der Ehefrau kommt noch als Täter in Frage? Vielleicht war es doch dieser Fremde aus dem Kiosk? Auch wenn der angeblich bei der wachsamen Nachbarschaft keine Chance hatte?“

Uta schwieg einen Moment verstimmt. Warum reagierte Frauke so aggressiv? Schließlich meinte sie es nur gut! Letztendlich gab sie sich einen Ruck.

„Wer weiß“, sie zuckte mit den Schultern, „vielleicht überschätzen die Nachbarn sich? Wir können ja einen Kollegen ein paar Stunden lang im Auto hier in der Straße sitzen lassen. Mal sehen, ob die ihn bemerken.“

„Neugierig wäre ich darauf ebenfalls. Aber einen echten Ermittlungsfortschritt brächte uns das nicht. Lass uns lieber dem Mercedes-Fahrer aus dem Kiosk auf den Zahn fühlen. Dank des Videos von Herrn Papadakis kennen wir ja sein Kennzeichen.“

Aus Hamburg kommend fuhr Anne auf der A 7 nach Kiel. Soeben passierte sie Großenaspe. Die ganze Zeit über pendelte ihre Gefühlslage zwischen Trauer und unfassbarer Wut. Ihr Vater war tot! Alexander behauptete, auf ihn sei geschossen worden. Aber da musste ihr Bruder sich verhört haben. Wer sollte schon auf ihren Vater schießen?

Mechanisch fuhr sie vor sich hin, nahm kaum das Fahrzeug vor sich wahr. Erst zaghaft und kaum vernehmbar, dann immer drängender ertönte eine anklagende Stimme in ihrem Inneren. Was, wenn Alexander doch recht hatte? Sie schluckte. Hätte sie Papas Tod verhindern können? Würde er noch leben, wenn sie nur geredet hätte?

Eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinab. Sie war sich sicher, dass ihr Bruder nicht wusste, was sie wusste. Es war so unfassbar ungerecht! Er war einfach nach Berlin abgehauen, hatte es ihr überlassen, sich um die beiden Alten zu kümmern. Sie war zwar ebenfalls geflüchtet, aber weiter als bis nach Altona hatte sie es nicht geschafft. Ihr Bedürfnis, notfalls innerhalb akzeptabler Zeit nach ihren Eltern sehen zu können, hatte sie davon abgehalten.

Anne schüttelte den Kopf. Dieser Notfall hatte sich nie auf beide Elternteile bezogen, sondern, wenn sie ehrlich war, nur auf ihren Vater beschränkt. Seit ihrer Jugend verspürte sie den Drang, ihn vor weiteren Demütigungen und Abwertungen durch ihre Mutter zu beschützen. Läge jene jetzt erschossen in einer Kühlkammer, würde sie sich ernsthaft fragen, ob er sich endlich gegen sie gewehrt und sich final von seiner Peinigerin befreit hätte.

Wäre das besser? Ihr Inneres erschauderte und ließ sie unwillkürlich zusammenzucken. Nein! Ihr Vater als Mörder war eine grauenhafte Vorstellung. Da war ihr sein Tod lieber. Moment! Wie konnte sie so etwas denken?

Sie hieb mit der Handkante auf das Lenkrad. Der scharfe Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Schuld war ihre Mutter! Schon immer hatte sie ihr das Leben verdorben! Trotzdem war sie auf dem Weg zu ihr ins Krankenhaus. Dort würde sie als Erstes deren Enttäuschung, dass nur die ungeliebte Tochter statt ihr wunderbarer Sohn nach ihr sah, zu spüren bekommen. Warum tat sie sich das eigentlich an?

Lina, ihre beste Freundin aus Jugendtagen, kam ihr in den Sinn. BFF – Best Friends Forever hatten sie sich damals geschworen. Trotzdem hatten sie sich irgendwie aus den Augen verloren. Ein bisschen war sie auch vor Linas unausgesprochenen Vorwürfen aus Kiel geflüchtet.

Anne atmete tief durch. Sollte sie nicht lieber zuerst ihre beste Freundin aus alten Kieler Zeiten besuchen? Erst einmal mit ihr alles in Ruhe durchquatschen, ehe sie nach ihrer Mutter sah? Lina könnte sie vielleicht sogar von den Fragen erzählen, die sie hinsichtlich des Mordes an ihrem Vater quälten. Besonders beschäftigte sie die eine Frage.

Herr Yusuf Demir wohnte in Gaarden-Ost nicht weit vom Sultan-Markt. Sein aufgemotzter Mercedes parkte vor der Tür. Frauke wertete das als gutes Zeichen. Tatsächlich war er am frühen Nachmittag eines Montags zu Hause. Zumindest erklang ein unwirsches „Ja?“ aus der Gegensprechanlage des Hauses.

„Hier ist die Kripo Kiel! Wir haben ein paar Fragen! Öffnen Sie sofort die Tür!“

Nach einem winzigen Moment des Zögerns summte der elektrische Türöffner. Uta drückte gegen den reichlich zerkratzten Knauf. Frauke folgte ihr in das nach abgestandenem Essen, kaltem Rauch, Fußschweiß und exotischen Gewürzen riechende Treppenhaus.

Im dritten Stock stand ein unrasierter Schwarzhaariger in seiner Wohnungstür. Zu einer fleckigen, hellgrauen Jogginghose trug er ein zerknittertes, weißes T-Shirt mit einem Kaffeefleck auf seinem Kugelbauch. Herr Demir bemühte sich um Coolness, konnte aber seine Nervosität ob ihres Besuches nicht verbergen.

„Sind Sie wirklich von der Polizei?“

Wortlos streckten die Ermittlerinnen ihm ihre Kripomarken hin. Er streifte sie mit einem flüchtigen Blick.

„Was wollen Sie von mir? Ich habe nichts gemacht!“

„Sie waren am Samstag in Holtenau und haben kurz vor vierzehn Uhr in einem Kiosk einen Kaffee bestellt.“

Frauke wartete auf seine Reaktion. Er starrte sie mit offenem Mund an. Schließlich schluckte er und meinte:

„Häh?“

„Können Sie sich daran erinnern?“

Er schielte an den Kommissarinnen vorbei, als vermute er hinter ihnen einen Kameramann.

„Nun?“

Sein Blick wanderte zurück zu Frauke.

„Im Ernst? Tauchen Sie zu zweit hier auf, weil ich meinen Kaffee nicht bezahlt habe?“

Fragend sah er die Kommissarin an. Sie reagierte jedoch nicht. Schrill empörte er sich: „Der Souvláki hat mir den Becher Kaffee doch geschenkt! Es war eine Wiedergutmachung für seine Verarsche! Das war letzten Samstag in seinem Kiosk genau wie früher in der Schule! Da verlangten manche Lehrer auch eine Wiedergutmachung von uns, wenn wir einen Mitschüler geärgert haben!“

Voll ehrlicher Empörung pendelte sein Blick zwischen Uta und Frauke hin und her, während er sich rechtfertigte.

„Ob Sie den Becher Kaffee bezahlt haben, interessiert uns nicht. Wir sind wegen des anderen Mannes hier!“

„Wegen welchem anderen Mann?“

„Dem, der außer Ihnen noch im Kiosk war!“

„Aber da waren nur der Souvláki und ich, sonst keiner!“

„Doch, da war noch einer! Während Ihres Streits mit dem Besitzer betrat ein weiterer Kunde den Kiosk, der Sie wohl übersah und sich Ihrer Ansicht nach vordrängelte!“

„Ach, den Alten meinen Sie! Mit dem war nichts!“ Er zuckte mit seinen Schultern. „Der ging gleich wieder, als er merkte, dass dicke Luft herrschte.“

„Aber draußen auf der Straße, bei Ihrem Mercedes, wartete er auf Sie!“

Herr Demir runzelte seine Stirn und starrte Frauke fragend an.

„Dort erwartete er Sie nicht alleine, sondern zusammen mit ein paar anderen.“

Der junge Mercedes-Fahrer lachte.

„Sie meinen, er lauerte mir mit seiner Grufti-Gang auf?“ Erneut lachte er. „Stimmt! Die geiferten wie die beiden weißhaarigen Knacker aus der Muppet Show!“

Frauke wunderte sich, dass er die Muppet Show kannte.

„Worüber geiferten die Senioren denn?“

„Ach, denen passte nicht, wo mein Benz parkte!“ Er wedelte mit der Hand, als wolle er lästige Fliegen verscheuchen. „Dabei wollte ich doch nur schnell einen Kaffee ziehen. Das hätte keine Minute gedauert, wenn der Souvláki nicht seine Show abgezogen hätte! Wollen Sie mir jetzt wegen Falschparkens ein Knöllchen ausstellen? Im Ernst? Deswegen kommen Sie zu zweit hier vorbei?“

Erneut sah er von einer zur anderen.

„Wie haben Sie auf die Vorwürfe der Senioren reagiert?“

„Gar nicht! Ich schlage keine Alten!“

„Ich dachte eher verbal reagiert, also mit Worten! Haben Sie denen gar nichts erwidert?“

„Tss!“ Er zeigte einen misstrauischen Gesichtsausdruck. „War etwa einer von denen ein Türke?“

„Was hat das denn jetzt damit zu tun?“

„Weil ich denen in meiner Sprache geantwortet habe!“

„So? Was haben Sie denn in Ihrer Sprache zu denen gesagt?“

Zu Fraukes Überraschung errötete er tatsächlich.

„Das weiß ich nicht mehr! Hat mich etwa einer von den Alten wegen Beleidigung angezeigt?“

„Wie ging es mit dem Mann weiter?“

„Mit welchem Mann?“

„Na, mit dem Alten aus dem Kiosk!“

„Ach mit dem! Gar nicht! Ich stieg in meinen Benz und war weg! Hat mich nun ein Landsmann wegen Beleidigung angezeigt oder nicht?“

„Nein. Besitzen ...“

„Warum sind Sie dann eigentlich hier? Ich habe nichts getan!“, empörte er sich.

„Besitzen Sie eine Pistole?“

Mit offenem Mund und größeren Augen als je zuvor starrte er die Beamtinnen an.

„Ey, was soll das denn jetzt?“

„Besitzen Sie eine Pistole?“

„Nein, Mann! Was soll die Frage? Ich kapiere überhaupt nicht, was ihr von mir wollt! Seid ihr hier, weil ich Türke bin? Geht es darum?“

„Auf den alten Mann wurde geschossen.“

„Was! Deswegen kreuzt ihr hier auf?“ Fassungslos starrte er zum wiederholten Male von einer zur anderen. „Ich war’s nicht! Ehrenwort!“

„Wo waren Sie gestern Morgen um sieben Uhr?“

„Sonntags um sieben? Da habe ich natürlich geschlafen!“

„Kann das jemand bezeugen?“

„Nein, ich war allein.“

Herr Demir erzählte den beiden auf Nachfrage noch, dass er bei der Firma Vossloh im Schichtdienst Lokomotiven baute. Sein Auto habe er sich von seinem Erbe gekauft, um eine Frau zu finden. Schließlich müsse man den Frauen etwas bieten, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Die beiden Kriminalistinnen beendeten die Befragung. Wieder im Auto sitzend, stimmten sie darin überein, dass er sicherlich kein einfacher Mensch und nicht die hellste Kerze im Leuchter war, sie sich ihn aber nicht als Mörder von Herrn Sterz vorstellen konnten.

Wenn, dann hätte er auf Herrn Papadakis geschossen, der ihn veräppelt hatte. Außerdem trauten die erfahrenen Ermittlerinnen ihm nicht die notwendige Geduld und Ausdauer zu, eine Nacht vor einem fremden Haus zu warten, um dann Herrn Sterz in aller Frühe gelassen bis an eine Stelle zu verfolgen, an der er ohne Zeugen auf ihn schießen konnte. Zudem gingen sie ohnehin davon aus, dass Herr Sterz von seinem Mörder nicht verfolgt worden war, sondern dieser ihm am Schiffercafé aufgelauert hatte.