Schuster und nichts als die Wahrheit - Susanne Lieder - E-Book

Schuster und nichts als die Wahrheit E-Book

Susanne Lieder

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Beschreibung

Eine junge Frau liegt schwer verletzt am Werdersee. Ganz in der Nähe ihr Exfreund, stockbetrunken, in der Hand eine leere Flasche. Er hat einen Filmriss und kein Alibi. Ein Motiv hatte er ebenfalls. Die Sache scheint klar zu sein. Doch Hauptkommissar Schuster hat Zweifel. Und je mehr er über die Frau erfährt, desto näher kommt er einer Familie, in der es nicht halb so harmonisch zugeht, wie es den Anschein haben soll …

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Kurzbeschreibung

Eine junge Frau liegt schwer verletzt am Werdersee. Ganz in der Nähe ihr Exfreund, stockbetrunken, in der Hand eine leere Flasche. Er hat einen Filmriss und kein Alibi. Ein Motiv hatte er ebenfalls. Die Sache scheint klar zu sein. 

Doch Hauptkommissar Schuster hat Zweifel. Und je mehr er über die Frau erfährt, desto näher kommt er einer Familie, in der es nicht halb so harmonisch zugeht, wie es den Anschein haben soll …

Susanne Lieder

Schuster und nichts als die Wahrheit

Kriminalroman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Susanne Lieder

Lektorat: Lennart Kolbe

Korrektorat: Tatjana Weichel

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-127-0

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 1

Sonntag, 12. Mai, in Stuhr-Heiligenrode

Die Sonne hatte sich vorübergehend hinter einer größeren Wolke verzogen. Schuster, der auf einem sportlichen Rad mit einem wahnsinnig unbequemen Sattel hockte, hatte seine Sonnenbrille nicht schnell genug von der Nase genommen. So bemerkte er den Fußgänger erst, als er ihn beinahe über den Haufen gefahren hatte. Er konnte gerade noch ausweichen.

„’tschuldigung, mein Fehler!“, rief er im Vorbeifahren.

Er fuhr an einem Wohnmobil vorbei, das am Seitenrand geparkt war. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er vor ein paar Jahren einige Wochen in einem Wohnwagen hatte hausen müssen. Das war, nachdem seine erste Frau Silke ihn rausgeworfen hatte, genervt von seinen Neurosen und Ticks. Außerdem hatte sie da bereits Fred gehabt. Doch das lag weit hinter ihm.

Er trat in die Pedale und freute sich auf den Abend.

Knapp zwei Stunden später wuselte er wie aufgezogen durch die Küche. Im Hintergrund lief das Radio.

Die Soße war ihm gut gelungen, vielleicht fehlte nur ein bisschen Sahne und noch etwas Pfeffer. Mit einer Fleischgabel prüfte er das Lamm im Ofen und war beruhigt, weil es noch etwas dauerte.

In spätestens einer halben Stunde wollte sie zurück sein, bis dahin wollte er alles perfekt haben. Den Tisch hatte er bereits gedeckt, mit roten Servietten, roten Kerzen und einem Strauß cremefarbener Rosen.

Er vergewisserte sich zum dritten Mal, ob die kleine Schachtel in seiner Hosentasche war. Als Message in a bottle lief, summte er mit.

Der Süßkartoffelauflauf müsste fast fertig sein, er nahm ihn vorsichtig aus dem Ofen und stach mit einer Gabel in die obere Schicht. Das sah gut aus, nur noch wenige Minuten.

Wieder lief er zum Tisch, überprüfte noch mal alles.

Herr Meier, sein Kater, kam um die Ecke, angelockt vom Duft des Lammbratens. Er hob den Kopf und schnupperte.

Schuster bückte sich und kraulte ihn hinterm Ohr. „Riecht fantastisch, was?“ Dann hörte er ihren Fiat auf den Hof fahren, gleich darauf die Autotür zuschlagen und ihre Schritte auf dem Weg. Wenig später ihren Schlüssel in der Tür.

Hektisch rückte er alles auf dem Tisch zurecht, griff erneut in seine Hosentasche, zündete die Kerzen an und wartete.

Sie kam zur Tür herein, blieb verblüfft stehen, betrachtete erst ihn, dann den festlich gedeckten Tisch.

„Du kochst.“ Mehr sagte sie nicht. Aber sie strahlte.

Und er zwang sich, nicht auf sie loszustürmen und sie in seine Arme zu reißen.

Eine Weile musterte sie ihn lächelnd, dann kam sie näher und legte den Kopf an seine Brust. „Ich wusste, dass du im Grunde ein schrecklicher Spießer bist.“

Er küsste sie aufs Haar. „Und wenn schon. Lass mich doch ein bisschen spießig sein.“

Sie hob den Kopf und blickte in seine Augen. Dann nickte sie, als sei sie sehr zufrieden, drehte sich um und lief aus dem Zimmer.

Entgeistert blickte er ihr nach. Das hatte er nun davon, er hatte sie verschreckt. In aller Form wollte er ihr einen Antrag machen, spießig und altmodisch. Und jetzt rannte sie weg, floh vor ihm. Er folgte ihr, sah sie im Schlafzimmer verschwinden.

Hoffentlich würde sie sich nicht einschließen.

Er holte tief Luft, bevor er an die Tür klopfte.

„Herein!“ Ihre Stimme klang fröhlich, was ihn nur noch mehr verwirrte.

Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spaltbreit.

Jana stand vor dem Schrank, nur in Unterwäsche, und er gönnte sich diesen wunderbaren Moment purer Verzückung. Ihre Arme hatte sie über dem Kopf ausgestreckt und steckte bereits halb in einem Kleid.

„Was tust du da?“, fragte er sie verwundert.

Sie zerrte an ihrem Kleid, bis sie es endlich über dem Kopf hatte, fuhr mit den Fingern durch ihre Locken und sah ihn verständnislos an. „Ich werfe mich in Schale, Heiner Schuster. Wie es sich für so einen Abend gehört.“

„Erinnerst du dich daran, wie du mir den ersten Antrag gemacht hast?“ Sie hatte sich zurückgelehnt, die Serviette auf dem Schoß.

„Als ob ich das vergessen könnte. In karierten Boxershorts hab ich vorm Bett gekniet, sicher, dass du tief und fest schlafen würdest. Ich wollte ein bisschen üben, mich warm machen. Stattdessen warst du hellwach.“

„Allerdings. Gibt’s eigentlich keinen Nachtisch?“

Er stand auf und verbeugte sich hastig. „Selbstverständlich, verfressenste aller Heißhungrigen.“ Eine erneute Verbeugung. „Mousse au Chocolat.“

Sie seufzte. „Eigentlich passt nichts mehr rein.“

Schuster küsste sie auf die Stirn. „Kein schlechter Scherz.“

Er nahm die Mousse aus dem Kühlschrank und stach mit zwei Esslöffeln Nocken ab, so wie er es neulich im Fernsehen bei einer dieser Kochshows gesehen hatte. Na schön, ganz so perfekt sahen seine nicht aus, aber Hauptsache, es schmeckte. Während er sich setzte, bemerkte er, wie sie flüchtig das Gesicht verzog. „Fehlt dir was?“

„Nein, nein.“ Sie legte eine Hand auf ihren runden Bauch, der innerhalb der letzten Wochen so enorm gewachsen war, dass Schuster manchmal etwas besorgt war. Gut, es wuchsen gleich zwei Kinder in ihrem zierlichen Körper, aber musste ihr Bauch so gigantisch werden?

Als sie ihm gesagt hatte, dass er Vater werden würde, hatte er sie minutenlang angestarrt. Er hatte befürchtet, ohnmächtig zu werden. Er würde umkippen, sich wahrscheinlich noch den Kopf anstoßen, und wenn er aufwachte, würde ihm klar sein, dass er nur geträumt hatte.

Doch es war kein Traum. Jana Tellmann, seine Traumfrau, die Frau, für die er in einer Nussschale den Atlantik überqueren und sich die Waden tätowieren lassen würde, war schwanger. Und er würde Vater werden.

Er hatte sich gerade noch beherrschen können, nicht mit einem riesigen Schild um den Hals durch die Straßen zu rennen: Seht her! Ich werde Papa!

„Woran denkst du, Heiner?“

Er fuhr zusammen. „Daran, dass wir bald zu fünft sein werden.“

Sie zeigte dieses ganz besondere Lächeln, das er seit einigen Monaten an ihr bemerkt hatte.

Er öffnete den oberen Hosenknopf. Auch er hatte zugenommen. Die Waage zeigte fast fünf Kilo mehr an, da biss die Maus keinen Faden ab. Heißhungerattacken und eigenartige Gelüste überfielen ihn gelegentlich, und er hatte sich selten bremsen können. Zu selten.

Jana stand auf und setzte sich auf seinen Schoß. Sie nahm seine Hände in ihre, die wieder mal eiskalt waren.

„Du bist ziemlich schwer geworden, rundeste aller Schwangeren.“ Er amüsierte sich über ihr empörtes Gesicht. „Ja, ja, sag’s nur. Ich hab auch zugenommen. Wahrscheinlich sehe ich bald aus wie du.“

„Was soll das heißen?“

Er räusperte sich. „Ähm, ich wollte damit nicht sagen, dass du …“

„Je mehr du versuchst, dich rauszureden, desto schlimmer machst du es.“

„Ich wollte damit nur sagen, dass ich sehr wahrscheinlich bald einen kugelrunden Bauch vor mir hertragen muss, und der wird nicht halb so hübsch und unwiderstehlich aussehen wie deiner.“

„Du hast gerade noch mal die Kurve gekriegt, Heiner.“ Sie sah sich in der großen Küche um. „Haben wir es nicht wahnsinnig schön hier?“

Er drückte sie sacht an sich. Oh ja, und ob sie es schön hatten. Seit einem knappen Jahr wohnten sie in diesem umgebauten Bauernhaus vor den Toren Bremens. Ganz zufällig waren sie damals vorbeigekommen, und er hatte angehalten, als er das Verkaufs-Schild entdeckt hatte. „Sieh mal“, hatte er zu ihr gesagt und auf das rote Backsteinhaus gezeigt.

„Und erst der Garten“, hatte Jana erwidert und laut geseufzt.

Ein großer, verwilderter Garten mit Buchsbaumhecken und Hortensien.

Sie waren ausgestiegen, und Jana hatte seine Hand genommen. Auch ohne viele Worte hatte er gewusst, was sie gerade dachte.

Ein paar Minuten lang hatten sie vor dem Haus gestanden und es angesehen, dann hatte er genickt. „Ich rufe den Makler an.“

Es hatte mehrere Interessenten gegeben, doch er hatte sich geschworen, dass er sich quer in die Tür legen würde, sollte ihm irgendwer dieses Haus vor der Nase wegschnappen wollen.

Und sie hatten es bekommen.

„Hast du eigentlich schon „Ja“ gesagt?“, fragte er Jana jetzt.

„Ja.“

„Nein, hast du nicht.“

„Doch, hab ich. Eigentlich sogar zweimal. Das erste Mal, als du in Shorts am Bett gekniet hast.“

„Würdest du es trotzdem noch mal sagen? Nur so für mich?“

Sie sah ihm tief in die Augen. „Ja, ich möchte wahnsinnig gern deine Frau werden, Heiner Schuster.“

„Dann darfst du das nächste Woche noch mal sagen, vor Zeugen.“

Montag, 13. Mai, gegen 6 Uhr 30 am Werdersee

Das Lied von Maroon 5, das sie vorhin im Radio gehört hatte, schwirrte ihr noch immer im Kopf herum. Leise summte sie mit, während sie den grasbewachsenen Weg entlangging.

Der Sonnenaufgang war ein echtes Schauspiel, erst hatte der Himmel in einem hellen Gelb geleuchtet und wechselte jetzt in ein knalliges Orange. Es würde wahrscheinlich ein herrlicher Frühlingstag werden. Links von ihr gluckerte und schmatzte das Wasser der Weser. Kleine Wellen drängten an Land und spülten über Kieselsteine hinweg.

Sie liebte diesen Ort, und um diese Uhrzeit und ganz besonders im Mai war es hier einzigartig schön. Zwei Möwen zogen schreiend über ihren Kopf, steuerten einen größeren Stein am Wasser an und ließen sich darauf nieder.

„Jack!“ Wo steckte ihr Hund bloß wieder?

Einige Meter weiter entdeckte sie ihn, seine kleine Schnauze tief in einem Erdloch vergraben. Dann schien er die Ente gesehen zu haben, die auf dem See dahindümpelte, und bellte aufgeregt. Mit einem lauten „Platsch“ sprang er ins Wasser. Die Ente stieß einen erschrockenen Laut aus, schlug mit den Flügeln und machte, dass sie wegkam. Jack kam aus dem Wasser und schüttelte sich. Dann sauste er wieder los und war wenig später nicht mehr zu sehen.

Sie nahm den MP3-Player aus ihrer Jackentasche und schob sich die weißen Ohrstöpsel tief in die Gehörgänge. Jared Letos wundervolle Stimme erklang. Gedankenverloren spazierte sie weiter und fuhr erschrocken zusammen, als sie eine Hand auf der rechten Schulter spürte …

Etwa zur gleichen Zeit in Stuhr-Heiligenrode

Schuster und seine Stieftochter Louisa saßen in der Küche und frühstückten. Louisa hatte sich zu einem sehr hübschen Mädchen entwickelt, die das lockige Haar und die Sommersprossen ihrer Mutter geerbt hatte.

Sie reichte ihm die Himbeermarmelade. „Ohne Kerne. Du hast ihr gestern wirklich einen Antrag gemacht?“

Er nickte. „Und sie hat „Ja“ gesagt.“

„Dann könntest du mich doch jetzt adoptieren, oder nicht?“

„Möchtest du das denn?“

„Wer mein Zimmer in meiner Lieblingsfarbe streicht, während ich auf Klassenfahrt bin, der darf fast alles. Würdest du es denn überhaupt wollen?“

„Was für eine Frage.“

„Schreibst du mir für Donnerstag eine Entschuldigung für die Schule?“

„Ich fürchte, das darf ich erst, wenn ich dich adoptiert habe.“

„Ich glaube, ich möchte Tiermedizin studieren.“ Sie konnte ungeheuer schnell das Thema wechseln. Das hatte sie offenbar ebenfalls von ihrer Mutter geerbt.

„Neulich wolltest du noch Biologie studieren.“

„Ich stecke noch mitten in der Findung. Wolltest du eigentlich immer Polizist werden?“

„Ja, schon als ich noch ein kleiner Junge war.“ Er stand auf und küsste sie auf den Scheitel. „Du hast ja noch ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken. Erst mal wirst du dich daran gewöhnen müssen, große Schwester von zwei kleinen Schreihälsen zu sein.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Komm, wir müssen uns beeilen, wir sind schon spät dran.“

Polizeipräsidium

Als er ins Büro kam, war sein Kollege Lahm bereits da. Und er sah nicht so aus, als hätte er eine anständige Mütze voll Schlaf bekommen.

„Moin, Flo, du siehst fürchterlich aus.“

„Ich mag es, wenn man ehrlich zu mir ist, Heiner, aber manchmal wünschte ich …“ Lahm winkte ab. „Ich hatte eine Scheißnacht.“

Schuster ging zum Wasserkocher und setzte Teewasser auf. Er trank nur noch zu Hause Kaffee, danach im Büro Tee. Es bekam seinem Magen einfach besser. „Moritz schon da?“

Lahm schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme im Nacken. „Sie hat mich gegen halb vier angerufen. Konnte nicht schlafen, wollte meine Stimme hören.“ Mit „sie“ meinte er vermutlich Simone Berner, die neue Kollegin von der Streife. Er streckte die Beine aus. „Was mache ich mit dieser Frau, Heiner?“

„Heiraten?“, schlug Schuster vor.

Sein Kollege verschluckte sich und hustete. „Wie bitte?“

„Heiraten.“ Schuster nahm einen Beutel Pfefferminztee und hängte ihn in die Tasse.

Simone Berner war vor einem Vierteljahr in Lahms Leben getreten und brachte ihn seitdem um den Schlaf. Aber nur, weil er fürchterlich herumeierte, wie Schuster meinte. Sein Kollege wand sich wie ein glitschiger Aal. Ja, nein, vielleicht, lieber doch nicht, oder doch? Er hatte Angst vor einer Beziehung, wollte das aber nicht zugeben.

Die Tür flog auf, und Moritz Kuhn kam hereingeschneit. Als er Schuster entdeckte, zwinkerte er ihm zu. „Na, hast du sie gefragt?“

„Sie hat „Ja“ gesagt.“

„Und wann wird geheiratet?“

„Donnerstag.“ Schuster goss seinen Tee auf. „Ich verrate euch was: Seine zweite Frau sollte man immer zuerst treffen.“

Sein Telefon klingelte.

„Heiner?“ Es war sein Kollege Eric Stein. „Ein Jogger hat eine bewusstlose junge Frau gefunden. Unten am Werdersee. Offenbar wurde sie niedergeschlagen.“

„Wo seid ihr?“

„Wir sind unten, also hier im Präsidium.“

Schuster stutzte. Im Präsidium? Bevor er noch etwas fragen konnte, erklärte Stein: „Die Frau wurde ins Klinikum Mitte gebracht.“

„Ich bin gleich bei dir.“

„Miriam Schmidt, geboren am 13. Mai 1978.“ Schuster legte den Ausweis der Frau wieder auf den Tisch. „Habt ihr sonst irgendwas gefunden?“

„Allerdings. Einen jungen Mann. Lag sturzbesoffen nur wenige Meter entfernt, die Füße in der Weser.“ Stein räusperte sich. „In der Hand eine leere Flasche Schnaps.“

Schuster sah ihn verwirrt an. „Nur damit ich mitkomme: Der Bursche war betrunken …“

„Bis zur Halskrause. Hat kaum mitgekriegt, dass wir ihn aus dem Wasser gezogen haben.“

„… und er hatte eine Flasche in der Hand?“

Stein nickte. „An der Flasche war Blut.“

Schuster runzelte die Stirn. „Hmm … eine Beziehungstat? Oder eine zufällige Begegnung, die in einem Streit und einer solchen Affekthandlung endete? Hatte er Papiere bei sich?“

„Jonas Faber, 32. Wohnhaft Osterdeich.“

„Und die Frau? Hatte sie noch etwas dabei?“

„Einen MP3-Player. Die Kopfhörer, diese kleinen weißen Dinger hier“, Stein hielt eine kleine Plastiktüte hoch, „hatte sie im Ohr. Die Musik lief noch.“ Er zeigte auf ein rotes Portemonnaie, das in einer anderen Tüte steckte. „Und das hier. Darin waren ihr Ausweis und ein bisschen Kleingeld. Außerdem eine Mitgliedskarte von einem Fitnessstudio.“

Schuster betrachtete die Brieftasche. „Das sieht hübsch aus. Ungewöhnlich.“ Es war keines dieser typischen Leder-Portemonnaies, sondern eins aus dunkelrotem, dickem Stoff, darauf ein gestickter Regenbogen. „Sonst irgendwas? Ihr Handy?“

Sein Kollege schüttelte den Kopf.

„Und der junge Mann? Hatte der noch etwas bei sich? Ihr Handy vielleicht?“

Stein schüttelte wieder den Kopf.

„Was treibt eine Frau früh morgens an die Weser?“ Schuster hatte mehr zu sich selbst gesprochen.

Sein Kollege zuckte die Schultern. „Lust auf frische Luft oder Bewegung? Beides zusammen? Sportkleidung trug sie nicht, sie hat vielleicht einfach nur einen Spaziergang gemacht.“ Er räusperte sich erneut. „Ähm, heute wäre ihr Geburtstag. Also, heute ist ihr Geburtstag.“

„Was ist mit Zeugen? Hat irgendwer was gesehen, gehört?“

„Die Kollegen sind noch vor Ort.“

„Ihre Angehörigen sind verständigt?“

Eric Stein nickte betrübt. „Ihre Mutter ist unterwegs. Ihr Vater lebt in Hamburg, ist auch auf dem Weg.“

„Danke, Eric. Die Sachen gehen alle in die KTU. Ich fahre ins Krankenhaus.“

Beim Hinausgehen nahm er sein Handy und rief seinen Kollegen an. „Wir brauchen eine Suchmannschaft, die die Gegend am Werdersee absucht, dort, wo die Frau gefunden wurde.“

„Okay, das volle Programm also. Ich mache mich auf den Weg.“

„Und ich bin im Krankenhaus.“

Kapitel 2

Klinikum Mitte

Der Arzt war jung, sehr jung. Und er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem deutschen Schauspieler, dessen Name Schuster beim besten Willen nicht einfallen wollte. „Wie schwer sind ihre Verletzungen?“, wollte er von ihm wissen.

„Durch den Schlag kam es zu einer Quetschung des Gehirns. Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt.“

„Ach, dann ist sie gar nicht von selbst ins Koma gefallen? Entschuldigung, falls ich blöd frage …“

Der Arzt winkte ab. „Kein Problem, ich bin der Mediziner und Sie der Kriminalist. Wir haben sie ins Koma versetzt und überwachen ihren Hirndruck. Ein komatöses Gehirn hat einen deutlich niedrigeren Stoffwechsel als ein waches. Dadurch können die Schäden nach einem Schädeltrauma reduziert werden.“

„Was ist mit dem jungen Mann, der ebenfalls dort gefunden wurde?“

„Er hat sich beim Sturz das linke Handgelenk verletzt. An der Stirn hat er eine kleine Platzwunde, nichts Ernstes. Mehr Sorgen macht mir der enorme Alkoholpegel. Wir behalten ihn vorsorglich ein, zwei Tage hier.“

„Dann kann ich vermutlich noch nicht mit ihm sprechen?“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Er ist nicht ansprechbar.“

„Wie viel Promille hatte er?“

„2,8.“

„Donnerwetter. Damit würde ich nicht mal mehr zwei Füße voreinander kriegen.“

„Das gelang ihm auch nicht mehr. Er musste getragen werden.“

„Danke.“ Wie konnte man sich so volllaufen lassen? Schuster griff in seine Jackentasche und zog seine Visitenkarte heraus. „Würden Sie mich bitte sofort anrufen, wenn er vernommen werden kann?“

„Sicher.“ Der Arzt steckte die Karte in seine Kitteltasche und verschwand um die Ecke.

Auf einem der Plastikstühle auf dem Flur saß eine Frau und blickte Schuster mit einer Mischung aus Besorgnis und Angst an, während er auf sie zuging. „Frau Schmidt?“

Sie nickte.

Er stellte fest, dass sie Sportschuhe trug, was zum Rest ihrer ansonsten eher eleganten Kleidung nicht recht passen wollte. Neben ihrem Stuhl stand ein Kinderwagen, besser gesagt eine Art Buggy, einer dieser modernen Dinger, die nur drei Räder hatten. Schuster hatte bereits darüber nachgedacht, ob er so einen für die Zwillinge anschaffen sollte.

Im Buggy saß ein kleines Kind, ein Junge, wie er auf den ersten Blick sah. Der Kleine drosch mit seiner Faust auf eine Spielzeugkette aus Holz, die über den Buggy gespannt war, und quietschte fröhlich, als es leise klingelte und schepperte.

Schuster nahm die kleine Kinderhand. „Na, wer bist du denn?“

„Das ist Kiran, mein Enkel. Miriams Sohn.“ Die Frau strich dem kleinen Jungen übers Haar.

„Ihr Sohn?“ Schuster schluckte. Sofort schoss ihm durch den Kopf, was für ein Segen es war, dass der Junge nicht gemeinsam mit seiner Mutter an der Weser spazieren gegangen war. „Frau Schmidt, wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrer Tochter gesprochen?“

„Gestern Abend. Wir haben miteinander telefoniert.“

„War sie irgendwie anders? Nervös? Besorgt?“

„Nein, sie war wie immer.“

„Ist sie häufig morgens spazieren gegangen?“

Sie nickte. „Sie geht meistens so gegen 6 Uhr los. Meine Tochter ist eine Frühaufsteherin, genau wie ihr Sohn.“ Sie schniefte. „Miriam liebt Spaziergänge am frühen Morgen. Sie sagt, es sei besonders schön am See, wenn die Sonne aufgeht.“ Sie schloss für einen Moment die Augen. „Kiran hat bei mir übernachtet. Gestern war unser „Oma-Tag“, so nennen wir es.“

Vermutlich dachten beide gerade genau dasselbe. Wäre der Kleine bei seiner Mutter gewesen, säße er vielleicht nicht neben seiner Großmutter im Buggy.

Schuster ließ die Hand des kleinen Jungen los und setzte sich neben Frau Schmidt. „Kiran. Ein hübscher Name. Ungewöhnlich.“

„Er ist indianisch und bedeutet ‚Sonnenstrahl‘.“ Sie holte eine Packung Taschentücher aus ihrer Handtasche, zog eins heraus und wischte dem Kleinen damit über den Mund. „Er bekommt Zähne.“ Sie sprach sehr leise.

„Wer ist der Vater des Kleinen?“

„Jonas Faber. Miriams Ex-Freund. Sie hat sich vor ein paar Monaten von ihm getrennt.“

Bei dem Namen „Jonas Faber“ horchte Schuster auf. „Jonas Faber, sagten Sie? Das ist der Mann, der in der Nähe Ihrer Tochter gefunden wurde.“

Sie sah ihn fassungslos an. „Wie bitte?“

„Er war vollkommen betrunken, ist noch nicht ansprechbar. Es tut mir leid, Frau Schmidt, aber in seiner Hand wurde eine leere Schnapsflasche gefunden. Sehr wahrscheinlich wurde Ihre Tochter mit dieser Flasche …“

Sie unterbrach ihn. „Jonas hat nichts damit zu tun. Niemals.“

„Wie gut kennen Sie ihn?“

„Wie gut? Er war wie ein Schwiegersohn für mich. Ich dachte, dass die beiden irgendwann heiraten würden. Sie waren ein bildschönes Paar.“ Kurzfristig versank sie offenbar in eine Art Melancholie, dann holte sie tief Luft. „Ich begreife bis heute nicht, warum Miriam sich getrennt hat. Jonas hat sie auf Händen getragen.“

„Und Sie trauen ihm so etwas nicht zu?“ Er streckte wieder die Hand nach dem kleinen Jungen aus, der sofort seine kleine Faust um den Daumen schloss.

„Was zutrauen? Dass er hinter meiner Tochter herläuft und ihr eine Flasche auf den Kopf haut? Nein, das traue ich ihm weiß Gott nicht zu.“ Sie verschränkte die Hände ineinander.

Ihr kleiner Enkel nieste zweimal hintereinander, und sie nahm das Taschentuch und putzte ihm die Nase. Er sträubte sich heftig. „Wer macht so was? Wer tut meiner Tochter so etwas an?“ Dann seufzte sie. „Heute ist ihr Geburtstag.“

Schuster legte kurz die Hand auf ihren Arm und nickte mitfühlend. „Wissen Sie, ob Ihre Tochter Streit oder Ärger mit jemandem hatte?“

„Nein, Miriam hatte keinen Ärger. Sie ist ein liebes Mädchen, alle kommen gut mit ihr aus.“

„Was macht sie beruflich?“

Sie tupfte sich mit dem Taschentuch den Hals ab. „Sie ist Sozialarbeiterin in einem Heim für junge Mütter. Sie wollte unbedingt etwas mit Kindern oder Jugendlichen machen, denen es nicht so gut geht, die Probleme haben.“

„Dann war sie noch in Elternzeit?“

Sie nickte. „Sie wollte in drei Monaten wieder anfangen. Die Arbeit hat ihr gefehlt. Sie hat sogar darüber nachgedacht, mit Kiran selbst dort zu wohnen. Ich habe versucht, es ihr auszureden.“

„Warum?“

Sie sah ihn verwundert an. „Warum? Sie hat ihre Arbeit sowieso schon mit nach Hause gebracht. Wenn sie und Kiran in diesem Heim wohnen, wird sie gar nicht mehr zur Ruhe kommen. Nein, ich hoffe, dass sie sich das noch mal gründlich überlegt.“ Sie wurde blass. „Ich meine, ich hoffe, dass sie wieder aufwacht und dann …“

„Hatte sie …“ Schuster verbesserte sich hastig. „Hat sie ein gutes Verhältnis zu ihren Arbeitskollegen?“

„Ein sehr gutes, soweit ich weiß. Miriam ist beliebt.“

„Und Freundinnen?“

„Sonja. Sonja Roth.“

„Würden Sie mir Namen und Adresse aufschreiben?“

„Sicher.“

Ihr Enkel lachte und zeigte an die Decke. Beide hoben den Kopf.

„Hat Ihre Tochter ein Handy? Wir haben keins bei ihr gefunden.“

„Natürlich. Sie hat eins von diesen neumodischen Dingern, ich kann mir einfach nicht merken, wie sie heißen.“

„Ein Smartphone?“

Sie nickte. „Genau. Mein Mann sagt immer, irgendwann kann man sich mit diesen Dingern die Beine rasieren.“

Ja, da war was dran. „Haben Sie Ihr Handy bei sich?“

„Miriams?“, fragte sie verwirrt.

„Nein, Ihr eigenes.“

„Ach so.“ Sie wühlte in ihrer Handtasche. „Ich glaube schon.“

„Würden Sie Ihre Tochter bitte auf dem Handy anrufen?“

Mit zitternden Fingern tippte sie und wartete einen Moment. „Es ist ausgeschaltet.“

Schuster nickte. „Ihr Mann lebt in Hamburg?“ Er klappte sein Notizbuch zu.

„Nein, wir wohnen hier in Bremen.“ Sie schien irritiert zu sein. „Ach, jetzt weiß ich, was Sie meinen. Miriams Vater und ich, wir sind geschieden, seit über zwanzig Jahren. Ich lebe mit meinem zweiten Mann zusammen.“

„Wie ist das Verhältnis zwischen ihm und Ihrer Tochter?“

Ihr Blick war misstrauisch. „Wunderbar. Warum fragen Sie?“

„Routine.“

Jetzt schien sie wütend zu sein. „Mein Mann und ich waren heute früh zu Hause. Er hat mit Kiran gespielt, und ich habe mich um das Frühstück gekümmert. Wir sind nicht an der Weser spazieren gegangen und haben Miriam irgendetwas auf den Kopf geschlagen, Herr Kommissar.“

„Entschuldigen Sie, aber ich muss das fragen.“ Er klappte sein Notizbuch wieder auf. „Ach, fast hätte ich’s vergessen: Hat Ihre Tochter ein Auto?“

„Sie hat gar keinen Führerschein. Ich habe dauernd zu ihr gesagt: Mach den Führerschein, Kind, aber sie wollte nicht. Wozu brauch ich den hier, mitten in der Stadt, Mama?, hat sie immer gemeint. Sie ist meistens mit dem Fahrrad gefahren.“

Es tat ihm leid, dass er sie mit seinen Fragen belästigen musste. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an, ja? Auch wenn Sie der Meinung sind, es sei nicht wichtig.“

„Kann ich jetzt zu meiner Tochter?“

„Das kann ich nicht entscheiden.“ Schuster blickte sich nach dem jungen Arzt um, der aber nirgends zu sehen war, und stand auf. „Vielen Dank, Frau Schmidt.“ Er nickte ihr zu und ging in Richtung Treppenhaus.

Er wollte gerade vom Parkplatz fahren, da kam sie aus dem Klinikgebäude gelaufen. Ohne ihren Enkel.

Er kurbelte das Fenster herunter.

„Was ist mit Jack?“ Sie war ganz außer Atem.

„Wer ist Jack?“

„Ihr Hund. Miriams Hund.“

Er kratzte sich am Kinn. „Wir haben keinen Hund gefunden.“

„Was? Oh Gott, der Arme. Wo steckt er denn bloß?“ Sie sah sich auf dem Parkplatz um, als würde der Hund hier irgendwo sein.

„Was ist das für ein Hund?“ Schuster kramte nach seinem Notizbuch.

„Ein Terrier.“

Er mochte Hunde nicht besonders. Er hatte einfach zu oft schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht.

Frau Schmidt drehte den Kopf und murmelte: „Ach, sieh mal an, er bequemt sich auch“.

Ein Mann in elegantem Anzug und mit farblich abgestimmter Krawatte stellte sich neben sie. „Ingrid.“ Mehr sagte er nicht.

„Schön, dass du auch mal kommst“, gab sie giftig zurück.

„Meine Güte, ich hab gesehen, dass ich so schnell wie

möglich … Du weißt doch, wie das auf der A1 ist. Ich war unterwegs zu einem Kundentermin, als du angerufen hast.“

Schuster öffnete die Autotür und stieg aus. „Herr Schmidt?“

„Trotz.“ Der Mann schüttelte seine Hand.

Was meinte er damit? Dass seine Frau, seine geschiedene Frau, trotzig war?

„Mein Name ist Trotz, Werner Trotz“, klärte der Mann ihn auf.

„Mein zweiter Mann hat Miriam adoptiert“, sagte Frau Schmidt.

„Verstehe.“

„Interessiert es dich vielleicht, wie es unserer Tochter geht?“, schnauzte sie ihren Ex-Mann an. Sofort seufzte sie zerknirscht und legte die Hand auf seinen Arm. „Entschuldige, ich bin ganz durcheinander.“

„Das verstehe ich doch, Ingrid.“ Für einen kurzen Moment sahen sie sich an wie ein Paar, das sich lange Zeit kennt und so viel voneinander weiß, dass es nur wenige Worte braucht. „Lass uns reingehen“, schlug er schließlich versöhnlich vor. „Ich brauche dringend einen Kaffee. Dann kannst du mir alles erzählen.“

Die beiden waren bereits ein paar Meter gegangen, als Schuster wieder aus dem Wagen sprang, weil ihm noch etwas eingefallen war. „Herr Trotz? Ihre Ex-Frau sagte, Ihre Tochter habe immer ihren Hund bei sich.“

Miriams Vater drehte sich zu ihm um. Er nickte. „Jack. Sie hat ihn so genannt wegen der Rasse.“ Er schien nachzudenken. „Ein Terrier. Ach, Himmel noch eins, mir fällt gerade nicht ein, was für ein Terrier. Entschuldigung, ich bin etwas …“

„Schon gut.“

Dann huschte ein erhellendes Lächeln über das glatt rasierte Gesicht des Mannes. „Jetzt hab ich’s. Jack Daniels. Ach, Blödsinn. Jack Russel, meine ich.“

„Wir haben den Hund nicht gefunden.“

„Er war nicht bei ihr?“

„Nein.“ Schuster steckte sein Notizbuch in die Jackentasche. „Ich würde mich gern ein bisschen in der Wohnung Ihrer Tochter umsehen, wäre das möglich?“

Frau Schmidt griff in ihre Manteltasche und reichte ihm einen Schlüsselbund. „Ich habe einen Zweitschlüssel.“

Im Bremer Stadtteil Neustadt

Zusammen mit seinem Kollegen Lahm sah er sich die Wohnung an. Sie war unaufgeräumt, überall lag Spielzeug ihres Sohnes herum, sogar im Flur. Lahm stolperte über ein kleines Feuerwehrauto, dessen Alarm sofort losging. Er brauchte eine Weile, um ihn auszustellen.

Schuster würde es vor seinem Kollegen nicht zugeben, aber er freute sich schon darauf, dass es in seinem Haus auch bald so aussehen und man über Spielzeug stolpern oder auf Holzbauklötze treten würde.

Lahm warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Man kann dir förmlich ansehen, dass du schon ganz wild darauf bist, dir die Haxen zu brechen, wenn du über die Spielzeugautos deines Sohnes fällst.“

Schuster öffnete eine Schublade einer kleinen Kommode, die im Wohnzimmer stand. „Woher willst du wissen, dass ich einen Sohn bekomme?“

Lahm zog ein paar Bücher aus dem Regal und schlug sie auf. „Na, die Chancen stehen immerhin fifty-fifty.“

„Haben wir am Werdersee schon was gefunden? Ihr Handy vielleicht?“

Lahm ging auf die Knie und lugte unter eine schmale Kommode, auf der ein paar Bilderrahmen standen. „Nein, bisher nicht. Die Stelle im See wird gerade von zwei Tauchern abgesucht.“ Er ächzte, als er wieder auf die Füße kam. „Ich persönlich glaube ja nicht, dass ihr Handy in den See geworfen wurde. Warum sollte er das getan haben?“

„Er?“

„Na, der Bursche, der dort gefunden wurde.“

„Wobei wir noch nicht davon ausgehen können, dass er der Täter ist.“

„Ach nein? Heiner, er lag nur ein paar Meter weiter, stockbesoffen, in der Hand eine Flasche. Sehr wahrscheinlich genau die Flasche, die sie über den Kopf bekommen hat.“

Schuster betrachtete die Fotos, die auf der Kommode standen. „Ich bin nicht so schnell im Verurteilen wie du.“

Sein Kollege stellte sich neben ihn. „Okay, okay, im Zweifel für den Angeklagten, aber hier ist alles so eindeutig wie …“

Schuster sah ihn erwartungsvoll an. „Ja? Wie was? Lass uns doch erst mal mit dem Mann sprechen, Flo.“ Er zeigte auf eins der Fotos. Auf dem Bild war der kleine Kiran zusammen mit einer jungen Frau, wahrscheinlich seiner Mutter, und einem jungen Mann zu sehen. Das Foto war ziemlich unscharf und irgendwo im Freien aufgenommen worden. „Das wird sie sein.“ Er tippte mit dem Finger auf den jungen Mann. „Und das scheint der Papa zu sein.“

„Der Bursche, der breit wie eine Strandhaubitze im Krankenhaus liegt.“ Lahm nickte.

„Miriams Mutter glaubt nicht, dass er zu so was imstande wäre. Er habe Miriam auf Händen getragen, sagt sie.“

„Was nicht heißt, dass er nicht irgendwann so sauer auf sie sein kann, dass er ihr den Schädel einschlagen will. Wie sagt Kuhn immer so schön: Niemand kann in den Kopf eines anderen gucken, selbst dann nicht, wenn er meint, ihn in- und auswendig zu kennen.“

Schuster erwiderte nichts. Kuhn war der Meinung, dass jeder Mensch eine dunkle Seite hatte. Und wenn die Zeit reif war, würde er die ausleben.

Er selbst sah das anders. Gut, eine dunkle Seite hatte er auch. Im Straßenverkehr zum Beispiel brüllte er andere Autofahrer hemmungslos an, wünschte ihnen die Ruhr und stellte sich gelegentlich vor, wie er sie rücksichtslos in den Graben drängte. Hinterm Steuer konnte er zum Tier werden. Aber nur dann. Sobald er die Tür zuschlug und den Wagen abschloss, war er wieder lammfromm. Natürlich hatte ihn die Berufserfahrung gelehrt, dass es Menschen gab, die ebenfalls lammfromm waren und dann doch so ausrasten konnten, dass sie andere umbrachten. Und dennoch glaubte er nicht daran, dass in jedem etwas Böses, Unberechenbares schlummerte.

Lahm verschwand in der Küche. Schuster hörte ihn Schubladen und Schränke öffnen, dann fiel irgendetwas herunter und schepperte laut. „Was machst du da?“

„Aufräumen“, gab sein Kollege trocken zurück.

„So hört es sich an.“ Schuster sah sich in Miriams Schlafzimmer um. Es war ein eigenartiges Gefühl, in der Wohnung eines Menschen zu sein, der nicht tot war und trotzdem momentan so gut wie keine Privatsphäre hatte. Leicht fiel ihm so etwas nicht. Aber es war immerhin möglich, dass sie irgendwas finden würden, das sie weiterbringen könnte.

Eine halbe Stunde später standen sie im Treppenhaus.

„Du oben, ich unten?“, fragte Lahm.

Miriam Schmidt wohnte in einem 6-Familienhaus im ersten Stock. Gleich gegenüber lag die Wohnung einer Hanna Stahl, bei der er nun klingelte. Sie öffnete bereits nach zwei Sekunden, und er wettete, dass sie vor der Tür gestanden und durch den Spion gelugt hatte.

„Frau Stahl?“

Sie nickte misstrauisch.

Er zeigte ihr seinen Ausweis. „Schuster, Kripo Bremen. Es geht um Ihre Nachbarin Miriam Schmidt.“

Die Frau wurde erschreckend blass. „Ist ihr was passiert?“

„Sie wurde heute früh am Werdersee gefunden.“

Bevor er noch irgendetwas sagen konnte, hatte sie einen spitzen Schrei ausgestoßen. „Ist sie tot?“

„Nein, nein. Sie ist schwer verletzt. Sie wurde niedergeschlagen und liegt jetzt im Koma.“

Sie taumelte und schlug die Hand vor den Mund. „Was ist mit dem Kleinen? Was ist mit ihrem Sohn?“

„Dem geht’s gut, Frau Stahl. Er ist bei seiner Großmutter.“

Die Frau sank gegen den Türrahmen und schloss erleichtert die Augen. „Gott sei Dank.“

„Wie gut kannten … kennen Sie Frau Schmidt?“

„Wir sind Nachbarn, wie man sich da eben so kennt. Ich passe manchmal auf ihren Hund auf. Oder ich gieße ihre Blumen, wenn sie länger weg ist. Weg war. Seitdem sie den Jungen hat, ist sie fast nur noch zu Hause.“

„Hatte sie oft Männerbesuch? Ist Ihnen mal irgendetwas aufgefallen? Streit, Krach aus der Wohnung, irgendwas?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ihr Freund, ich meine ihr Ex-Freund, Jan, Jens … Ich habe letzte Woche zufällig … rein zufällig, ich sehe natürlich nicht die ganze Zeit durch den Spion … Er stand vor der Wohnungstür und hat geklopft. Lass mich doch rein, Miri, hat er gesagt. Bitte, ich will doch nur meinen Sohn sehen.“

„Dann gab’s Streit wegen des Kindes?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, was er gesagt hat. Leid getan hat er mir. Sie verstanden sich wohl nicht gerade gut im Moment.“

„Er hat aber nie hier gewohnt?“

„Nein, er hatte seine eigene Wohnung. Miriam hat mal gesagt, dass sie sich nicht vorstellen kann, mit einem Mann zusammenzuwohnen.“

„Wann haben Sie Miriam das letzte Mal gesehen?“

Sie schluckte. „Heute früh. Ich habe das Wohnzimmerfenster geöffnet und gesehen, wie sie aus dem Haus gegangen ist.“

„Mit ihrem Hund?“

Sie nickte. „Den hatte sie immer dabei. Seinetwegen ist sie ja meistens so früh los.“

„Wissen Sie, wie spät es war?“

Sie musste kurz überlegen. „Es muss so gegen kurz nach sechs gewesen sein. Ich habe im Bett die Nachrichten im Radio gehört, und kurz darauf bin ich aufgestanden.“

„Vielen Dank. Das hilft uns weiter.“

„Gern geschehen.“

Er drehte sich um, dann fiel ihm noch etwas ein. „Können Sie sich vorstellen, dass der Hund jemanden anfällt, der Miriam zu nahe kommt?“

„Anfallen? Nein. Miriam hat immer gesagt, der würde jedem Einbrecher die Hand abschlecken, so gutmütig wäre er.“

Schuster nickte nachdenklich. „Verstehe. Danke, Frau Stahl.“ Wo steckte dieser Hund? War er in Panik abgehauen? Und wenn ja, wohin?

Sie fuhren zurück ins Präsidium, wo Kuhn an Schusters Schreibtisch saß und im Internet surfte. Er zuckte schuldbewusst zusammen, als Schuster hereinkam und sich lautstark räusperte, sprang auf und wischte über den Schreibtischstuhl.

„Na, nun übertreib mal nicht“, meinte Schuster und grinste.

„Gibt’s schon irgendwas Neues von der Frau?“

„Leider nein. Haben wir was gefunden? Ihr Handy?“ Schuster setzte sich an seinen Schreibtisch und gab „Jonas Faber“ in der Datenbank ein. Der junge Mann war ganz offenbar ein unbeschriebenes Blatt.

Kuhn schüttelte den Kopf. „Nein, bisher wurde nichts gefunden.“ Er zog die Tür seines Kabuffs hinter sich zu.

Lahm schob Schuster einen Becher Kaffee hin. „Haben wir eigentlich noch irgendwo Kekse?“

Schuster zeigte auf den Schrank. „Links. Da müssten noch welche sein.“

Lahm fand eine angebrochene Packung amerikanische Schoko-Cookies und stieß ein begeistertes „Yeah!“ aus.

„Ich horche mich nachher ein bisschen in diesem Mutter-Kind-Heim um.“ Schuster verzog das Gesicht, nachdem er am Kaffee genippt hatte. „Meine Güte, wer hat den denn gekocht?“

„Kuhn.“

„Du meinst Moritz.“

„Genau den.“

„Warum sagst du’s dann nicht?“

Lahm setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Hab ich doch.“

„Was ist, kommst du mit zu den jungen Müttern?“

Sein Kollege schob ihm die Kekspackung über den Tisch zu. „Klar. Probier mal, sind lecker.“

„Hattest du eigentlich nie eine Phase, wo du darüber nachgedacht hast, etwas Soziales, irgendwas fürchterlich Sinnvolles zu tun?“

Lahm überlegte einen Moment. „Doch, ich wollte mal Streetworker werden.“

„Du?“ Schuster hustete, weil er sich verschluckt hatte. „Entschuldige, ich wollte damit nicht sagen, dass ich dich für komplett ungeeignet halte. Aber so richtig vorstellen kann ich mir das nicht.“

Lahm trank seinen Kaffee aus. „Ich auch nicht. Darum bin ich ja auch Bulle geworden.“

Kapitel 3

Stadtteil Neustadt