Schwarze Diamanten - Martin Walker - E-Book

Schwarze Diamanten E-Book

Martin Walker

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Beschreibung

Was haben Trüffeln mit Frankreichs Kolonialkrieg in Vietnam und mit chinesischen Triaden zu tun? Die Lösung von Bruno Courrèges drittem Fall ist so tief vergraben wie die legendären schwarzen Diamanten unter den alten Eichen im Périgord und genauso schwer zu finden. "

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Martin Walker

Schwarze Diamanten

Der dritte Fall für Bruno, Chef de police

Roman

Aus dem Englischen von

Michael Windgassen

Titel der 2010 bei Quercus, London, erschienenen Originalausgabe: ›Black Diamond‹

Copyright © 2010 by Walker&Watson Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2011 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto Copyright © Kilian Kessler/

Diogenes Verlag

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2019

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24180 8

ISBN E-Book 978 3 257 60166 4

[5] Für Major Raymond Bounichou, den ehemaligen barbouze, großartigen Koch, guten Freund und einen der wenigen,

[7] 1

Es kam nicht oft vor, dass Bruno Courrèges seinen Job ungern tat, aber heute war so ein Tag. Am Wetter konnte es nicht liegen. Hohe dünne Wolken trieben über den spätherbstlichen Himmel, der trotzdem hartnäckig blau blieb. Trotz der frühen Morgenstunde schien die Sonne warm auf Brunos Gesicht und ließ die wenigen verbliebenen Blätter an den alten Eichen, die das Rugbyfeld einsäumten, golden leuchten. Sie wärmte die alten Mauern der Mairie auf der anderen Flussseite und die roten Ziegeldächer der Häuser am Hügel. Es war noch so mild, dass die Frauen die Fenster und die blaugestrichenen Fensterläden geöffnet hatten. Tupfer in Blau und Weiß, gestreift und geblümt, zierten das Bild des Städtchens, wo Bettwäsche auf den Balkonen gelüftet wurde – vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr. Auf dem Rasen hatte schon Reif gelegen, als Bruno vorhin mit seinem Hund die übliche Runde gegangen war, und am Wochenende hatte er im Supermarkt die ersten Weihnachtslieder gehört.

Bruno richtete seinen Blick auf eine kleine Schar von Demonstranten, die sich vor dem Tor des Sägewerks versammelt hatten. Der Schornstein rauchte nicht mehr, und die Gabelstapler, die dort sonst immer mit schweren Holzlasten [8] umherfuhren, parkten in der Garage. Noch hing der würzige Geruch frisch gesägten Holzes in der Luft, der sich aber schon bald verflüchtigen würde, denn der Betrieb der Sägemühle, des größten und ältesten Arbeitgebers von Saint-Denis, sollte heute eingestellt werden.

Bruno hatte zwei Wochen zuvor im Auftrag der Präfektur einen Stilllegungsbescheid zustellen müssen, mit dem ein Urteil gegen die Scierie Pons und ihren Besitzer wegen Verstoßes gegen Umweltauflagen vollstreckt wurde. Als dem einzigen Polizeibeamten der Stadt war Bruno die unangenehme Aufgabe zugefallen, eine Kopie des Beschlusses, wetterfest in Zellophan verpackt, an das Fabriktor zu heften. Nun musste er mitansehen, wie das Gesetz seinen Lauf nahm, und natürlich war es seine Pflicht, in dem seit Jahren währenden Streit zwischen den Grünen, die jetzt triumphierten, und dem Mann zu schlichten, den sie als »Dreckschleuder von Saint-Denis« bezeichneten.

»Pons raus, Pons raus«, skandierte die Gruppe im Chor, die von einem gut aussehenden Mann mit Megaphon angeführt wurde. Er trug eine teure Lederjacke mit weißem Seidenschal und hatte seine langen blonden Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Am Revers seiner Jacke steckte ein großer Button der Grünen Partei. Die Transparente der Demonstranten erklärten den Grund der Schließung. Verantwortlich dafür waren nicht etwa wirtschaftliche Probleme, finanzielle Engpässe oder gar eine Verknappung von Rohstoffen, die die Waldgebiete der Dordogne seit Jahrhunderten in Fülle lieferten. Es lag auch nicht an mangelnder Nachfrage nach Eichen-, Kastanien-, Kiefern- und Fichtenholz. Vielmehr war bekanntgeworden, [9] dass Boniface Pons, der Erbe des seit vielen Generationen in Familienbesitz befindlichen Sägewerks, mit seinem Unternehmen in eine andere Gemeinde umziehen wollte, an einen Ort inmitten weiter Wälder und von nur rund zweihundert Wahlberechtigten bewohnt, wo er sich sicher sein konnte, nicht von all den Demonstrationen und endlosen Gerichtsverfahren behelligt zu werden, die ihn aus Saint-Denis vertrieben hatten.

»Endlich können unsere Kinder wieder atmen«, las Bruno auf einem der Transparente und verdrehte bei dieser Übertreibung die Augen. Er hatte auf dem nahe gelegenen Sportplatz zahllose Stunden Rugby gespielt und Dutzende von Trainingseinheiten durchgeführt, während der Schornstein rauchte, war aber nie wegen schlechter Luft in Atemnot geraten.

»Umwelt 1 – Pons 0« stand auf einem anderen Transparent, was, wie Bruno fand, der Wahrheit schon ein bisschen näher kam. Das Sägewerk hatte während der zehn Jahre, in denen Bruno als Polizist der Stadt seinen Dienst versah, zwei verschiedene Rauchfilteranlagen installiert, die aber beide, obwohl jeweils auf dem neuesten technologischen Stand, schon nach wenigen Jahren überholt waren, weil die Europäische Union in Brüssel immer wieder neue, schärfere Auflagen durchsetzte. Die jüngste Direktive, die für staub- und rauchemittierende Schornsteine einen Mindestabstand zu Wohngebieten vorschrieb, hatte Boniface Pons den Rest gegeben. Es sei nicht seine Schuld, hatte er gesagt, dass die Kommune von Saint-Denis wenige Jahre zuvor beschlossen habe, eine Sozialbausiedlung zu errichten, die bis auf zweiundvierzig Meter an den Zaun seiner Fabrik heranreichte. [10] Nach der neuesten Verordnung war der geforderte Mindestabstand nun um acht Meter unterschritten.

»Ich habe die Schnauze voll von diesem grünen Unsinn«, hatte Pons während der letzten, hitzig geführten Ratsdebatte geschimpft. »Wenn ihr die Jobs, die ich bereitstelle, und meine 200000 Euro Steuern im Jahr nicht wollt, muss ich eben dahin gehen, wo meine Arbeitsplätze willkommen sind.«

Bruno hatte gehofft, die Betriebsschließung könnte ohne weiteren Ärger vonstatten gehen: dass Pons einfach seine Fabrik abschließen und Saint-Denis erhobenen Hauptes verlassen würde, während die écolos, die Umweltaktivisten der Stadt, ihren Triumph in aller Stille auskosteten. Was aber in den Cafés und an den Marktständen zu diesem Thema zu hören gewesen war, ließ anderes befürchten. Bruno hatte mit Bürgermeister Gérard Mangin darüber diskutiert, ob es ratsam wäre, die Gendarmerie zur Verstärkung hinzuzuziehen, aber in Anbetracht der tölpelhaften Art von Capitaine Duroc Abstand von dieser Idee genommen. Der Einsatz der Gendarmen wäre als Vorsichtsmaßnahme nur dann sinnvoll gewesen, wenn nicht Duroc, sondern sein Stellvertreter, der sehr viel besonnenere Sergeant Jules, das Kommando geführt hätte. Wie nun die Dinge standen, wussten der Bürgermeister und Bruno, dass sie sich nur auf sich selbst und das über viele Jahre erworbene Vertrauen ihrer Mitbürger verlassen konnten.

Es waren mehr Menschen zusammengekommen als erwartet, aus Neugier und vielleicht auch aus dem Gefühl heraus, dass eine Epoche zu Ende ging und die Holzindustrie, die über Jahrhunderte Saint-Denis am Leben erhalten hatte, [11] nun der Vergangenheit angehörte. In Kriegszeiten und während der Revolution, in Zeiten von Aufschwung und wirtschaftlichem Rückgang hatten die Bäume dieser Gegend immer dafür gesorgt, dass es genug Fässer für Wein und Boote für ihren Transport gab. Sie lieferten das Holz für Balken, Bohlen und Möbel in unzähligen französischen Haushalten, für die Pulte in Schulräumen und das Feuer in den Kaminen. Aus Walnussbäumen wurden Öl und Nahrungsmittel gewonnen, und die jungen grünen Früchte lieferten die Grundlage für den heimischen vin de noix.

Viele Leute konnten sich auch daran erinnern, dass die Kastanienbäume in den schweren Zeiten des Vichy-Regimes und der deutschen Besatzung mit ihren Früchten das Mehl für eine Art Brot geliefert hatten.

Bei der Schließung des Sägewerks ging es für die Einwohner von Saint-Denis deshalb um sehr viel mehr als nur um Arbeitsplätze. Das konnte Bruno nachempfinden, als er die Pensionäre vom Seniorenheim in kleinen Grüppchen die Straße entlangschlurfen sah. Die Älteste, Rosalie Prarial, wurde von Pater Sentout gestützt. Sie war die einzige Einwohnerin der Stadt, die noch behaupten konnte, 1918 den Ausmarsch junger Männer zu den letzten Kämpfen des Ersten Weltkriegs gesehen zu haben. Wie viele der anderen Pensionäre hatte Rosalie ihr Leben lang im Sägewerk gearbeitet, anfangs noch unter der Leitung von Boniface’ Großvater. Montsouris, das einzige kommunistische Ratsmitglied der Stadt, hatte sich als Lokführer offenbar einen freien Tag genommen. Er war in Begleitung seiner noch viel radikaleren Frau. Ihnen folgte eine Delegation der Handelskammer. Bruno runzelte erstaunt die Stirn. Es war schon ein seltenes [12] Ereignis, dass die Linken und die städtischen Kleinunternehmer für dieselbe Sache demonstrierten.

Die halbe Stadt schien sich versammelt zu haben, und Bruno befürchtete, dass die meisten von ihnen nicht glücklich über diesen Erfolg der Grünen sein würden. Aber er wusste auch, dass seine Mitbürger recht ausgeglichen und gesetzestreu waren. Während es bei ähnlichen Veranstaltungen durchaus zu gewaltsamen Unruhen kommen konnte, hatten sich seine Leute nicht in Kampflinien aufgestellt. Vielmehr bildeten sie kleinere und größere separate Gruppen. Ein bisschen wie auf einer Beerdigung, dachte Bruno, so, als würden sich die Trauergäste aus Respekt vor der Familie im Hintergrund halten.

Der Bürgermeister stand unter den Bäumen, die das Rugbyfeld eingrenzten, und schien bewusst Abstand zur Menschenmenge und zu den Toren des Sägewerks zu halten. Neben ihm stand der Baron, der größte Landbesitzer der Gegend und Brunos Tennispartner und Freund. Albert, der Chef der städtischen Feuerwehr, war ohne Uniform erschienen und rauchte Pfeife. Um die Ecke der Sozialbausiedlung kam ein Abschleppwagen angerumpelt. Lespinasse, der Besitzer der örtlichen Kfz-Werkstatt, kletterte heraus, gefolgt von seiner Schwester vom Blumenladen und seinem Cousin, der den tabac führte. Sie alle schüttelten dem Bürgermeister und seiner Gefolgschaft die Hand und winkten Bruno zu. Bald darauf war das unverkennbare Knattern eines älteren Citroën 2 CV zu hören, mit dem sich Pamela ankündigte, die Frau, mit der Bruno öfter das Bett teilte. Von vielen wurde sie immer noch »die verrückte Engländerin« genannt, sogar in Brunos Hörweite. Weil in Frankreich mittlerweile alle [13] ausländischen Mitbürger das Recht hatten, an Gemeindewahlen teilzunehmen, hatte der Bürgermeister vorgeschlagen, sie als Kandidatin für einen Sitz im Stadtrat aufzustellen, womit er sich erhoffte, die Stimmen der Ausländer zu gewinnen. Man konnte darin aber auch ein Zeichen dafür sehen, dass Pamela inzwischen als Bürgerin von Saint-Denis voll anerkannt wurde.

Sosehr sich Bruno über sie und ihr Lächeln freute, mit dem sie ihn anstrahlte, so war er doch durch ihr Auftauchen auch irritiert, weil er sich unter ihrer Beobachtung in seiner offiziellen Rolle gehemmt fühlte. Normalerweise mochte er Pamelas neckende und leicht spöttische Art, die die meisten Briten ihrer Polizei gegenüber an den Tag legten. Aber das stete Anwachsen der Menschenmenge machte ihn langsam nervös.

Er versuchte, die Situation einzuschätzen. Wider Erwarten begann sich die Menge in zwei Lager zu teilen. Jenseits des Haupttores kamen die écolos zusammen, davor sammelte sich der große Rest, allen voran junge Frauen mit Kinderwagen und Buggys. Einige von ihnen kannte Bruno gut. Es waren die Frauen und Kinder der Männer, die im Sägewerk arbeiteten und nun ohne Verdienst auskommen mussten, bis Pons neue Jobs für sie geschaffen haben würde. Sie gruppierten sich vor dem schmalen Seitentor, durch das ihre Ehemänner immer gegangen waren, und starrten wütend auf die skandierenden Umweltschützer. Bruno prüfte kurz den Sitz seiner Schirmmütze und schlenderte hinzu, um sie zu begrüßen und den kleinen Kindern ein wenig die Haare zu zerzausen. Mit den Müttern hatte er beim Saint-Jean-Fest getanzt, den Jüngeren Tennis beigebracht. Er war [14] Gast auf ihren Hochzeiten und bei den Taufen der Kinder gewesen, hatte mit den Vätern gejagt und Rugby gespielt.

»Ein trauriger Tag«, sagte er zu Axelle, deren Zwillingstöchter hinter ihrem Rock verstohlen zu Bruno aufblickten.

»Verdammte écolos, immer stecken sie ihre Nasen in anderer Leute Angelegenheiten«, schnauzte sie. »Wie kommt es, dass der Staat sich nicht einmal zur Abwechslung um Leute wie uns kümmert?«

»Émile wird bald wieder Arbeit haben«, versuchte Bruno zu beruhigen. »Und wie ich höre, hast du eine Stelle an der Grundschule bekommen. Émiles Mutter wird bestimmt gern auf die Kinder aufpassen.«

»Einige wenige haben Glück«, schniefte eine andere Mutter. »Für mich gibt es keine Arbeit, und die Lohntüte, die Pierre heute bekommt, wird vorerst die letzte sein. Weihnachten wird dieses Jahr ziemlich mager ausfallen.«

»Seid ihr endlich zufrieden, ihr Schweinehunde?«, brüllte Axelle den Umweltschützern entgegen. »Unsere Kinder werden hungern, weil ihr Spinner euch über ein bisschen Qualm aufregt.«

»Pons raus, Pons raus!«, skandierten die Grünen, angeführt von dem dynamischen jungen Mann mit Megaphon. Bruno hielt ihn für die merkwürdigste Figur in diesem Schauspiel. Als verlorener Sohn von Saint-Denis war er nach jahrelanger Weltenbummelei in einem brandneuen Porsche Cabrio zurückgekehrt, mit genug Geld für den Kauf eines alten Bauernhofes und dessen Umbau in ein Restaurant, dazu einer Menge exotischer Geschichten vom Leben in Hongkong, Bangkok und Singapur. Seit seiner [15] Rückkehr zeigte er ein starkes Interesse an Lokalpolitik und viel Engagement für grüne Themen. Mit großem Eifer hatte er, nicht zuletzt finanziell, jene Klage unterstützt, die letztlich zur gerichtlichen Anordnung der Schließung des Sägewerks seines Vaters geführt hatte. Guillaume Pons, so der Name des jungen Mannes, der allerdings lieber Bill genannt werden wollte, schien entschlossen, seinen Vaterhass mit allen verfügbaren Mitteln auszuleben.

Bruno näherte sich dem Chor der brüllenden écolos und tippte Bill auf die Schulter. »Könnten Sie mit den Parolen vielleicht einmal für einen Moment aufhören? Die Frauen da drüben machen sich Sorgen und sind aufgebracht, weil ihre Männer ihre Arbeit verloren haben. Dass sie das nun von Ihnen unter die Nase gerieben bekommen, hilft keinem weiter.«

»Ich weiß, es ist nicht ihre Schuld, aber unsere ebenso wenig«, entgegnete Guillaume freundlich. Als er das Megaphon sinken ließ, um Bruno zu antworten, brach der Sprechgesang ab. »Wir wollen saubere Luft und könnten auch für saubere Arbeitsplätze sorgen, wenn man uns ließe.«

Bruno nickte und dankte ihm für die Ruhepause. »Es kommt jetzt darauf an, besonnen zu sein und den nötigen Respekt an den Tag zu legen. Es ist für alle ein trauriger Tag, und wir wollen vermeiden, dass die Wut eskaliert, wenn die Männer rauskommen.«

»Vielleicht hätte die Gemeindeverwaltung vor unserer Kampagne daran denken können, anstatt mit unseren Steuergeldern diese Dreckschleuder von Sägewerk zu unterstützen«, entgegnete Guillaume.

»Hinterher ist man immer schlauer«, erwiderte Bruno. [16] Das letzte Mal, als Pons mit der Schließung des Sägewerks gedroht hatte, war es Bruno und dem Bürgermeister gelungen, Geld aus dem Stadtbudget zusammenzukratzen, um die Anschaffung einer Filteranlage zu ermöglichen. Das hatte vier Jahre Aufschub gebracht, bis schließlich die neue Verordnung wirksam wurde. Und die Gewerbesteuereinnahmen aus vier zusätzlichen Betriebsjahren des Sägewerks hatten die maßvolle Subvention durch die Stadt letztlich mehr als wettgemacht.

»Im Augenblick geht es mir allein darum, zu verhindern, dass man sich nur noch gegenseitig anbrüllt«, schob Bruno nach. »Sie sind derjenige mit dem Megaphon, deshalb nehme ich Sie in die Verantwortung.«

»Keine Sorge«, meinte Guillaume mit einem Lächeln, das Bruno unter anderen Umständen wohl charmant gefunden hätte. Er legte seine Hand auf Brunos Arm. »Ich kann meine Leute auch mit dem Lautsprecher zur Ruhe bringen. Sie hören auf mich.«

»Hoffentlich, Monsieur.« Bruno ging weiter, um Alphonse zu grüßen, den in die Jahre gekommenen Hippie aus der Kommune in den Bergen oberhalb der Stadt und ersten Grünen, der in den Stadtrat gewählt worden war.

»Kann ich mich darauf verlassen, dass es ruhig bleibt, wenn die Männer herauskommen, Alphonse?«, fragte Bruno und schüttelte die Hand des Mannes, der den besten Ziegenkäse weit und breit herstellte.

»Wir wollen keinen Ärger, Bruno«, sagte Alphonse. Eine selbstgedrehte Zigarette klebte an seiner Unterlippe. »Wir haben gewonnen.«

»Du hast hier Leute zusammengetrommelt, von denen [17] ich etliche noch nie gesehen habe«, bemerkte Bruno, als er die Menge hinter Guillaume und Alphonse überblickte.

»In der Mehrzahl sind es die üblichen Aktivisten aus Périgueux und Bergerac und ein paar aus dem Umkreis von Bordeaux. Endlich mal eine große Kampagne in unserer Gegend. Aber mach dir keine Sorgen, Bruno. In letzter Zeit hatten wir keine auch nur annähernd erfolgreiche Aktion, deshalb ist diese für uns so wichtig.«

Plötzlich wurde die Menge unruhig. Bruno drehte sich um und sah, wie sich die Tür zum Büro öffnete und die Beschäftigten oder vielmehr jetzt Entlassenen langsam daraus hervorkamen. Einige von ihnen zählten die Geldscheine in ihrer letzten Lohntüte. Die Ersten blieben stehen, als sie die Menschenmenge am Tor warten sahen. Manche winkten ihren Frauen und Kindern zu. Bruno ging zum Seitentor hinüber und forderte die Männer mit einem Handzeichen auf, diesen Ausgang zu benutzen, denn er hoffte, dass sich die Lage entspannte, sobald sie bei ihren Familien wären. Doch Marcel, der Vorarbeiter, schüttelte den Kopf und schlenderte auf den Haupteingang zu, öffnete das Vorhängeschloss und schob das schwere Eisentor auf.

»Es ist unser letzter Tag hier, Bruno. Wir verlassen das Werk durch den Haupteingang«, erklärte Marcel. »Wir haben die verdammte Schweinerei nicht gewollt und schleichen uns jetzt nicht durch das Seitentor hinaus.« Er kam heraus und umarmte seine Frau, drehte sich dann um und stemmte mit drohendem Blick auf die écolos die Hände in die Hüften.

Bruno trat vor, verstellte Marcel die Sicht und schüttelte jedem, der das Werksgelände verließ, die Hand, murmelte [18] kurz seinen Namen und empfahl ihm, mit der Familie nach Hause zu gehen. Achselzuckend folgten die meisten seinem Rat. Auch der Bürgermeister, der an Brunos Seite aufgetaucht war, grüßte jeden per Handschlag und wirkte beschwichtigend auf zwei jüngere Männer ein, die den écolos wütende Blicke zuwarfen. Es schien zu funktionieren. Die Stimmung war eher bedrückt als wütend. Manche der verheirateten Männer nahmen ihre Kinder auf den Arm und zogen ab.

Dann öffnete sich plötzlich die Tür zum Ausstellungsraum, und Boniface Pons selbst erschien, kraftvoll und aufrecht trotz seiner siebzig Jahre. Sein breites Kreuz zeichnete sich unter dem Jackett ab und erinnerte Bruno daran, dass Pons in seiner Jugend Kapitän der städtischen Rugbymannschaft gewesen war. Er gehörte immer noch dem Clubvorstand an und war Geschäftsmann durch und durch, was sich auch in seinem Äußeren spiegelte. Er trug Anzug und ein weißes Hemd mit Fliege. Sein kahler Kopf schimmerte in der Herbstsonne. Höflich nickte Pons zwei Sekretärinnen zu, die ihren Arbeitsplatz eilig durch das Seitentor verließen, und verriegelte die Tür eines Unternehmens, das er geerbt und ausgebaut hatte. Gelassen blickte er auf die Menschenmenge.

»Pons raus, Pons raus.« Es war der erste, fast unsichere Ruf aus den Reihen der écolos, der nicht durch irgendein Megaphon verstärkt war. Bruno bemerkte, dass Pons’ Sohn dem Blick des Vaters ruhig standhielt. Die Haltung der beiden war fast identisch. Guillaume hatte sein Megaphon gesenkt und rührte sich nicht, als die Grünen hinter ihm dem Geschäftsmann ihre Buhrufe entgegenjohlten.

[19] Schnellen Schrittes ging Bruno durch das Tor auf Pons senior zu und sprach ihn an, weniger als chef de police von Saint-Denis, sondern eher freundschaftlich, hatten sie doch bei vielen Clubfesten nebeneinander am Tisch gesessen. »Ihr Mercedes steht dahinten, mein Lieber. Ich rate Ihnen dringend, sofort wegzufahren, bevor es Ärger gibt. Es sind Frauen und Kinder hier.«

»Sagen Sie mir nicht, was ich tun soll, Bruno, nicht auf meinem eigenen Grund und Boden«, erwiderte Pons ruhig, den Blick unbeeindruckt auf die Menschenmenge vor dem Tor gerichtet. »Ich habe dieses Affentheater nicht gewollt und werde hocherhobenen Hauptes hinausgehen.«

»Dann werde ich Sie begleiten müssen.«

»Wie Sie wollen.«

Pons ging mit großen Schritten auf das Tor zu. Die Buhrufe wurden lauter, und einige der écolos rückten bedrohlich näher. Mit ausgestreckten Armen versuchte Pons junior, die Menge zurückzuhalten. Er lächelte frostig, als sein Vater sich ihm näherte.

Viel zu schnell, als dass Bruno hätte eingreifen können, eilte der Alte auf seinen Sohn zu und schlug ihm so wuchtig ins Gesicht, dass er nach hinten kippte und in die Knie ging. Das Megaphon fiel ihm aus der Hand. Einige der ehemaligen Angestellten klatschten Beifall und klopften dem Alten auf die Schulter, als er sich der Menge zuwandte und seinen Sohn nicht weiter beachtete.

Guillaume, weiß im Gesicht bis auf den brennend roten Fleck auf seiner Wange, schüttelte den Kopf und schnellte hoch, um mit ungestümer Wut über seinen Vater herzufallen. Bruno bekam Guillaume zu fassen und hielt ihn [20] zurück. »Du Dreckskerl!«, schrie der Sohn. »Du verfluchter Dreckskerl!«

Bruno spürte Hände an seinem Hals und an seinen Armen zerren. Es waren Guillaumes Mitstreiter, die versuchten, ihren Anführer zu befreien. Zwei der jungen Arbeiter aus dem Sägewerk mischten sich ein, gefolgt von Axelle, die sich kreischend in das Getümmel warf und Guillaume mit den Fingernägeln durchs Gesicht kratzte, ihn am Revers packte, mit der Faust zulangte, zurückstieß und bespuckte. Aus Guillaumes malträtierter Nase sickerte Blut.

Bruno rammte seinen Ellbogen in den Mann, der ihm am Hals hing. Er drehte sich um, packte Axelle bei der Taille und schleuderte sie hinter sich, wo sie mit Montsouris zusammenprallte, der gerade mit Marcel und ein paar jüngeren Arbeitern angelaufen kam, um sich an der Schlägerei zu beteiligen. Plötzlich tauchten der Bürgermeister und der Baron auf. Mit hocherhobenen Armen bildeten sie eine Gasse zwischen den beiden aufgebrachten Gruppen und forderten lautstark Ruhe. Bruno versuchte, Montsouris in Schach zu halten, als er plötzlich das Krächzen einer Krähe aus den Eichen hörte. Darauf breitete sich eine Stille aus, die allen Zorn verebben ließ.

Alle schienen wieder zur Besinnung zu kommen. Axelle weinte stumm, als Pater Sentout sie zu Emile zurückbrachte, der auf den Knien hockte und seine verängstigten Kinder umarmte. Der Priester half Bruno dabei, die Demonstranten entlang des Zauns auf die Straße zu leiten, die zur Stadt führte.

»Schrecklich, Vater und Sohn so zerstritten zu sehen«, sagte Pater Sentout. »Aber bei dieser Vorgeschichte…«

[21] »Klären Sie mich auf. Was ist passiert?«, fragte Bruno. »Es muss vor meiner Zeit gewesen sein.«

»Es gab eine hässliche Trennung, als der Junge ungefähr zwölf war und mit seiner Mutter nach Paris gezogen ist. Die Eltern wurden wohl letzten Endes geschieden. Ich hörte, dass die Mutter in Paris gestorben ist. Das muss vor fünfzehn oder zwanzig Jahren gewesen sein.«

Bruno nickte Pater Sentout zu, als dieser zwei älteren Frauen seinen Arm anbot. Pons senior war Rosalie behilflich. Der Bürgermeister wird die Familiengeschichte kennen, dachte Bruno, oder vielleicht der Baron. Jedenfalls schien die Rückkehr des Sohnes Probleme mit sich zu bringen. Bruno ließ den Blick über die Szene schweifen und fühlte sich an ein Gemälde in der Kirche von Saint-Denis erinnert. Guillaume Pons lag am Boden, das Hemd voller Blut und den Kopf auf Pamelas Schoß gebettet. Zu beiden Seiten standen der Bürgermeister und der Baron, und vor Pons’ Füßen kniete Albert. Eingerahmt wurde die Gruppe von écolos, die auf den Sohn hinabblickten, der von seinem Vater niedergestreckt worden war. Bruno konnte sich genau daran erinnern, wann er zuletzt das Gemälde eingehend betrachtet hatte, nämlich während des Chorkonzerts zu Ostern, als er gleich neben dem Gemälde in der Bank gesessen hatte. Das Haydn-Oratorium Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze war unter Leitung von Pater Sentout aufgeführt worden. Bruno erinnerte sich an den fotokopierten Text des Stücks und an Pater Sentouts kurze Erläuterungen. Einer der Sätze hatte ihn lange beschäftigt und kam ihm jetzt unwillkürlich wieder in den Sinn. Eli, Eli, lama sabachthani – Mein Vater, warum hast du mich verlassen?

[22] 2

Bruno fuhr liebend gern in der alten Citroën DS des Barons. Er genoss es, wie der Wagen in der Kurve lag, und er fand dessen Form geradezu zeitlos modern. Bruno hatte den Baron unzählige Male die Vorzüge dieses Autos preisen hören: dass es weltweit das erste mit Scheibenbremsen und hydraulischer Federung gewesen war. An all die anderen Besonderheiten konnte er sich nicht mehr genau erinnern, doch eines würde Bruno nie vergessen können, nämlich dass Charles de Gaulle diesem Auto sein Leben verdankte. Auf den Général – so nannte der Baron seinen Helden immer noch – waren in den sechziger Jahren mehrere Attentate durch die OAS verübt worden, jene militärische Geheimorganisation, die dafür kämpfte, dass Algerien französisch blieb. Bei einem dieser Attentate waren der Präsidentenlimousine – einem Citroën DS – die Reifen zerschossen worden, und dennoch hatte sie mit voller Geschwindigkeit entkommen können.

»Wusstest du, dass ich dieses Auto von Pons gekauft habe?«, fragte der Baron, den Blick auf die schmale Allee gerichtet, deren dichtes Spalier aus Bäumen im Scheinwerferlicht flackerte. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen, und sie wollten noch vor acht Uhr den Markt von Sainte Alvère erreichen.

[23] »Es muss über zwanzig Jahre her sein, vielleicht auch mehr, jedenfalls kurz nachdem ihn seine Frau verlassen hat. Es war ein Schnäppchen. Heute würde ich auf einer Oldtimer-Auktion bis zu 100000 Euro dafür bekommen.«

»Du würdest ihn nie verkaufen«, sagte Bruno. »Erzähl mir von Pons. Weshalb hat ihn seine Frau verlassen?«

»Es heißt, er hat sie geschlagen. Sie kam aus dem Süden, aus der Gegend um Carcassonne, und arbeitete hier als Lehrerin am collège. Eine richtige Schönheit, blond und mit goldener Haut, typisch Süden halt. Ich wohnte damals in Paris, und als ich im Sommer hierherkam, war sie leider schon an Pons vergeben. Olivia hieß sie.«

»Neidisch?«

»Ja, das war ich.« Der Baron lachte. »Aber Pons war nicht gerade für seine Treue bekannt. Sie nahm seine Seitensprünge eine Weile hin, hielt sich dann aber selbst schadlos. Ich war einer der Glücklichen und beileibe nicht der Einzige. Pons kam dahinter, und mit der Ehe war’s vorbei.«

»Wie kam sie finanziell weg?«

»Ich habe ihr einen Rechtsanwalt vermittelt, der dafür sorgte, dass sie gut dabei wegkam. Aber in Geldsachen war Pons ohnehin nie knauserig, schon gar nicht, wenn es um seinen Sohn ging. Allerdings hat er sich darüber beklagt, dass der Junge ihn nie sehen wollte und Olivia ihn angeblich gegen den Vater aufgehetzt hätte.«

»Wusste der Junge von ihrer Affäre mit dir?«

»Das bezweifle ich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch Pons davon nichts wusste. Olivia und ich waren immer sehr diskret. Ich war ja selbst verheiratet, als sie nach Paris kam.«

[24] »Warum dauerte es so lange, bis die beiden geschieden wurden?«

Der Baron zuckte mit den Schultern. »Damals war es nicht so leicht, sich scheiden zu lassen, zumal wenn über das Sorgerecht eines Kindes entschieden werden musste. Sie hatte den Jungen mit nach Paris genommen, und damit wollte sich Pons nicht abfinden. Pons klagte auf böswilliges Verlassen, aber ihr Anwalt konnte trotzdem eine anständige Abfindung für sie aushandeln.«

»Wie ging es weiter?«

»Sie unterrichtete noch eine Weile. Später war sie Geschäftsführerin eines Hotels in der Nähe der Opéra, ehe sie ein eigenes Restaurant eröffnete. Ich habe ihr ein bisschen unter die Arme gegriffen, aber der Laden lief nicht so recht. Dann erkrankte sie an Brustkrebs, und alles ging den Bach hinunter. Der Junge machte sich als Rucksacktourist nach Asien auf und schaffte es nicht einmal, zu ihrer Beerdigung zu kommen.«

Es war kurz vor sieben, als sie den Markt erreichten. Bruno kletterte aus dem warmen Auto und zog fröstelnd seinen alten Militärmantel an. Er hielt nach ersten Anzeichen der Dämmerung am östlichen Horizont Ausschau, doch es war noch stockdunkel. Er holte einen kleinen Korb vom Rücksitz. Diesmal war die Ausbeute recht bescheiden, und er hatte nur ein paar Trüffeln zweiter Wahl anzubieten, sogenannte brumales. Der echte schwarze Diamant, tuber melanosporum oder Périgord-Trüffel genannt, würde erst Ende Dezember auf den Markt kommen. Die allerbesten, für die mehr als tausend Euro pro Kilo gezahlt wurden, waren selten vor Januar im Handel.

[25] Bruno hatte die Allee von Weißeichen auf seinem Grundstück kurz nach seiner Ankunft in Saint-Denis angelegt, wohl wissend, dass es einige Jahre dauern würde, bis er die erste richtige Ernte einbringen konnte. An diesem Morgen waren es sechs kleine Wintertrüffeln unterschiedlicher Form und Größe. Drei hatte er unter den eigenen Bäumen gefunden, die anderen auf Streifzügen durch den Wald hinterm Haus. Zusammen brachten sie rund zweihundert Gramm auf die Waage. Der größte war etwas dicker als ein Golfball. Mit Glück würde er für alle sechs um die hundert Euro bekommen, doch darüber entschied letztlich der aktuelle Tagespreis. Bruno steckte seine Nase in den kleinen Korb, um den intensiv erdigen Geruch genüsslich einzuatmen, wickelte dann die Knollen in einer Seite der Sud-Ouest ein und stopfte sie in die Manteltasche. Wenn sie warm gehalten wurden, entwickelte sich ihr Aroma noch viel besser.

Die beiden schönsten Exemplare hatte er, in feinstes Olivenöl eingelegt, zu Hause gelassen, denn die wollte er sich selbst gönnen. Normalerweise ging er nie vor Ende Dezember auf den Markt, aber der Baron hatte ihm mitgeteilt, dass Hercule, dem Bruno einen großen Gefallen schuldete, ihn gern sehen würde.

Als ihm zum ersten Mal die winzigen Fliegen am Fuß eines seiner Bäume aufgefallen waren, die als Hinweis dafür galten, dass sich Trüffeln angesiedelt haben mussten, hatte er sich seine Zukunft schon in rosigen Farben ausgemalt. Der Baron hatte ihn mit einem alten Kameraden aus dem Algerienkrieg bekannt gemacht, Hercule Vendrot, der in der Nähe von Sainte Alvère lebte, einer Stadt, die für ihre Trüffeln so bekannt war wie das Château Pétrus für Weine. [26] Bei einem Mittagessen bei Bruno zu Hause hatte Hercule ihm Ratschläge gegeben und erklärt, wo welche Bäume am besten gepflanzt werden sollten. Seitdem kam er jedes Jahr, genoss Brunos Gastfreundschaft und suchte dann im Laub unter den jungen Eichen nach den tanzenden kleinen Fliegen. Dabei tauschten sie Kriegsgeschichten aus, bewunderten gegenseitig ihre Hunde und wurden schließlich Freunde.

Vor drei Jahren hatte Hercule dann die ersten Anzeichen einer terre brûlée unter Brunos Eichenbäumchen entdeckt, einen Ring schwarzer Erde, die wie verbrannt wirkte. Bruno hatte nun seine Trüffeln und konnte im ersten Jahr zweihundert Euro einnehmen, doch im Jahr darauf war es weniger als die Hälfte. Für dieses Jahr erhoffte er sich weit mehr und für die Zukunft eine sichere Einnahmequelle, die am Finanzamt vorbeisprudeln könnte.

Der offizielle Markt begann um acht Uhr, wenn sich die Tore zu der modernen, verglasten Halle neben dem Friedhof öffneten. Inzwischen gab es sogar einen Onlinemarkt, doch Bruno wusste von Hercule, dass die besten Geschäfte abgewickelt wurden, bevor der Markt öffnete, und zwar draußen vor der Halle. Männer in altertümlichen Mänteln mit geduldigen Hunden an ihrer Seite zogen diskret Trüffeln aus der Tasche, eingewickelt in Zeitungspapier. Ein paar von ihnen waren schon da. Sie warfen einander verstohlene Blicke zu, neugierig darauf, welche Schätze die Konkurrenten wohl mitgebracht haben mochten. Aus Brunos Sicht als Polizist machten sie einen höchst verdächtigen Eindruck; auf ihn wirkten sie wie eine Ansammlung von Voyeuren, die gerade all ihren Mut zusammennahmen, um durch ein Badezimmerfenster zu spähen. Darum beschloss er, ihnen [27] aus dem Weg zu gehen und seine Trüffeln auf dem Markt anzubieten.

Der Baron führte ihn über eine kleine höher gelegene Terrasse in das Café gegenüber der Kirche. Die Fenster waren beschlagen, und als er die Tür öffnete, schlug ihm Lärm entgegen. An die dreißig bis vierzig Männer drängten sich mit ihren Hunden im viel zu engen Gastraum. Desirée, die einzige Frau in der Runde, servierte Croissants und tartines und eilte von Tisch zu Tisch, während ihr Mann die Espressomaschine bediente.

Hercule nahm seinen Kaffee an der Tresenecke ein und bestellte bei Desirée zwei weitere Tassen, als er Bruno und den Baron eintreten sah. Hercule war ein großer, schwerer Mann mit krummem Rücken, aber noch sehr rüstig für seine siebzig Jahre. Seine blauen Augen leuchteten, und unter der Baskenmütze, die er anscheinend nie absetzte, zeigte sich ein Kranz weißer Haare. Der Gauloises-Konsum hatte seinen dichten weißen Schnurrbart in der Mitte braun verfärbt. Pom-Pom, seine schon betagte Promenadenmischung und ein legendärer Trüffeljäger, reckte den Kopf, um Brunos Hosenbeine zu beschnüffeln, denen der Geruch seines Hundes Gigi anhaftete. Die drei Männer begrüßten sich und nahmen am Tresen Platz, auf dem Desirée drei Tassen Kaffee, drei Croissants und drei große Cognacs abgestellt hatte. Wenn sie sich zur Jagd aufmachten, tranken sie immer schon bei Tagesanbruch ein Gläschen Weinbrand.

»Salut, Bruno, zeig mal deine Ausbeute.«

Vom Baron und Hercule abgeschirmt, kramte Bruno sein kleines Päckchen hervor und öffnete es so, dass nur Hercule hineinsehen konnte. Die Baskenmütze tauchte ab, und [28] Bruno konnte ihn schnuppern hören, obwohl es im Café sehr laut war.

»Nicht schlecht für brumales. Meine sind noch nicht so weit, und die Preise klettern weiter, je näher Weihnachten heranrückt. Du hast hier ungefähr zweihundertfünfzig Gramm. Ich wüsste jemanden, der sich dafür interessieren könnte. Aber lasst uns erst unser Frühstück beenden.« Er kippte seinen Cognac hinunter und bestellte drei weitere, um sie den anderen in den Kaffee zu gießen. Eine halbe Stunde später standen sie auf dem Kirchplatz und unterhielten sich mit einem renifleur, einer der Spürnasen, auch Scouts genannt, die im Auftrag mehrerer Restaurants von Bordeaux einkauften. Er benutzte eine kleine Waage, und Bruno war erfreut, als er sechs 20-Euro-Scheine ausgezahlt bekam. Einen davon bot er Hercule als Provision an, doch der winkte ab.

»Ich habe dich kommen lassen, weil wir etwas miteinander zu besprechen haben«, sagte er. »Aber schauen wir uns erst einmal auf dem Markt um. Wir sollten Präsenz zeigen.«

Im Eingang hatten sich einige Männer versammelt. Bruno erkannte seinen Kollegen aus Sainte Alvère, den Stadtpolizisten Nicco. Er war um einige Jahre älter und stand kurz vor seiner Pensionierung. Nicco stellte Bruno und den Baron seinem Bürgermeister vor, einem energiegeladenen Machertypen, der den Online-Trüffelmarkt vorangebracht und europäische Gelder für ein Pilotprojekt bekommen hatte, das Sainte Alvère zu einem Standort alternativer Energiegewinnung machen würde.

Kurz vor acht erschien ein stämmiger Mann mit einem Schlüssel in der Hand. Als er den Bürgermeister sah, legte [29] er einen Schritt zu. Es war Didier, der Geschäftsführer des Marktes. Mit aufgesetzter Freundlichkeit beeilte er sich, das Tor zu einer großen Halle aufzuschließen, die von Reihen weiß eingedeckter Tapeziertische gesäumt wurde. Eine glänzende Digitalwaage stand gut sichtbar direkt neben dem neuen Computer, der für den Onlinehandel angeschafft worden war. Drei Webcams und ein hochauflösendes Mikroskop auf einem Beistelltisch in der Ecke sollten dafür sorgen, dass keine Zweifel an der ordnungsgemäßen Bewertung der Ware aufkommen konnten.

»Ein Witz«, raunte Hercule Bruno zu. »Der eigentliche Handel hat schon draußen stattgefunden, zwischen Leuten, die sich seit Jahren kennen und keine solchen Geräte brauchen. Du wirst sehen, der renifleur macht sich nicht einmal die Mühe, einen Blick hier hereinzuwerfen. Abends kommt die übrig gebliebene Ware unter den Hammer, und ich wette, bei diesen Auktionen ist irgendwas faul.«

Hercule schlenderte um die Tische herum, auf denen die Verkäufer ihre Waren in kleinen Körben anboten. Gelegentlich beugte er sich darüber und schnupperte. »Riech mal«, sagte er. »Nicht schlecht, vielleicht sogar ein bisschen besser als deine.« Er kehrte dem Verkäufer den Rücken zu und flüsterte Bruno ins Ohr: »Er verlangt fünfzig Euro für hundert Gramm. Du hast für deine mehr rausgeschlagen und dir obendrein die Marktgebühr erspart.«

Er zupfte Bruno am Ärmel, nickte mit dem Kopf in Richtung Ausgang und führte ihn und den Baron nach draußen. Sie gingen einen Hügel hinauf, am Turm der Burgruine vorbei, deren Mauern dank einer mit Hingabe durchgeführten Reinigungsaktion erstaunlich hell geworden waren und [30] inmitten frischer Rasenflächen einen unwirklichen Anblick darboten. Hercules Hund blieb stehen und hob ein Bein am Sockel der Ruine, während sein Herrchen sportlich schnell vorausschritt und die beiden Freunde über einen Feldweg zu seinem Haus führte.

Jedes Mal, wenn Bruno Hercules Haus betrat, staunte er, wie jemand wie er, der immer wie ein Tölpel auftrat, tatsächlich lebte. Die Wände standen voller Bücherregale. In vielen Bänden steckten kleine Notizzettel und Lesezeichen, was darauf schließen ließ, dass sie häufig benutzt wurden. In den wenigen Lücken zwischen den Regalen hingen Zeichnungen und Grafiken mit fremden Schriftzeichen, die Bruno inzwischen einigermaßen unterscheiden konnte, weil Hercule ihm die Eigenarten der in Vietnam, Kambodscha, Thailand, Laos oder China verwendeten Schriftzeichen erklärt hatte.

Die Möbel waren alt, schwer und behaglich, durchweg aus dunklem, hartem Holz und vietnamesischer Herkunft, wie Bruno inzwischen wusste. Vor dem Fenster stand ein riesiger Schreibtisch voller Zeitungsausschnitte, mit einem Laptop und gerahmten Fotos einer Asiatin mit Kind sowie einigen Bildern von französischen Soldaten in altmodischen Uniformen. Der Baron nahm eines dieser Fotos zur Hand und hielt es ans Licht.

»Bab el-Oued – zu einer Zeit, als wir dort noch willkommen waren. Hier, diese Ecke am Saint-Eugène-Friedhof erkenne ich wieder«, sagte der Baron, als Bruno ihm über die Schulter schaute. »Rechts, das ist Général Massu höchstpersönlich. Die Aufnahme muss 1957 gemacht worden sein, als er den Algerienkrieg führte. – Ich wusste gar nicht, dass du [31] Massu so gut kanntest, Hercule.« Er stellte das Foto zurück und betrachtete seinen alten Freund. »Du hast doch irgendetwas auf dem Herzen. Erzähl schon.«

»Ja, es gibt da ein Problem. Ich glaube zwar nicht, dass ihr mir helfen könnt, aber ich muss es einfach loswerden.« Er ging in die Knie und zündete mit einem Streichholz das Zeitungsnest unter dem Anmachholz im Kamin an, stand wieder auf und beobachtete das Auflodern der Flammen.

»Etwas zu trinken? Kaffee?« Sie schüttelten die Köpfe. »Es ist wegen des Marktes. Da passieren merkwürdige Sachen. Einer der renifleurs – nicht der, den ihr getroffen habt – sagt, einige seiner Großkunden in Paris hätten bemerkt, dass ihnen Fälschungen angedreht worden sind, billige Chinatrüffeln und beigemischter Ausschuss, der sich allenfalls für Trüffelöl und zum Würzen gebrauchen lässt.«

»Gab’s noch keine offiziellen Beschwerden?«, fragte Bruno.

»Damit halten sich die großen Hotels zurück, weil es ihrem Ruf schaden könnte. Das sind Häuser, die für eine edle schwarze Périgord-Trüffel gut und gerne bis zu anderthalbtausend Euro zahlen. Aber wenn sie sich betrogen fühlen, werden sie nichts mehr kaufen.«

»Hast du irgendjemandem davon erzählt?«, erkundigte sich Bruno.

»Ja, dem Marktmanager Didier, doch der sagte, ich sei verrückt. Daraufhin habe ich den Bürgermeister informiert. Aber auch der hat mich abblitzen lassen mit den Worten, er habe eine Menge Geld in den Markt und eine neue Ausstattung gesteckt, die sicherstellen solle, dass so etwas nicht vorkommen könne. Nicco habe ich damit nicht behelligen [32] wollen, er steht kurz vor seiner Pensionierung. Darum wende ich mich an euch, vor allem an dich, Bruno. Du kennst dich mit Trüffeln aus und weißt, wie wichtig sie für unsere Region sind.«

»Wie könnten diese chinesischen Trüffeln hierhergekommen sein?«

»Direkt vom dreizehnten Arrondissement an der Place d’Italie in Paris, dem größten Chinesenviertel in Europa. Die Trüffeln treffen dort aus China ein, und wir sind die nächste Zwischenstation. Damit kann eine Menge Geld verdient werden, nicht zuletzt auf Kosten von Sainte Alvère. Schau, ich will dir zeigen, was ich meine.«

Hercule ging in die Küche und kehrte mit einem Tablett zurück, darauf ein Stück Käse, der nach einem Brie de Meaux aussah, ein paar Scheiben Baguette und drei kleine Karaffen, die allesamt kleine schwarze Knollen enthielten und mit Öl gefüllt waren.

»Ich möchte euch bitten, das hier zu probieren«, sagte Hercule und stellte das Tablett ab. Ein kräftiges Aroma stieg Bruno in die Nase. »Vor ein paar Tagen habe ich diesen Brie der Länge nach halbiert und ein paar Trüffelscheiben dazwischengelegt. Riecht gut, nicht wahr?« Er beschmierte drei Stückchen Brot damit und reichte je eins an Bruno und den Baron.

»Herrlich!«, schwärmte Bruno. Der gehaltvolle, cremige Käse eröffnete ihm plötzlich völlig neue Geschmacksdimensionen. Es war, als ob… Bruno suchte nach einer passenden Beschreibung und ließ seiner Phantasie freien Lauf. Es schmeckte, als sei der Käse in behüteter Umgebung aufgewachsen, als habe er studiert, promoviert, eine [33] Professorenkarriere eingeschlagen an der Seite einer liebenden Frau und wohlgeratener Kinder, und als sei er schließlich mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden, den er dann in edlen Champagner umgemünzt hatte.

»Duftet wie eine Edelnutte«, sinnierte der Baron, und Bruno fragte sich, warum Trüffeln Männer an Sex denken ließen, was jedenfalls bei ihm der Fall war. Hercule zeigte auf eine der Karaffen auf dem Tablett und sagte: »Das hier ist das Wahre, Olivenöl mit einer meiner guten schwarzen Knollen vom Vorjahr.« Er hielt es ihnen hin. »Danach probiert einmal davon. Dasselbe Öl, aber mit einer schwarzen Chinatrüffel. Könnt ihr mir sagen, worin der Unterschied besteht?«

Bruno konnte. Das Öl duftete leicht säuerlich, wie schlechter, ausgetrockneter Mutterboden. Unterschwellig war noch ein anderer Duft wahrzunehmen, der ihn an Benzin erinnerte.

»Und jetzt eine Probe von dem, was nach Paris geliefert wird. Chinesischer Import, dem ein paar Bröckchen echter Trüffeln als Geschmacksverstärker untergemischt worden sind.«

Diesmal konnte Bruno den wahren schwarzen Périgord riechen, ein Aroma, das jedoch schnell an Intensität zu verlieren schien: der gleiche holzige Geruch, aber weniger subtil und ein bisschen ranzig.

»Der erste Eindruck ist ganz gut, aber schon nach wenigen Augenblicken deutlich schwächer als mein brumale«, kommentierte er. »Irgendeine Idee, wer dahinterstecken könnte?«

Hercule zuckte mit den Achseln. »Es muss jemand vom [34] Stammpersonal sein, einer, den wir kennen und dem wir vertrauen. Es dauert, bis ein Fremder auf unserem Markt Fuß fasst.«

»Angenommen, der Bürgermeister entschließt sich, deine Bedenken ernst zu nehmen. Was könnte er unternehmen?«

»Er könnte zum Beispiel regelmäßige Stichproben vorschreiben. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass Missstände auftreten, seit es den Onlinehandel gibt. Die dort gekaufte Ware wird in Vakuumpäckchen verschickt. Aber das ganze Frachtgut zu kontrollieren würde viel Zeit, Personal und Geld kosten.«

»Und die Übeltäter bleiben unerkannt«, meinte der Baron nachdenklich.

»Ich fürchte, die Sache hat viel größere Ausmaße als bislang vermutet«, fuhr Hercule fort. »Wir haben es nicht mit irgendeinem chinesischen Händler und den üblichen Schiebereien zu tun. Oder wenn doch, lässt der vielleicht einen Versuchsballon starten, um zu sehen, wie weit er gehen kann und wie viel Geld zu verdienen ist.«

»Ob das organisierte Verbrechen dahintersteckt?«, spekulierte Bruno.

»Letztes Jahr wurden in Frankreich über fünfzig Tonnen Trüffeln geerntet und für bis zu anderthalbtausend Euro das Kilo verkauft. Ein Millionengeschäft, lukrativ genug, um auch für große Tiere attraktiv zu sein. China hat letztes Jahr Périgord-Trüffeln im Wert von über fünf Millionen Euro importiert. Noch vor drei Jahren gab es dafür dort noch keinen Markt. Es ist wie beim Cognac, wie mit allem, was exklusiv ist und darum von Chinas Neureichen begehrt wird. Inzwischen kommen in China billige chinesische [35] Trüffeln auf den Markt, denen kleine Mengen unserer Ware beigemengt werden, deklariert als französisches Produkt und entsprechend teuer. Damit wird man aber früher oder später auffliegen, und dann bricht der Markt zusammen und es gibt einen Skandal. Vor hundert Jahren wurden hier in Frankreich rund siebenhundert Tonnen geerntet, überwiegend in Kulturen gezüchtet. Die Bauern hatten nämlich gelernt, junge Bäume mit Trüffelsporen zu infizieren. Aber damit war es nach dem Ersten Weltkrieg vorbei. Habt ihr je von Escoffiers berühmtem Rezept für Salade Jockey-Club gehört, zubereitet aus Hühnerfleisch, Spargel und Trüffeln zu je gleichen Teilen? So etwas könnte sich heute niemand leisten. Aber jetzt werden solche Kulturen wieder betrieben, seit es dem Spanier Arotzarena in Navaleno gelungen ist, zehn bis zwanzig Tonnen im Jahr zu produzieren.«

»Ich kann mich daran erinnern, dass der alte Pons vor ein paar Jahren hier bei uns Trüffeln zu züchten versucht hat«, sagte der Baron. »Dann aber gab es diesen Rechtsstreit um sein Sägewerk, und er brauchte schnell Geld. Er ließ die Bäume fällen und verlor ein Vermögen.«

»Jetzt geht’s ihm offenbar wieder besser, denn er versucht es mit einer neuen Kultur«, sagte Hercule. »Und er ist nicht der Einzige. Deshalb hat der Bürgermeister für die neue Markthalle gesorgt. In solchen Kulturen können bis zu zweihundert Kilo Trüffeln pro Hektar produziert werden, was sehr viel mehr Geld einbringt als die achthundert Euro, die für einen Hektar Weizen rausspringen. Vorausgesetzt, der Markt wird nicht durch Betrügereien ruiniert.«

»Was würde passieren, wenn sich eines dieser Pariser Hotels offiziell beschweren würde?«, fragte Bruno.

[36] »Dann hätte der Bürgermeister ein Problem. Mit eurer Hilfe könnte ich versuchen, ihn zur Räson zu bringen, auch auf die Gefahr hin, dass er mich für unzurechnungsfähig hält.«

»Wer würde so etwas wagen?«, fragte der Baron mit Blick auf Hercules Croix de Guerre, das in der Ecke neben dem Schreibtisch an der Wand hing, gleich unter der Urkunde seiner Mitgliedschaft in der Légion d’honneur.

»Ich habe mir das folgendermaßen vorgestellt«, fuhr Hercule fort. »Ich werde unseren Bürgermeister vor die Wahl stellen, entweder die Polizei einzuschalten oder einen Wachdienst zu beauftragen. Dann schlage ich ihm vor, dich, Bruno, zu Rate zu ziehen als jemanden, der sich mit Trüffeln auskennt und unabhängig ist, weil er hier in Sainte Alvère als Polizist nichts zu melden hat. Du bist ideal dafür.«

»Wir bräuchten eine Beschwerde oder besser noch: die schriftliche Aufforderung eines dieser Großkunden, Nachforschungen anzustellen, irgendetwas, was den Bürgermeister zu einer Entscheidung zwingen würde«, sagte Bruno. »Ruf deinen renifleur an, sorg dafür, dass ein solcher Brief an den Bürgermeister abgeschickt wird, und schlag ihm vor, telefonisch bei mir anzufragen, ob ich für diskrete Ermittlungen zur Verfügung stehe.«

»Wer dann wirklich ein Problem hätte, wäre Didier, der Marktmanager«, warnte Hercule. »Dem Kerl ist nicht zu trauen.«

»Scheint aber doch ein ganz beflissener Typ zu sein«, sagte Bruno in Erinnerung an den Mann, der im Laufschritt herbeigeeilt war, um dem ungeduldig wartenden [37] Bürgermeister die Markthalle aufzuschließen. »Wie könnte das chinesische Zeug an ihm vorbeigekommen sein?«

»Auf diesem neuen Internetmarkt muss alles hopplahopp gehen«, antwortete Hercule. »Aber Didier ist beileibe nicht der Schnellste. Er hat früher Pons’ Trüffelkultur beaufsichtigt und diesen Job nur deshalb bekommen, weil seine Frau Pons’ Cousine ist. Als die Bäume dann verkauft werden mussten und er arbeitslos wurde, bekam er die Stelle auf dem neuen Markt. Der Mann seiner Schwester ist mit der Frau des Bürgermeisters verwandt.«

Bruno nickte. In dieser Gegend lief alles nur über Familienbeziehungen, wie wahrscheinlich überall auf der Welt. Und der Bürgermeister würde wahrscheinlich gern helfen wollen, denn wenn er die Gemeinde von Sainte Alvère unterstützte, könnte er sich durchaus Hoffnungen machen, zum Vorsitzenden des Conseil Régional gewählt zu werden.

»Nun zu angenehmeren Dingen«, sagte Hercule. »Ich bin an der Reihe, die Jagd auszurichten. Wann ist dein nächster freier Tag, Bruno?«

»Donnerstag.«

»Ich hätte Lust auf Rehfleisch in diesem Winter, und die Jagdsaison ist eröffnet. Im Revier stehen etliche Ricken und auch ein paar bécasses. Das müsste dir doch gefallen.«

»Ich werde etwas später kommen, vielleicht gegen zehn. Der Bürgermeister will kein Geld für ein neues Polizeiauto lockermachen, und ich muss das alte reparieren lassen, zumal die contrôle technique fällig ist.«

»Donnerstag um zehn ist gut. Ich werde schon früher hinausfahren und mich ein wenig umsehen. Wir treffen uns dann am Hochsitz am Forstweg nach Paunat.«

[38] Der Baron trat vor den Schreibtisch und nahm wieder das Foto von – wie hieß der Ort noch gleich? – Bab el-Oued in die Hand.

»Was hat es damit auf sich?«, fragte Bruno.

»Das ist ein Stadtteil von Algier, nach dem die pieds-noirs genannt wurden, die dort wohnten, französische Siedler, die zumeist arm waren und nach dem verlorenen Krieg nach Frankreich fliehen mussten. Sie wollten, dass Algerien französisch bleibt, und bildeten den Kern der OAS, als de Gaulle beschloss, die Kolonie aufzugeben. Wie viele andere Kameraden habe ich dort einige sehr nette junge Frauen kennengelernt.« Der Baron blickte versonnen ins Kaminfeuer.

»Das war alles vor meiner Geburt«, sagte Bruno, der aber genug Geschichtsbücher gelesen hatte, um in groben Zügen über den Algerienkrieg Bescheid zu wissen. »Sooft ich im Citroën des Barons mitfahre, erzählt er mir, wie das Auto de Gaulles Leben gerettet hat, als die OAS versuchte, ihn zu ermorden.«

»Ja, und nicht nur das«, knurrte Hercule. »Wir standen verdammt kurz vor einem Militärputsch, damals 1961, mit der Hälfte der Armee auf deren Seite. Sie nahmen Algier ein, und es hieß, dass sie mit Fallschirmen über Paris abspringen wollten. De Gaulle ließ die Mittelmeerküste von den Luftstreitkräften kontrollieren und gab den Befehl aus, jedes Transportflugzeug in Richtung Norden abzuschießen. Der Baron war einer der wenigen seiner Einheit, die nicht zur OAS übergelaufen sind.«

»Wärt ihr immer noch Freunde, wenn er es getan hätte?«

»Ganz sicher nicht«, sagte Hercule. »Ich hätte ihn abgeknallt wie einen räudigen Hund.«

[39] 3

Pamela steuerte ihren 2 CV durch das Tor und auf die neu angelegte Zufahrt zum Restaurant. Bei dessen Anblick stieß Bruno unwillkürlich einen bewundernden Pfiff aus. Er versuchte zu überschlagen, wie viel Geld in diesen ehemals verlassenen alten Bauernhof gesteckt worden war. Er lag in einem abgelegenen Winkel der Gemeinde von Saint-Denis, etwa acht Kilometer von der Stadt entfernt, oben auf einem Höhenzug, der den Blick auf den Fluss und die Straße nach Les Eyzies freigab. Frisch gepflanzte Obstbäume bildeten eine Allee bis zu einem großen, alten steinernen Torbogen, der den Eingang zum Hof bildete. Daneben stand ein großes, hell angestrahltes Schild, auf dem in weißen schnörkeligen Buchstaben vor grünem Hintergrund L’Auberge des Verts zu lesen war.