Schwarze Hunde - Ian McEwan - E-Book

Schwarze Hunde E-Book

Ian McEwan

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Beschreibung

Ein englisches Paar auf der Hochzeitsreise: Inmitten der Naturschönheiten Südfrankreichs begegnen June zwei gräßliche Hunde, die sie nie mehr vergessen wird. Bernard kann ihre aufgewühlten Gefühle nicht verstehen. Die Wege der Jungvermählten beginnen sich zu trennen ... McEwan, der Erkunder der dunklen Seite des Menschen, umkreist in Schwarze Hunde das Abgründige mit einer an Conrad erinnernden Meisterschaft.

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Seitenzahl: 252

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Ian McEwan

Schwarze Hunde

Roman

Aus dem Englischen vonHans-Christian Oeser

Titel der 1992 bei Jonathan Cape, London,

erschienenen Originalausgabe: ›Black Dogs‹

Copyright © 1992 by Ian McEwan

Die deutsche Erstausgabe erschien 1994

im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto: Copyright © Image Source/Alamy Stock Photo

Art Direction: VBR design. Random House, UK

Mit freundlicher Genehmigung

Für Jon Cook,

der sie ebenfalls gesehen hat

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22818 2 (7.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60327 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] In diesen Zeiten weiß ich im Grunde genommen nicht, was ich will; vielleicht will ich nicht, was ich weiß, und will, was ich nicht weiß.

Marsilio Ficino, Brief an Giovanni Cavalcanti, um 1475

[7] Inhalt

Vorrede  [9]

  I  Wiltshire  [27]

 II  Berlin  [83]

III  Majdanek. Les Salces.

St.-Maurice-de-Navacelles 1989  [131]

IV  St.-Maurice-de-Navacelles 1946  [173]

[9] Vorrede

Seit ich, mit acht Jahren, meine bei einem Autounglück verloren habe, richtet sich mein Augenmerk auf anderer Leute Eltern. Das war besonders während meiner Teenagerjahre so, als viele meiner Freunde ihre Angehörigen gerade fallenließen und ich davon profitierte, indem ich sie, vereinsamt, wie abgelegte Kleidungsstücke übernahm. In unserer Nachbarschaft herrschte kein Mangel an leicht deprimierten Vätern und Müttern, die nur allzu froh waren, wenigstens einen Siebzehnjährigen um sich zu haben, der ihre Scherze, ihre Ratschläge und Kochkünste, ja sogar ihr Geld zu schätzen wußte. Zur gleichen Zeit war ich selbst eine Art Vater. Die unmittelbare Umgebung, in der ich damals lebte, bildete die neue und schon zerrüttete Ehe meiner Schwester Jean mit einem Mann namens Harper. Mein Schützling, meine Vertraute in diesem unglücklichen Haushalt war meine dreijährige Nichte Sally, Jeans einziges Kind. Die ständigen Wutausbrüche und Wiederversöhnungen, die durch die große Wohnung tobten – Jean war die Hälfte des elterlichen Vermögens zugefallen, meine Hälfte wurde treuhänderisch verwaltet –, drängten Sally an den Rand. Natürlich identifizierte ich mich mit dem vernachlässigten Kind, und so verkrochen wir uns mit ihren Spielsachen und meinen Schallplatten regelmäßig in ein großes Zimmer mit Blick auf den Garten oder igelten uns in einer winzigen Küche ein, wann immer [10] es sich durch die Kämpfe um uns her verbot, den Kopf zur Tür herauszustrecken.

Sally zu betreuen tat mir gut. Ich mußte ein Vorbild für sie sein, und das lenkte mich von meinen eigenen Problemen ab. Zwei weitere Jahrzehnte sollten vergehen, bis ich mich anderswo wieder so heimisch fühlte wie damals. Am meisten genoß ich die Abende, wenn Jean und Harper außer Haus waren, vor allem im Sommer, wenn ich Sally vorlas, bis sie einschlief, und anschließend meine Hausaufgaben an dem großen Tisch vor der offenen Terrassentür erledigte, die auf den süßen Duft von Abendlevkoje und Straßenstaub ging. An der Beamish, einer Paukschule in Elgin Crescent, die sich Academy schimpfte, bereitete ich mich auf die Schulabschlußprüfung vor. Wenn ich von meiner Arbeit aufblickte und hinter mir im Dämmerlicht Sally auf dem Rücken liegen sah, Laken und Teddybären bis ans Fußende weggeschoben, Arme und Beine weit von sich gestreckt, in einer Haltung, die mir wie völlig unangebrachtes Vertrauen in das Wohlwollen ihrer Umwelt vorkam, dann schnürte sich mir das Herz zusammen, und ich wurde von einem heftigen und schmerzlichen Verlangen erfüllt, sie zu beschützen – und ich bin mir sicher, daß ich nur aus diesem Grunde selbst vier Kinder habe. Ich habe nie daran gezweifelt: In gewisser Hinsicht bleibt man sein Leben lang Waise; und Kinder zu umsorgen ist eine Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen.

Jean platzte immer überraschend ins Zimmer, getrieben von Schuldgefühlen oder einem Überschwang an Liebe, wenn sie mit Harper Frieden geschlossen hatte, und trug Sally mit Gurrlauten, Umarmungen und wertlosen Versprechungen zu ihrem Ende der Wohnung fort. Dann [11] ergriff unweigerlich eine Schwärze, das hohle Gefühl der Nichtzugehörigkeit, von mir Besitz. Statt mich im Haus herumzutreiben oder fernzusehen wie andere Jugendliche auch, schlich ich mich in die Nacht hinaus, den Ladbroke Grove entlang, zu dem Haushalt, der mich gerade am herzlichsten empfing. Was ich nach mehr als fünfundzwanzig Jahren noch vor mir sehe, sind blasse, mit Stuck verzierte Villen, vielleicht am Powis Square, einige mit abbröckelndem Putz, andere makellos gepflegt, und ein gelber, warmer Lichtschein von der geöffneten Haustür, der in der Dunkelheit einen bleichgesichtigen Halbwüchsigen offenbart, wie er, schon jetzt 1,80 groß, mit seinen City Boots scharrt. Oh, guten Abend, Mrs.Langley. Ich hoffe, ich störe nicht. Ist Toby da?

Wie vorherzusehen, ist Toby bei einer seiner Freundinnen oder mit Freunden im Pub, und unter Entschuldigungen trete ich den Rückzug über die Portaltreppe an, bis Mrs.Langley mich zurückruft: »Jeremy, möchtest du nicht trotzdem hereinschauen? Komm schon, trink ein Gläschen mit uns alten Langeweilern. Ich weiß, Tom wird sich freuen, dich zu sehen.«

Pflichtschuldiges Zögern, und schon ist das 1,80 große Kuckucksei im Nest, gelangt durch die Eingangshalle in ein riesiges, mit Büchern vollgestopftes Zimmer mit syrischen Dolchen, einer Schamanenmaske und einem Blasrohr aus dem Amazonas-Gebiet mit in Kurare getunkten Pfeilspitzen. Hier sitzt Tobys Vater, dreiundvierzig Jahre alt, unter einer Lampe und liest am offenen Fenster Proust, Thukydides oder Heine im Original. Lächelnd erhebt er sich und streckt die Hand aus.

[12] »Jeremy! Wie schön, dich zu sehen! Trink einen Scotch mit mir. Setz dich dort hinüber und hör zu, sag mir, was du darüber denkst.«

Und begierig, mich in ein Gespräch zu verwickeln, das auf meine Schulfächer (Französisch, Geschichte, Englisch, Latein) Bezug hat, blättert er ein paar Seiten zurück zu einem ehrfurchtgebietenden Satzgefüge aus Im Schatten junger Mädchenblüte, und ich, ebenso begierig, mich aufzuspielen und akzeptiert zu werden, nehme die Herausforderung an. Gutgelaunt verbessert er mich, später ziehen wir vielleicht Scott-Moncrieff zu Rate, und Mrs.Langley kommt mit Sandwiches und Tee herein, und sie erkundigen sich nach Sally und wollen das Neueste über Harper und Jean erfahren, denen sie nie begegnet sind.

Tom Langley war Diplomat im Auswärtigen Amt und nach drei Auslandsposten nach Whitehall versetzt worden. Brenda Langley sah nach ihrem schönen Haus und gab Cembalo- und Klavierstunden. Wie viele Eltern meiner Freunde von der Beamish Academy waren sie wohlhabend und gebildet. Was für eine erlesene, erstrebenswerte Kombination mich das dünkte, der ich aus Verhältnissen mit mittlerem Einkommen und ohne Bücher stammte!

Toby Langley dagegen wußte seine Eltern gar nicht zu würdigen. Ihre Kultiviertheit, ihre intellektuelle Neugier und Aufgeschlossenheit, sein geräumiges, wohlgeordnetes Zuhause und seine abwechslungsreiche Kindheit im Nahen Osten, in Kenia und Venezuela langweilten ihn. Halbherzig bereitete er sich auf zwei Abschlußfächer (Mathematik und Kunst) vor und gab zu verstehen, daß er nicht auf die Universität gehen wolle. Er hatte Umgang mit [13] Freunden aus den neuen Hochhäusern um Shepherd’s Bush, seine Freundinnen waren Kellnerinnen und Verkäuferinnen mit klebrigen, toupierten Hochfrisuren. Er beschwor Chaos und Ärger herauf, indem er mit mehreren Mädchen gleichzeitig ausging. Er hatte sich eine alberne Ausdrucksweise mit verkehrter Aussprache und billigen Redewendungen zurechtgelegt, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Da er mein Freund war, sagte ich nichts, aber er erregte mein Mißfallen.

Ich gab zwar weiterhin vor, Toby besuchen zu wollen, auch wenn er gerade ausgegangen war, wurde aber in Powis Square stets willkommen geheißen, und Mrs.Langley machte mit Hilfe von Formeln wie »Du kannst ebensogut auch hereinkommen« gemeinsame Sache. Manchmal wurde ich als Eingeweihter gebeten, meine Ansicht zu Tobys Widerspenstigkeit darzulegen, und treulos und selbstgefällig schwatzte ich etwas von Tobys notwendiger »Selbstfindung« daher. Ähnlich richtete ich mich im Hause Silversmith ein, beide, Mann und Frau, Psychoanalytiker, Neofreudianer mit erstaunlichen Ansichten über Sex – und einem mit Delikatessen vollgestopften Kühlschrank amerikanischen Zuschnitts. Ihre drei Teenager, zwei Mädchen und ein Junge, waren irrwitzige Rüpel, die in Kensal Rise eine Bande von Ladendieben und Erpressern anführten. Auch in dem großen, unaufgeräumten Haus meines Freundes Joseph Nugent, ebenfalls von der Beamish Academy, fühlte ich mich wohl. Sein Vater war Ozeanograph, der Expeditionen zu den unerforschten Meeresböden der Welt leitete, seine Mutter die erste Kolumnistin des Daily Telegraph, aber Joe fand seine [14] Eltern unglaublich langweilig und zog eine Clique von Jungs aus Notting Hill vor, die sich am wohlsten fühlten, wenn sie abends die zahlreichen Scheinwerfer ihrer Lambrettas polieren konnten.

Wirkten alle diese Eltern auf mich nur deshalb so anziehend, weil es nicht meine waren? Diese Frage konnte ich beim besten Willen nicht mit Ja beantworten, denn sie waren unbestreitbar einfach liebenswert. Sie faszinierten mich, ich lernte von ihnen. Bei den Langleys erfuhr ich etwas von Opferriten in der arabischen Wüste, besserte meine Latein- und Französischkenntnisse auf und lauschte zum erstenmal den Goldberg-Variationen. Bei den Silversmiths hörte ich von polymorpher Perversion reden, die Geschichten von Dora, dem kleinen Hans und dem Wolfsmann bewegten mich, und ich aß Räucherlachs, Bagel mit Rahmkäse, Latke und Borschtsch. Bei den Nugents klärte mich Janet über den Profumo-Skandal auf und überredete mich dazu, Kurzschrift zu lernen; einmal ahmte ihr Mann einen Caissonkranken nach. Diese Leute behandelten mich wie einen Erwachsenen. Sie schenkten mir Drinks ein, boten mir von ihren Zigaretten an und fragten mich nach meiner Meinung. Sie waren alle in den Vierzigern, tolerant, ungezwungen, energisch. Cy Silversmith brachte mir Tennis bei. Wenn (ja wenn doch nur) eines dieser Paare meine Eltern gewesen wären, hätte ich sie, dessen war ich mir sicher, noch mehr gemocht.

Wenn aber meine Eltern noch am Leben gewesen wären, hätte ich mich dann nicht von ihnen losgesagt, so wie alle anderen auch? Wieder konnte ich nicht mit Ja antworten. Was meine Freunde erstrebten, schien mir das genaue [15] Gegenteil von Freiheit, ein masochistischer Vorstoß in Richtung sozialer Abstieg. Und es ärgerte mich, wie leicht vorherzusagen war, daß meine Altersgenossen, allen voran Toby und Jo, meine häusliche Szene als wahres Paradies ansahen: den stinkenden Hexensabbat unserer ungereinigten Wohnung, den zügellosen Gin-Genuß am späten Vormittag, meine betörende, kettenrauchende Schwester, ein Jean Harlow-Double, eine der ersten in ihrer Generation, die einen Minirock trug, das Erwachsenendrama ihrer Hammerschlag- und Peitschenhiebehe und den sadistischen Harper, den Lederfetischisten mit seinen knotigen Unterarmen, auf denen in Rot und Schwarz daherstolzierende Hähne eintätowiert waren, und niemand, der an der Unordnung in meinem Zimmer, an meiner Kleidung, meiner Ernährung oder Herumtreiberei Anstoß genommen hätte, sich aufregte über meine Schularbeiten oder Berufsaussichten oder meine geistige und körperliche Gesundheit. Was wollte ich noch mehr? Nichts, außer, hätten sie hinzugefügt, das Gör loszuwerden, das dauernd herumlungerte.

Die Symmetrie unserer jeweiligen Entfremdung ging so weit, daß Toby eines Abends im Winter bei mir zu Hause war und so tat, als entspanne er sich im Schmutz unserer eisig kalten Küche, Zigaretten rauchte und versuchte, Jean zu beeindrucken, die ihn und seine vulgäre Ausdrucksweise zugegebenermaßen verabscheute – während ich mich bei ihm zu Hause aufhielt, bequem auf dem Polstersofa vor dem offenen Kamin saß, ein wärmendes Glas Malt Whisky in der Hand, das mir sein Vater eingeschenkt hatte, unter meinen unbeschuhten Füßen den [16] wunderschönen Buchara, den Toby als ein Symbol kultureller Vergewaltigung abtat, und Tom Langleys Schilderung einer hochgiftigen Spinne und des Todeskampfes eines gewissen dritten Sekretärs auf dem ersten Treppenabsatz der britischen Botschaft in Caracas lauschte. Durch die offenen Türen hörten wir Brenda einen von Scott Joplins flotten, synkopierten Ragtimes spielen, die damals gerade wiederentdeckt wurden und noch nicht zu Tode geritten waren.

Ich weiß, daß vieles von dem Vorstehenden gegen mich spricht, daß Tobys aussichtsloses Werben um eine schöne, verrückte, für ihn unerreichbare junge Frau ebenso einen gesunden Appetit auf das Leben verrät wie seine, Joes und der Silversmiths Streifzüge in die Nachbarschaft, daß die Schwärmerei eines Siebzehnjährigen für Komfort und Konversation mit Älteren auf ein träges Gemüt hindeutet; und daß ich hier und da bei der Schilderung dieses Lebensabschnitts unbewußt nicht nur die überlegene, spöttische Haltung meines Halbwüchsigen-Ichs nachgeahmt habe, sondern auch den eher förmlichen, distanzierten, weitschweifigen Ton, dessen ich mich früher befleißigte und den ich mir mehr schlecht als recht bei meiner kärglichen Proust-Lektüre angeeignet hatte, wodurch ich mich der Welt als Intellektueller offenbaren wollte. Das einzige, was ich zugunsten meines jüngeren Ichs ins Feld führen kann, ist, daß ich meine Eltern, auch wenn ich mir dessen zu der Zeit kaum bewußt war, furchtbar vermißte. Ich brauchte einen Schutzpanzer. Geschwollenheit war eine Möglichkeit, eine weitere die Verachtung, die ich für die Unternehmungen meiner Freunde hegte. Diese konnten frei [17] umherschweifen, denn sie waren geborgen; ich bedurfte des häuslichen Herds, den sie verlassen hatten.

Ich war bereit, ohne Mädchen auszukommen, auch weil ich fürchtete, sie würden mich von meiner Arbeit ablenken. Zu Recht unterstellte ich, daß der sicherste Ausweg aus meiner Lage – worunter ich mein Zusammenleben mit Jean und Harper verstand – ein Universitätsstudium sei, und dafür benötigte ich meinen Schulabschluß. Ich paukte fanatisch, schon lange vor der eigentlichen Prüfungsvorbereitung zwei, drei, ja vier Stunden am Abend. Ein weiterer Grund für meine Verzagtheit bestand darin, daß die ersten Gehversuche meiner Schwester in dieser Richtung, als ich elf und sie fünfzehn war und wir bei unserer Tante wohnten, so geräuschvoll erfolgreich gewesen waren, daß sie einschüchternd wirkten: Durch das Schlafzimmer, das wir angeblich gemeinsam bewohnten (schließlich warf unsere Tante uns beide hinaus), zog eine Horde gesichtsloser Männer. Bei der Zuteilung von Erfahrungen und Fähigkeiten, die zwischen Geschwistern vor sich geht, hatte Jean – um Kafkas Formulierung abzuwandeln – ihre schönen Glieder über meine Weltkarte gespreizt und das mit dem Wort »Sex« bezeichnete Territorium verdeckt, so daß ich gezwungen war, zu anderen Gestaden zu segeln – unbekannten Inselchen namens Catullus, Proust und Powis Square.

Und außerdem hatte ich mein Herz ja Sally geschenkt. Ihr gegenüber fühlte ich mich verantwortlich und unverletzt, sonst brauchte ich niemanden.

Sie war ein blasses kleines Mädchen. Keiner ging mit ihr an die frische Luft; wenn ich von der Schule nach Hause [18] kam, war mir nie danach, und Jean lag überhaupt nichts daran, aus dem Haus zu gehen. Die meiste Zeit spielte ich mit Sally im großen Zimmer. Sie hatte das herrische Gebaren dreijähriger Mädchen: »Nicht auf den Stuhl! Komm zu mir auf den Boden!« Wir spielten Krankenhaus oder Kleinfamilie, Sich-im-Wald-Verirren oder In-ferne-Länder-Segeln. Atemlos fabulierte Sally drauflos: wo wir uns gerade befänden, was wir vorhätten, wie wir uns plötzlich verwandelten. »Du bist kein Ungeheuer mehr, du bist ein König!« Dann hörten wir vielleicht vom anderen Ende der Wohnung einen Wutschrei von Harper, gefolgt von einem Schmerzensruf Jeans, und Sally zog eine vollendete kleine Erwachsenengrimasse mit einem wunderbar aufeinander abgestimmten Wimpernklimpern und Achselzucken und sagte in den melodisch reinen Tönen einer Stimme, die von der Grammatik noch nicht gegängelt worden ist: »Mummy und Daddy! Was sind sie nur wieder für solche dumme Gänschen!«

Und das waren sie in der Tat. Harper war Wachmann und behauptete, einen Fernstudienabschluß in Anthropologie anzustreben. Jean hatte ihn geheiratet, als sie eben zwanzig war und Sally achtzehn Monate alt. Im folgenden Jahr, als Jean ihr Erbe ausbezahlt bekam, kaufte sie sich die Wohnung und lebte vom Rest des Geldes. Harper gab seine Stellung auf, und die beiden lungerten den ganzen Tag herum, tranken, stritten und vertrugen sich wieder. Harper verstand sich auf Gewalt. Es gab Zeiten, da ich voller Unruhe die rote Backe oder die geschwollene Lippe meiner Schwester betrachtete und mich auf einen vagen männlichen Verhaltenskodex besann, der von mir verlangte, daß [19] ich meinen Schwager in die Schranken wies und ihre Ehre verteidigte. Es gab jedoch auch Zeiten, da ich in die Küche ging und Jean am Tisch sitzen sah, wie sie rauchend in einer Illustrierten las, während Harper, nackt bis auf seinen purpurroten Slip, ein halbes Dutzend hellroter Striemen auf dem Hintern, am Spültisch stand und ergeben den Abwasch besorgte. Ich gestehe gern, daß das mein Fassungsvermögen überstieg, ich zog mich ins große Zimmer zurück, zu den Spielen mit Sally, die ich verstand.

Ich werde nie begreifen, weshalb ich nicht wußte oder auch nur erriet, daß sich Jeans und Harpers Gewalttätigkeit auch auf meine Nichte erstreckte. Daß Sally zwanzig Jahre verstreichen ließ, bevor sie sich jemandem eröffnete, beweist, wie sehr Leid ein Kind isolieren kann. Damals wußte ich noch nicht, wie Erwachsene über Kinder herfallen, und vielleicht hätte ich es auch nicht wissen wollen; ich würde bald ausziehen, und meine Schuldgefühle nahmen bereits zu. Am Ende jenes Sommers, kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, war Harper endgültig ausgezogen, ich hatte mein Abschlußzeugnis in der Tasche und einen Studienplatz in Oxford. Einen Monat später, als ich meine Bücher und Platten aus der Wohnung zum Lieferwagen eines Freundes trug, hätte ich überglücklich sein müssen; mein Zweijahresplan hatte funktioniert, ich war draußen, ich war frei. Doch Sallys hartnäckige, argwöhnische Fragen, mit denen sie mich zwischen unserem Zimmer und dem Bürgersteig verfolgte, liefen auf den Vorwurf des Verrats hinaus: »Wo gehst du hin? Warum gehst du fort? Wann kommst du wieder?« Auf diese letzte Frage kam sie, meine Ausflüchte und mein beklommenes [20] Schweigen durchschauend, immer wieder zurück. Und als sie glaubte, mich mit dem so keck, so optimistisch geäußerten Vorschlag, statt dessen In-ferne-Länder-Segeln zu spielen, zurücklocken und von einem Geschichtsstudium ablenken zu können, warf ich meinen Armvoll Bücher hin, rannte hinaus zum Lieferwagen, setzte mich auf den Beifahrersitz und weinte. Ich glaubte, nur allzu gut zu wissen, wie ihr zumute war oder sein würde; es war fast Mittag, und Jean schlief noch ihren Gin- und Pillenrausch aus, mit dem sie sich über Harpers Weggang hinwegtröstete. Gewiß würde ich sie vor meiner Abfahrt wecken, aber in mancher wichtigen Beziehung war Sally allein. Und allein ist sie auch heute noch.

Weder Sally noch Jean noch Harper sollten in meinem folgenden Leben noch eine Rolle spielen. Auch die Langleys nicht, die Nugents oder Silversmiths. Ich ließ sie alle hinter mir. Meine Schuld, mein Verrat erlaubten mir nicht, nach Notting Hill zurückzukehren, nicht einmal auf ein Wochenende. Einen zweiten Abschied von Sally hätte ich nicht ertragen. Der Gedanke, daß ich ihr den gleichen Verlust zufügte, den ich selbst erlitten hatte, verstärkte meine Einsamkeit und entwertete die Begeisterung über mein erstes Trimester. Ich wurde ein leicht depressiver Student, einer jener langweiligen Typen, die für ihre Altersgenossen Luft sind und anscheinend von den Naturgesetzen selbst daran gehindert werden, Freundschaften zu schließen. Ich flüchtete mich an den nächsten häuslichen Herd. Dieser befand sich in Nord-Oxford und gehörte einem väterlichen Tutor und seiner Frau. Eine kurze Weile glänzte ich [21] dort, und einige Leute sprachen mir Klugheit zu. Doch das hinderte mich nicht daran, mich zuerst von Nord-Oxford und danach, in meinem vierten Trimester, von der Universität selbst abzuwenden. Noch Jahre darauf trennte ich mich von allem immer gleich wieder – von Adressen, Stellen, Freunden, Geliebten. Mitunter gelang es mir, mein unauslöschliches Gefühl, als Kind nirgendwo dazugehört zu haben, dadurch zu betäuben, daß ich mich mit den Eltern von irgend jemandem anfreundete. Ich wurde hereingebeten, zu neuem Leben erweckt und ging wieder fort.

Dieser traurige Irrsinn endete infolge meiner Heirat mit Jenny Tremaine, als ich Mitte dreißig war. Mein Leben begann. Liebe, um Sylvia Plaths Wendung zu borgen, brachte mich auf Trab. Ich fand endgültig zum Leben, oder eher: das Leben fand zu mir. Meine Erfahrung mit Sally hätte mich lehren sollen, daß die einfachste Art, einen verschwundenen Elternteil zu ersetzen, darin besteht, selbst Vater oder Mutter zu werden; daß es, um dem verwaisten Kind in uns beizustehen, keinen besseren Weg gab, als eigene Kinder zu haben, die man lieben konnte. Doch ausgerechnet als ich keiner Eltern mehr bedurfte, legte ich mir welche zu, in Gestalt meiner Schwiegereltern June und Bernard Tremaine. Nur der häusliche Herd fehlte dabei. Als ich sie kennenlernte, lebten sie in verschiedenen Ländern und verkehrten kaum miteinander. June hatte sich seit längerem auf einen entlegenen Hügel in Südfrankreich zurückgezogen und sollte wenig später schwer erkranken. Bernard war noch immer eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens und bewirtete alle seine Gäste in Restaurants. Sie sahen ihre Kinder nur selten. Jenny und ihre [22] beiden Brüder wiederum hatten alle Hoffnung auf ihre Eltern aufgegeben.

Lebenslange Gewohnheiten lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen ablegen. Zu Jennys Verdruß bestand ich auf einer Freundschaft mit June und Bernard. In Gesprächen mit ihnen, die sich über mehrere Jahre erstreckten, wurde mir bewußt, daß das emotionale Vakuum, das Gefühl der Zugehörigkeit zu nichts und niemandem, das mich zwischen meinem achten und siebenunddreißigsten Lebensjahr gequält hatte, tiefgreifende geistige Konsequenzen mit sich brachte: Ich hatte keine Bindungen, ich glaubte an nichts. Nicht daß ich ein Zweifler gewesen wäre, daß sich mein neugieriger Verstand mit zweckdienlicher Skepsis gewappnet, oder ich Argumente immer um und um gewendet hätte; nein, es gab nur einfach keine gute Sache, kein dauerhaftes Prinzip, keine fundamentale Idee, mit denen ich mich identifizieren konnte, keine transzendente Instanz, zu deren Vorhandensein ich mich rückhaltlos, leidenschaftlich oder gelassen bekennen konnte.

Anders June und Bernard. Sie begannen gemeinsam als Kommunisten, erst später gingen sie ihre getrennten Wege. Aber ihre Glaubensfähigkeit, ihr Hunger nach einer Überzeugung nahm nie ab. Bernard war ein begabter Entomologe: Sein ganzes Leben blieb er dem Entdeckerrausch und den begrenzten Gewißheiten der Naturwissenschaft verpflichtet; als er die kommunistische Linie nicht mehr vertreten konnte, setzte er sich während dreißig Jahren für zahlreiche soziale und politische Reformprogramme ein. June fand 1946 zu Gott, nach einer Begegnung mit dem Bösen in Gestalt zweier Hunde. (Bernard fand diese [23] Deutung des Vorfalls fast zu peinlich, um darüber zu reden.) Ein Prinzip des Bösen, als einer Macht, die von Zeit zu Zeit vorprescht, um das Leben von Individuen oder Nationen zu beherrschen und zu zerstören, sich dann zurückzieht, um die nächste Gelegenheit abzuwarten – von hier war es für June nur ein kleiner Schritt zu einem lichten, ebenso starken Geist, gütig und allmächtig, der in uns wohnte und uns allen zugänglich war; vielleicht nicht so sehr ein Schritt als vielmehr eine jäh aufleuchtende Erkenntnis. Beide Prinzipien aber empfand sie als unvereinbar mit dem Materialismus ihrer politischen Position, und so trat sie denn aus der Partei aus.

Ob Junes schwarze Hunde als aussagekräftiges Symbol, als griffiger Slogan, als Beweis ihrer Leichtgläubigkeit oder als Manifestation einer wirklich bestehenden Macht anzusehen sind, vermag ich nicht zu sagen. In diesen biographischen Versuch habe ich gewisse Vorfälle aus meinem eigenen Leben – in Berlin, Majdanek, Les Salces und St.-Maurice-de-Navacelles – eingearbeitet, die Bernards und Junes Deutungsweise gleichermaßen zulassen. Rationalist und Mystikerin, Kommissar und Yogi, Vereinsmeier und Eigenbrötlerin, Wissenschaftler und Intuitive – Bernard und June bilden die Gegensätze, die beiden Pole, zwischen denen mein eigener Unglaube hin und her schwankt und nie zur Ruhe gelangt. Wenn ich mit Bernard zusammen war, spürte ich, daß in seiner Weltauffassung etwas fehlte, und daß June den Schlüssel dazu besaß. Die Selbstgewißheit seines Skeptizismus, seines unerschütterlichen Atheismus machte mich mißtrauisch; sie war zu arrogant, es war zuviel Selbstabschottung dabei, zuviel [24] Selbstverleugnung. In Gesprächen mit June hingegen stellte ich fest, daß ich wie Bernard dachte; ich fühlte mich erstickt von ihren Glaubensbekundungen und irritiert von der unausgesprochenen Annahme aller Gläubigen, daß sie gut sind, weil sie glauben, was sie glauben, daß Glaube tugendhaft ist und damit jeder Unglaube unwürdig oder bestenfalls mitleiderregend.

Wenn man sagt, rationales Denken und spirituelle Einsicht gehörten eben verschiedenen Domänen an und der Gegensatz zwischen ihnen sei konstruiert, so löst man die Frage nicht. Bernard und June sprachen oft zu mir von Ideen, die miteinander unvereinbar waren. Bernard etwa war überzeugt, daß menschliche Angelegenheiten oder Schicksale keine andere Verlaufsrichtung, kein anderes Muster zuließen als dasjenige, welches der menschliche Geist ihnen aufprägte. Das mochte June nicht akzeptieren; das Leben hatte einen Sinn, und es lag in unserem Interesse, uns diesem Sinn zu öffnen.

Ebensowenig läßt sich behaupten, beide Auffassungen seien richtig. Alles zu glauben und keine Wahl zu treffen läuft in meinen Augen auf dasselbe hinaus wie gar nichts zu glauben. Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Zivilisation zur Jahrtausendwende mit zuviel oder zuwenig Glauben geschlagen ist, ob die Schwierigkeiten von Menschen wie Bernard und June herrühren oder von Menschen wie mir. Aber es liefe meiner eigenen Erfahrung zuwider, würde ich nicht meinen Glauben an die Macht der Liebe bekunden, die ein Menschenleben zu verwandeln und zu erlösen vermag. Ich widme diesen Lebensbericht meiner Frau Jenny und meiner Nichte Sally, die noch immer an den [25] Folgen ihrer Kindheit leidet; möge auch sie diese Liebe finden.

Ich habe in eine entzweite Familie eingeheiratet, in der die Kinder sich aus Selbsterhaltungstrieb bis zu einem gewissen Grade von ihren Eltern abgewendet hatten. Meine Angewohnheit, das Kuckucksei zu spielen, bereitete Jenny und ihren Brüdern einigen Kummer, für den ich mich entschuldige. Ich habe mir eine Reihe von Freiheiten herausgenommen, deren augenfälligste darin besteht, den Inhalt gewisser Gespräche wiederzugeben, die nie dazu bestimmt waren, aufgezeichnet zu werden. Aber die Gelegenheiten, bei denen ich anderen oder auch nur mir selbst vorher ankündigen konnte, daß ich »bei der Arbeit« sei, waren so selten, daß eine gewisse Indiskretion unabdingbar war. Ich hoffe, daß Junes Geist und auch Bernards – falls denn, allen seinen Überzeugungen zum Trotz, ein Wesenskern seines Bewußtseins fortleben sollte – mir verzeihen werden.

[27] I

Wiltshire

[29] Das gerahmte Bild, das June Tremaine auf dem Schränkchen neben ihrem Bett stehen hatte, sollte sie, ebenso wie ihre Besucher, an das hübsche Mädchen erinnern, dessen Gesicht, anders als das ihres Mannes, nichts davon verriet, in welche Richtung es sich einmal entwickeln würde. Der Schnappschuß wurde im Jahr 1946, ein oder zwei Tage nach der Trauung, aufgenommen, eine Woche bevor die beiden auf Hochzeitsreise nach Italien und Frankreich fuhren. Das Paar steht Arm in Arm am Geländer vor dem Eingang zum Britischen Museum. Vielleicht hatten sie gerade Mittagspause, denn beide arbeiteten sie in der Nähe und erhielten erst wenige Tage vor ihrer Abreise die Genehmigung, ihre Stellen zu kündigen. Aus rührender Sorge, an den Bildrändern abgeschnitten zu werden, neigen sie sich einander zu. Das Lächeln, das sie der Kamera schenken, entspringt ungekünstelter Freude. Bernard ist nicht zu verwechseln. 1,90 groß, mit übergroßen Händen und Füßen, einer überdimensionalen, gutmütigen Kinnpartie und Segelfliegerohren, die durch den pseudomilitärischen Haarschnitt noch komischer wirken. Dreiundvierzig Jahre haben bei ihm lediglich vorhersehbaren Schaden angerichtet, und auch der war nur geringfügig – lichteres Haar, dichtere Augenbrauen, gröbere Haut –, während der eigentliche Mann, diese erstaunliche Erscheinung, 1946 derselbe unbeholfene, [30] strahlende Riese war wie 1989, als er mich bat, ihn nach Berlin zu begleiten.

Junes Gesicht hingegen kam ebenso von seinem vorherbestimmten Kurs ab wie ihr Leben, und es ist kaum möglich, in dieser Aufnahme das alte Gesicht zu erahnen, das sich in wohlwollende Willkommensfalten legte, wenn man ihr Privatzimmer betrat. Die Fünfundzwanzigjährige hat ein reizendes rundes Gesicht und ein fröhliches Lächeln. Ihre Dauerwelle für die Reise ist zu straff, zu streng und steht ihr nicht im geringsten. Im Glanz der Frühlingssonne leuchten die Locken, von denen sich erste Strähnen lösen. Sie trägt ein kurzes Jackett mit hohen, gepolsterten Schultern und einen passenden Faltenrock – die verhaltene Extravaganz jenes Stoffes, den man mit dem New Look der Nachkriegszeit verbindet. Ihre weiße Bluse hat einen gewagten V-Ausschnitt, der ihren Brustansatz freigibt. Der Kragen ist über das Jackett geschlagen und verleiht ihr das frische, rosige Aussehen der Landarbeiterinnenplakate. (Seit 1939 war sie Mitglied des Sozialistischen Radsportvereins Amersham.) Mit einem Arm preßt sie ihre Handtasche an sich, mit dem anderen hat sie sich bei ihrem Mann untergehakt. Sie lehnt sich an ihn an, ihr Kopf reicht ihm nicht einmal bis zur Schulter.

Heute hängt die Photographie in der Küche unseres Hauses im Languedoc. Ich habe sie oft eingehend betrachtet, meist wenn ich allein war. Jenny, meine Frau, Junes Tochter, mißtraut meiner Raubtiernatur und ärgert sich über die Faszination, die ihre Eltern auf mich ausüben. Sie hat lange genug gebraucht, um von ihnen loszukommen, und [31] zu Recht befürchtet sie, mein Interesse könnte sie zurückwerfen. Ich gehe nah an das Photo heran und versuche das künftige Leben, das künftige Gesicht vorwegzunehmen, die Unbeirrbarkeit, die auf eine einzigartige Mutprobe folgte. Auf der glatten Stirn direkt über dem Zwischenraum zwischen den Augenbrauen hat ihr vergnügtes Lächeln eine winzige Hautfalte geschlagen. In dem runzligen Gesicht ihres späteren Lebens sollte sie das beherrschende Merkmal werden, eine tiefe senkrechte Furche, die von ihrem Nasensattel aufstieg und ihre Stirn zerteilte. Vielleicht bilde ich mir die in der Kontur des Kinns verborgene Härte hinter ihrem Lächeln nur ein – die Entschlossenheit, Standfestigkeit, ihren wissenschaftlichen Zukunftsoptimismus? Das Photo wurde an demselben Vormittag aufgenommen, als June und Bernard in der Parteizentrale in Gratton Street in die Kommunistische Partei Großbritanniens eintraten. Sie haben ihre Stellen gekündigt, und es steht ihnen frei, sich zu ihren politischen Bindungen zu bekennen, womit sie, solange der Krieg andauerte, gezögert hatten. Jetzt, zu einem Zeitpunkt, als viele nach der schwankenden Haltung der Partei – war der Krieg ein hochherziger antifaschistischer Befreiungskampf oder ein aggressiver imperialistischer Beutezug? – ihre Zweifel haben und einige ihre Parteibücher zurückgeben, wagen June und Bernard den Sprung. Sie hoffen nicht nur auf eine gerechte, vernünftige Welt, frei von Krieg und Klassenunterdrückung, sondern finden auch, daß ihre Parteizugehörigkeit sie mit allem zusammenbringt, was jung, lebhaft, intelligent und wagemutig ist. Über den Ärmelkanal steuern sie, wovon man ihnen [32] abgeraten hat, auf das Chaos mitten in Europa zu. Doch sie sind entschlossen, ihre neuen persönlichen und geographischen Freiheiten auszukosten. Von Calais aus wollen sie nach Süden, in den mediterranen Frühling. Die Welt ist wie neugeboren, und es herrscht Frieden, der Faschismus war der unwiderlegliche Beweis für die unheilbare Krise des Kapitalismus, die wohltätige Revolution steht vor der Tür, und sie sind jung, frisch verheiratet und verliebt.

Bernard hielt seine Mitgliedschaft, obwohl er sich sehr damit herumquälte, bis zum Einmarsch der Sowjets in Ungarn 1956 aufrecht. Dann erst vollzog er seinen längst fälligen Austritt. Seine Sinnesänderung entsprach dabei einer gutdokumentierten Logik, einem Desillusionierungsprozeß, den er mit einer ganzen Generation teilte. June dagegen hielt es nur einige Monate aus, bis zu der besagten Begegnung auf ihrer Hochzeitsreise, die diesem Lebensbericht seinen Titel gab. Sie machte eine tiefgreifende Verwandlung durch, eine Metempsychose, die sich in der Umbildung ihres Gesichtes niederschlug. Wie konnte ein rundes Gesicht nur so lang werden? War es wirklich möglich, daß das Leben selbst – und nicht die Gene – jene kleine Falte, die ihr Lächeln warf, über den Brauen einwurzeln ließ und die bis zum Haaransatz reichende Verästelung von Runzeln hervorbrachte? Ihren eigenen Eltern war selbst im hohen Alter nichts dergleichen ins Gesicht geschrieben. Gegen Ende ihres Lebens, als June in das Pflegeheim eingewiesen wurde, glich ihr Gesicht dem des alten W. H. Auden. Vielleicht hatten Jahre mediterranen Sonnenscheins ihre Gesichtshaut gegerbt und verzogen, Jahre der Einsamkeit und des Nachdenkens ihre Züge erst [33]