Schwarzeis - Daniel Badraun - E-Book

Schwarzeis E-Book

Daniel Badraun

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Beschreibung

Eigentlich will Dorfpolizist Gaudenz Huber nur seine Ruhe haben, doch der Tod seines Freundes Romeo Koch erschüttert sein beschauliches Leben: Es stellt sich heraus, dass der Umweltschützer ermordet wurde. Gaudenz beginnt zu ermitteln - doch das Schwarzeis des zugefrorenen Silsersees hält mehr als nur eine Überraschung für ihn bereit . . .

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Daniel Badraun wuchs im Engadin auf. Er schreibt auf Deutsch und Rätoromanisch für Kinder und Erwachsene. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt Badraun mit seiner Frau in der Nähe von Schaffhausen. Der Vater von vier erwachsenen Kindern unterrichtet eine Kleinklasse und war Abgeordneter im thurgauischen Parlament.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv:photocase.com/owik2 Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-760-4 Originalausgabe

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Für Ezio und Urs

in dankbarer Erinnerung

Avierts al vent

al tschêl serain

sunteris d’Engiadina

üna tristezza culurid’in rösa

cur cha la saira

la glüsch impizza las muntagnas

e lascha ir– e moura

lasch’ir– e posa

Offen für den Wind

den weiten Himmel

Friedhöfe des Engadins

eine rosa gemalte Traurigkeit

wenn am Abend

ein Licht die Berge entzündet

und gehen lässt– und stirbt

gehen lässt– und ruht

Gian-Claudio Manetsch

Prolog

Gleich ist Romeo oben beim See. Diese letzte Hangquerung wäre bei normalen Verhältnissen heikel, wenn nicht gar fahrlässig, doch in diesem Jahr liegt wenig Schnee, so herrscht nur eine lokale Schneebrettgefahr, die kritischen Stellen sind in Muldenlagen, hier am Südhang ist alles in Ordnung. Er schaut zurück, seine Spur zerschneidet den Hang. Seine Augen folgen der dunklen Linie, die sich weiter unten in einer Mulde verliert. Niemand ist zu sehen, er ist alleine oben in der Kälte, im Wind, der an seiner Jacke zerrt. Heute würde wohl niemand hier hinaufkommen, Wetter und Sicht laden kaum zu einer grösseren Tour.

Dunkel und träge die Oberfläche des Silsersees unten im Talboden, bei dieser Kälte wird er wohl bald zufrieren. Wie ein dunkler grober Finger zeigt die dicht bewaldete Halbinsel Chastè in den See hinaus, dahinter die Ebene mit den Häusern von Sils.

Weiter. Die Felle verhindern ein Zurückgleiten der Skis, die Harscheisen unter der Bindung graben sich in den körnigen Schnee, ein hässlich kratzendes Geräusch, wenn sie auf einen Stein treffen. In weissen Wolken steigt sein Atem in den Morgenhimmel auf, der Rücken ist feucht, er ist wohl zu schnell aufgestiegen, die Aufregung, die Erwartung einfach zu gross. Wenige Meter noch, dann öffnet sich das Seitental.

Lej Lunghin, der Ursprung des Inn, der hier als schmaler Bergbach beginnt, um nach einer Reise von mehr als fünfhundert Kilometern in die Donau zu münden.

Im letzten Sommer kam Romeo öfters hier hinauf, einmal bestieg er zusammen mit Gaudenz den Piz Lunghin, eine schwere Belastung für den Freund, der nicht ganz schwindelfrei ist. Mehrmals kam er auch mit Susanna hierher. Susanna ist die Tochter, der im Frühling neu ins Dorf gekommenen Gemeindeschreiberin Gianna Rohner. Sie wohnt gleich um die Ecke. Bei einer Veranstaltung der Freien Liste kamen sie ins Gespräch, einmal gingen sie mit Freunden essen, dann lud Romeo sie zu einer Wanderung hier hinauf ein.

Beim dritten Besuch am See schliefen sie zusammen. Dort drüben hinter dem mächtigen Felskopf. Eine rote Wolldecke, ihre feuchten, salzigen Körper, Susannas lange Haare im Licht des Spätsommernachmittags. Kurz vor Sonnenuntergang sprangen sie ins eiskalte Wasser. Ihr spitzer Schrei, sein Prusten. Auf ihrem Gesicht spielte ein Lächeln. Im Dämmerlicht stiegen sie nach Maloja hinunter.

Irgendwann war da plötzlich die Frage nach einer gemeinsamen Zukunft am Ende dieses Bergsommers.

«Bist du da, Susanna?»

«Sonst hätte ich das Telefon nicht abgenommen.»

«Ich habe eine Bitte.»

«Könnte ich dir etwas abschlagen, mein Held?»

«Wer weiss.»

«Wenn es keine unanständigen Dinge sind.» Ihr Lachen so hell, so klar. Er müsste auf ihre Anspielung eingehen, doch diesmal ging es nicht nur um sie beide, es ging um die Sache. Und das machte die ganze Situation komplizierter, als sie ohnehin schon war.

«Du müsstest mir etwas besorgen.»

«Etwas besorgen?» Sie begriff nicht gleich.

Er erklärte es ihr. «Es ist sehr wichtig für mich, wirklich.»

«Ist das der Schlüssel zu deinem Glück?» War da Spott in ihrer Stimme?

«Irgendwie schon.»

«Wenn das alles ist?» Susanna gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. «Sonst noch etwas?»

Gerne hätte er ihr etwas über die Liebe gesagt, doch das schien ihm im Moment unpassend.

Der Lej Lunghin ist zugefroren und von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Verwehte Wildspuren kreuzen seinen Weg, der an der linken Seeseite entlangführt. Ein Kranz spitzer Gipfel rahmt das versteckte Seitental ein. Romeo zieht die Handschuhe aus, holt die Thermosflasche aus dem Rucksack und giesst dampfenden Tee in den Becher. Die Kälte, der Wind und die Neugier treiben ihn vorwärts. Dort oben am Pass Lunghin will ihn der Fremde treffen. Niemand kann sie zusammen sehen, niemand weiss, dass sie sich getroffen haben. Zwei verrückte Tourenskifahrer, die bei nicht optimalen Verhältnissen und unabhängig voneinander eine kleine Skitour unternehmen. Ein guter Plan, findet Romeo.

«Sonst noch etwas?»

Sie trafen sich im Hauser’s. Susanne schob ihm den grauen Umschlag zu. Er fasste nach ihrer Hand, doch sie war schneller, so blieb ihm nur das steife Papier.

«Ich muss dann mal wieder zurück ins Büro. Es ist auch nicht gut, wenn man uns hier so sieht.»

«Warum nicht? Wir gehören doch zusammen.»

Sie errötete leicht. «Echt? Meinst du das wirklich ernst?»

«Aber sicher.» Und nach einer Pause, in der er verwegen auf den Umschlag pochte: «Du bist jetzt dabei. Gemeinsam können wir dieses Pack festnageln. Dann überlegen sie es sich vielleicht zweimal, ob sie unser Tal immer weiter mit ihren Betonburgen verschandeln dürfen.»

Sie stand auf, schaute auf ihn hinunter. «Und wenn ich keine Lust habe, die Revoluzzerbraut zu spielen?»

Erschrocken starrte er sie an. «Aber Susanna!»

«Verstehst du es nicht, oder willst du nicht verstehen, Romeo? Wir beide und der Lej Lunghin, dazu dein unversöhnlicher Kampf, das sind zwei Geschichten, Romeo. Schau, dass du sie nicht vermischst.»

Langsam steigt Romeo oberhalb des Sees den Hang entlang. Weiter oben kreuzt er verwehte Schneeschuhspuren. Dieser Berggänger wird direkt von Maloja her aufgestiegen sein. Die sanften Konturen der Landschaft erinnern an den Gletscher, der sich schon seit langer Zeit zurückgezogen hat. Alles verändert sich, das Eis verschwindet, lässt geschliffene Felsformationen zurück, Steinwüsten aus verschiedenfarbigem Schotter. Es tauchen die ersten Flechten auf, Moose, grüne Polster mit fein gefiederten Blütenblättern an zähen Stängeln. Er hätte kaum auf die spärlich besiedelten Schutthaufen geachtet, wenn ihn Susanna nicht darauf hingewiesen hätte.

«Sieh mal!» Schon bückte sie sich, hob einen schön geformten Stein auf, strich vorsichtig über ein Moospolster oder fotografierte eine besonders schöne Blume. «Du hast nur immer Beton im Kopf», rief sie und lief voraus, «deine Gedanken sind schon ganz schwer davon. Dir fehlt die Leichtigkeit des Schmetterlings.»

«Wo soll der Schmetterling hin, wenn die Blumenwiesen überbaut sind?», rief er verzweifelt. «Ich werde diese Gangster hochgehen lassen, verlass dich darauf.»

Sie strich über den Stein in ihrer Hand und legte ihn dann vorsichtig in den Rucksack.

Jetzt liegt der Sommer unter einer kalten Schneeschicht begraben. Susanna hatte wohl recht, seine Gedanken wurden immer schwerer, je mehr er sich mit der Spekulation im Oberengadin befasste. Tatenlos zusehen zu müssen, wie die schönsten Wiesen von den gierigen Schaufeln der Baumaschinen aufgerissen wurden, wie sich balkonbewehrte Wände gegen den Himmel türmten, wie leblose Fenster die umliegenden Gipfel spiegelten, das verursachte tief in ihm drin einen dumpfen Schmerz. Die Wut frass an seinen Eingeweiden, die Ohnmacht raubte ihm den Schlaf, und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht darüber nachdachte, wie sein Tal noch zu retten wäre. Doch was sollte er tun?

«Man kann doch nicht wegschauen, wenn geldgierige und skrupellose Spieler hier ein persönliches Monopoly veranstalten. Eine gewürfelte Sechs: Oh, St.Moritz Sonnenplatz. Wird gekauft. Jedes Haus hier lässt sich aushöhlen, aufstocken und mit einem astronomischen Gewinn weiterverkaufen. Und nun eine Vier: Sils, Parzelle mit Seesicht, unverbaubare Lage am Munt Cler, das nehmen wir doch gleich mit. Warum auch nicht, die bestehenden Gesetze lassen sich doch leicht biegen.»

«Kannst du nicht einfach mal im Hier und im Jetzt sein?», fragte sie verzweifelt. «Auf diesem Hügel existieren nur diese Steine, nur diese Blumen, nur wir beide.»

Nein, das konnte er einfach nicht. Wenn er ihre Hand hielt, dachte er darüber nach, ob man mit einer Demonstration in St.Moritz etwas ausrichten könnte. Würden die Pelzmäntel und Ledertaschen, die Designerjeans und die Krokostiefel seine Message verstehen? Verstehen wollen? Doch eigentlich wusste er, dass sich die Shopping-Schickeria erst mal für den nächsten Einkauf in der Nobelboutique interessierte. Ernsthaft befassten sich die Schönen und Reichen eher mit der Garderobe für das Abendessen und dem aktuellen Kontostand als mit dem Zustand der Natur im Oberengadin.

«Wir müssen weg, Romeo. Hier kann man nicht leben und schon gar nicht lieben. Die Leute werden hart wie die Steine oder verglühen wie unerfüllte Wünsche am Augusthimmel.»

«Ich lasse mich doch nicht vertreiben. Diesen Triumph gönne ich denen sicher nicht.»

«Was ist mit der Chance, woanders glücklich zu werden?»

«Ich kann doch nicht einfach weggehen, ich muss diese Sache zu Ende führen.»

«Ich, ich, ich. Nimmst du dich so wichtig, glaubst du, dass dieses Tal nur überlebt, wenn du dich dafür einsetzt?»

Langsam war ihm Susanna entglitten, sie entzog ihm ihre Hand, liess ihn nicht mehr an ihren Gedanken teilhaben, kaum merklich erkaltete er, ohne die Wärme ihres Lachens, ihres Körpers verkümmerte der Bergsommer und verlor sich in den fallenden goldgelben Nadeln der herbstlichen Lärchen.

Lange merkte Romeo nichts, denn er war besessen davon, die Verbrecher zur Strecke zu bringen.

«Geschäftsleute und Anwälte, da kannst du nichts ausrichten.»

«Abwarten, ich habe da eine Idee.»

«Du mit deinen Ideen. Diese Herrschaften sind nicht zu knacken, dieses Gemisch aus Geld, Beziehungen und Politik hält so gut wie der Beton ihrer Häuser. Filz ist ein viel zu weicher Ausdruck für diese Vetternwirtschaft zwischen Bauherren, Handwerkern und Juristen.» Susanna nahm einen grossen Schluck aus der Feldflasche. «Und etwas haben dir diese Leute voraus, Romeo: Sie geniessen das Leben, gehen aus, schenken ihren Frauen schöne Kleider, essen mit Stil ausgesuchte Speisen, gehen auch mal raus in die Natur. Sie sind vielleicht hart, Romeo, dies aber mit einem gewissen Charme. Du aber musst aufpassen, nicht zu verbittern und zu vertrocknen.» Danach waren sie kaum noch zusammen gewesen.

Das Treffen hier oben wird alles verändern, das spürt er mit jedem Schritt. Heute Abend schon kann er eine Strategie entwickeln, wie man den Weisshemden und Schwarzkitteln mit ihren wohlgebundenen Krawatten und den unersättlichen Baggerschaufeln in den Hosentaschen das Handwerk legen kann. Später ruft er Susanna an und lädt sie zu sich ein. Und er spricht mit ihr nicht über Politik, nimmt sie ganz einfach an der Hand und führt sie ins Bad. Die Badewanne ist bereits gefüllt, im Wasser duftet eine Meersalz-Kräutermischung, Kerzen brennen. Er sagt ihr, dass nur sie für ihn zählt, dass nun alles anders wird, dass nach dieser Sache alles anders wird. Schneewüste. Tagträume. Der eisige Wind.

Irgendwo da oben der Pass Lunghin, die Wasserscheide zwischen Nordsee, Adria und dem Schwarzen Meer. Eine feine Horizontlinie, die den Schnee vom grauen Himmel trennt. Und da ist ein dunkler Strich, der Wegweiser, denkt er erst, doch der müsste eigentlich weiter drüben sein. Als er näher kommt, bewegt sich dieser Strich, wird zu einer Silhouette, die den Arm hebt, ein Winken, er winkt zurück. Der letzte steile Anstieg, die Person verschwindet aus seinem Blickfeld.

Er beschleunigt nun seinen Schritt, spürt die Wärme, den Schweiss auf seinem Rücken. Die Landschaft öffnet sich. Hinter dem Pass ein Tal, dahinter neue Berggipfel. Rechts auf der Fläche der Wegweiser, ein Becken, in das man Wasser leeren könnte. Wasser, das in die drei Himmelsrichtungen fliesst, wenn es vorher nicht verdunstet. Die winkende Person von vorhin ist nicht mehr da. Irritiert schaut er sich um, sieht die Spur, die nach links führt, vorbei an grossen Felsköpfen. Die Person, die ihn heute Morgen anrief und um dieses Treffen bat, stieg sicher von Bivio her auf. Niemand würde Verdacht schöpfen, zwei Verrückte, die sich hier oben treffen. Hier konnten sie ungestört ihre Informationen austauschen, endlich würde er verstehen, wer hinter dem Bauprojekt am Munt Cler steckt.

Er kneift die Augen zusammen, um im aufkommenden Schneegestöber etwas zu sehen. Weiter oben am Hang unterhalb des Piz Lunghin erspäht er eine Bewegung. Dort steigt jemand aufwärts. Romeo folgt, so kurz vor seinem Ziel würde er sich nicht abhängen lassen. Da kennt jemand einen gut gelegenen Treffpunkt mit Aussicht. Warum nicht? Im Winter war er noch nie hier oben, eine Winterbesteigung des Piz Lunghin ist für ihn nicht ohne Reiz. Immer wieder verliert er den mysteriösen Anrufer, die mysteriöse Anruferin aus den Augen. Weiter oben stecken die Skis im Schnee, die Spur führt über die Felsen hinauf zum Grat. Spätestens auf dem Gipfel ist Schluss mit dem Versteckspiel.

Gaudenz kommt ihm in den Sinn. Die unermessliche Angst des Freundes vor der Höhe. Dennoch lässt er sich immer wieder zu einer Bergtour überreden und versucht, die Dämonen der Tiefe zu überwinden. «Ich liebe die Berge», sagt er jeweils an einer besonders exponierten Stelle, «doch ich weiss nicht, ob die Berge auch mich lieben.» Im Juni waren sie hier oben, Gaudenz nahm dankbar das Seil, das Romeo ihm anbot, obwohl er wusste, dass diese Sicherheit angesichts der Abgründe auf beiden Seiten des Grates nur eine trügerische war. Gaudenz wollte nicht lange auf dem Gipfel bleiben, sie machten ein paar Fotos für später und stiegen ab. Erst als sie wieder sicheren Boden unter den Füssen hatten, entspannte sich Gaudenz.

Gaudenz und Romeo. Eine Freundschaft, die im Kindergarten begann und bis heute andauert. Was Romeo nicht versteht: Dass Gaudenz, der eigentlich Lehrer hatte werden wollen, nach abgebrochenem Seminar und weiteren Stationen ins Engadin zurückkam, um in Sils als Dorfpolizist den Lakai für Gemeindepräsident Spinöl zu spielen, statt mit seiner Familie ein unabhängiges und freies Leben da draussen zu leben.

«Warum gehst du nicht weg?», kam die Gegenfrage.

«Ich kann nicht, Gaudenz, ich gehöre hierher. Ich will mich engagieren, nicht irgendwo, sondern da, wo meine Wurzeln sind.»

«Ich habe auch Wurzeln», sagte Gaudenz leise.

Aber man muss doch nicht Gemeindepolizist werden, wenn man Wurzeln hat. Als sie klein waren, hatte das Amt der alte Sgier inne, der vorher Coiffeur war. Er ging auf der Dorfstrasse auf und ab, hielt die Kinder an und kontrollierte die Velos. Er brachte die Steuermarke für den Hund persönlich vorbei, trug das Abstimmungsmaterial aus und brachte die Steuerrechnung mit ernstem Gesicht zu den Eltern nach Hause. Als sie dann abends ein Bier trinken gingen, kam Sgier um elf und rief die Polizeistunde aus, wer sitzen blieb, kassierte eine Busse von fünf Franken.

Und nun arbeitet Gaudenz in Sils als Dorfpolizist. Wenn er wenigstens ein richtiger Kriminaler wäre, einer wie aus den Büchern und den Filmen, der den dunklen Mächten das Handwerk legt. Doch Gaudenz ist ein biederer Beamter geworden, lebt mit Frau und den beiden Mädchen in einer engen Wohnung und hat kaum mehr Zeit für den Freund.

Im Sommer wollte Gaudenz unbedingt mit auf eine Tour, schnell stand der Piz Lunghin als Ziel fest. Den Aufstieg nahmen sie wie früher schnell in Angriff, sprachen kaum und waren schon bald oben am Pass. Den Grat bewältigten sie in der gewohnten, angespannten Atmosphäre, erst als sie wieder in Sicherheit waren, begannen sie zu sprechen, machten Witze, und Romeo gestand dem Freund, dass er sich verliebt habe.

Romeo hat den Grat erreicht, beschleunigt nochmals seinen Schritt. Seine Tourenschuhe finden sicheren Halt auf dem Felsen. Die Verhältnisse sind wirklich ausgezeichnet für die Jahreszeit. Er folgt den Spuren, die sich im angewehten Schnee abzeichnen. Eine Frau mit grossen Füssen, ein Mann mit kleinen Füssen, bald würde er es wissen. Weit unten das Tal, wer hier fällt, ist nicht zu retten. Romeo schmunzelt. Mit diesem Wissen konnte Gaudenz nur schwer umgehen, er sagte oft, dass das Bergsteigen etwas für Leute ohne Phantasie und mit einem emotional abgeflachten Charakter sei. Wer wirklich Angst empfinden könne, wer sich vorstellen könne, wie es sei, in die bodenlose Tiefe zu fallen, sei völlig ungeeignet für die Berge. Trotzdem versuchte er es immer wieder.

Fast wären sie zusammengeprallt, er und die Gestalt, die hinter einem Felsblock auf ihn gewartet hat. Dunkel gekleidet, die Mütze tief im Gesicht, einen Schal vor Mund und Nase.

«Hallo, Romeo, schön, dass du da bist, setz dich doch.»

Romeo stellt keuchend den Rucksack ab, schaut sich um. Einige Sonnenstrahlen dringen durch die Wolkendecke und beleuchten die gegenüberliegenden Gipfel.

«Schön, nicht wahr?»

Weit unten das Engadin, klein und unscheinbar ducken sich die Dörfer im Talgrund, daneben die übermächtigen Berge und lange, menschenleere Täler.

Dienstag, 20.Dezember

«Was soll ich anziehen?» Umständlich und ungeschickt schiebt Gaudenz Huber die Kleider im Schrank hin und her.

Die beiden Mädchen, die achtjährige Sandra und die zehnjährige Verena, waren gleich nach dem Essen in ihrem Zimmer verschwunden. Sie wollten noch Zeichnungen für die Grosseltern machen, hatten sie gesagt, als sie den Tisch verliessen. Doch es war die Schwere, die sie aus dem Wohnzimmer vertrieb, die dunkle Wand, die sich am Wochenende vor die fröhliche Adventszeit geschoben hatte. Man hörte sie drüben im Kinderzimmer murmeln und auch manchmal kichern. Sie mussten sich nicht beeilen mit Zähneputzen und Anziehen, denn heute Nachmittag fällt die Schule aus. Das ganze Dorf wird stillstehen, ein Zustand, der für Kinder kaum auszuhalten ist.

Gaudenz stocherte im halb vollen Teller herum. Er legte das Besteck weg und tupfte mit der bereitliegenden Serviette umständlich den Mund ab. Ein kurzer Blickwechsel. Claudia stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Stumme Geschäftigkeit. Keiner mochte sprechen, das Schweigen gab ihnen eine trügerische Sicherheit. Gaudenz wollte noch duschen. Einfach dastehen, das Wasser über den zitternden Körper fliessen lassen, mechanisch das Einseifen, tröstlich das rauschende Wasser und der neblige Dampf, der ihn umgab. Irgendwann ist der Körper sauber, das Gesicht rasiert, sind die Haare gekämmt und ist die Unterwäsche angezogen. Und nun diese Frage, die drohend im Raum steht.

«Was soll ich anziehen?»

Claudia stellt das Wasser ab, trocknet umständlich die Hände und kommt ins Schlafzimmer herüber. «Was ist?»

Er hebt hilflos die Hand und zeigt auf seine Kleider. Er zuckt resigniert mit den Schultern. Das Zucken setzt sich fort, schüttelt seinen Körper. Gaudenz atmet schwer, lehnt sich an Claudia und hält sie fest, mit aller Kraft. Er legt seinen Kopf an ihren Hals, lässt die Tränen zu und das Schluchzen. Der Mann in Unterwäsche, die Frau mit dem nutzlosen Küchentuch in der Hand, so stehen sie eine Weile da, bis sie ihn sanft wegschiebt. «Wir müssen bald gehen, Gaudenz.»

«Was soll ich anziehen?»

«Nimm die Uniform, das macht sich immer gut.»

«Die Uniform? Das hätte er nicht gewollt. Er mochte meinen Beruf nicht.»

«Gut, nimm das da.» Sie greift in den Schrank, zieht hier eine schwarze Jeans, dort ein Hemd und einen dunklen Pullover heraus. «Und beeil dich bitte.»

Claudia verschwindet im Bad.

Beeilen? Kann man sich beeilen, wenn man an eine Beerdigung geht? Wenn man nicht wahrhaben will, dass der Verstorbene nicht mehr da ist? Gaudenz stellte sich früher oft seine eigene Beerdigung vor, wählte in Gedanken seine liebsten Musikstücke aus, hatte manchmal auch einen passenden Bibelspruch bei der Hand und stellte sich vor, wie dieser von einem Pfarrer ausgelegt würde. Dann wieder dachte er, dass für einen Freigeist, wie er einer war, nur eine schlichte Feier unter freiem Himmel in Frage kommen konnte. Ein See hoch oben in den Bergen, einige aufgeschichtete Steine, um die sich die Menschen, die ihn mochten, versammelten, ein Freund, der die passenden Worte fand und damit seine Familie tröstete.

Umständlich macht er sich an seinen Kleidern zu schaffen, als er gerade bei den Hemdknöpfen angelangt ist, kommt Claudia wieder aus dem Bad, die Lippen dezent nachgezogen, die Haare streng nach hinten gekämmt. Wortlos schlüpft sie in ein dunkles Wollkleid, setzt sich auf ihre Betthälfte, zieht einen Karton mit schwarzen Stiefeln unter dem Bett hervor, schlüpft hinein und zieht die Reissverschlüsse an den Seiten hoch.

«Fertig?»

Gaudenz schlüpft in den dunklen Pullover, sie biegt ihm den Hemdkragen zurecht und zupft am Pullover herum, bis dieser sitzt. Dann sind sie auch schon im Flur und legen die Mäntel an.

«Hast du deinen Text?»

Gaudenz schüttelt den Kopf, geht ins Wohnzimmer zurück, fahrig und unsicher, schaut sich suchend um, sieht dann das weisse Mäppchen, zieht die drei eng beschriebenen Blätter heraus. «Alles da.» Er faltet die Papiere und steckt sie in die Brusttasche seines Mantels.

Claudia öffnet die Tür zum Kinderzimmer, ermahnt die Mädchen, nicht zu streiten, erklärt, man sei sicher später am Nachmittag wieder zurück, und ja, sie dürften auch fernsehen. Sie nimmt den Schal von der Ablage und wickelt sich diesen mehrmals um den Hals.

Es ist immer noch beissend kalt draussen, der Himmel hängt tief, die Berge verlieren sich in der milchigen Leere, aus der ab und zu schwarz und schartig Felsformationen auftauchen. Gaudenz scheint es, als ob es nie wieder richtig hell werden würde. Der Wind verweht das Glockengeläut. Das hätte dem Freund gefallen.

***

Das ganze Dorf scheint auf den Beinen zu sein. Man nickt sich zu, geht schweigend hinter- und nebeneinander über die Ebene auf die Kirche in Sils Baselgia zu. Dunkel gebeugte Gestalten, die sich auf den Weg gemacht haben, einige wenige aus wirklicher Trauer, die anderen, weil man Betroffenheit von ihnen erwartet. Man ist hier im Dorf eine Gemeinschaft, ist aufeinander angewiesen, kennt sich von Kindsbeinen an und ist ewig verbunden und gefangen in einem Geflecht aus Freundschaft, Abhängigkeit oder Hass, das sich nicht so einfach lösen lässt. Auf jeden Fall nicht an einem solchen Tag.

So sitzen in der wohlgeheizten Dorfkirche Sankt Lorenz gleich hinter der Trauerfamilie die Mitglieder des Gemeinderates, die Gewerbetreibenden und Hoteliers, Lehrer, Juristen und Treuhänder und viele weitere Frauen und Männer aus dem Ort. In den hinteren Bänken sitzen junge Leute, die, wie die Anwesenden nach schnellen Blicken feststellen, nicht feierlich genug gekleidet sind. Verkniffene Gesichter mit Bärten, farbige Schals, ungepflegte Erscheinungen eben, die man hier nicht kennt und im Ort auch nicht haben will.

Gaudenz und Claudia gehen langsam den Mittelgang entlang auf den Sarg zu, der vorne umgeben von Kränzen steht. Sie stützt und führt ihn zugleich, bringt ihn sicher vorbei an den Leuten mit ihren neugierigen Blicken nach vorn auf die Gewissheit zu und an seinen Platz in der zweiten Reihe links am Mittelgang. Direkt vor ihnen sitzt die Trauerfamilie. In der Mitte die Eltern. Gerda, dunkles, gefärbtes Haar, gebeugter Rücken, rechts ihr Mann Silvio. Er sitzt kerzengerade da, das weisse Haupt erhoben, den Blick auf den Sarg gerichtet, der vorne in der Mitte steht. Neben der Mutter der jüngste Sohn Luca mit seiner Frau, neben dem Vater die ältere Tochter Alexa mit ihrem Mann Jakob Sonder. Sonder schaut sich kurz um, nickt Claudia und Gaudenz zu und deutet ein Lächeln an. Er dreht sich zu seiner Frau und flüstert ihr etwas zu.

Die Glocken verstummen, ein paar einzelne Schläge, dann hört man nur noch das Scharren von Füssen, vereinzeltes Hüsteln, die Kirchentür, die zugezogen wird. Irgendwo fällt ein Gesangbuch auf den Boden. Die Orgel setzt ein, schwer und massig dröhnen die Bässe durch das Kirchenschiff. Der Pfarrer tritt auf, bleibt neben dem Sarg stehen und legt die Hand kurz auf das dunkle Holz.

«Lasset uns beten.»

Ein Ächzen geht durch die Kirche. Dann steht die Gemeinde mit gesenkten Köpfen und mehrheitlich gefalteten Händen.

Der Pfarrer räuspert sich. «Ein junger Mensch ist von uns gegangen, viel zu früh hat uns Romeo Koch verlassen…»

Gaudenz schliesst die Augen. Er kann es immer noch nicht glauben, will nicht akzeptieren, dass in dem Sarg dort vorne sein bester Freund liegt. Am Sonntagmorgen rief ihn Franz Niggli an. Der Leiter der Werkgruppe Sils und Chef der Rettungskolonne bot ihn für eine Suchaktion auf.

«Du musst kommen, Gaudenz. Romeo wird vermisst.»

«Vermisst?»

«Anscheinend ist er gestern nach einer Skitour nicht mehr nach Hause gekommen.»

«Wer sagt das?»

«Alexa Sonder. Sie wollte ihm einen Zopf zum Frühstück vorbeibringen. Doch Romeo war nicht da. Sein Bett war unberührt. Seine Skis sind nicht im Keller, die Felle und Schuhe fehlen auch.»

«Und wo soll er sein? Bei den Schneeverhältnissen lohnt es sich doch kaum, eine Tour zu unternehmen, da ruinierst du dir höchstens den Belag.»

«Anscheinend ist er trotzdem losgezogen.»

Gaudenz trank schnell einen Espresso, zog sich warm an und liess den reich gedeckten Frühstückstisch hinter sich. Er fuhr nach Sils Baselgia hinüber. Hier lebte Romeo in einer kleinen Wohnung im Haus seiner Eltern. Diese waren am Samstagmorgen in St.Moritz beim Einkaufen gewesen, hatten also nicht gesehen, wann Romeo weggegangen war. Schliesslich fand Gaudenz eine Nachbarin, die gesehen hatte, wie der Freund aufgebrochen und den Hang auf der anderen Seite der Strasse hinaufgestiegen war.

Die Spur war schnell gefunden. Wenig später machte sich die Rettungskolonne auf den Weg, mit einer zweiten Gruppe stieg Gaudenz zu Fuss von Maloja her auf. Im steilen Gelände lag kaum Schnee, so kamen sie gut voran. Unterhalb des Lej Lunghin trafen die beiden Gruppen zusammen. Trotz des Windes waren die Spuren von Romeo neben dem See gut erhalten. Eine Stunde später fanden die Männer die Skis oberhalb des Passes am Weg, der zum Piz Lunghin hinaufführt.

Die Rettungsteams seilten sich an. Gaudenz zog es vor, mit einem Sanitäter beim Einstieg zum Grat zu warten und den Funkkontakt zu halten. Er war im letzten Sommer auf dem Gipfel, das musste reichen. Die Retter folgten den Spuren den Hang hinauf, auf dem schmalen Weg den Grat entlang. Zwischen den Felsen hörten die Spuren auf.

«Er muss abgestürzt sein», meldete Niggli von oben.

«Seht ihr etwas?»

«Nein, wir brauchen Unterstützung.»

Gaudenz rief bei der Rega-Basis am Flughafen Samedan an.

Ein Helikopter stieg auf und flog das Gelände ab. Bald einmal erspähte man den seltsam verrenkten Körper, der leblos unterhalb einer Felswand lag. Rettungsgerät wurde auf den Grat hinuntergelassen, zwei Männer stiegen an fixen Seilen ab.

Die Leiche wurde geborgen und an einem Seil hinüber zum Pass geflogen, wo der Helikopter landen konnte. Als er das Gesicht sah, erschrak Gaudenz. Es handelte sich eindeutig um Romeo Koch, keine Frage. Ein staunender Blick, so als wäre der Freund vom Sturz überrascht worden. Weder Entsetzen noch Panik war in den Zügen auszumachen, es ging wohl alles sehr schnell. Todesursache war ein Genickbruch, den Romeo sich beim Sturz zugezogen hatte, er war sicher sofort tot gewesen.

Gaudenz zuckt zusammen. Mit viel Getöse setzt die Orgel ein, die Leute singen einen Choral, dessen Text kaum verständlich ist. Claudia nimmt seine Hand, drückt diese kurz. Drei Strophen, dann verebbt die Musik.

Gemeinsam mit Gaudenz spielte Romeo im Freilichtspiel «Der kleine Prinz» mit. Gaudenz war der Laternenanzünder, immer schneller drehte sich sein Planet, immer hektischer rannte er durch sein Leben, immer kürzer wurden seine Tage. Romeo war der gestrenge Geograf, der an seinem Schreibtisch sass und darauf wartete, dass die Forscher kamen und ihm von der Welt berichteten. Über die Vergänglichkeit sagte er: «Ob die Vulkane erloschen sind oder tätig, kommt für uns auf das Gleiche heraus. Was für uns zählt, ist der Berg, er verändert sich nicht.»

«Aber was heisst vergänglich?», fragte der kleine Prinz.

«Das heisst, von baldigem Verschwinden bedroht.»

Romeo hatte einen nagenden Schmerz gespürt angesichts des Verschwindens des alten Engadins. Als Kulturgeograf hatte er dieser vergangenen Zeit nachgespürt, hatte Trockenmauern kartografiert und Wege aufgespürt, auf denen vergangene Generationen hinauf zu den Hochweiden gewandert waren. Ihn trieb eine tiefe Sehnsucht nach dem Echten, die standhaften Berge und Täler konnten ihn nur teilweise trösten.

«Jetzt», flüstert Claudia.

Mechanisch steht Gaudenz auf, geht langsam nach vorn, bleibt neben dem Sarg stehen, dreht sich langsam um. Die Blicke, die auf ihm ruhen, drohen ihn zu erdrücken. Die Bitterkeit unten in der Kehle raubt ihm die Stimme. Die Blätter in seiner Brusttasche sind seine Rettung.

«Mein Freund Romeo ist tot, ich kann den Schmerz in meinem Herzen, dort, wo die Freundschaft mit ihm wohnt, fast nicht ertragen. Manchmal suche ich das Gesicht des Freundes in meinem eigenen Spiegelbild, will seine Gedanken in den eigenen Gedanken finden, die gemeinsamen Geschichten im weiten Blau des Himmels, doch der Himmel ist nicht mehr blau. Die Wege, die wir zusammen gegangen waren, verschwinden in der Leere des Horizonts.

Immer, wenn ich über meinen eigenen Tod nachgedacht hatte, wünschte ich mir, dass er zu meiner Familie und zu meinen Freunden sprechen würde. Er hätte die richtigen Worte gefunden, hätte meine Ideen, Freuden und Zweifel nochmals zeigen können, und er hätte unsere Jugend mit den Trauernden geteilt. Stattdessen stehe ich an der Stelle, die er hätte einnehmen müssen und spreche für meinen besten Freund, der mehr als ein Bruder für mich war, und der mir immer fehlen wird. Wir durften unsere Jugend teilen, haben gemeinsam schwierige und wilde Jahre durchlebt, ich ging bei seiner Familie ein und aus, er bei meiner.»

Gerda und Silvio halten sich die Hände und starren vor sich auf den Boden. Alexa stützt ihren Vater, ihr Mann Jakob reicht ihr ein Taschentuch. Claudia schaut Gaudenz an und nickt leicht zum Zeichen, dass er fortfahren soll.

«Romeo war Goldmund, ich Narziss, er hat immer aus dem Vollen geschöpft, wenn ich mich mit der Dürre abmühte, ihm gehörte die Fülle des Lebens, der Saft der Früchte, der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Seine Heimat war die Erde, meine die Idee. Seine Gefahr war es, in der Sinneswelt zu ertrinken, meine, im luftleeren Raum zu ersticken. Er war der Künstler, ich der Denker. Hermann Hesse reichte uns beiden seine väterliche Hand und schickte uns auf zwei verschiedenen Wegen zum gemeinsamen Ziel. Und so hatten wir uns gestritten, entzweit und immer wieder gefunden. Romeo hatte genommen und von allem gekostet, das sich ihm bot. Zuletzt auch vom bitteren Tod.»

Wieder schaut Gaudenz ins Publikum, diesmal trifft er den Blick von Peider Spinöl, dem Gemeindepräsidenten, der zufrieden zu lächeln scheint. Heute Morgen hatte er Gaudenz zu sich ins Büro gerufen und statt wie üblich auf seinem Ledersessel sitzen zu bleiben und sein Gegenüber beim Eintreten zu mustern, war er sofort aufgesprungen und mit grossen Schritten auf Gaudenz zugelaufen.

«Was habe ich da gehört?»

«Keine Ahnung, sag du es mir.»

«Der Pfarrer sagte, dass du auf der Beerdigung sprechen wirst.»

Gaudenz spürte die Faust, die ihm den Magen zusammendrückte und die Übelkeit, die in ihm hochstieg. Warum musste ihn Spinöl daran erinnern?

«Du weisst, dass ich es lieber hätte, wenn sich die Gemeindeangestellten eine gewisse Zurückhaltung auferlegen würden.»

«Romeo war mein bester Freund. Das bin ich ihm schuldig.»

«Natürlich, Gaudenz, das ist mir völlig klar. Ich möchte dich nur darauf hinweisen, dass du der Gemeinde auch einiges schuldig bist. So kurz vor Saisonbeginn brauchen wir keine künstliche Unruhe im Dorf, wenn du verstehst, was ich meine.»

Gaudenz schaute seinen Vorgesetzten lange an. «Unruhe, lieber Peider, schüren nur diejenigen, die etwas zu verbergen haben.»

«Hör auf mit den Sprüchen.» Der Gemeindepräsident wischte sich den Schweiss von der Stirn. «Worüber wirst du sprechen?»

«Ich werde von meiner Freundschaft mit Romeo erzählen, von unserer Jugend, von der Familie. Ich werde einen Vergleich zu Hermann Hesse ziehen.»

Das Gesicht von Spinöl hellte sich auf. «Hermann Hesse ist gut. Gerade hier in Sils. Wir haben eine grosse Beziehung zu Hesse, aber das weisst du ja schon.»

Das Telefon klingelte, Spinöl verabschiedete sich von Gaudenz, denn damit war für ihn die Sache erledigt, und da er glaubte, nichts befürchten zu müssen, gab er Gaudenz auch keine weiteren Anweisungen.

«Romeo war ein unbequemer Mitbürger. Er nannte Dinge beim Namen, die wir alle gerne von uns wegschieben. Er wollte nicht akzeptieren, was wir aus purer Bequemlichkeit einfach so hinnehmen. Dafür hat er einen grossen Preis bezahlt, denn viele Leute wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben.»

Ein Raunen geht durch die Kirche, mehrere Anwesende räuspern sich hörbar.

«Romeo war ein zu spät Gekommener. Die Lebensart in den Bergen, die ihm wirklich gefallen hätte – mit viel Handarbeit und in enger Partnerschaft mit den Tieren–, gibt es kaum noch. Er hatte überall die Spuren dieser vom neuen Engadiner Leben platt gewalzten Kultur gesucht und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl damals war, und wie eine Zukunft sein könnte, in der es auch für ihn einen Platz in diesem Tal geben könnte. Seit Sonntag wissen wir, dass Romeo diesen Platz nicht mehr braucht.»

Aus dem Nichts taucht der Pfarrer auf und drückt Gaudenz die Hand. Die wütenden Blicke spürt er kaum, als er wie in Trance zurück zu seinem Platz taumelt. Claudia zieht ihn neben sich, hält ihn, tröstet ihn.

Von ganz hinten aus der Kirche sind Schritte zu vernehmen. Eine junge Frau kommt mit entschiedenen Schritten nach vorn.

«Susanna Rohner», sagt der Pfarrer, «trägt nun ein Gedicht vor.»

«Mein Berg», beginnt die junge Frau und schaut in die Runde.

«Bevor ich gehe, mein Tal

lass mir noch etwas Zeit,

damit ich mich

– kurz nur–

hinlegen kann ins Gras

zu meiner Kinderseele.

Bevor ich gehe, mein Tal

schick mir die Wörter!

Lass hören

noch einmal dein Flüstern

damit ich die Sprache

nicht vergesse– dort.

Bevor ich gehe, mein Freund

– vielleicht für immer–

denn was halten mich vernarbte Hänge,

entseelte Dörfer,

ein Lächeln für Japan?

möchte ich dir etwas geben.

Meinen Berg schenk ich dir.

Nein! Mitnehmen kann ich ihn nicht

denn dort, wo ich sein werde, ist es flach

sprich mit ihm

– jetzt gleich– damit er

meine Abschiedstränen nicht sieht.»

Ohne nochmals aufzuschauen, geht Susanna mit gesenktem Kopf nach hinten, die Musik setzt zu einem Zwischenspiel an, dann wird nochmals gebetet.

Begleitet von schweren Orgelklängen tragen vier Männer den Sarg durch den Mittelgang nach draussen, die Trauerfamilie folgt, die Anwesenden reihen sich in den Zug ein. Die Kirchenglocken setzen ein. Langsam wird der Sarg hinaus auf den Friedhof getragen. Beim Ausgang gibt es ein Gedränge, neben Gaudenz taucht Spinöl auf.

«Musste das sein vorhin?»

«Was meinst du?» Gaudenz schaut ihn kurz an. «Ich kann mich nur noch an Hesse erinnern.»

«Der Hesse war schon in Ordnung. Aber das mit dem geeigneten Platz hier im Tal, den Romeo nicht mehr braucht, das wird ein Nachspiel haben.»

Ohne eine Antwort zu geben, lässt Gaudenz Spinöl stehen, Claudia hängt sich bei ihm ein. Langsam gehen sie an den Grabreihen entlang.

«Sieh mal, wie jung diese Leute gestorben sind», sagt Claudia leise und deutet auf einige Grabsteine.

«Bergsteiger und Banker», flüstert Gaudenz, «die wollten zu hoch hinaus. Es gibt aber auch die ganz Alten.»

Weiter drüben schart sich die geschrumpfte Trauergemeinde um das offene Grab. Der Pfarrer kämpft mit dem Wind. Die Anwesenden versuchen, nicht auf die zugeschneiten Gräber zu treten. Einige tröstliche Worte, ein gemeinsames Gebet, dann siegt die Kälte. Zum Abschied berühren die Eltern den Sarg, langsam verschwindet das dunkle Holz in der Grube. Einer nach dem anderen verabschiedet sich stumm von Romeo, drückt den Angehörigen sein Beileid aus, entweder mit einem Händedruck oder mit einer innigen Umarmung und geht hinüber ins Hotel Margna, in dem zum Leichenmahl eingeladen wurde.

***

«Ich bin halb erfroren», flüstert Claudia, hängt den Mantel auf und streckt Gaudenz die kalten Finger entgegen. Er nimmt sie zwischen seine Hände und reibt sie sanft.

Im Saal ist es warm. Die Trauerfamilie besetzt den ersten Tisch für sich, die Verwandten der Kochs setzen sich zueinander, die jungen Leute aus der Kirche schieben zwei Tische zusammen. Einige Dorfbewohner stehen noch unschlüssig herum. Alexa bittet sie, Platz zu nehmen, geht durch den Saal und bedankt sich bei den Anwesenden für ihr Kommen.

Claudia und Gaudenz werden von ihr an den Tisch der Familie geführt. Kellner schenken dunkelroten Veltliner ein, tragen Trockenfleisch, Käse und Brot auf. Man prostet sich zu.

«Vielen Dank, dass du in der Kirche gesprochen hast, das war sehr wichtig für mich.» Gerda Koch drückt die Hand von Gaudenz. «Du warst immer gut zu Romeo.»

«In letzter Zeit haben wir uns etwas aus den Augen verloren.»

«Er erschien auch uns etwas sonderbar, er war verschlossen. Er erzählte nicht mehr viel von sich.»

«Ich weiss auch nicht, womit er sich beschäftigte.» Gaudenz schüttelt den Kopf.

«Spielt das noch eine Rolle?», brummt der Vater. «Aber etwas würde mich interessieren: Da war doch diese Geschichte mit dem vorzeitig abgebrannten Feuer am 1.August vor zehn Jahren. Wart ihr das eigentlich gewesen?»

Gaudenz zuckt mit den Schultern. «Ich war damals schon Polizist hier im Ort, ich durfte das nicht. Aber Romeo könnte durchaus dabei gewesen sein.»

«Das würde auch zu euch passen», antwortet Silvio und versucht ein Lächeln.

Erst wird leise gesprochen, dann folgt die eine oder andere Geschichte, die Anwesende mit Romeo erlebt hatten. Auch an den anderen Tischen steigt die Stimmung. Claudia entdeckt bei den Leuten aus Sils eine Freundin und geht zu ihr. Gaudenz sieht am Tisch der jungen Leute die Frau, die in der Kirche das Gedicht vorgetragen hat. Sie winkt ihm kurz zu, steht auf und geht hinaus. Gaudenz folgt nach einer halben Minute.

«Das mit dem Gedicht hat mir sehr gut gefallen.»

«Danke. Es ist von Gian-Claudio Manetsch, ich fand es passend.»

«Bist du nicht die Tochter unserer Gemeindeschreiberin?»

«Susanna, stimmt.» Sie streckt ihm die Hand entgegen. «Und du bist Gaudenz. Romeo hat mir viel von dir erzählt.»

«Ich kann es noch immer nicht fassen», sagt er schliesslich. «Er hat immer von einem grossen Ziel gesprochen, wollte mir aber nicht sagen, um was es dabei geht.»

«Jetzt ist er tot. Und wo ist dieses Ziel jetzt?», fragt sie traurig.

Er zuckt die Schultern.

«Wo ist dieses Ziel, Herr Polizist?» Sie schiebt sich eine Strähne hinter das linke Ohr. «Romeo hat es aus den Augen verloren, dieses Ziel, sonst wäre er noch hier, glaubst du nicht?»

«Wenn es so einfach wäre. Eine Bergtour, ein Unfall, ein toter Mann. Warum, das weiss niemand.»

«Romeo hatte sich verrannt, das ist die traurige Wahrheit, er wurde unausstehlich.»

«Er wollte, dass alles so bleibt, wie es war.»

«Warum das alles, Gaudenz?»

Früher lagen sie beide oft im Schlafsack auf einer Felsterrasse hoch über dem Val Fedoz, ein Steak auf dem Feuer und ein Glas Glühwein neben sich. In ihren Köpfen schwirrten Che Guevara, Siddhartha und viele Mädchen herum. Sie entwickelten die Theorie der «perfekten Wanderung» und träumten davon, die ersten Rasta-Bobfahrer in St.Moritz zu sein. Provokation und Widerspruch war die Batterie, die sie in neue Gedankenwelten katapultierte.

«Romeo hat Ideen oft über die Schmerzgrenze hinaus zu Ende gedacht und Konsequenzen weit hinter jeder Konvention ausgelotet. Ich erinnere mich, dass wir ganze Nächte über die Vergänglichkeit und über erfülltes Leben diskutierten.»

«Erfülltes Leben? Jetzt ist er tot. Das hat er nun davon, der Schwachkopf.» Sie lehnt ihren Kopf an seine Brust, weint hemmungslos.

«Pscht», versucht er sie zu beruhigen, «du wirst darüber hinwegkommen.»

Langsam hebt sie den Kopf. «Es war kein Unfall, Gaudenz. Romeo war einer grossen Sache auf der Spur. Ich musste für ihn Grundbuchauszüge kopieren. Ich schätze, er hatte ziemlich viel brisantes Material beisammen. Es ging um ein geplantes Bauprojekt am Munt Cler. Weisst du etwas davon?»