Tod im Engadin - Daniel Badraun - E-Book
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Tod im Engadin E-Book

Daniel Badraun

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Beschreibung

Ein Racheengel am Silsersee. Bei der Bündner Hochjagd wird der Kantonstierarzt von einer Felswand in den Tod gestoßen. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden: Steivan Chafrun, Biobauer und Querkopf, der das Opfer mehrfach bedroht hat und sich in der Nähe des Tatorts aufhielt. Der Silser Dorfpolizist Gaudenz Huber hingegen ist von der Unschuld des Bauern überzeugt und sucht stattdessen in den illustren Kreisen einer Kulturveranstaltung zum Thema »Schuld und Sühne« nach dem wahren Mörder. Doch den betuchten Teilnehmern schmeckt seine Recherche ganz und gar nicht ...

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Seitenzahl: 329

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Daniel Badraun wuchs im Engadin auf. Der Vater von vier erwachsenen Kindern und begeisterte Grossvater unterrichtet eine Kleinklasse und engagiert sich mit verschiedenen Projekten für die Leseförderung. Er ist oft mit dem Fahrrad oder auf Wanderungen unterwegs. Seit über dreissig Jahren lebt er mit seiner Frau in der Nähe vom Bodensee. Er schreibt Krimis, Theaterstücke und Kolumnen sowie Texte für Kinder.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Ludwig Mallaun

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-663-0

Originalausgabe

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Was bleibt

Was bleibt

wenn dein Lachen verklingt

wie die Kerze im Dunkeln?

Was bleibt

wenn dürr ein verlorenes Blatt

tanzt mit den Drachen im Sturm?

Was bleibt

wenn Freunde tränenblind

warten im verlorenen Land der Zeit?

Was bleibt?

Nur ein Wort, das sachte

übers dunkle Wasser zieht

einem fernen Ufer entgegen.

Gian-Claudio Manetsch

PROLOG

Dienstag, 13. September

Sie legt die Seiten vor sich auf den Schreibtisch und schaut hinaus in die Herbstlandschaft. Unter dem tiefblauen Engadiner Himmel liegt der Silsersee. Ein Ruderboot quert die Wasserfläche. Hier im Hotel Waldhaus mit diesem Blick in Richtung Süden schrieben schon viele bekannte Autorinnen und Autoren. Ein gutes Omen, findet sie und schaut auf ihr Manuskript. Seit Jahren wollte sie die Geschichte zu Papier bringen, doch immer wieder kam etwas dazwischen, und sie schob das Projekt hinaus. Langsam streicht sie über die Blätter. Ihre Hände zittern. Die Müdigkeit, die Anspannung, denkt sie. In den letzten Wochen hatte sie viel zu viel gearbeitet. Das hat Spuren hinterlassen.

Neben dem Berufsalltag mit den vielen Gesprächen und der Büroarbeit dazwischen schrieb sie an einem Artikel für eine Fachzeitschrift, die sowohl von Insidern wie auch von Laien gelesen wird. Unter dem Titel «Die Verjährung der Schuld» wollte sie eine These, die sie seit langer Zeit beschäftigt, einem breiten Publikum vorstellen. Der Abgabetermin war Ende Juli, unerbittlich rückte er näher, und obwohl sie hart arbeitete, kam sie nicht voran. Immer wieder musste sie ganze Passagen streichen. Sie waren zu sperrig, zu theoretisch und zu weltfremd, auch waren ihre Schlüsse nicht überzeugend formuliert. Sie wurde immer nervöser, und der Kaffeekonsum stieg steil an. Atemnot und Herzrasen waren die Folge. Sie wurde unausstehlich, suchte Streit mit der Verkäuferin im Einkaufszentrum und verfluchte jeden Radfahrer, der in der Fussgängerzone zu nahe an ihr vorbeifuhr.

Plötzlich war es ganz einfach. Zwei Tage vor dem Abgabetermin fügten sich die Teile des Textes ineinander, die Argumente ergänzten sich, und der Artikel wurde zu einem stimmigen Ganzen. Kurz nachdem sie die Mail mit ihrem Beitrag abgeschickt hatte, klingelte das Telefon.

«Kompliment», sagte Schulze, der verantwortliche Redaktor. «Sie haben es geschafft, eine schwierige Frage verständlich darzustellen, wir werden ihren Text an den Anfang unseres Heftes setzen.»

Das passe ausgezeichnet, antwortete sie, sie sei an eine Fachtagung zum Thema «Schuld und Sühne aus Sicht der Silser Literaten» im Oberengadin eingeladen worden, der Artikel gebe ihrem Auftritt zusätzliches Gewicht.

«Sils? Da verbrachte doch Nietzsche einige Sommer. Er hatte, soviel ich mich erinnere, sehr interessante Ansichten zu Schuld, Sühne und dem ganzen Drumherum», sagte Schulze und wünschte ihr alles Gute.

Dann war sie da, die Leere. Der Schreibtisch aufgeräumt, die Notizen zusammen mit dem Manuskript fein säuberlich in einer Kartonmappe abgelegt, beschriftet und in einer Archivbox staubsicher für die Nachwelt verstaut. Ihr Referat für Sils war bereit, sie würde es kurz vor ihrem Auftritt an der Fachtagung noch einmal hervorholen. Thema erledigt, mehr gab es im Moment nicht zu tun.

Zurück blieb die Unruhe, die sie vom Arbeitszimmer in die Küche, dann vor den Fernseher und wieder zurück an den Schreibtisch trieb. Die Zeitung war schnell durchgeschaut, das Essen schmeckte nach nichts, und ihre beruflichen Tätigkeiten füllten sie zu wenig aus. Neben dem Alltagskram blieb zu viel freie Zeit, die gefüllt werden wollte. Sie konnte nicht nichts tun.

Schliesslich öffnete sie die unterste Schublade ihres Schreibtisches und holte eine gelbe Mappe mit der Aufschrift «Ella, Pino, Kurt und ich» heraus. Langsam hob sie den Deckel. Zuoberst lag der Plan der Klosterinsel Reichenau im Untersee, dem Anhängsel des Bodensees. Dazu einige Prospekte, die sie kurz durchschaute. Gasthöfe, Hotels, UNESCO-Welterbe, eine Preisliste des Campingplatzes sowie ein zerknitterter Flyer. «Das grosse Hafenfest, Freitag, 18. und Samstag, 19. August 1997», las sie und atmete tief durch. Vor mehr als zwanzig Jahren, da waren sie noch jung, unverbraucht und wild.

Sie klappte den Laptop auf und begann zu schreiben. Das war vor drei Wochen.

Ella lernte ich auf der Überfahrt zur Insel kennen. Sie fiel mir schon auf dem Steg in Mannenbach auf. Besser gesagt waren es ihre Eltern. Unermüdlich gaben sie der Tochter gute Ratschläge mit auf den Weg. «Ruf an, wenn du dort bist. Hast du alles eingepackt? Der Brief für Dr. Suter ist oben im Koffer. Iss nicht dies und iss nicht das.» So was in der Art. Armes Mädel, dachte ich.

Die Solarfähre war eine bessere Nussschale. Vierzehn Personen, vier Fahrräder. Ella war bleich, ihre dunklen Augen wanderten ohne Ziel umher, blieben zwischendurch an einem sommergebräunten Gesicht hängen, rissen sich los, wanderten weiter, musterten dann mich – länger als die anderen Passagiere, wie ich mir einbildete –, und erst nach einigen Minuten kam ihr Blick draussen auf den Wellen zur Ruhe.

Sie setzte sich auf den freien Platz links neben mir.

«Bist du auch Asthmatikerin?», fragte sie und hustete.

Ich schüttelte den Kopf.

«Dann solltest du nicht hier sein.»

«Warum nicht?»

«Diese Insel ist nichts für junge Leute. Hierher kommen nur Kranke und Allergiker. Dazu einige Kulturverrückte. Wegen den Kirchen. Altes Zeug für Langweiler.» Sie deutete mit dem Kinn auf die Leute, die es sich auf den Bänken bequem gemacht hatten. Sahen so Kranke oder Langweiler aus?

«Ich werde meinen Spass haben, verlass dich drauf.» Ich zeigte auf mein bepacktes Fahrrad mit dem Zelt obendrauf, das vorne auf der Fähre stand.

«Wenn du Spass hast», sagte sie und hustete wieder, «dann lass es mich wissen. Ich bin gerne mit dabei.»

Ich hielt ihr die Hand hin, und sie schlug ein.

«Wie heisst du?», fragte ich.

«Was sind schon Namen?» Sie lachte. «Ballast. Sie sind nichts anderes als eine Bezeichnung unserer Rollen. Deine Eltern benutzen einen Kosenamen für ihr Projektkind, dahinter verstecken sich tausend Erwartungen und Ängste. Der Lehrer betont, wenn er die Schülerin ruft, jede Silbe in Erwartung eines Verhaltens, die ungeliebte Konkurrentin in Liebesdingen dagegen zerquetscht die Buchstaben zwischen den Zähnen. Nein, hier brauche ich etwas Neues. Drüben auf der Insel bin ich Ella.»

«Sue», sagte ich schnell, ohne nachzudenken, dankbar, meinen Namen eine Weile ablegen zu können.

«Heute Nachmittag», Ella nahm ein Blatt aus ihrer Umhängetasche und legte es zwischen uns auf die Bank, «sind die ersten Untersuchungen beim Arzt. Da habe ich keine Zeit für Spass.»

Ich schaute mir das Programm an. Termin folgte auf Termin. Von Frau Doktor A ging es ins Labor, dann zu Doktor B und zur Krankengymnastin. Und dick angestrichen der Termin beim Oberarzt, bei Dr. Suter. Auf achtzehn Uhr war das Abendessen angesetzt.

«Wir könnten uns später am Hafen treffen», sagte sie und holte einen Plan der Insel aus ihrer Tasche. «Hier beim Musikpavillon.» Sie machte ein Kreuz. «Den Plan kannst du behalten, ich kenne mich hier aus, das ist schon mein zweiter Sommer auf der Reichenau.»

«Und was mache ich in der Zwischenzeit?», fragte ich.

«Du suchst den Campingplatz, stellst dein Zelt auf und packst deine Tasche aus. Und dann, liebe Sue …» Sie zwinkerte mir zu.

«Was ist dann?»

«Dann suchst du zwei nette Jungs, die zu uns passen. Einverstanden?»

«Was hättest du lieber? Zwei Kranke oder zwei Alte? Wir könnten im Quartett husten. Oder uns über antike Kirchenbilder unterhalten.»

Ihr Lachen ging in einen Hustenanfall über, der erst endete, als sie einen Spray aus der Tasche zog und tief inhalierte.

Sie lässt die Seiten der Geschichte sinken und schaut zum Fenster hinaus. Die Aussicht war das Erste, das sie bemerkte, als sie heute Mittag ihr Zimmer im Hotel Waldhaus betrat. Und auch jetzt ist sie verzaubert vom Blick. Das Hotel liegt auf einer Anhöhe oberhalb des Dorfzentrums am Eingang des Fextales. Zwischen den Bäumen schimmert die Wasserfläche des Silsersees in der Nachmittagssonne, wie ein dunkler Mahnfinger ragt die lang gezogene Halbinsel Chastè in den See hinaus. Da traf Friedrich Nietzsche auf Zarathustra. Diese Begegnung hatte er in einem Gedicht beschrieben, das auf einem Stein für die Nachwelt verewigt wurde.

Am Abend würde die Tagung mit der Vorstellung der Referenten und einem Begrüssungsapéro beginnen. Small Talk unter Gleichgesinnten. Wie sie der Liste entnehmen kann, sind verschiedene Fachleute aus den Bereichen Philosophie, Psychologie, Geschichte und Literatur anwesend. Gespannt ist sie auf das Zusammentreffen mit einer Bestsellerautorin, die ihre psychologischen Krimis um die Themen Schuld, Vergeltung, Rache und Sühne kreisen lässt. Fragen, die sie in ihrem Berufsalltag immer wieder umtreiben. Seit der Begegnung mit Ella. Wenn alles gut läuft, wird sie der Dame einige Seiten ihres Textes zum Lesen geben.

«Es soll ein Roman werden, wenn er fertig ist», würde sie ihr sagen, «ich weiss nicht, wie das Ende sein wird.» Vielleicht bekommt sie einen Tipp von einer Insiderin. Vielleicht gibt die Autorin ihr auch die Adresse eines Verlages oder noch besser ihrer Literaturagentur. Vielleicht würde die Autorin sie sogar weiterempfehlen, sie als Kollegin im Kreis der Literatinnen willkommen heissen. Träume. Sie schüttelt den Kopf, lächelt über diese naiven Wünsche, denn sie weiss, dass man nicht auf eine Newcomerin wie sie gewartet hat, auf Themen, die bereits mehrfach in Romanen breitgewalzt worden sind.

Sie löst den Blick von der Umgebung und liest weiter. In der nächsten Passage hatte sie einige Stellen rot angestrichen. «Gibt es eine Vorsehung?», schreibt sie jetzt daneben.

«Bis später», sagte Ella, nachdem wir beim Inselhotel ausgestiegen waren und sie den Bus der Klinik erblickte, «und vergiss die Jungs nicht. Ich zähle auf dich.»

Langsam fuhr ich auf dem Radweg zum Ende der Insel. Dort sei ein schön gelegener Campingplatz mit Badestrand, hatte mir eine Freundin erzählt. Mein Zelt war schnell aufgestellt, ich legte Isomatte und Schlafsack bereit und verstaute die Packtaschen unter dem Vordach. Ich ging auf die Toilette. Ich schaute mir das Angebot im Lebensmittelladen an. Ich ass ein Eis. Ganz so, wie es sich das Schicksal von mir wünschte. Es durfte nicht sein, dass der Zufall seine Finger mit im Spiel hatte. An diesem Tag gab es nur einen richtigen Moment, um zur Anlegestelle zurückzukehren. Und der war genau in jener Minute gekommen.

Die Sonne zeigte sich kurz zwischen den tief vorbeifliegenden Wolkenbänken, der Wind liess Haare und Bluse flattern, als ich an den Treibhäusern vorbeiradelte. Es waren nur wenige Leute unterwegs, und ich kam gut voran. Als ich beim Landungssteg ankam, lehnte ich das Fahrrad an einen Baum und schaute mich um.

Auf den Bänken sassen ältere Damen und Herren, einige hatten einen Rollator neben sich stehen, andere hatten Stöcke mit dabei. Sie schauten aufs Wasser hinaus oder vor sich auf den Boden. Der Kiosk und die Bootsvermietung hatten bereits geschlossen. Die beiden Männer draussen auf dem Steg fielen mir sofort auf. Sie waren jung, sportlich und gut aussehend. Der Schwarzhaarige schaute kurz zu mir herüber, der andere, der mit der Mütze, stand vornübergebeugt da, er hatte die Ellbogen auf das Geländer aufgestützt und beobachtete die Uferpartie durch sein Fernglas. Dabei murmelte er unverständliche Worte. Sein Begleiter senkte den Kopf und schrieb etwas in ein Heft mit schwarzem Umschlag. Dann schaute er wieder zu mir und lächelte.

Langsam ging ich auf den Steg hinaus. Auf der Höhe der beiden Männer liess ich meine Tasche fallen. Der Dunkelhaarige drehte sich zu mir um und bückte sich.

«Ein Gentleman?», fragte ich spöttisch, als er mir den Schulterriemen entgegenstreckte.

«Zwei Haubentaucher», sagte der Typ mit der Mütze.

«Was hast du gesagt?», fragte der Dunkelhaarige, der immer noch meine Tasche hielt.

«Ein Gentleman», sagte ich.

«Zwei Haubentaucher», sagte der Mützenträger.

«Ich heisse …»

«Halt!» Ich hielt dem Gentleman den Finger auf die Lippen. «Wie dich deine Eltern nennen, interessiert mich nicht. Hier auf der Insel braucht jeder einen anderen Namen. Auf der Reichenau bin ich die Sue.»

«Pino», sagte der Typ mit dem Fernglas, «und das ist Kurt.»

«Kurt?», fragte der Dunkelhaarige. «Ist das dein Ernst?»

«‹Kurt› passt.» Ich nahm ihm die Tasche ab. «Was macht ihr hier auf der Insel der Langweiler?»

«Er zählt Wasservögel.» Kurt hob das Heft hoch und zeigte auf eine Seite, die mit Zahlen vollgekritzelt war. «Es ist irgendetwas für sein Studium.»

«Es ist nicht irgendetwas», sagte Pino. «Ich erhebe wichtige Daten, die ich für eine Seminararbeit brauche.»

«Wollen wir das so genau wissen?», fragte mich Kurt.

«Wollen wir nicht», gab ich zurück und ging weiter auf den Steg hinaus.

«Schreibst du jetzt?» Pino klopfte auf das Geländer. «Da waren zwei Haubentaucher.»

«Ich brauche eine Pause. Schreib selber.» Kurt legte das Heft auf die Holzplanken und folgte mir.

Ich setzte mich ganz vorne auf den Steg und liess die Beine über dem Wasser baumeln.

Wenn ich meine Tasche nicht fallen gelassen hätte … Wenn ich die Nummer mit den Namen nicht gebracht hätte … Wenn Kurt mir nicht gefolgt wäre und sich nicht neben mich gesetzt hätte … Wenn ich geschwiegen hätte …

«Warum machst du das?», fragte ich.

«Pino ist mein Freund, er kann das nicht alleine. Ich habe Ende Juni meinen Job gekündigt und habe Ferien bis im September. Dann beginne ich eine Ausbildung als –»

Wieder verschloss mein Zeigfinger seine Lippen. «Ich will keine Vorgeschichte hören, nichts über die Zukunft erfahren, einfach nur das Hier und Jetzt erleben.»

«Wenn das so ist …» Er rutschte etwas näher an mich heran. Unsere Beine berührten sich. Hühnerhaut. Seine Finger tasteten nach meinen Fingern und streichelten sie. Es war nicht unangenehm. Eine Weile liess ich es geschehen. Dann wollte ich mehr.

«Es gibt da eine Geschichte», sagte ich und stand auf.

«Setz dich bitte wieder. Ich bin ein guter Zuhörer.» Kurt schaute zu mir hoch. Erwartungsvoll.

«Gleich, aber erst muss ich Pino etwas fragen.»

«Über Wasservögel?»

«Ich kann kaum eine Ente von einem Schwan unterscheiden.»

Der Wind hatte aufgefrischt. Die Rentner mit ihren Gehhilfen waren verschwunden. Zeit fürs Abendessen im Inselhotel. Pino beobachtete den See, schrieb auf und beobachtete wieder.

«Hör mal», sagte ich und zog das Heft, das zwischen seinen Beinen lag, etwas zur Seite. «Du beobachtest doch nicht die ganze Zeit Vögel, oder?»

«Das kommt darauf an», brummte er und schaute mich zum ersten Mal richtig an.

Blaue Augen, kalt wie Eisberge, musterten mich von oben bis unten, dazu das Lächeln des Kenners, der vergleicht und einteilt, Punkte vergibt und entscheidet, ob jemand genügt oder eben nicht. Und ich wusste gleich, dass ich unbedingt genügen und in das Pino-Schema passen wollte.

Schliesslich nickte er herablassend, ich hatte die Prüfung bestanden.

«Ich habe noch eine Freundin», sagte ich, «sie kommt um acht hierher.»

«Und?» Pino schob das Kinn vor.

«Sie ist auf der Insel zur Kur.»

«Drüben in der Klinik?» Kurt, der etwas in Vergessenheit geraten war, hatte sich gefasst und meldete sich zurück.

«Ich glaube schon.» Ich schaute mich um. «Wo schlaft ihr?»

Kurt zeigte in die Richtung, in der auch der Campingplatz lag. «Auf dem Hof einer Freundin meiner Tante. Wir arbeiten am Morgen einige Stunden, dafür gibt es Essen, Taschengeld und ein Badehaus am See samt Ruderboot.»

«Nicht schlecht. Das würde ich gerne sehen.»

Bevor Kurt antworten konnte, pfiff Pino anerkennend. «Ist sie das?»

Es gab mir einen Stich. Auftritt Ella. Es hätte ein wunderbarer Abend werden können. Wir hätten Spass haben können. Ein wunderbarer Sommerflirt. Stattdessen zerrissen Träume, stürzten Türme ein, und es war ein Wunder, dass ich nicht in Tränen ausbrach.

Ella suchte Spass. Und Pino hatte plötzlich genug von seinen Vögeln und wollte sich amüsieren. Kurt, der die Augen nicht von Ellas blassem Gesicht lassen konnte, sowie ich, die doof glotzende Sue, die nach den eisblauen Augen von Pino schmachtete, waren dazu verdammt, hinterherzulaufen und als Statisten bei einem Wunder zuzuschauen, mit dem sie nichts zu tun hatten.

So begann ein Alptraum, der Leben zerstörte und Seelen an den Rand des Abgrundes führte. Es war auch mein und Kurts Alptraum. Dabei hätten wir zwei nur die Hände nacheinander ausstrecken müssen, ich hätte mich mit Kurt zufriedengeben können. Doch wir waren verblendet, dumm und wollten nichts vom Trostpreis in Reichweite wissen, wenn der Hauptgewinn dauernd vor unserer Nase herumschwirrte.

Sie schwitzt. Auch ihre Hände sind feucht. Vorsichtig legt sie die Blätter in die Mappe zurück. Das Schreiben der Geschichte war eine Sache, das Wiederlesen ist eine andere. Zwar kennt sie alle möglichen menschlichen Abgründe aus ihrem Berufsalltag. Alle Facetten der verschmähten Liebe, der Missgunst und der Eifersucht. Das Dunkle in den Seelen ihrer Mitmenschen ist ihr keinesfalls fremd. Dem begegnet sie Tag für Tag in ihrer Praxis. Das Dunkle aber, das aus ihrer Feder floss, das sie in die Tastatur hineingehämmert hatte, macht ihr beim Wiederlesen Angst. Sie hätte es lassen sollen.

Ihr Atem geht schneller. Sie springt auf. Der Stuhl fällt um, doch das ist ihr egal. Hastig durchquert sie ihr Zimmer, zieht sich aus und wirft die Kleider achtlos auf den Boden, geht ins Bad, stellt sich unter die Dusche und lässt das Wasser über ihren Körper laufen. Einmal heiss, einmal kalt, danach wieder heiss, bis sie sich beruhigt hat.

Langsam trocknet sie sich ab und cremt ihren Körper ein. Dabei schaut sie sich im Spiegel an. Diese Rundungen, diese Linien. Erstklassig, findet sie. Nein, sie ist kein Trostpreis wie die Sue in ihrer Geschichte, das muss sie sich immer wieder sagen. Sie ist eine attraktive Frau, sportlich und bestens ausgebildet, klug und geistreich. Materielle Sorgen sind ihr fremd, sie hat eine eigene Wohnung und ein gut gefülltes Konto. Alles in allem wäre sie eine gute Partie, nur dass der Richtige bisher nicht bei ihr vorbeigekommen ist. Warum, das kann sie sich nicht erklären.

Sie zieht sich saubere Unterwäsche an, schminkt sich dezent, sucht eine Bluse mit Blumenmuster heraus und Jeans, dazu wählt sie ein elegantes Jackett. Sie schlüpft in Stiefeletten mit flachem Absatz und verlässt das Zimmer. Die Kleider lässt sie auf dem Boden liegen.

Dicke Teppiche dämpfen ihre Schritte. Ein breites Treppenhaus führt hinunter in die holzgetäferte Lobby. Der Mann an der Rezeption nickt ihr zu. Rechts der weitläufige Aufenthaltsraum mit grossen Fenstern, die einen weiten Blick hinaus in den Wald eröffnen. Einige Gäste sitzen beim Tee, lesen Zeitung oder sind in leise Gespräche vertieft. Soll sie sich irgendwo dazusetzen, sich vorstellen und hoffen, dass ihr Gegenüber ebenfalls an der Tagung teilnimmt? Oder doch lieber alleine ihren Espresso trinken, der viel zu schnell leer wäre. Was würde sie danach tun? Sie schaut auf die Uhr. Es ist noch nicht ganz vier. Etwas früh für einen Drink.

Du machst dir viel zu viele Gedanken, sagt sie zu sich, ein wenig Spontaneität würde dir guttun. Ich bin zu verkopft, die dauernde Fragerei nach den Motiven blockiert das halbe Leben.

Gerade will sie sich in einen der Sessel fallen lassen und etwas zu trinken bestellen, da hört sie von draussen Musik. Hörnerklang.

«Was ist da draussen los?», fragt sie den Angestellten an der Rezeption.

«Der Jägerverein Sils gibt ein Ständchen, danach erzählt ein Kulturhistoriker etwas über die Jagd hier im Tal, die jeweils in den ersten Septembertagen beginnt. Beim anschliessenden Umtrunk haben Sie die Möglichkeit, von den Jägern etwas über ihre Passion zu erfahren. Informationen aus erster Hand», sagt dieser und legt eine Broschüre vor sie auf die Theke.

«Gehört das zum Programm der Fachtagung?» Eine Frau mit braunen Haaren und einem auffällig bunten Outfit hat sich neben sie gestellt.

«Nicht direkt.» Der Angestellte lächelt.

«Indirekt natürlich schon.» Der brünette Paradiesvogel, wie sie die Frau insgeheim nennt, lacht laut. Einige Gäste drehen sich nach ihr um. «Die Jäger laden immer wieder Schuld auf sich, wenn sie ein Tier töten.»

«Schon», sagt sie, «aber ist es nicht etwas anderes, ich meine …»

«Das werden wir gleich erfahren.» Der Paradiesvogel hakt sich bei ihr ein, als wären sie gute Freundinnen. «Komm, das müssen wir uns anschauen.»

Angesichts ihrer schrillen Begleiterin, die keinerlei Berührungsängste zu kennen scheint, was ihr etwas peinlich ist, fragt sie sich, ob sie nicht an der falschen Veranstaltung teilnimmt. Lieber hat sie es etwas stiller, etwas dezenter, gehaltvoller auch.

Gemeinsam verlassen sie das Hotel. Sie schaut sich um. Drüben beim Parkplatz umringen neugierige Zuschauer im Freizeitlook eine Gruppe Jäger, die in dunkle Grüntöne gekleidet sind. Sie tragen Rucksäcke und haben ihre Gewehre geschultert. Gerade heben sie wieder ihre Jagdhörner und spielen ein kurzes Stück.

«Dilettantisch», findet der Paradiesvogel, «da habe ich schon weit bessere Produktionen gehört. Bei uns im Schwarzwald hat das eben Tradition. Wie die Treibjagd.»

«Meine Damen und Herren», ein Jäger tritt etwas vor, «es freut mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind, um mit uns über die Bündner Hochjagd zu sprechen. Mein Name ist Peider Spinöl, ich bin der Gemeindepräsident von Sils und begeisterter Jäger wie alle meine Kameraden hier.»

Zwei Frauen, ebenfalls in Feldgrün, räuspern sich gut hörbar.

«Und auch unsere Kameradinnen, denn längst ist die Jagd keine reine Männerangelegenheit mehr, wenn auch …», Spinöl greift in seine Tasche und holt einen Zettel heraus, «… also meine Frau froh ist, wenn ich eine Woche in den Bergen verschwinde und sie in Ruhe lasse mit meinen Jagdgeschichten. Dafür kocht sie mir den besten Hirschpfeffer, den man sich vorstellen kann.»

Während sich der Gemeindepräsident durch seine Ansprache hangelt und über die Freiheit und Ruhe spricht, über das Beobachten der Tiere und auch über den finalen Schuss, schaut sie die Jäger genauer an. Ein Mann, der auf der linken Seite des Gemeindepräsidenten steht, fällt ihr besonders auf. Er ist, im Gegensatz zu den anderen Weidmännern, auffallend elegant gekleidet. Hose und Jacke scheinen auf Mass geschneidert worden zu sein, der Rucksack weist keinerlei Gebrauchsspuren auf, und sein Gewehr ist frisch poliert. Er mustert die Anwesenden, einen Moment bleibt sein Blick an ihr hängen, dann wandert er hinüber zum Paradiesvogel, ein spöttisches Lächeln umspielt seine Lippen. Er sagt etwas zu seinem Nachbarn, der nickt. Sicher hat auch der die Frau in den knalligen Kleidern, die dazu noch etwas zu eng geschnitten sind, bemerkt.

«… und darum sind wir Bündner stolz auf unsere Jagd», beendet der Gemeindepräsident seine Ansprache. Höflicher Applaus ertönt. «Bevor ich ganz ins Jägerlatein abschweife, gebe ich das Wort an unsere geschätzte Kultursekretärin Hanna Steiner weiter.»

Eine Frau, die sich bisher im Hintergrund gehalten hat und sicher keine Jägerin ist, kommt nach vorne und hüstelt kurz. «Geschätzte Damen und Herren, die Jagd ist ein heimisches Kulturgut, ein Teil der alpinen Identität. Es ist eine grosse Freude für mich, Ihnen Dr. Claudius Peyer ankündigen zu dürfen, einen namhaften Kulturhistoriker, der auch an der heute Abend beginnenden Fachtagung sprechen wird. Ich bin sehr gespannt, was er über die Jagd zu sagen hat. Bitte schön, Herr Doktor.»

Die Kultursekretärin zeigt auf den Redner, wartet kurz und geht dann zur Seite. Dabei zieht sie ein Taschentuch hervor und schnäuzt sich ausgiebig.

Peyer, ein Mann mit intellektuell wirkender Brille, tritt vor das Publikum und schaut in die Runde. «Die Jagd, meine Damen und Herren, war einst ein Mittel zum Überleben. Ich sage bewusst ‹war›, denn wir alle wissen, dass heute jedefrau und jedermann gut ohne sie auskommen kann. Für die städtische Bevölkerung ist die Jagd ein Überbleibsel aus einer fernen Zeit. Jägerinnen und Jäger passen nicht mehr so ganz ins urbane Lebensgefühl, bei dem der Überlebenskampf höchstens noch im Auto stattfindet.»

Peyer macht eine Pause und schenkt den Jägern ein freundliches Lächeln. «Wir alle, liebe Anwesende, oder sagen wir, viele von uns, essen gerne Fleisch. Auf der anderen Seite mögen wir kuschelige Tiere mit weichem Fell und dunklen, ausdrucksvollen Augen. Bambi würden wir alle beschützen, auch die Tiere im ‹Dschungelbuch› haben wir ins Herz geschlossen. Auf der anderen Seite geht es den Leuten in den Bergen um die Pflege der Kulturlandschaft, um die Regulierung des Wildbestandes. In diesen Spannungsfeldern findet die Jagd statt, die hier im Kanton Graubünden auch eine Volksjagd ist, ein Männlichkeitsritual mit weiblicher Beteiligung. Wir Männer waren schon immer, also seit es Menschen gibt, Jäger. Mit primitiven Waffen kämpften wir gegen das Mammut, gegen den Säbelzahntiger und den Wisent. So etwas setzt sich im Hirn fest und prägt unser Verhalten.»

«Bevor er uns mit seiner Prägung den Nachmittag versaut», sagt der Paradiesvogel, «möchte ich mal sehen, was die für uns aufgetragen haben.»

Bereitwillig lässt sie sich mitziehen, auf ein Referat, das die Jagd aus der Sicht der Männer glorifiziert, hat sie keine Lust. Das Buffet, das etwas abseits aufgestellt wurde, ist gut bestückt. Aus den mit Eis gefüllten Behältern ragen die Hälse von Bier- und Weissweinflaschen. Gläser stehen bereit, auf Holzbrettern liegen Brötchen mit Trockenfleisch und Bergkäse. Ein Kellner, weisses Hemd, schwarze Schürze, füllt ihre Gläser.

«Na, meine Damen, schon genug von den klugen Ausführungen des Herrn Doktor?» Der elegante Jäger steht plötzlich neben ihnen.

«Wir haben eigentlich nichts gegen eine Jagdgeschichte, die man mit Weisswein hinunterspülen kann», sagt der Paradiesvogel und schiebt sich eine Strähne ihres braunen Haares hinter das linke Ohr. «Für eine abgelesene Masterarbeit, die in der Steinzeit einsetzt, fehlt mir allerdings die Geduld.»

«Konradin», sagt der Jäger und hebt sein Glas.

«Corinna», sagt der Paradiesvogel.

Nun weiss sie, wer die Frau neben ihr ist. Corinna Franke, die bekannte Krimiautorin, die ebenfalls für die Tagung zu Schuld und Sühne angemeldet ist.

«Ich hätte da eine Geschichte, über die ich gerne mit dir sprechen möchte», sagt sie.

«Später.» Corinna lacht. «Zuerst einmal bin ich gespannt auf das Jägerlatein von Konradin.»

«Na gut. Stellt euch einen kalten Herbsttag vor. Ich war früh aufgestanden und noch bei Dunkelheit einen steilen Hang hinaufgestiegen, denn ich wollte oberhalb des Wasserfalls weit hinten im Val Fex eine Gämse schiessen, die ich das ganze Jahr über beobachtet hatte. Die Wiesen waren nass vom Tau und ziemlich glitschig. Ein falscher Schritt konnte im abschüssigen Gelände den Absturz, ja den sicheren Tod bedeuten.» Konradin nimmt einen Schluck.

«Der Anfang ist gar nicht schlecht. Etwas mehr Landschaft und Lokalkolorit würden der Erzählung guttun. Vielleicht könntest du noch den Abschied von deiner Frau schildern, ihre Angst oder eine Vorahnung.» Corinna nimmt sich ein Brötchen.

«Ich habe keine Frau.»

«Dann eine Freundin. Ein Abschied unter Tränen macht sich immer gut. Oder auch der Weg aus einem durchwühlten und nass geschwitzten Bett hinaus in die klare Bergluft. Du weisst schon, was ich meine.» Corinna blinzelt dem Jäger zu.

«Wollt ihr die Geschichte jetzt hören?»

«Und was ist mit den Gedanken, die den Jäger unterwegs beschäftigen?», mischt sie sich nun ein. «Fragt er sich, warum er heute töten muss, warum er diese arme Kreatur unbedingt zur Strecke bringen will?»

«Ihr nervt ganz schön», sagt Konradin, «vielleicht wäre es das Beste, wenn ihr mal mit auf die Jagd kommt. Einige Stunden aufwärtsgehen vertreibt alle schrägen Gedanken, das kann ich euch sagen.»

«Mit dir auf die Jagd?» Corinna schnalzt mit der Zunge. «Das müsste man sich genauer überlegen. Was meinst du?» Sie schaut ihre Begleiterin an, die bisher nicht einmal dazu gekommen ist, ihren Namen zu nennen.

«Ich denke, dass mir das schon gefallen würde», sagt sie und schaut Konradin herausfordernd an.

«Es heisst zwar, dass es Unglück bringt, wenn man seine Liebste mit auf die Jagd nimmt, aber bei dir», er schaut Corinna an, «könnte ich schon eine Ausnahme machen.»

Weiter kommt Konradin nicht. Gerade hat Dr. Claudius Peyer sein Referat beendet. Die Kultursekretärin überreicht ihm als Dankeschön ein Buch mit Geschichten aus dem Dorf und eine Tasche mit Spezialitäten. Danach lädt Gemeindepräsident Spinöl zum Umtrunk, und das Buffet wird von den Anwesenden gestürmt. Satzfetzen schwirren hin und her. Corinna Franke beginnt ein Gespräch mit dem Gemeindepräsidenten, Konradin wird von zwei blonden Frauen in die Mangel genommen. Die Kultursekretärin prostet Referent Peyer zu, um sich gleich darauf wieder die Nase zu putzen. Und sie steht da, alleine mit ihrem Weissweinglas.

«Kennen wir uns nicht von irgendwoher?», fragt sie der unscheinbare Jäger, mit dem Konradin vorhin getuschelt hat. «Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiss nicht, woher.»

Wieder so ein Langweiler, denkt sie, der sie auf diese Tour anmacht und mit dem sie nichts zu tun haben will. Mich kennt man unter dem Namen Trostpreis, würde sie am liebsten hinausschreien.

Stattdessen schüttelt sie bedauernd den Kopf. «Nicht dass ich wüsste.»

«Sicher?», fragt er.

«Ganz sicher», sagt sie und geht, obwohl sich eine leise Ahnung in ihr regt, zurück ins Hotel.

EINS

Mittwoch, 14. September

Gaudenz Huber schuftet. Auf seinem Schreibtisch türmen sich die Akten. Bevor er einen Stoss abgearbeitet hat, sind zwei neue da. Eigentlich müsste er auf der Strasse den Langsamverkehr kontrollieren, Parkbussen verteilen und Leute verwarnen, die ohne Bewilligung ins Val Fex hineinfahren. Aber er kommt kaum mehr aus dem Büro.

«Das alles ist ein Alptraum», sagt er missmutig, als die Gemeindeschreiberin Gianna Rohner das Büro betritt und ihm einige Akten auf die letzte freie Stelle seines Schreibtisches legt. Die Papiere sind zwar für Giacun Rauch, den anderen Gemeindepolizisten von Sils, bestimmt, doch dieser ist nicht da. Er fehlt, wie andere Angestellte der Gemeindeverwaltung auch. Im Kanton Graubünden sind viele Arbeitsplätze verwaist. Es herrscht eine Art Ausnahmezustand.

Im September werden viele Männer und einige Frauen vom Jagdfieber gepackt. Sie schultern ihre Rucksäcke, nehmen das Gewehr und steigen frühmorgens die Hänge hinauf, um auf einen Hirsch oder eine Gämse zu warten. Sie trinken Tee mit einem Schuss Rotwein, essen Bergkäse, Salsiz und Salametti, dazu hartes Roggenbrot, liegen an der Sonne oder ducken sich im Regen unter die Äste einer alten Arve. Ab und zu zerreisst ein Schuss die Stille der Bergwelt, und ein Tier sinkt getroffen aufs Gras. Stolz steckt ihm der Jäger einen Zweig in den Mund und macht, wie es neuerdings Mode ist, ein Selfie. Am Abend spinnen die Weidmänner am Stammtisch in der Dorfwirtschaft Jägerlatein. Einer erzählt davon, dass er auf einen Baum kletterte, dann einen kapitalen Hirsch sah, ihn schiessen wollte, aber nur das Klicken des Verschlusses hörte, da die Waffe nach der Kletteraktion nicht geladen war. Ein anderer zeigt Bilder von einem dunklen Schatten, von einem Bären, der seinen Weg kreuzte.

Ausnahmezustand heisst, dass alle Nichtjäger, zu denen Gaudenz Huber gehört, zu den eigenen Aufgaben auch diejenigen der Jäger übernehmen müssen, also ein Mehrfaches an Arbeit bewältigen sollen. Sein Kollege bei der Gemeindepolizei Giacun Rauch nimmt im September jeweils zwei Wochen Ferien, dazu kompensiert er einige Tage Überzeit, sodass Gaudenz während der Jagdwochen alleine für die Sicherheit und das Wohlergehen seiner Gemeinde zuständig ist, neben der Kantonspolizei natürlich.

«Selber schuld», sagt Gianna, als er seufzend die neuen Aufträge entgegennimmt.

«Warum?»

«Weil du nicht auf die Jagd gehst.»

«Wer würde dann meinen Job machen, wenn ich auch noch in den Bergen herumsteigen würde?»

Gianna zuckt bloss mit den Schultern. Sie legt eine giftgrüne Kartonmappe ganz oben auf den Stoss der nicht erledigten Aufträge. «Das hier eilt besonders.»

«Alles eilt.» Gaudenz zeigt auf die Papierflut, unter der er zu ertrinken droht. Dann öffnet er die neue Mappe.

Sie enthält ein amtliches Schreiben, zwei Blätter Kleingedrucktes und eine Liste. Oben rechts auf dem Schreiben prangt das Wappen mit dem Steinbock. Der Absender ist Kantonsarzt Doktor Wichtig. Gaudenz kommt es vor, als ob sich die Beamten im fernen Chur ab und zu bemerkbar machen müssten, damit die Untertanen in den entlegenen Tälern nicht vergessen, wer im Kanton das Sagen hat. Meist sind es irgendwelche Papiere, die viel Arbeit machen und danach in einem Archiv verstauben und in Vergessenheit geraten. Statistiken, Anfragen, unnützes Zeugs.

«Verhalten der Sicherheitskräfte beim Ausbruch einer Masernepidemie», liest er laut. «Beim Auftreten eines neuen Krankheitsfalles müssen die nicht geimpften Elemente separiert werden und in Quarantäne gehen, damit keine weiteren Ansteckungsherde entstehen.»

«Alles klar?», fragt Gianna.

Gaudenz schüttelt den Kopf. «Was ist ein nicht geimpftes Element?»

«Das steht weiter unten. Auf jeden Fall sind wir in der Gemeinde verpflichtet, diese Richtlinie umzusetzen.»

«Die grösste Epidemie, die hier je ausgebrochen ist, heisst nicht Masern, sondern Jagdfieber», sagt Gaudenz, «davon ist das ganze Tal betroffen. Viele Firmen drosseln ihre Produktion. Falls du einen Handwerker brauchst, musst du warten, bis die Jagd vorbei ist, so lange tropft dein Wasserhahn. Wenn du Pech hast, steigt im September die Heizung aus, dann frierst du eben, bis der Monteur seinen Hirsch geschossen hat. Zum Glück halten die portugiesischen und italienischen Gastarbeiter die Stellung, sonst wäre der Schaden im Tourismus enorm.»

Gianna tippt auf eine handschriftliche Notiz von Gemeindepräsident Spinöl. «Zusammen mit der Schule erledigen», hatte er geschrieben.

Auf einer Liste im hinteren Teil der Mappe sind alle Namen der Schülerinnen und Schüler, die in Sils den Unterricht besuchen, nach Klassen geordnet aufgeführt. «Was soll ich damit?»

«Ausfüllen natürlich.»

Gaudenz schaut sich das Blatt genau an. Rechts von den Namen hat es Platz für ein Kreuzchen. «Gegen Masern geimpft», steht da. «Was ist mit dem Datenschutz? Darf das der Kanton wissen?»

«Er darf. Das steht im neuen Epidemiegesetz. Eine Aufgabe mehr für die Gemeinden.»

«Diese bürden wir uns nicht auch noch auf.» Gaudenz zeigt auf seinen vollen Schreibtisch. «Das geht an die Schule, die Lehrerinnen und Lehrer sollen selber schauen, wie sie zu diesen Informationen kommen.»

«Auch gut. Ich bringe die Liste rüber ins Schulhaus, dann komme ich mal an die frische Luft.»

Gaudenz ackert weiter. Papierkram. Wie er den hasst. Irgendwann hat er genug. Er öffnet das Fenster und gönnt sich einige Atemzüge Herbstluft. Um sich abzulenken, beginnt er, auf den Internetseiten des Kantons herumzusurfen. Welches sind eigentlich die Voraussetzungen, um das Jagdpatent zu lösen? Das ganze Prozedere dauert im besten Fall sechzehn Monate. Der Kandidat muss eine Jagdprüfung ablegen, eine Schiessausbildung absolvieren, um die Tiere möglichst perfekt zu töten und nicht mit einer Verletzung irgendwo verenden zu lassen, ausserdem sind im Ganzen achtzig Hegestunden zu leisten. In einem Kurs lernt man, wie das Wildbret fachgerecht behandelt wird. Etwas viel für einen, der nicht vorhat, auf Tiere zu schiessen. Das nämlich könnten weder seine Töchter noch seine Frau verstehen. Was ihn reizen würde, sind die Tage draussen in der Natur. Das Herumstrolchen ohne Weg und Ziel, das In-den-Tag-hinein-Leben. Gerade in diesen Septemberwochen, in denen kaum jemand arbeitet, scheint ihm diese Aussicht besonders verlockend.

Als Jugendlicher war er ein grosser Kanada-Fan gewesen. Er verschlang reihenweise Bücher, die vom Leben in den Wäldern erzählten, von den reissenden Flüssen und den Seen, den menschenleeren Weiten am Polarkreis und den Goldgräbern. Über seinem Bett hing eine Kanada-Karte, die er immer wieder betrachtete. Er trug auch eine Mütze mit dem Ahornblatt. Er stellte sich vor, wie er im Winter in seinem Blockhaus am Herdfeuer sitzt, selbst gefangenen Lachs isst und der Stille lauscht. Zweimal am Tag kontrolliert er, ob nicht Pelztiere in seine Fallen gegangen sind, damit er mit dem Erlös aus dem Verkauf der Felle neue Lebensmittel wie Zucker, Mehl oder Kaffee kaufen kann. Er stellte sich die Fahrten mit dem Hundeschlitten über die gefrorenen Seen vor, die Kanutour im Sommer auf dem wilden Yukon bis hinunter zu den Goldfeldern an der Mündung des Klondike River.

Irgendwann hatte diese Sehnsucht nachgelassen. Er hatte eine neue Freiheit in seinem Tal gefunden, war zu langen Wanderungen durch die Seitentäler aufgebrochen, hatte am offenen Feuer gekocht und unter dem weiten Sternenhimmel biwakiert. Zusammen mit seinem Freund Romeo war er später zu abenteuerlichen Italienreisen aufgebrochen. Kanada konnte warten und war bis heute ein leiser Traum ganz hinten in einer versteckten Ecke seines Kopfes geblieben.

Ein lautes Niesen reisst ihn aus seinem Tagtraum. In der Tür des Büros steht Hanna Steiner, die Kultursekretärin der Gemeinde Sils, und hält sich ein Taschentuch vors Gesicht.

«Gesundheit», wünscht Gaudenz.

«Ich kann Spinöl nicht finden», sagt sie mit heiserer Stimme.

«Der war heute Mittwoch früh nur ganz kurz hier und hat uns alle mit Arbeit eingedeckt.» Gaudenz zeigt auf die Papiere, mit denen er sich gerade beschäftigt. «Nun ist er wieder auf der Jagd oder sitzt vor seiner Hütte an der Sonne.»

«Ich wollte mich abmelden», sagt sie und hustet. «Fieber, Schnupfen, Husten, einfach alles Mögliche gleichzeitig.»

«Das tut mir leid.» Gaudenz steht auf und schliesst das Fenster. «Schlimm?»

«Sehr wahrscheinlich habe ich mir gestern Abend beim Umtrunk mit den Jägern und den anderen Gästen etwas geholt.»

«Umtrunk tönt nicht wirklich gefährlich.»

«Es war kühl und windig, ich hatte keine Zeit, mich umzuziehen, und fror während der ganzen Veranstaltung. Nun gehe ich nach Hause, trinke einige Gläser Glühwein, stelle die Klingel und das Telefon ab und schlafe, bis ich wieder gesund bin. Kannst du das Spinöl bitte ausrichten?»

«Auch, dass du dich schon vor Feierabend betrinkst?»

Hanna Steiner lacht, dann hustet sie. «Mach, was du willst. Hier sind die Sachen zur Fachtagung, die seit gestern Abend im Hotel Waldhaus im Gang ist.»

Gaudenz schaut sich die dicke Kartonmappe mit der Aufschrift «Schuld und Sühne aus Sicht der Silser Literaten» an, die nun auf der Anweisung des Kantons zum Vermeiden von Masernepidemien zu liegen kommt. «Kann Schuld jemals verjähren?», steht da als Untertitel, dazu «Fachtagung im Hotel Waldhaus».

«Was soll ich damit?», fragt Gaudenz.

«Gib das alles Spinöl, wenn er von der Jagd zurückkommt. Vielleicht rufe ich ihn später an, wenn ich zu Hause bin. Diesmal muss er sich selber um unsere illustren Gäste kümmern.»

Um zwanzig vor zwölf vibriert das Handy von Gaudenz. Eine Nachricht von Claudia. «Wir sind zum Mittagessen bei den Chafruns, hol bitte die Kinder in der Schule ab.» Gaudenz zieht die Uniformjacke an, steckt das Handy und die Schlüssel für den Dienstwagen ein und verlässt das Büro.

«Ich kontrolliere vor dem Mittagessen die Strasse zum Val Fex», sagt er zur Lehrtochter Severina und holt den Subaru, der hinter dem Haus steht.

Seine beiden Töchter, die neunjährige Sandra und die elfjährige Verena, stehen zusammen mit Rita und Clà, den beiden Chafrun-Kindern, an der Hauptstrasse. Deren älterer Bruder besucht das Gymnasium in Samedan. Ein langer Weg, vor allem im Winter. Da gehen die Jugendlichen im Dunkeln aufs Postauto und kehren erst ins Dorf zurück, wenn es bereits dämmert. Bald muss sich auch Verena entscheiden, ob sie die Sekundarschule in St. Moritz besucht oder die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium machen will.

«Kommt, steigt ein, ich habe Hunger», sagt Gaudenz und schaut, dass die Kinder die Sicherheitsgurte ordentlich anlegen.

«Wir haben im Unterricht über Krankheiten gesprochen», sagt Verena als Begrüssung. «Meine Lehrerin hat erzählt, dass es solche gibt, die sehr gefährlich werden können, vor allem für Kinder.»

«Gefährlich?» Gaudenz denkt an das Schreiben des Kantonsarztes.

«Fich prievlus!», bestätigt Clà, der ein Jahr jünger ist und mit Verena in einer Doppelklasse unterrichtet wird.

«Unser Lehrer hat nur gesagt, dass unsere Eltern ein Blatt ausfüllen sollen», sagt Rita, die, weil sie die Grösste von allen ist, vorne sitzen darf. «Es geht um die Masernimpfung, die ist die persönliche Entscheidung jeder Familie, da will er sich nicht einmischen.»

«Und wenn wir krank werden?», fragt Verena ängstlich. «Wir sind doch geimpft gegen diese Masern, Papa, oder?»

Langsam fährt Gaudenz die Via da Fex hinauf. Manchmal kommen den Autofahrern hier Pferdekutschen entgegen, die Feriengäste ins Seitental bringen. Da ist es besser, wenn man nicht zu schnell um die Kurven braust. Oben auf dem bewaldeten Hügel steht auf der linken Seite das traditionsreiche Waldhaus, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Vor allem kulturell interessierte Gäste mit dem nötigen Kleingeld steigen hier ab und geniessen im Hotel wie einst Hermann Hesse, Thomas Mann oder Max Frisch die einzigartige Atmosphäre des altehrwürdigen Kastens. Immer mal wieder kann man in der Halle Leute beobachten, die Sätze in ein schwarzes Notizbuch kritzeln, fiebrig oder konzentriert an ihrem Laptop arbeiten, vielleicht einen wundervollen Text in die Tastatur hämmern oder auch nur einige Aktien gewinnbringend verkaufen.

«Sind wir geimpft oder nicht?», fragt Verena noch einmal.