Schwarzmost - Daniel Badraun - E-Book

Schwarzmost E-Book

Daniel Badraun

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Beschreibung

Die Aussicht auf eine Weiterbildung bei der Kantonspolizei Thurgau kommt dem Silser Dorfpolizisten Gaudenz Huber äusserst gelegen. Seine Frau hat den kalten, nassen Frühling im Engadin nämlich gründlich satt. Doch schon am ersten Tag muss Gaudenz merken, dass er nicht wegen der Weiterbildung hier am Bodensee ist. Er soll bei den internen Ermittlungen der Thurgauer Polizei helfen – und deren Hauptverdächtiger ist der Lieblingscousin seiner Frau . . .

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Daniel Badraun wuchs im Engadin auf. Er schreibt Krimis für Erwachsene und Texte für Kinderbücher. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren lebt Badraun mit seiner Frau zwischen dem Bodensee und Schaffhausen. Der Vater von vier erwachsenen Kindern unterrichtet eine Kleinklasse und war sechs Jahre lang Abgeordneter im thurgauischen Parlament.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.de/bellaluna Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-082-9 Originalausgabe

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Für Fabio, Olivia, Raya und Dario, die ein Leben voller Farbe leben,

und für

die Beamtinnen und Beamten der Kantonspolizei Thurgau, die jeden Tag für die Bevölkerung im Einsatz sind.

Heimat

Die blinde Krähe hackt dir in dein Auge.Die Taube stirbt in ihrem eignen Kot.Nun dreht man dir den Daumen mit der Schraube,und einer mischt den Wein mit hartem Brot.

Es flieht die Wahrheit– und die Knochenhandwürgt dich mit ewig kaltem Beben,der Schrei erstickt, kalt ist das Land.Hier blüht kein helles, neues Leben!

Es herrschen trübe diese Tränen,wie eitrig fliessend gelber Neid.Warum nur kann sich niemand schämen?Kann keiner bremsen dieses Leid?

Gian-Claudio Manetsch

Prolog

Ein warmer Tag, der Frühling zeigt sich von seiner schönsten Seite. Seit zehn Minuten steht er schwitzend neben dem Hotel SiX, einem modernen Betonbau an der Hauptstrasse, der ihm kaum Deckung bietet. Kurz nach halb eins sieht er, wie drei Männer den Polizeiposten vis-à-vis verlassen.

Seinen Wagen hatte er vor einer Stunde in der Parkgarage beim Einkaufszentrum Karussell abgestellt. Zuerst holte er in der Buchhandlung am Boulevard einen Reiseführer ab, den er vor drei Tagen bestellt hatte. Mountainbike-Touren auf Sardinien. Etwas Ausgefallenes, die Verkäuferin sollte sich an ihn erinnern können.

«Sardinien ist sehr schön», sagte die Buchhändlerin und tippte den Betrag ein.

«Waren Sie schon einmal dort?»

«Ich nicht, aber Freunden von mir hat die Insel sehr gut gefallen.»

«Auch ich kenne Sardinien noch nicht. Wenn alles klappt, gehe ich im September.» Er gab ihr eine Fünfzigernote.

«Mit dem Mountainbike?»

Er lächelte. «Man kann nicht immer am Strand liegen.» Er nahm das Wechselgeld entgegen und trat hinaus auf die Strasse. Falls er einem Bekannten über den Weg lief, war er wegen des Buchs hier in Kreuzlingen. Das musste als Grund ausreichen.

Um zwanzig vor zwölf trank er einen Kaffee im Selbstbedienungsrestaurant des Einkaufszentrums. An den Tischen sassen einige Rentner beim frühen Mittagessen. Als er den Zuckerbeutel aufriss, verschüttete er die Hälfte. Der Kaffee war viel zu heiss, er liess die halb volle Tasse stehen und machte sich auf den Weg. Er durfte nicht zu früh beim Grenzübergang sein. Er wollte nicht auffallen, was der Fall wäre, wenn er zu lange zwischen Zollgebäude und Polizeiposten herumstand. Kam er aber zu spät, waren die drei Männer schon weg und seine ganzen Bemühungen umsonst. Das Ganze war eine Frage des Timings. Und darin war er nicht besonders gut.

Gleich hinter dem «Karussell» begann die Schützenstrasse, dieser folgte er bis zur Einmündung Alleestrasse und wandte sich nach rechts. Beim Bahnhof war im Moment nicht viel los. Zwei Trinker sassen auf einer Bank beim Busbahnhof und leerten ihre Büchsen Bier. Bei der Post nahm er die Unterführung. Statt hinauf zu den Perrons zu steigen, ging er geradeaus weiter und kam ins Neubauquartier hinter den Geleisen. Nun setzte er die Schiebermütze und die Sonnenbrille auf und klappte den Kragen der dunklen Lederjacke hoch. Er folgte dem Fussweg rechts durch die gesichtslose Siedlung hinüber zur Brückenstrasse, diese führte ihn direkt an sein Ziel: das Polizeigebäude auf der anderen Strassenseite, gleich beim Zoll.

Die Wartezeit kam ihm lange vor. Vielleicht waren die Männer schon weg. Vielleicht war heute alles anders. Möglich war auch, dass sie den Wagen nahmen und an einem anderen Ort die Grenze überquerten. Dann konnte er ihnen nicht folgen.

Vielleicht irrte er sich auch und bildete sich die ganze Geschichte nur ein. Was wusste er denn?

Er ist erleichtert, als die drei Männer das Polizeigebäude verlassen, kurz stehen bleiben und in Richtung Zollanlage davonschlendern. Drei junge Männer mit offenen Mänteln auf dem Weg zu einem guten Mittagessen drüben in Konstanz. Der Dunkelhaarige in der Mitte ist Franco Rossi. Bruno Kohler geht links von ihm, sein Kopf ist kahl rasiert und er hinkt etwas. Sven Metzger geht rechts. Er hat blonde Haare und einen Dreitagebart.

Beim Grenzübergang bleiben die Männer kurz stehen, lachen und scherzen mit den Zollbeamten und gehen dann weiter. Als sie drüben sind, macht er sich auf den Weg. Unbehelligt erreicht er Deutschland. Die Schweizer Beamten kümmern sich um die Einkaufstouristen und ihre vollen Taschen, die Deutschen stempeln Ausfuhrscheine. Nach der Eröffnung des Autobahnzolls vor einigen Jahren wurde dieser Übergang für motorisierte Fahrzeuge gesperrt, einer von vielen Versuchen, die beiden Stadtzentren vom Verkehr zu entlasten. Seither überqueren hier viele Fussgänger und Velofahrer die Grenze und profitieren vom kurzen Weg zwischen den zwei Städten.

In einigem Abstand folgt er den drei Männern, die gut gelaunt zu sein scheinen. Immer wieder hört er ihr Lachen, sieht, wie sie gestikulieren. Kleine Coiffeurgeschäfte, Antiquitätenläden und Schnellrestaurants bieten ihm kaum Deckung. Bei der Einmündung der Kreuzlinger in die Emmishofer Strasse überqueren die Männer die Fahrbahn und klingeln an einem Haus aus der Gründerzeit. Er sieht die Person nicht, die öffnet, nur dass Kohler und Metzger im Haus verschwinden, während sich Rossi draussen auf der Strasse eine Zigarette anzündet und sich umschaut. Er zieht sich etwas zurück und wartet.

Eine junge Frau mit einer grossen Tasche bleibt mit ihrem Kinderwagen stehen, denn das Kind an ihrer Hand zerrt in eine andere Richtung und reisst sich schliesslich von ihr los. Es ist das Schaufenster eines Modelleisenbahngeschäfts, das eine magische Anziehungskraft hat. Ein angegrauter Herr mit Hut macht Platz, sodass sich das Kind die Nase am Schaufenster platt drücken kann. Die Frau kommt dazu, der Mann sagt etwas, beide lachen.

Unterdessen hat Rossi fertig geraucht und schaut auf die Uhr.

Vor einem Thai-Imbiss steht eine Dame mit Hündchen und spricht mit einer unsichtbaren Person im Innern. Die Frau mit dem Kind hat ihre Tasche in den Kinderwagen gestellt und ist weitergegangen, der Alte schaut immer noch die Lokomotiven und Waggons im Schaufenster an. Drei junge Männer kommen aus dem Kebabladen an der Ecke und scherzen mit ein paar Mädchen, die ziemlich langsam vorbeigehen, dann stehen bleiben und miteinander tuscheln. Herzhaft beissen die Burschen in ihre Kebabs. Sauce tropft aufs Pflaster, die Mädchen lachen. Drei munter schwatzende Frauen kommen mit vollen Taschen vorbei und verschwinden in Richtung Zollstelle Emmishofer Tor.

Metzger und Kohler kommen aus dem Haus und sagen etwas zu Rossi, dieser schüttelt den Kopf. Metzger geht noch einmal ins Haus. Rossi zündet eine weitere Zigarette an, Kohler scheint ihm etwas zu erklären. Kurz darauf ist Metzger wieder an der Türe, er sagt etwas zu seinen Begleitern. Nun scheinen alle zufrieden zu sein, denn Rossi und Kohler nicken. Metzger dreht sich um, sagt etwas zu einer Person, die wohl hinter ihm im Hausgang steht.

Die drei Männer gehen an den Kebab essenden Jugendlichen vorbei. Er wartet einen Moment, dann schlendert er hinüber zur Häuserzeile an der Emmishofer Strasse. Links ein Videoschuppen, im Schaufenster die Umrisse einer Frau. Gleich daneben der Hauseingang, in dem Kohler und Metzger verschwunden sind. Die Namen an den Briefkästen sagen ihm nichts. Marinkovic, Iljazi, Cubedu, Ritter. Im Erdgeschoss das Büro einer Handelsfirma. Müller Trading.

Während er an verschiedenen Restaurants vorbeigeht, bleiben die Männer vorne an der Ampel beim Fussgängerstreifen stehen. Als die Ampel auf Grün wechselt, spazieren sie hinüber. Er wartet noch einen Augenblick und will losgehen. Er hat aber zu lange gezögert, denn die Ampel hat bereits wieder auf Rot gewechselt. Die andern Fussgänger bleiben stehen. Ein Blick nach links, dann läuft er los. Ein Auto mit Berner Kennzeichen hupt, der Bus dahinter bremst ab. Auf der Fussgängerinsel in der Mitte der Fahrbahn bleibt er stehen. Von rechts kommen die Autos ziemlich schnell, er muss auf eine Lücke warten. Rossi, Kohler und Metzger sind bereits durch das Schnetztor und nicht mehr zu sehen.

Endlich ein Cabrio mit Zürcher Kennzeichen, das etwas langsamer unterwegs ist. Er überquert die Fahrbahn und nähert sich dem Torbogen. Auf der Seite des Turmrestaurants sitzt ein Bettler und streckt ihm murmelnd seine Blechbüchse entgegen. Weiter in die Altstadt hinein. Gitarren und Blasinstrumente im Fenster des Musikhauses zu seiner Rechten, drinnen Klaviere und Kunden, die sich ein Saxofon anschauen. Beim Teegeschäft und dem Haus, in dem Jan Hus während des Konzils wohnte, bevor er eingekerkert und als Ketzer verbrannt wurde, macht die Gasse einen Knick nach rechts. Kleine Geschäfte säumen den Rand. Er bleibt stehen, vor sich etliche Passanten. Erleichtert stellt er fest, dass die drei Männer weiter vorne vor dem Schaufenster eines Reisebüros stehen. Rossi verschwindet kurz im Innern, um wenig später mit einem Prospekt in der Hand zurückzukommen. In der Hussenstrasse sind so viele Menschen unterwegs, dass er kaum fürchten muss aufzufallen. Trotzdem lässt er den Männern einen genügend grossen Vorsprung.

Auf der Höhe des Warenhauses Karstadt wenden die drei nach links, hier befindet sich ein kleiner Platz mit Bäumen, der in die Hieronymusgasse mündet. Auf dem Kopfsteinpflaster stehen die Kisten eines Blumengeschäftes. Die verschiedenfarbigen Blüten wecken Frühlingsgefühle bei ihm, er will gleich morgen bei der Landi, der landwirtschaftlichen Genossenschaft, vorbeischauen und Pflanzen und Erde kaufen. Das Wetter soll weiterhin schön und warm bleiben, so steht seiner Pflanzaktion nichts im Wege. Rechts am Rand seines Gesichtsfeldes nimmt er eine Bewegung wahr; eine Gestalt, die ihm bekannt vorkommt, betritt das Warenhaus. Der Moment ist nur kurz, sodass er nicht sagen kann, was ihn dabei irritiert. Er wischt den Gedanken weg, denn er darf sich jetzt nicht verzetteln, darf die drei Männer nicht aus den Augen verlieren.

Metzger, Kohler und Rossi machen es ihm einfach. Sie setzen sich vor dem Restaurant «ExxTRA» an den letzten freien Tisch und beginnen, die Speisekarte zu studieren. Die Bedienung kommt, grüsst lächelnd, nimmt einen Schreibblock hervor. Er nutzt die Gelegenheit, geht mit abgewandtem Gesicht vorbei bis um die Hausecke herum und in die enge Gasse hinein. Dann bleibt er stehen. Rechts an der Mauer ein Kreuz mit einer grossen Christusfigur, die zu ihm herunterschaut. Wie weiter?

Hier herumstehen kann er nicht. Ein Erwachsener, der unentwegt um eine Hausecke schaut, fällt auf. Auch auf dem kleinen Platz gibt es kein gutes Versteck, dort würde er bald von Kohler, Metzger und Rossi entdeckt. Das muss er unbedingt vermeiden. Bleibt das Restaurant selber. Es verfügt über einige Fenster im ersten Stock, von dort oben sollte es möglich sein, den Tisch unbemerkt zu beobachten. Ein Blick um die Hausecke herum, die drei Männer am Tisch sind mit der Speisekarte beschäftigt, schnell geht er der Hauswand entlang bis zur Eingangstüre des «ExxTRA» und kommt in ein geräumiges Treppenhaus. An den vielen Kulturplakaten vorbei steigt er nach oben, betritt das angenehm kühle Restaurant und schaut sich um. Viel Holz, dunkle Farben, ein einziger Gast sitzt hier drin und liest die Zeitung.

«Wollen Sie sich draussen auf den Balkon setzen? Es hat noch Platz.» Hinter der Theke steht eine junge Frau und schaut ihn neugierig an.

«Gibt es hier einen Balkon?» Er ist verwirrt, denn den hat er von unten nicht gesehen, nur die Fenster.

«Da drüben.»

Er geht hinaus, eine Reihe Tische, drei sind besetzt, die anderen noch frei. Der Balkon befindet sich über der Gasse, von seinem Platz aus sieht er den Gekreuzigten. Wenn er sich über das Geländer lehnt, hat er rechts einen Teil des Platzes im Blick, auch den Tisch mit den drei Männern. Eben heben sie ihre Gläser und prosten sich zu.

«Was darf ich Ihnen bringen?»

Er zuckt zusammen, fühlt sich ertappt. «Bringen Sie mir ein Glas Mineralwasser. Und einen Espresso.»

Einen Moment setzt er sich hin, reibt sich nervös die Hände, steht wieder auf und stellt sich ans Geländer. Niemand scheint ihn zu beachten, die Leute auf dem Balkon sind mit sich und ihrem Gegenüber beschäftigt.

Wieder der Blick nach rechts. Bei den Männern werden drei grosse Teller aufgetragen.

«Der Espresso und das Wasser.» Er dreht sich um. «Schön, die Aussicht, nicht wahr?»

Er zeigt auf die Getränke. «Kann ich gleich bezahlen? Ich warte auf einen Freund, wenn er kommt, muss ich los.» Eine vage Geste nach unten. Er legt einen Fünfeuroschein auf den Tisch, nimmt das Glas mit dem Mineralwasser und dreht sich wieder zum Geländer.

Plötzlich hat er das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Rossi, Metzger und Kohler sitzen hinter ihren Tellern und essen mit grossem Appetit. Sie schauen kaum auf, scheinen also niemanden zu erwarten. Er lässt seinen Blick über die anderen Tische wandern. Einheimische und Touristen, die zu Mittag essen und die Frühlingssonne geniessen. Niemand, der sich auffällig benimmt. Dann sieht er ihn, den älteren Mann mit Hut, den er schon beim Geschäft mit den Modelleisenbahnen gesehen hat. Auch erinnert er sich jetzt, dass genau dieser Mann vorhin im Warenhaus Karstadt verschwunden war, nur war er zu sehr mit den drei Männern beschäftigt gewesen und hatte keine Verbindung zur ersten Beobachtung herstellen können.

Nun steht der Mann da unten, er hält eine gestreifte Tasche und schaut hinüber zu Rossi, Metzger und Kohler. Und dann greift er in seine Tasche.

Eine Übergabe, denkt er, und ich bin zu weit weg. Er stellt das Glas auf den Tisch und verlässt den Balkon.

«Der Rest ist für Sie», ruft er der Bedienung zu, durchquert das Restaurant und steigt die Treppe hinunter. Bei der Türe bleibt er stehen und schaut hinüber zu den Tischen.

Der Mann mit dem Hut nähert sich dem Tisch, die Hand immer noch in der Tasche. Gleich wird etwas passieren, denkt er und wartet gespannt.

«Darf ich bitte vorbei?» Eine Frau, die wohl zur Toilette muss, schiebt ihn zur Seite.

«Entschuldigen Sie», sagt er verwirrt und schaut ihr nach, wie sie die Treppe hinaufsteigt.

Ein Schrei lässt ihn herumfahren. Der Mann steht nun wenige Schritte vor dem Tisch. Er hat eine Pistole in der Hand, Metzger springt auf, es knallt einmal, noch einmal. Metzger schreit, Leute rufen durcheinander, Geschirr klirrt, als ein Tisch umgeworfen wird. Passanten werfen sich zu Boden. Gäste eilen zum Eingang, um sich in Sicherheit zu bringen.

«Wir brauchen einen Krankenwagen!», schreit jemand.

Er kämpft sich gegen den Strom, ist draussen und schaut sich um. Der Schütze ist verschwunden, Metzger liegt am Boden, Kohler und Rossi kauern neben ihm. Ein Mann steht daneben und telefoniert.

Er nutzt das Durcheinander aus und verschwindet in der Menge.

EINS

Gaudenz Huber hört, dass seine Frau Claudia wach liegt. Sie dreht sich vom Rücken auf die Seite, von der Seite auf den Bauch. Sie legt sich das Kopfkissen zurecht, schiebt die Decke zur Seite, um sich gleich darauf wieder einzuwickeln. Einmal spürt er ihr Knie auf seinem Oberschenkel, kurz nur, dann zieht sie das Bein schnell wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt. Gaudenz weiss, dass Claudia auf seine Frage wartet, dass sie sich von seiner Bewegungslosigkeit und seinem flachen Atem nicht täuschen lässt.

Diese Gespräche um Mitternacht bringen oft nichts Gutes, manchmal Streit, manchmal eine tiefe Traurigkeit, nur selten enden sie in gegenseitigem Verstehen. Abwenden lassen sie sich jedoch kaum, denn Claudia wird sich hin und her drehen, bis er nachgibt und fragt.

Endlich hält er es nicht mehr aus. «Kannst du nicht schlafen?»

«Nein.»

«Warum nicht?»

«Weil ich immerzu an unsere Mädchen denken muss?»

Er ist erleichtert. Beim Thema «unsere Mädchen» sind sie sich meist einig. «Das mache ich auch. Und trotzdem kann ich gut schlafen.»

«Weil du eben keine Phantasie hast, Gaudenz.»

«Wer erzählt Sandra und Verena jeden Abend eine neue Geschichte mit der Prinzessin Sosura– und das ohne Buch?»

«Das meine ich nicht.» Sie seufzt. «Geschichten erzählen ist eine Sache, sich die Möglichkeiten der Realität auszumalen, ist etwas ganz anderes.»

«Ich habe eine sehr blumige Phantasie. Auch in der Realität. Das sagt jedenfalls Spinöl.» Als Romeo Koch abstürzte und Jakob Sonder verschwand, wollte Peider Spinöl, der Gemeindepräsident von Sils und Gaudenz’ Vorgesetzter, nichts von einem Verbrechen wissen und die Geschichte unter den Teppich kehren. Auch Gaudenz brauchte einige Zeit, bis er die Zusammenhänge verstand. Dann aber konnte ihn auch sein Vorgesetzter nicht davon abhalten, die Vorgänge um die verschwundenen Aktien einer Immobiliengesellschaft aufzuarbeiten und einigen Verantwortlichen gehörig auf den Füssen herumzutrampeln.

«Ich meine nicht in deinem Beruf. Ich denke da eher ans Private.»

Gaudenz spürt einen leichten Stich in der Seite. Wenn Claudia über «das Private» sprechen will, bringt sie heikle Themen aufs Tapet, denen er gerne aus dem Weg gehen würde. Mit Worten wie «Beziehungsarbeit» kann er nichts anfangen. So schweigt er und wartet ab.

«Was sagst du zu diesem Frühling da draussen?» Die Decke raschelt, anscheinend hat sich Claudia aufgesetzt.

«Was meinst du damit?» Gaudenz ist irritiert. «Was hat der Frühling mit unseren Töchtern zu tun?»

«Sehr viel sogar.» Claudia macht Licht. «Die braunen Wiesen, die fauligen Schneehaufen im Schatten, alles ist grau und matt. Sandra und Verena können draussen kaum spielen, die Wiesen sind sumpfig vom vielen Schmelzwasser, im Wald liegt noch Schnee. Wenn die Mädchen heimkommen, sind sie schmutzig und durchfroren.»

«Ach was, die haben auch ihren Spass. Überall wachsen Krokusse, der See ist eisfrei, wenn du genau hinschaust, siehst du den grünen Schimmer an den Sonnenhängen.»

«Ich will keinen grünen Schimmer, ich will Primeln und Osterglocken sehen, fettes Gras, gelbe Forsythien und blühende Magnolienbäume.»

«Wir könnten am Samstag hinunter nach Chiavenna fahren und auf der Piazza eine Glacé essen.»

«Wozu? Um am Abend wieder hierher zurückzukehren? Den ganzen Tag hocke ich in dieser Wohnung. Zwischendurch spaziere ich im Wind durchs Dorf, dies nur, um festzustellen, dass viele Häuser verschlossen sind, weil diese Jahreszeit den Gästen nichts bietet. Die Hotels sind zu, viele Geschäfte haben dichtgemacht. Wenn du nach St.Moritz zu einem Bummel fährst, siehst du bloss ausgeräumte Schaufenster.»

«Mir gefällt die Zwischensaison», sagt Gaudenz leise.

«Dir vielleicht.» Claudia atmet tief durch. «Das meine ich eben mit der mangelnden Phantasie. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ein wirklicher Frühlingstag im Flachland sein kann. Ein Spaziergang durch Blumenwiesen übersteigt deine Vorstellungskraft.»

«Ich freue mich eben auf den Bergfrühling.» Er versucht sie zu beruhigen.

«Wann blühen Enzian, Alpenrose und Anemone? Im Juli?»

«Ende Mai. Und es ist wunderbar.»

«Wenn du Glück hast, dann schneit es dir auf die Blumen.»

«Du bist ungerecht, Claudia, ich habe schon die ersten Tulpen an der Hauswand gesehen.» Gaudenz nimmt ihre Hand. Sie legt sich wieder hin, schaut ihm in die Augen.

«Wenn ich meine Eltern im Thurgau anrufe, erzählen sie vom hohen Gras, von milden Winden, vom Regen, der alles sauber wäscht. Die Kinder von meiner Schwester rennen barfuss und in kurzen Hosen herum, sie spielen am See und sind mit dem Velo unterwegs. Und was machen Sandra und Verena? Sie streiten die ganze Zeit, weil sie nicht rauskönnen. Sie gehen sich in unserer engen Wohnung auf die Nerven.» Tränen rinnen über Claudias Wangen.

Gaudenz spürt die Trauer und Verzweiflung seiner Frau. Er liegt da, hält ihre viel zu heisse Hand, kann nichts tun, nichts sagen. Irgendwann schliesst sie die Augen, dreht ihm den Rücken zu, schläft ein. Er hört ihren Atemzügen zu, seine Gedanken kreisen um das Unmögliche.

In drei Wochen würden die Maiferien beginnen. Die Schulen, die verbliebenen Restaurants, das Kino und die Hallenbäder sind geschlossen. Alle, die können, suchen das Weite, um für die bevorstehende Sommersaison aufzutanken. Dann könnte Claudia zu ihren Eltern in den Frühling fahren.

Er hatte zwar bei Spinöl Ferien eingegeben, doch bewilligt wurden ihm nur einige Freitage. Es gab zu viele Arbeiten, die im Winter liegen geblieben waren und die nun erledigt werden mussten. Ausserdem würde Giacun Rauch, der zweite Gemeindepolizist von Sils, nach einer Knieoperation noch mehrere Wochen ausfallen und konnte ihn nicht ablösen.

ZWEI

Gaudenz langweilt sich. Er sitzt an seinem Schreibtisch im ersten Stock des Gemeindehauses von Sils. Sein Blick wandert hinaus in den grauen Aprilmorgen, in einen Frühling, der noch keiner ist. Claudia hat schon recht mit ihren spitzen Bemerkungen über die etwas spezielle Form dieser Jahreszeit. Als Engadiner fühlt er sich verpflichtet, ihren Angriff abzuwehren und sein Tal zu verteidigen. Dabei sind die Wochen der Schneeschmelze zwischen Saisonende und Bergfrühling wirklich nicht leicht auszuhalten. Wer kann, verschwindet aus dem Tal und kehrt erst Anfang Juni wieder zurück.

Die Bürotage vergehen viel zu langsam. Wie er das hasst. Formulare ausfüllen, Berichte verfassen, erledigte Geschäfte abheften. Die liegen gebliebenen Papierberge sind die Ausbeute einer ereignisreichen Wintersaison. Gaudenz lehnt sich zurück, gähnt. Auf der linken Seite liegt ein Stoss mit unerledigten Aufträgen. Auf der rechten Seite einige wenige Mäppchen mit Geschäften, die er bereits abgearbeitet hat und die er später der Bürolehrtochter Cornelia weitergeben wird, die diese Papiere irgendwo im Archiv deponiert. Dort werden die Akten ungelesen verstauben und in zig Jahren hervorgeholt und geschreddert.

Auf dem Boden liegen wild verstreut verschiedenfarbige Aktenordner, darauf kleben Merkzettel, die angeben, was zu tun ist. Gaudenz nimmt sich ein neues Mäppchen vor. Er kann sich aber kaum auf das Protokoll, das vor ihm liegt, konzentrieren. Noch eine Stunde bis zur Kaffeepause. Kurz davor will er hinüber zum Gemeindepräsidenten.

«Peider», wird er zu Spinöl sagen, «diese paar Freitage reichen einfach nicht aus. Ich brauche mehr, sonst kann ich mich nicht erholen.»

Da könnte ja jeder kommen, würde Spinöl antworten, es herrsche Personalknappheit auf der Gemeindeverwaltung von Sils, er selber sei zwei Wochen abwesend –Velofahren auf Mallorca, wie letztes Jahr–, da müsse einfach jemand im Büro sein und die Stellung halten. Dieses Jahr treffe es Gaudenz, das sei nun einfach nicht mehr zu ändern. Die Dienstpläne hätte die Gemeindeschreiberin Gianna Rohner bereits vor einem Monat verteilt, damals hätte er sich nicht dagegen gewehrt. Ausserdem sei Giacun Rauch nach einer Knieoperation noch nicht wieder einsatzfähig. Es würde einfach zu viel Arbeit liegen bleiben, wenn Gaudenz nun auch noch die Gemeinde im Stich lassen würde.

«Bist du gerne Gemeindepolizist? Dann weisst du auch, dass dies nicht einfach so ein Nullachtfünfzehn-Job ist, bei dem man eben mal hingehen kann und die Stempeluhr bedient. Du bist ein wichtiger Teil der Dorfgemeinschaft, das verpflichtet. Vergiss das nie, Gaudenz.»

Bei so viel Dramatik müsste er wohl klein beigeben und betreten schweigen. Spinöl würde erklären, dass er ihn ja gut verstehen könne. Es sei für ihn auch wichtig, dass sich seine Mitarbeiter nach der Wintersaison gut erholen können, nur so sei der Dienst für die Bevölkerung auch in der Sommersaison gewährleistet. Er sei ja kein Unmensch und würde ihm also gerne noch einige weitere Freitage bewilligen, dies müsse er aber noch genau mit der Gemeindeschreiberin absprechen.

Gaudenz würde dankbar einschlagen und das Erreichte am Mittagstisch als seinen grossen Sieg präsentieren. Allerdings ist er nicht sicher, ob Claudia mit einer knappen Woche gemeinsamer Ferien zufrieden sein würde. Die Diskussion mit seiner Frau liegt ihm noch mehr auf dem Magen als das Gespräch mit Spinöl. Er schaut wieder hinaus auf die grauen Dächer und die Bergspitzen dahinter. Oben liegt noch viel Schnee, im Tal herrschen beste Verhältnisse für Tourenskifahrer, nicht aber für wintermüde Ehefrauen.

Er versucht erneut, sich auf das Protokoll auf dem Schreibtisch zu konzentrieren, doch seine Gedanken schlagen weiterhin Saltos und sind kaum zu bändigen.

Das Telefon klingelt. Dankbar für die Ablenkung hebt er ab.

«Gemeindepolizei Sils, Huber.»

Erst jetzt sieht er auf dem Display, dass es ein interner Anruf ist.

«Gaudenz, kannst du bitte rüberkommen?» Spinöl hüstelt.

«Jetzt gleich?», fragt Gaudenz, der es plötzlich gar nicht mehr eilig hat, seinem Vorgesetzten gegenüberzutreten.

«Jetzt gleich. Es gibt da ein Problem, das wir lösen müssen.» Spinöl hat aufgelegt.

Wenn Spinöl seine Probleme nicht alleine lösen kann, bedeutet dies im Allgemeinen viel Arbeit für Gaudenz. Viel Arbeit wiederum bedeutet, dass er seine zusätzlichen Freitage vergessen muss, ohne überhaupt darum gebeten zu haben. Langsam schiebt er das Protokoll ins dazugehörige Mäppchen und legt dieses auf den Stoss mit den unerledigten Geschäften zurück. Dann richtet er die zwei Kugelschreiber parallel zur Schreibunterlage aus und steht auf. Erstaunlich, wie kurz der Weg zwischen den beiden Büros doch ist. Erstaunlich auch, wie schnell sich seine berufliche und familiäre Situation ändert. Zum Schlechten, das versteht sich. Enttäuschung und Wut nehmen ihm fast den Atem, ein dumpfes Gefühl breitet sich in seiner Magengegend aus. Warum nur, fragt er sich bei seinen letzten Schritten, muss in meinem Leben alles so kompliziert sein?

Die Türe mit der Aufschrift «Gemeindepräsident» ist nur angelehnt. Gaudenz klopft und wartet auf das zackige «Herein!» seines Chefs.

«Die Türe ist offen», ruft dieser stattdessen unerwartet sanft, was auf ein sehr kompliziertes Problem hindeutet.

Gaudenz betritt das Büro des Gemeindepräsidenten, der hinter seinem etwas zu grossen Schreibtisch verloren wirkt. Normalerweise hantiert Spinöl mit Akten, wenn jemand zu ihm kommt, oder er täuscht mit einem Telefonanruf Wichtigkeit vor. Heute sitzt er einfach nur da und starrt den Gummibaum an, der in der Zimmerecke steht.

«Du wolltest etwas mit mir besprechen?»

«Genau.» Spinöl fasst sich wieder. «Setz dich doch. Kaffee?» Ohne auf eine Antwort zu warten, zieht er das Telefon zu sich heran. «Cornelia, kannst du uns bitte zwei Espresso bringen. Danke!» Dann trommelt er mit den Fingern einen Marsch auf die Tischplatte. «Erstaunlich, nicht wahr?»

Gaudenz nickt, es ist wirklich erstaunlich, wie zerstreut und gleichzeitig gespannt Spinöl dasitzt und auf etwas zu warten scheint, das von irgendwoher kommen soll.

«Entschuldigung», sagt Cornelia und stellt das Tablett mit zwei dampfenden Tassen ab. «Ich habe den Anhang der Mail ausgedruckt», erklärt sie und legt ein Mäppchen auf den Schreibtisch.

«Danke, Cornelia.» Spinöl zieht das Mäppchen zu sich heran. «Kannst du noch die Türe zumachen?»

Gleich wird es losgehen, denkt Gaudenz und hält den Atem an. Stattdessen deutet Spinöl auf die Tasse. «Bitte schön.» Nachdenklich rührt er in seinem Espresso.

«Du hast etwas von einem Problem gesagt.» Gaudenz nimmt einen Schluck. Der Kaffee ist heiss, stark und bitter, so wie er ihn mag. «Um was geht es?»

Spinöl zieht drei eng beschriebene Blätter aus dem Mäppchen. «Wie steht es bei dir mit der Weiterbildung?»

«Im letzten Jahr habe ich diesen Verwaltungskurs in Chur besucht», sagt Gaudenz und denkt an die Tage in der Hauptstadt, an das heisse Kurslokal, an die vielen Papiere, die er durcharbeiten musste, an die Abschlussprüfung, die er mit Bravour bestanden hatte. Das Resultat war allerdings, dass er danach noch mehr Büroarbeit zu erledigen hatte, weil er ja nun ein Experte in diesem Bereich war.

«Und wie sieht es mit Polizeitechnik aus?»

«Wir sind doch nicht bei der Kantonspolizei.»

«Es könnte aber nicht schaden, wenn du mehr über die richtige Polizeiarbeit wissen würdest, oder?»

«Natürlich nicht.» Gaudenz denkt an die herablassende Art der Kollegen von der Kantonspolizei Graubünden, wenn sie einen Fall von den Beamten der Gemeinde übernehmen. Vor allem Raselli, der Chef des Postens in Silvaplana, hat eine besondere Begabung dafür, ihn und Giacun Rauch wie Schulbuben aussehen zu lassen. «Allerdings dürfen wir bestimmte Bereiche gar nicht bearbeiten.»

«Trotzdem fände ich es sehr gut, wenn du mal richtige Polizeiluft schnuppern würdest. Ich habe hier das Kursprogramm der Ostschweizer Polizeischule. Da sind mehrere Blockkurse angestrichen, die du besuchen kannst.»

«Wie bitte?» Gaudenz atmet tief durch. Schon mehrfach hatte er Spinöl darum gebeten, Kurse an der Polizeischule besuchen zu dürfen, dieser hatte immer abgelehnt mit der Begründung, die Kurse seien zu teuer für die Gemeinde, und ausserdem dürfe man die Kollegen vom Kanton nicht konkurrieren. «Ich kann dich unmöglich für solche Kurse freistellen, das musst du wirklich verstehen.» Gaudenz verstand und fragte nicht mehr. Und nun kam Spinöl und wollte ihn an die Polizeischule schicken.

«Es wird dir guttun, einmal etwas anderes zu sehen, wir hier in der Gemeinde können sicher von solchen Erfahrungen profitieren.»

«Und wer erledigt die ganze Büroarbeit während meiner Abwesenheit?»

«Unsere Cornelia ist schon ziemlich gut», sagt Spinöl, «und so wichtig ist der Papierkram auch wieder nicht.»

«Da hast du recht.» Gaudenz lächelt. «Findest du es wirklich notwendig, dass ich diese Kurse besuche?»

«Unbedingt.»

«Bevor ich es vergesse, ich wollte mit dir noch über zusätzliche Ferientage sprechen.»

«Wann?» Spinöl ist plötzlich auf der Hut, seine Freundlichkeit von vorhin verschwunden.

«Um Ostern herum. Und in den Schulferien.»

«Unmöglich. Ich kann dir wirklich nicht entgegenkommen.» Spinöl schaut nochmals die Blätter an, die vor ihm liegen, und schüttelt den Kopf. «Wenn du diese Kurse besuchst, wirst du hier zwei Monate fehlen. Da kann ich dir nicht auch noch zusätzliche Freitage gewähren. Und der Urlaub im Mai fällt ebenfalls aus.»

Gaudenz steht auf. Das hatte er befürchtet. Spinöl gibt etwas, dafür nimmt er sich grosszügig die Erholungszeit seines Dorfpolizisten. «Und wenn ich diese Kurse gar nicht mehr besuchen will?»

Spinöl zuckt zusammen. «Das geht nicht, du bist bereits angemeldet.»

Wie benommen nimmt Gaudenz das Mäppchen entgegen und taumelt hinaus.

«Wir sind noch nicht fertig», ruft ihm Spinöl hinterher, da ist er bereits an der Türe zum Waschraum, stösst diese auf und wankt zum Lavabo hinüber. Lange lässt er sich das kalte Wasser über Gesicht und Hände laufen, bis er sich wieder spürt. Dann nimmt er das Mäppchen und geht zurück zum Gemeindepräsidenten, um zu kündigen. Er wird sein Pult räumen und fertig.

Das war einfach zu viel, so darf Spinöl nicht mit ihm umspringen.

***

Es riecht wunderbar nach Tomatensauce, als Gaudenz die Wohnungstüre öffnet.

«Ich bin da.» Er zieht die Jacke und die Schuhe aus, geht hinüber ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Gut gelaunt betritt er die Küche, um in die Töpfe zu schauen.

«Spaghetti?»

«Nein, Penne rigate, die passen besser zu dieser Sauce. Wie war dein Vormittag?» Sie dreht sich um und küsst ihn auf den Mund.

«Ziemlich turbulent.» Er nimmt die angebrochene Weissweinflasche aus dem Kühlschrank, schenkt ihnen beiden ein und hebt sein Glas. «Viva, Claudia.»

«Viva, Gaudenz. Alkohol schon am Mittag? Darfst du das bei deiner Arbeit?»

«Ich gehe heute nicht mehr ins Büro.»

«Was soll das heissen?»

«Das soll heissen, dass ich freigestellt wurde. Und zwar fristlos.»

Claudia lässt fast ihr Glas fallen. «Freigestellt? Und was bedeutet das für uns?»

«Es ist alles halb so schlimm.»

«Bist du verrückt geworden?»

«Warum? Spinöl hat mir heute alle Freitage für die nächsten zwei Monate gestrichen.»

Bevor Claudia sagen kann, was sie von einem solchen Vorgesetzten hält, hören sie draussen im Flur die beiden Mädchen, die sich ziemlich laut über irgendwelche Vorfälle in der Schule unterhalten.

«Kein Wort zu den Kindern, verstanden? Wir sprechen nachher darüber.» Sie giesst die Penne ab, gibt Butter und Olivenöl in den Topf und lässt die Teigwaren in der goldgelben Flüssigkeit brutzeln.

«Hände waschen, alle an den Tisch!»

Es gibt flüchtige Küsse für die Eltern, einen verächtlichen Blick für die gut gefüllten Salatschüsseln, einen kurzen Disput über eine Bemerkung von Sandras Lehrerin, die gesagt habe, dass ab morgen Ferien seien, was Verena als Kinderei ihrer Schwester abtut.

«Aber Duonna Erica hat gesagt, dass ich morgen nicht mehr bei der Robinson-Geschichte dabei sein könne. Damaun hest vacanzas! Genau so hat sie es gesagt.»

«Du hast das falsch verstanden», erklärt die ältere Verena. «Duonna Erica hat damit gemeint, dass die Schule weitergeht, nur eben woanders.»

«Jetzt wird erst einmal gegessen.» Gaudenz lächelt und hebt die Deckel der beiden Töpfe. «Oder habt ihr etwa keinen Hunger?»

Angesichts der köstlich duftenden Teigwaren vergessen Verena und Sandra ihre Meinungsverschiedenheit. Eine Weile hört man nur das Klappern von Besteck.

«Wer noch eine Portion möchte, sollte zuerst den Salat aufessen.» Claudia geht mit gutem Beispiel voran und lädt sich einige grüne Blätter auf die Gabel. «Und dann erklärt ihr mir, um was es genau geht bei dieser Schulgeschichte.»

«Meine Lehrerin hat gesagt, dass ich in die Ferien fahre», sagt die achtjährige Sandra.

«Meine Lehrerin hat das auch gesagt. Aber gemeint ist etwas anderes.»

«Was denn?»

«Wir gehen heute noch hier in Sils zur Schule. Dann ziehen wir weg und besuchen den Unterricht an einem anderen Ort.» Die zehnjährige Verena schaut ihre Eltern fragend an. «So ist es doch, oder?»

«Genau so ist es.» Gaudenz verteilt die restlichen Penne. «Heute nach der Schule packt ihr eure Siebensachen, danach fahren wir.»

Claudia verdreht die Augen. «Gibt es hier vielleicht etwas, das ich auch wissen sollte?»

«Na ja, ich habe dir doch erzählt, dass ich bei Spinöl war, um zusätzliche Ferientage für uns herauszuholen.»

«Davon hast du mir erzählt, auch die sofortige Freistellung hast du erwähnt, nicht aber, dass wir auch noch umziehen müssen. Das kann er doch nicht mit uns machen.»

«Es ist alles etwas komplizierter.» Gaudenz nimmt ihre Hand und erzählt, wie er ins Büro von Spinöl stürmte, wie er ihm sagte, dass er seinen Job hinschmeisse, dass er augenblicklich gehe. Doch der Gemeindepräsident hatte gar nicht zugehört, er erklärte Gaudenz, dass der Kurs für ihn gleich morgen beginnen würde, dass Gaudenz doch die ganze Familie mit ins Unterland nehmen solle, die Schule sei schon informiert. Ab jetzt laufe seine Anstellung über die Kantonspolizei Thurgau, somit könne er ihm auch keine Freitage gewähren, diese müsse Gaudenz in Frauenfeld bei den verantwortlichen Leuten beantragen.

«Stell dir vor: zwei Monate im Thurgauer Frühling. Da habe ich eingewilligt, es ist doch das Beste, was uns passieren konnte.»

«Wie stellst du dir das vor?»

«Wir wohnen bei deinen Eltern in Seidlingen, die Mädchen gehen dort zur Schule, du hast endlich deinen Frühling, siehst deine Schwester und deine Freundinnen von früher. Was willst du mehr?»

«Dass du solche Dinge mit mir besprichst, Gaudenz, und nicht alles eigenmächtig bestimmst.» Sie steht auf und beginnt die Teller zusammenzustellen.

Als die Mädchen hören, wohin die Reise gehen soll, verschwinden sie jubelnd in ihrem Zimmer. Sicher packen sie schon ihre Lieblingsspielsachen ein, denkt Gaudenz.

Schweigend räumen die Erwachsenen den Tisch ab und erledigen den Abwasch.

Das Telefon klingelt. Claudia nimmt den Hörer ab und sagt: «Ja, Mama –das ist ja schrecklich– wann war das?», und streut noch mehrfach «Das ist doch kaum zu glauben» ein.

Gaudenz kennt das. Seine Schwiegermutter erzählt viel und gerne von den Leuten aus dem Dorf, aus der nahen und weiten Verwandtschaft. Geschichten vom Untersee, die an Dramatik kaum zu überbieten sind. Wenn ihn dann Claudia über die Verstrickungen der einzelnen Familien informiert, verliert er schnell einmal den roten Faden.

«Wir würden gerne für ein paar Wochen nach Seidlingen kommen, Gaudenz muss einige Kurse im Thurgau besuchen. –Geht es, wenn wir heute Abend kommen?– Es kann spät werden.– Das freut mich sehr, Mama.»

«Und jetzt?», fragt er beim Kaffee.

«Mama freut sich. Wir können im Anbau wohnen. Jetzt gibt es noch einiges zu tun für uns.» Sie nimmt einen Schreibblock hervor und beginnt, eine To-do-Liste zu erstellen. «Ich werde für die Mädchen Sommerkleider einpacken, die Sonnenhüte und die Sandalen.»

«So gefällst du mir», sagt Gaudenz zu seiner Frau.

«Bilde dir nur nichts ein, Herr Polizist.»

«Da fällt mir ein, dass ich nochmals wegmuss, nur kurz. Danach können wir fahren.»

«Wir fahren, wenn ich fertig bin», sagt sie und widmet sich ihrer Liste.

***

Eine halbe Stunde später parkiert Gaudenz seinen dunkelblauen Kombi, einen Opel mit älterem Baujahr, aber wenigen Kilometern, vor dem Polizeiposten in Silvaplana. Spinöl hatte gesagt, dass er noch etwas abholen soll, die Kollegen seien informiert.

Carlo Raselli sitzt an seinem Schreibtisch und schaut Gaudenz mit einem spöttischen Grinsen entgegen.

«Da ist ja unser Supercop. Ich habe dich bereits erwartet. Willst du einen Kaffee?»

Gaudenz denkt an die dünne Filterbrühe, die er hier schon bekommen hat, und lehnt dankend ab. «Spinöl sagte, dass ihr noch etwas für mich habt.»

Raselli steht auf und holt eine Kartonschachtel aus dem Schrank.

«Ich weiss nicht, wie du das verdient hast, aber wir sollen einen richtigen Polizisten aus dir machen.»

«Das ist anscheinend der Lohn für meinen mehrjährigen Einsatz im Dienst der Gemeinschaft.»

«Das glaubst du doch selber nicht, Huber.»

«Sag mir einfach, was du für mich hast, in Ordnung?»

Raselli öffnet die Kartonschachtel, legt zwei blaue Uniformhemden und eine Hose auf den Tisch, eine Mütze, dann Achselpatten mit dem Bündner Steinbock und Namensschilder.

«Wenn du das alles anziehst, siehst du von aussen fast aus wie ein echter Polizist.»

«Ich bin ein echter Polizist. Auch die Gemeindepolizei hat ihren Stolz. Hast du noch etwas für mich?»

Raselli räuspert sich. «Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Ich kann doch nicht einfach…»

«Spar dir die Ausflüchte. Um was geht es?»

«Du bist Gemeindepolizist, kein Kantonspolizist. Das soll keine Beleidigung sein, sondern eine Feststellung. Wir haben eine spezielle Ausbildung, die du nicht hast. Unser Schiesstraining ist umfassend, es geht beim Tragen der Waffe immer auch um Verantwortung, verstehst du?»

«Können wir die Sache bitte abkürzen und uns die Höflichkeiten und Nettigkeiten ersparen?»

«Es soll keiner sagen, ich hätte dich nicht gewarnt.» Raselli greift nochmals in die Kartonschachtel, holt mit spitzen Fingern einen Gurt mit Pistolenholster hervor und drückt ihn dem verdutzten Gaudenz in die Hand.

«Was soll ich damit?»

«Anscheinend musst du ab jetzt eine Waffe tragen. Dort, wo du hingehst, sollst du wie ein echter Polizist der Kantonspolizei Graubünden aussehen.»

Vorsichtig berührt Gaudenz die Pistole. «Ist die denn geladen?»

Raselli schüttelt den Kopf. «Ich habe das Magazin herausgenommen. Und ich würde dir raten, es nur im äussersten Notfall einzusetzen.»

«In Ordnung. Ich brauche eigentlich keine Waffe. Das alles ist Verkleidung, damit ich an den Kursen der Ostschweizer Polizeischule teilnehmen kann.» Gaudenz beginnt, die Teile seiner professionellen Tarnung in die Schachtel zu packen.

«Glaubst du, dass das alles ist, Huber?»

«Wie meinst du das?»

«Dieser ganze Aufwand für einen läppischen Kurs? Willst du mich auf den Arm nehmen?»

Gaudenz zieht es vor, zu schweigen, er hat keine Lust auf Rasellis Sprüche.

«Hast du dich nicht gefragt, was das Ganze soll? Ein kleiner Gemeindepolizist wird plötzlich ganz gross gemacht und von der Kantonspolizei neu eingekleidet. Mein Kompliment zu deiner Beförderung. Ich würde mir in deinem Fall gewisse Gedanken machen.»

«Die habe ich mir bereits gemacht.» Er klemmt sich die Schachtel unter den Arm.

«Und zu welchem Schluss bist du gekommen?»

«Ich glaube nicht, dass ich meine privaten Angelegenheiten vor dir ausbreiten muss.»

An der Türe dreht sich Gaudenz noch einmal um, grüsst kurz in Richtung des andern und verlässt den Polizeiposten Silvaplana.

***

Als er nach dem Besuch bei Raselli nach Hause kommt, dies nicht, ohne unterwegs getankt, den Ölstand und den Reifendruck kontrolliert zu haben, ist Claudia nicht da. In den Zimmern stehen halb gepackte Koffer, in der Küche eine Kiste, in die seine Frau die verderblichen Lebensmittel gestellt hat, die wohl mit nach Seidlingen sollen.

Auf dem Tisch eine lange Liste mit den noch zu erledigenden Dinge. «Irene anrufen wegen Blumen, Maya anrufen wegen Yoga, Simona wegen Turnstunden. Musikunterricht Verena absagen. Coiffeur-Termin dringend.» Dringend ist zweimal unterstrichen. Wenigstens weiss er jetzt, wo seine Frau steckt.

Er packt die von Raselli erhaltenen Polizeisachen, den Laptop und eine Schreibmappe in eine Reisetasche. Ganz unten versteckt er die Pistole samt Munition, die brauchen die Mädchen und Claudia nicht zu sehen. Ausserdem legt er seine Zivilkleider in den bereitgelegten Koffer. Einige T-Shirts und Kurzarmhemden, leichte Sommerhosen und Shorts, Sandalen. Aber ganz traut er dem Frühling im Unterland nicht. Also packt er Jeans, Pullover, einen Faserpelz, die Regenjacke und auch ordentliche Schuhe ein.

Kurz nach vier kommen die Mädchen nach Hause. Wie zwei Wirbelwinde wuseln sie durch die Wohnung, legen Schulbücher, die unbedingt mitmüssen, ins Wohnzimmer und holen Lieblingskleidungsstücke aus ihrem Schrank, die ihre zerstreute Mama vergessen hat.