Schwarzweißroman - Marion Poschmann - E-Book

Schwarzweißroman E-Book

Marion Poschmann

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Beschreibung

Marion Poschmann ist mit Schwarzweißroman für den Deutschen Buchpreis 2005 nominiert worden und erhiellt den Förderpreis Literatur 2005 vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft. - Eine junge Frau reist in den Ural, nach Magnitogorsk, diese auf dem Reißbrett entstandene Stadt der Superlative, die auf zwei Erdteilen liegt. In der ehemals verbotenen Zone steht das weltweit größte metallurgische Kombinat, einst Prestigeobjekt Stalins. Für unbestimmte Zeit besucht sie ihren Vater, der hier als Ingenieur eine Industrieanlage errichtet. Er hat sich verändert, seine Tochter spürt das sofort. Es herrscht lähmender Stillstand auf der Baustelle, die Isolation der kleinen Gruppe deutscher Spezialisten, die vom ewigen Schnee bedeckte Weite und Eintönigkeit der Landschaft nagen an den Nerven. Die gigantischen Fabriken und grauen Wohnanlagen auf verseuchtem Boden kontrastieren mit dem Existenzwillen der Menschen, erzeugen ein permanentes Gefühl von Unwirklichkeit und Machtlosigkeit, das Denken und Fühlen beherrscht. Alte Wunden brechen auf: am Ort der ehemaligen Waffenproduktion des zweiten Weltkriegs kann die Vergangenheit nicht ruhen. Die einen betrinken sich oder lenken sich mit russischen Frauen ab, andere wiederum verschwinden spurlos. Auch die junge Frau fängt eine Beziehung an, zuerst flüchtig, fast bewußtlos. Rußland ist nicht nur eine emotionelle, sondern eine metaphysische Herausforderung, der sie sich stellen muß. Sie spürt, daß ihr Leben in dieser feindlichen Umgebung eine neue Bedeutung erhält.

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Inhalt

Titelseite

Impressum

1 Luftraum

2 Ostblocks

3 Wohnzonen

4 Baustahl

5 Psychotests

6 Methan Butan Propan

7 Heißmangel

8 Löcher

9 Malachit

10 Ammoniak

11 Personenschaden

12 Ersatzpersonen

13 Titan

14 Rost

15 Gips

16 Magnete

17 Porno

18 Brennende Herzen

19 Fallende Engel

20 Eisenerz

21 Stummfilm

22 Schaltpläne

23 Magnifikat

24 Obsessionen

25 Flugsalbe

26 Desinfektionsmittel

27 Asbest

28 Nullpunkte

29 Himmlische Heerscharen

30 Terra incognita

Marion Poschmann

Schwarzweißroman

1. Auflage 2005

© Frankfurter Verlagsanstalt GmbH

Frankfurt am Main 2005

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Thomas Pradel, Frankfurt am Main

eISBN: 978-3-627-02124-5

1 2 3 4 5 – 09 08 07 06 05

»In einem sehr reichen Bergwerk von Farben gelangten wir bis zu einer von subjektiven Qualitäten reinen Steinkohleader. Der Suprematismus befreite sich in seinen Vollendungen von dem Individualismus grüner, oranger, violetter Nuancen und ging zu Schwarz und Weiß über. Hier haben wir die Reinheit der kollektiven Kraft erkannt. Wenn man eine Farbreihe als eine Menschengruppe nimmt, dann sehen wir in den Schwarzen und Weißen und dazwischen bei den Schwarz-Weißen ihr »Menschliches«, das ihnen gemeinsam ist, ausgedrückt, während bei Grün, Orange, Violett usw. uns ihr Subjektives auffällt, daß dieser braunhaarig ist, ein anderer brünett, ein dritter blond usw. Und in der Tat nur hartnäckiger Individualismus kann heute für Farbigkeit in unserem Stahl-Beton-Kohle-Alltag plädieren und rote Farbe in das von Repin gemalte Blut Iwans des Schrecklichen einbrennen und Funken in Gelb entfachen und noch irgendeine Farbe demonstrieren wollen, auf die das Auge nicht reagiert.«

(El Lissitzky)

1 Luftraum

Pochende Dunkelheit, pochend und monoton. Ein Motorengeräusch, so gleichmäßig, daß man es bald nicht mehr hörte, formloses Schwarz, ein Raum, der sich nicht aus der Reserve locken ließ. Dann aber begann es, springende Punkte traten hervor, tasteten mich ab, ein bewegtes Raster, das sich über mir ausschüttete, lachendes Schwarz, mich umarmend, nicht lockerlassend.

Ich hatte nicht bemerkt, wie die Lachsfarbe der Haut verschwand, wie alle Konturen im Grau versackten, wie ich mich in diese eine verkrampfte Körperhaltung eingegraben hatte, als handele es sich bei meinem Fleisch um widerstandsloses Material, das alles mit sich machen ließ.

Ich hatte mir nichts dabei gedacht, ich hatte den Ablauf hingenommen. Ich betrachtete das neonhelle EXIT-Zeichen ohne Konzentration, ich starrte ergeben in die Nacht, willenlos und mit einer Art Frömmigkeit, als sei ich mir im Dunkeln abhanden gekommen.

Nach etwa einer Stunde Flug ging das Licht an. Es blieb schummerig und ungemütlich, aber man bekam das Gefühl, daß die Anwesenheit der Passagiere jetzt von offizieller Seite zur Kenntnis genommen wurde.

Niemand hatte seinen Mantel ausgezogen. Die Leute dösten in Mütze und Schal vor sich hin. Es war zu kalt, um ein Kleidungsstück abzulegen, vielleicht auch zu eng. Es gab keinen Spielraum zwischen den Sitzen, keine Armlehnen, keine Beinfreiheit. Man saß zusammengepfercht, ließ sich passiv sinken, wurde transportiert.

Ich war von unmodischen Stoffen umgeben. Vor mir der synthetische Bezug der Kopfstütze, seitlich ein kurzes kariertes Tuch, das das Fenster bedecken sollte und halb heruntergerissen war.

Die Mäntel der Leute um mich herum machten den Eindruck, als seien sie schon beim Kauf merkwürdig veraltet gewesen, ihnen haftete etwas Muffiges an, das die Farben veränderte, als seien es allesamt Restposten, die jahrelang gelagert worden waren und die den Grauschleier der Fabrikhallen angenommen hatten.

Ich selbst trug einen roten Wollmantel mit Pelzkragen. Es war ein hochwertiges Stück, das ich schon viele Jahre lang besaß, das sich bei niedrigen Temperaturen bewährt hatte und das unverwüstlich schien. In meinem Haar hing der Geruch von Bratfett und Zigarettenrauch, und ich fragte mich, ob man mir das ansah.

Zwei Damen in engem Bordkostüm erschienen mit einem Pappkarton und trugen ihn in die Mitte des Gangs. Es handelte sich um die Verpflegungskiste. Wie ein nasser Putzlappen wurde jedem eine durchsichtige Plastiktüte gereicht. In meiner Tüte befanden sich ein Stück Plockwurst von der Größe und Dicke eines Eishockeypucks, eine Paprika-Schmelzkäseecke, ein Portionspäckchen Marmelade, drei Stücke Würfelzucker und zwei Scheiben Graubrot, die jemand ungleichmäßig von Hand geschnitten hatte. Als einziges Besteckteil enthielt der Beutel einen Teelöffel aus festem, grauem, schon oft gespülten Plastik mit fusseligen Nähten.

Grau war bekanntlich die zentrale Farbe des Ostblocks. Grau war schlicht. Grau war cool. Als Farbe in höchstem Maße ausdruckslos und unpersönlich, ließ Grau eine einheitliche Gestaltung sämtlicher Gebrauchsgegenstände zu und war ohne Einschränkung auch auf großen Flächen anwendbar. Strapazierfähig und unbestimmt, eignete sich Grau für Eßbesteck so gut wie für Betongebäude, ganze Straßenzüge und ausgedehnte Paradeplätze. Dieser Umstand gab der Farbe selbst in kleinen Dimensionen etwas heimlich Monumentales. Grau enthielt den Verweis auf etwas überall Verbreitetes, ja Allgemeingültiges. Hier zeigte sich das erfolgreiche Vordringen der Zivilisation, eine gedeckte, unauffällige Machtentfaltung. Insofern bewies dieser Flugzeugteelöffel die hohe Kunst des Understatements. Im übrigen gewährte er dem Benutzer einen intensiven Eindruck von Echtheit, was in diesem Zusammenhang beinah so etwas war wie Qualität. Man hatte, so schien es zumindest, mit unverfälschtem Material zu tun, hatte die Originalfarbe der Plastikmasse ohne Zusatzstoffe vor Augen, nichts wurde vorgetäuscht, im Gegenteil. Der Gegenstand erstrahlte in reiner Funktionalität, das Design abstrahierte von jedem Gefühlswert, legte den Herstellungsprozeß offen.

Im Passagierraum breitete sich ein durchdringender Geruch nach Knoblauchwurst aus. Mein Sitznachbar biß den künstlichen Darm von seinem Wurstblock durch und ließ die Hülle mit den Zähnen in den geöffneten Proviantbeutel fallen. Er aß die Wurst zu einer Scheibe Brot, an der er sich die fettigen Finger abwischte, er öffnete das knisternde Goldpapier der Käseecke, nahm diese in zwei Bissen, kaute danach sein zweites Stück Brot, den harten Kanten, den er bekommen hatte. Er wirkte zufrieden. Offenbar benahm er sich wie vorgesehen.

Eine Stewardeß kam den Gang entlang und goß warmen Tee in dicke Becher aus der bewährten grauen Plastikmasse. Man wurde nicht gefragt. Wer Tee wollte, mußte schnell reagieren und sich bemerkbar machen. Die Russen hielten ihre Löffel in die Luft. Mein Nachbar nahm einen halbvollen Becher entgegen, warf drei Zuckerstücke hinein, schlürfte den Tee in kleinen Zügen und verzehrte dazu seine Marmelade.

Nach etwa zwei Minuten hatte die Stewardeß das Ende der Reihen erreicht, machte kehrt und sammelte die Becher wieder ein. Wer noch nicht ausgetrunken hatte, wurde dazu genötigt. Die Stewardeß, unter einem Arm die Teekanne, war in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und erwartete, daß man ihr die Becher von weitem anreichte. Dann steckte sie sie zu einem grauen Turm ineinander, der anwuchs und schließlich oben überhing und mit dem sie hinter einen Vorhang in den vorderen Teil der Maschine verschwand.

Nach einer Weile kam sie wieder hervor, diesmal trug sie kalte Getränke, die Flaschenhälse zwischen ihre Finger geklemmt. Das Glas hing in schweren Trauben herab und klirrte gegeneinander, während sie unbeirrt damit den Gang durchmaß. Diese Getränke waren nicht im Flugpreis inbegriffen. Ich erstand ein Mineralwasser und vergewisserte mich, daß auch die Russen etwas kauften. Die Stewardeß hantierte mit dem Flaschenöffner, verteilte Bier und Limonade, nahm Rubelscheine entgegen, behielt während dieses ganzen Vorgangs einen völlig unbeteiligten Gesichtsausdruck bei und zog sich erneut hinter den Vorhang zurück, sobald die letzte Flasche ausgegeben war. Es gab keinen Nachschub. Soweit ich sah, hatten nicht alle Interessenten etwas bekommen. Niemand beschwerte sich. Niemand machte eine Bemerkung. Man schloß wieder die Augen und ließ die Dinge laufen.

Das Licht in der Kabine erlosch kurz darauf. Es war fast vollständig dunkel. Ich nahm einen Schluck aus meiner Flasche. Das Mineralwasser schien mir ungewöhnlich salzig. Möglicherweise füllten sie es an einer Küstengegend ab. Ich kannte versalzenes Trinkwasser von Kurorten an der Ostsee, in denen es spezielle Heilquellen gab. Aus diesen Quellen nahmen die Kurgäste täglich einige Becher salziger Flüssigkeit zu sich, und in der Regel überwanden sie sich der Gesundheit zuliebe, an das Geschmackliche einige Zugeständnisse zu machen. Das russische Mineralwasser hatte zweifellos Medizincharakter. Vielleicht trug aber auch die Dunkelheit dazu bei, daß bestimmte Nuancen deutlicher hervorstachen.

Das Flugzeug brummte und surrte durch die Nacht, ohne daß ersichtlich war, ob es vorwärts kam. An den Tragflächen blinkte unentwegt ein Licht, sinnlos und stechend. Ich war seit dem frühen Morgen unterwegs. Ich war überreizt.

Schon die Taxifahrt im Halbkreis um Moskau herum war langwierig gewesen. Die beiden Flughäfen lagen an den entgegengesetzten Enden der Stadt. Wir fuhren auf dem äußeren Ring von Scheremetjewo nach Domodjedowo, nur so konnte man umsteigen, es gab keine andere Möglichkeit. Wir fuhren unentwegt auf einer leicht nach rechts gebogenen Straße, fuhren an einem grasbewachsenen Damm entlang, auf dem einzelne Hundehalter ihre Tiere laufen ließen, an Brachland vorbei, durch das krumme Trampelpfade führten, die im Nichts endeten. Es gab Schallschutzmauern aus glattem Beton und die verwechselbaren Vororte, Hochhaussiedlungen im Abseits, irgendwo am Stadtrand auf nicht weiter erschlossenem Gelände: Unkraut, notdürftig befestigte Wege zu den Eingangstüren, eine Bushaltestelle. Diese Anblicke wiederholten sich, dazwischen Birken, Kiefern. Einmal fielen mir drei Männer auf, die am Straßenrand ein Feuer unterhielten und Gummi verbrannten. Es gab dafür keinen Rahmen, keinen Zusammenhang. Die Männer trugen Arbeitskleidung, als sei ihre Funktion eine offizielle, ganz im Sinne der werktätigen Bevölkerung, während die Art ihres losen Herumstehens, die Art ihres Anlehnens an die flüchtig abgestellten Autos doch eher von einer gewissen Privatheit, wenn nicht Ordnungswidrigkeit zeugte. Wer wollte sich einmischen. Man erledigte seine Angelegenheiten. Offenbar war hier ein solches Feuer, direkt neben der vierspurigen Straße, etwas Neutrales, nicht gerade erforderlich, aber auch nicht verboten, ganz der Eigenmächtigkeit der handelnden Personengruppe überlassen. Die Straße zog sich hin. Birken, Kiefern. Ein Lastwagen schleppte rasselnd eine schwarze Metallkette nach. Viel später sah ich nochmals Leute an einem Feuer lungern, hielt es jetzt bereits für ein Freizeitvergnügen, auch wenn es keine weiteren Hinweise gab.

Es begann zu nieseln. Der Fahrer stellte den Scheibenwischer an.

Der Wartesaal war klein. »Saal« war überhaupt die falsche Bezeichnung, eher handelte es sich um ein simples Durchgangszimmer, um einen verbreiterten Korridor mit institutionalisiertem Ein- und Ausgang. Am Eingang stand ein alter Schreibtisch, dort mußte ich meinen Koffer und mein Flugticket abgeben und warten, bis die diensthabende Dame ein Pappkärtchen mit meinem Namen beschriftet, es an meinem Gepäck befestigt und mir ein weiteres Kärtchen ausgehändigt hatte, welches, wie ich vermutete, die Bordkarte war. Mein Name in einer gestochenen Handschrift, die der Vorlage für den Schulunterricht sicher sehr nahekam, kyrillische Buchstaben auf schmutziggelbem, faserigem Untergrund. Ich setzte mich auf einen der Holzstühle, die gleichfalls an das Inventar von Schulklassen erinnerten, lackiertes, gräulich abgewetztes Holz. Es gab keine Anschlagtafeln, keinen Flugplan, keinerlei Information. Ich wartete. Eine ältere Frau nahm mit ihrem erwachsenen Sohn einen Imbiß aus Butterbroten, hartgekochten Eiern und eingelegten Gurken zu sich. Zwei dunkeläugige Männer stürzten abwechselnd zum einzigen Telefon hinter einer Trennwand, riefen aufgeregte Sätze in die Muschel, rüttelten den Hörer, bekämpften eine Störung mit wiederholtem Wählen, Fluchen, Handballenschlägen gegen die Apparatur. Eine Seite des Raumes war verglast. Die ausladenden Scheiben steckten in dünnen Metallrahmen und leiteten eine seltsame Helligkeit weiter. Feine lange Gardinen fielen über die gesamte tiefliegende Fensterfront herab, dahinter standen zwei Flugzeuge vornehm im Wind, nichts tat sich. Als es dämmerte, zog die diensthabende Dame einen dichten braunen Vorhang vor.

»Wladiwostok!« Eine durchdringende Frauenstimme schwenkte über uns hinweg. »Wladiwostok!« Die Dame winkte uns mit einer Handvoll Papieren zum zweiten Schreibtisch, der den Ausgang markierte. Alle Anwesenden erhoben sich. Ich flog nicht nach Wladiwostok. Die Dame winkte mir nachdrücklich zu. »Magnitogorsk«, sagte ich, »ich muß nach Magnitogorsk.« Die Dame nickte beschwichtigend und schob mich zuversichtlich zum Schreibtisch, den die anderen bereits passiert hatten, reichte mir meine Unterlagen und öffnete ein letztes Mal, diesmal speziell für mich, die Ausgangstür, die direkt aufs Rollfeld führte.

Wir waren von hinten über eine schmale Metalltreppe in den engen Bauch der Maschine gelangt und hatten hastig unsere Plätze eingenommen. Ich war erleichtert, daß es endlich losging, erschöpft vom Warten, und bereits jetzt, obwohl ich den ganzen Tag nur dagesessen hatte, körperlich ausgelaugt, wie eine aufblasbare Gummihülle, die man verladen konnte, wie man wollte, und der langsam die Luft ausging. Ich hatte beobachten können, wie ich von Stunde zu Stunde mehr in mich zusammenfiel. Es war nicht sicher, ob ich mich überhaupt im richtigen Flugzeug befand. Man strebte Wladiwostok an, den allerfernsten Osten, den das Land zur Verfügung hatte, das machte mich nervös, obgleich Magnitogorsk auf der Strecke lag und es insofern realistisch war, eine Zwischenlandung anzunehmen. Ich hätte mich genauer erkundigen sollen. Vielleicht aber auch nicht.

Nach dem Start erlosch die Kabinenbeleuchtung, die elektrischen Lichter Moskaus kreiselten unter uns, drifteten ab und blieben zurück. Alles schien normal, man saß, man war berechtigterweise hier anwesend, hatte gezahlt, dennoch ortlos, in absurder Höhe, auf einem Pseudoboden, der uns an sich zog und uns beruhigte. Ich sah nach wie vor nichts, nur die gierige Dunkelheit, die sich nicht veränderte, die ungewiß ließ, ob wir uns überhaupt fortbewegten, ob nicht alles eine Simulation war. Das Flugzeug sackte plötzlich ab, fing sich wieder. Der Abstand zur Erdoberfläche betrug, so hatte es der Pilot angesagt, eine nicht unerhebliche Meterzahl. Man mußte sich der Technik blindlings anvertrauen und so tun, als wäre nichts. Wir fielen in irgendeine Richtung durch die Abgeschiedenheit, metallverpackte Fracht, hilflos, fragil, ausgestattet mit Gutgläubigkeit und Ignoranz. Die Nacht, die man außen vor den Scheiben dachte, war längst in uns eingedrungen. Man schloß die Augen und war dunkel, man öffnete sie, es machte keinen Unterschied.

Ich hatte keine Konturen mehr, ich ging auf in diesem Schwarz, und mir schien, ich war dehnbar über eine gewisse Spanne, über die stillschweigend fortlaufenden Minuten, die in einem einzigen, nicht enden wollenden Augenblick zusammenfielen, und ich erstreckte mich auch über den Raum, den wir durchmaßen, ich befand mich über Moskau, über Ufa, über Kiefernwald und Steppe, ich zog mich dunkel und formlos darüber hin, wahllos die Eigenarten verschiedener Zonen aufnehmend, unfähig zum Widerstand, unfähig zur Differenzierung. Man war abhängig davon, daß man in der Luft blieb, wie in den Träumen, in denen man verfolgt wird und mit magischer Kraft fliegt. Ich atmete gleichmäßig und konzentriert, damit wir nicht abstürzten.

Das Flugzeug bewegte sich kontinuierlich Richtung Osten. Das jedenfalls redete ich mir ein, daran wollte ich glauben. Wladiwostok. Es hatte etwas Verheißungsvolles, etwas Beängstigendes. Ich stellte mir Wladiwostok hell vor, seltsam leicht, in perlweißem Licht gelegen, als herrsche dort ununterbrochen früher Vormittag. Magnitogorsk dagegen mußte stumpf sein, trüb, je nach Tageszeit verschiedene Tönungen des üblichen Graus annehmen, es mußte, das erwartete ich, für dieses Grau ein besonders gelungenes Beispiel sein. Ich hatte einen Stadtplan gesehen. Schachbrettartig angelegte Straßen auf der einen Seite des Flusses, das Industriegebiet auf der anderen, die gesamte Anordnung von ausgesprochener Künstlichkeit. Ich hatte mir überlegt, wie mein Vater sich dort einfügen würde, ein bunter Tupfen in einem grauen Hochhaus, der mit der Zeit die Farbe der Umgebung annahm. Täglich mußte er mit der Straßenbahn über den Fluß pendeln, das Industriegebiet betreten, abends zurückkehren, in dem grauen Hochhaus schlafen. Mit jedem Tag, jedem Atemzug fiele der Eifer, der Trotz, fielen das Interesse und der Widerstand ein wenig mehr von ihm ab, bis er anstandslos in sein Zimmer paßte, kein Ausländer mehr, nichts Besonderes, nur einer von vielen, wie alle anderen auch.

Meinem Sitznachbarn fiel der Kopf nach vorn. Er schnarchte auf, zuckte mit den Schultern, schnarchte ein zweites Mal und sackte langsam zur Seite. Ich saß stocksteif, sah stur geradeaus, versuchte, sein Gewicht auf meinem Arm zu ignorieren. Er schnaufte hörbar, er war verschnupft und bekam schwer Luft. Ich übte anhaltenden Gegendruck aus. Ich ärgerte mich. Man wußte nicht, was hier üblich war, ein anderer Körperabstand, eine andere Auffassung vom Recht der Persönlichkeit. Ich erinnerte mich an die Betonung der Gemeinschaft in den sozialistischen Ländern, an die Abkehr vom Individuellen. Der Mann schreckte kurz auf, rückte sich zurecht, schmiegte sich, gepolstert vom Pelzmantel, enger an mich an. Es war nicht wirklich unangenehm, es war weich, es war warm, es war, wenn ich ehrlich sein sollte, der größte Komfort, den das Flugzeug zu bieten hatte. Ich schloß die Augen und machte es mir bequem. Abermals Nacht, uns immer tiefer verschlingend.

Das Flughafengebäude stand wie eine Kulisse am Rand des Geländes. Neonbuchstaben leuchteten blau von oben herab: MAGNITOGORSK. Darunter ein großes Rechteck, unscheinbar und platt wie eine Pappwand, hinter der die Landschaft unverändert weitergehen mochte, hinter der aber auch ebensogut nichts mehr kommen konnte. Ungerührt strebten die Passagiere auf das Rechteck zu. Ich hob mein Gepäck an und folgte ihnen.

Der Schnee wirbelte im Scheinwerferlicht wie in einer riesigen Arena, in der er Ringkämpfe aufführte, sich wilden und eleganten Bewegungen hingab, eine herrische Masse im Wind, vor der ich den Nacken beugte. Dann wieder fielen nur einzelne Flocken, weiße Sterne, von mehreren Seiten angestrahlt, sanken graziös nieder und erweckten den Eindruck, es handele sich hier um etwas Leichtes, Nettes, um ein hübsches Kinderspiel.

Nach unserer Landung war bei mir keine Erleichterung eingetreten. Ich hatte vielmehr das Gefühl, daß sich der Flug unter veränderten Bedingungen weiter hinzog, als gehöre auch der Gang über das Rollfeld noch dazu sowie das, was folgen würde. Der Flughafen von Magnitogorsk erschien mir als Provisorium, als fragwürdige Übergangslösung, so, als habe man noch nicht wirklich auf dem Boden aufgesetzt.

Von der Umgebung war nichts zu erkennen. Die Welt endete vor dem hochgeklappten Rechteck. Es konnte eine Falltür sein, mit einem Loch dahinter, das alles aufschluckte. Nur eine einzelne Reihe von Straßenlaternen führte vom Flughafen aus in den Schnee und verlor sich in der Weite. Dort mußte die Stadt sein.

Ich ging vermummt über den Platz, den Kragen hochgeschlagen, den Schal ins Gesicht gezogen, ich verschanzte mich mit meiner Handtasche vor dem eisigen Wind. Ich war übermüdet, ich fror, ich befand mich in einer unwirtlichen Klimazone, und ich begann, mich nach innen zurückzuziehen, mich, soweit es irgend ging, von der Außenwelt zu entfernen.

Meine Mitreisenden wurden erwartet. In kleinen Gruppen kamen uns Angehörige entgegen, übernahmen Gepäckstücke, Tüten und Körbe, verließen den Flugplatz unter Reden, die man bei dem Wind nicht hörte. Meinen Vater erkannte ich an seinem Schritt. Er kam eilig durch den Schnee und war von den Russen nicht zu unterscheiden. Er trug eine Skimütze und einen Anorak, er hatte eine alte Einkaufstasche bei sich, mit der er sich tarnte. Er verbarg sich im allgemeinen Grau der Reisenden, weder Freude noch Erwartung war ihm anzusehen. Fremdheit umgab ihn, wie ein Fremder blickte er mich an, niemand konnte vermuten, daß er neben seinem Auftritt in der Masse ein Eigenleben führte. Er fixierte mich für einen Moment und sah wieder weg, er überprüfte die anderen Ankömmlinge aus den Augenwinkeln, erst dann blieb er stehen.

Er nahm mich in die Arme und erkundigte sich nach dem Flug. Ich gab einsilbig Auskunft. Alles sei ordnungsgemäß verlaufen, ich sei froh, hier zu sein, wenngleich erschöpft. Es machte mir ungewohnte Mühe, Worte zu bilden. Mir schien, ich müsse sie aus einem bodenlosen Innenraum an die Oberfläche hieven. Ich fühlte mich benommen, ohnmächtig.

In der Halle drehte ein einzelner Koffer auf dem Gepäckband Runde um Runde. Erst jetzt überkam mich die Angst, nicht abgeholt zu werden, eine unsinnige, nachträgliche Angst, gegen die ich nicht ankonnte. Ich traute Rußland nicht, und ich bezweifelte, daß sich mein Vater gegen die Ungeheuerlichkeit des Schnees und der Kälte, gegen die Weite und Dunkelheit würde durchsetzen können.

Er zog mich zur Seite und gab mir einen Kuß. Aus seiner Einkaufstasche holte er ein Päckchen zerknülltes Zeitungspapier und wickelte zwei Wassergläser aus. Er hatte Krimsekt mitgebracht und ließ den Korken knallen. »Man trinkt hier auf die gute Ankunft«, sagte er. »Also!«

Niemand schenkte uns besondere Aufmerksamkeit. Man hielt uns nicht für Touristen. Touristen kamen nicht nach Magnitogorsk.

»Den Sekt habe ich im Kofferraum gekühlt«, sagte mein Vater stolz, »nur während der Fahrt zum Flughafen!«

»Das ist der Vorteil eines richtigen Winters«, gab ich zu und lächelte ihn an.

Das Entladen der Maschine dauerte. Wir schritten mit unseren Wassergläsern in der Halle auf und ab. Sie war schmal, aber durchaus vorhanden, und ich fragte mich, wie sie es schafften, von außen diesen unwirklichen Eindruck zu erzeugen.

Schließlich kamen die Koffer, und mein Vater trat zum Band. Ich packte die Gläser wieder in die Tasche. Draußen wartete der Chauffeur mit dem Firmenwagen.

2 Ostblocks

Es war noch dunkel, als die Türklinke hochschnappte. Mein Vater kam ins Zimmer, leuchtete mit einer kleinen Stablampe den Schrank ab und nahm aus einer Schublade ein paar Papiere. Er schlich zurück zur Tür. Ich richtete mich auf.

»Schlaf weiter«, sagte er leise. »Ich mußte ein paar Pläne holen.«

Mein Vater war fertig angezogen, er trug Jeans und ein Hemd mit Pullover. Das war die Kleidung fürs Baustellenbüro. »Ich gehe jetzt«, flüsterte er. »Bis heute abend.«

»Ja«, sagte ich. »Bis dann.«

Mein Vater verschwand im Korridor. Ich legte mich lang auf den Rücken, stopfte seitlich die Decke fest, betrachtete den Lichtspalt unter der Tür. Zähne wurden geputzt, ein Lichtschalter klappte um. Ich hörte, wie die harten Enden von Schnürsenkeln an Schuhleder pochten. Ein Kleiderbügel schwang gegen Holz und prallte zurück, die Metallteile einer Aktentasche rasteten ein, der Lichtspalt verschwand. Ich zuckte zusammen, als sich die Wohnungstür öffnete und leise wieder schloß.

Es war wie früher, als ich drei oder vier Jahre alt war. Ich lag unter der Decke, noch nicht ganz wach, und mein Vater war unterwegs, damit die Welt ihre Ordnung behielt. Ich fand es ein wenig traurig, daß die Welt sich nicht von selbst regelte, daß sie von meinem Vater erwartete, sich morgens warme Sachen anzuziehen und pünktlich zu erscheinen, aber ich war auch stolz, daß es ohne ihn nicht ging. Solange mein Vater seine soliden Abläufe beibehielt, war ich sicher, mich im Zentrum der Geborgenheit zu befinden, vertraute ich darauf, daß die Dinge funktionierten, wie sie sollten, und die Welt mir nichts anhaben konnte. Ich rollte mich zusammen und schlief wieder ein.

Erst weiß, dann weiß, dann wieder weiß. Die Stille, Helle, Leere, Eiseskälte. Eine zurückgenommene Fläche, in sich gekehrt, unangreifbar. Das Fenster erstreckte sich über die gesamte Breite des Zimmers, es zeigte nichts. Vielleicht hellgrauer Himmel, der bis an die Scheibe reichte. Vielleicht Schnee, der die Dinge dicht umschloß.

Dinge? Gab es Dinge? Man vermutete sie, man ging davon aus, daß sie da waren, irgendwo auf der anderen Seite der Wand, eingesperrt in diesem Weiß. Man rechnete mit ihnen, rechnete damit, daß sie zu ihrer Zeit Gestalt gewinnen würden, daß sie zweifellos wieder auftauchen mußten. Aber konnte man sicher sein? Man lebte dahin, kochte Tee, wusch einen Teller ab, während die Welt abwesend blieb. Woran sollte man sich orientieren? Man bewegte sich auf unbekanntem Gelände, ein Wecker tickte im Takt des eigenen Atems wie ein Echo, ein Hohn. Man war in sich selbst versunken, der Schnee, der Himmel, die Gardine gingen ineinander über, und ob außen etwas existierte, blieb unerkennbar, blieb nur mehr eine Hypothese, ein Gedankenspiel. Am Ende des Zimmers lauerte die weiße Bettdecke und schien bereit, sich über mich zu werfen, die Bedeutung von Zeit und Raum gänzlich auszulöschen.

Ich trank Tee, duschte, zog mich an. Ich strich die Bettdecke glatt und imprägnierte meine Winterstiefel. Die Uhr zeigte elf.

Vom Fenster aus war jetzt das Werk zu sehen. Es tauchte in der Ferne aus dem Dunst auf, gigantische Schlote, die braunen Rauch ausstießen, schwarze Gebäude, die sich kategorisch vom Schnee abhoben, die sich gegenüber den weichen Schattierungen eines blaßgrauen Hintergrunds durchsetzten und ein Gegengewicht bildeten, einen machtvollen Komplex, der ebenso wie seine Umgebung uneinnehmbar schien.

Dicke Rohrleitungen wanden sich durch einen nachgiebigen Nebel, irgendwo brannte etwas mit bläulicher Flamme, aus einem hohen Kamin trat plötzlich eine Qualmwolke aus, blieb als feste Masse über dem Schornstein stehen und bewegte sich in rhythmischen Stößen. Etwas rückte nach, schob sich vor, ein schmutziges, dichtes Pulsieren wie von einem sonderbaren, primitiven Lebewesen. Der Qualm verteilte sich nicht, er behielt die Form eines Blumenkohls und die Farbe von Schwefel und Schlamm.

Dann tänzelten aufs neue reinweiße, freundliche Flocken jenseits der Fensterscheibe und verbargen das Werk hinter einem Schleier aus natürlicher Perfektion, aus Sauberkeit.

Ich öffnete den Kühlschrank. Wodka war noch da, eine angebrochene Milchflasche, ein halber Margarinewürfel. Die Milch war sauer, der Wodka wirkte frisch. In einem Pappkarton fand ich Vorräte aus Deutschland: Dosen mit Ölsardinen, Kaffee, Schokoladentafeln.

Zu meiner Orientierung hatte mein Vater das Liniennetz der Straßenbahn fotokopiert und die entscheidenden Haltestellen mit dicken Kreuzen versehen. Geschäfte waren mit kleinen Zeichnungen markiert: Brot, Fisch, Äpfel, Getränke.

Ich nahm die Einkaufstasche an mich, steckte die Kopie ein und verschloß die Tür. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl fünf Stockwerke nach unten und gab an der Rezeption den Schlüssel ab. Eine üppige Blondine mit langen, lackierten Fingernägeln warf einen Blick auf die Zimmernummer, einen Blick auf mich und breitete ein großes Lächeln über den gesamten Empfangsraum aus. Mir schien, daß es heller wurde, als habe sie das Licht angeknipst.

»Ah, die Tochter, das ist ja auch nicht zu verkennen, da wird Ihr Vater aber froh sein, daß Sie endlich da sind. Was werden Sie hier machen, nun, Sie werden unsere Stadt kennenlernen, natürlich, aber mitten im Winter, welch eine Idee, und überhaupt, was für ein Ort, um seine Zeit zu verbringen! Aber Ihr Vater wird glücklich sein, daß Sie da sind, da bin ich sicher, und ich werde ihm sagen, was für ein nettes Töchterchen er hat, ja, tatsächlich. Wissen Sie, wenn es Probleme gibt, kommen Sie sofort zu mir, ich werde mich um Sie kümmern, und auch wenn Sie sich langweilen, kommen Sie nur, kommen Sie, fragen Sie nach Ludmilla, mit mir können Sie Tee trinken, mit mir können Sie sich unterhalten, jederzeit.«

Unser Hotel stand auf einem Hügel am Ufer des Ural. Der Flußlauf bildete die Grenze zwischen Europa und Asien, wir wohnten auf der europäischen Seite und blickten hinüber auf den anderen Kontinent, auf das Werk, auf den Dampf, in die Weite der Steppe. Das Hotel war ein vielstöckiges, schmuckloses Haus, das die anderen Gebäude um einige Meter überragte, sich aber ansonsten, soweit ich sah, in keinem Punkt von ihnen unterschied. Hier war die gesamte Belegschaft der deutschen Firma untergebracht. Ich konnte unsere Fenster nicht ausmachen, wir hatten Gardinen und einen zugeschneiten Balkon wie alle anderen auch.

Die Siedlung war ein Experiment der Eintönigkeit. Plattenbauten, ein klares System aus gestapelten und gereihten Klötzen, graue Blocks, in die die Menschen einsortiert waren, modellhaft, unpersönlich, wie eine Versuchsanordnung, die mechanisch die Rahmenbedingungen vorgab, während gleichgültig blieb, was dabei herauskam. Etage für Etage steckte jeder in seinem Würfel, war jeder für sich in einen freien Raum gesetzt und aufgefordert zu leben.

In der Nacht hatten mein Vater und ich noch eine Weile am Wohnzimmertisch gesessen, den restlichen Sekt ausgetrunken und die Lage besprochen. Wir waren beide müde, aber außerdem nahm ich in den Bewegungen meines Vaters etwas Duldsames, Hilfloses wahr, das ich an ihm nicht kannte. Er saß in einem gelblichen Sessel, der den Möbeln ähnelte, die meine Eltern zu Beginn ihrer Ehe besaßen, er faltete den Stadtplan auf und strich immer wieder darüber, als wolle er einen unsichtbaren Schmutz entfernen, die Stadt für mich reinigen, glätten, vorbereiten. Ich hockte im Schneidersitz auf dem Sofa, ich spürte die Sprungfedern durch das Polster, und wenn ich mich vorbeugte, um nach meinem Glas zu greifen, quietschte das Metallgestell. Im Wohnzimmerschrank standen Porzellanvasen auf steifen Häkeldeckchen. In einer Glasvitrine wurde ein feines Kaffeeservice für sechs Personen aufbewahrt. Für den Fall, daß Gäste auftraten, waren wir gerüstet. Man hatte meinem Vater zwei Zimmer zugeteilt, er verfügte über fließendes warmes Wasser, eine Badewanne und eine eigene Küche. Der Kühlschrank brummte leise, die Heizung ließ sich nicht regulieren und war sehr heiß.

Es fehlte an nichts, dennoch bekam ich gleich am ersten Abend das Gefühl, daß es an allem fehlte, als sei das, was uns umgab, nicht wirklich substantiell. Man kam aus der Kälte in die überheizte Wohnung und glaubte nicht daran, daß die Wärme andauern würde, man war bis auf die Knochen durchgefroren und betrachtete die Zivilisationserscheinungen als Ausnahmezustand, als flüchtigen Reiz, dem nicht zu trauen war. Ich konnte mich nicht entspannen, ich erwartete nicht, daß die Gegenstände um mich her Bestand hatten, daß sie von selber, aus eigener Kraft vorhanden waren. Dazu war die Gegend zu rauh, zu vernichtend, und ich fixierte das Sesselpolster, auf dem mein Vater saß, damit es nicht verschwand.

Die Heizung wickelte die Luft um ihre Stäbe, trocknete sie aus und gab sie an das Zimmer zurück. Von der Balkontür kam ein scharfer, eisiger Zug. Die Tischdecke, auf der unsere Gläser standen, war mit einem komplizierten Blumenmuster bedruckt, es erinnerte mich an den Plastikbezug unserer Hollywoodschaukel, früher, in einem sehr fernen, aus gemähtem Gras und Amseln bestehenden Sommer.

Mein Vater verunsicherte mich. Ich saß ihm gegenüber und berichtete von zu Hause, er nickte ab und zu, starrte auf den Stadtplan und schaltete schließlich für die letzten Nachrichten den Fernseher an.

»Bisher habe ich mehr oder weniger aus den Bildern erschlossen, um was es geht«, sagte mein Vater. »Und einiges versteht man ja auch ohne Russisch, zum Beispiel Perestroika.«

Er verfolgte auf dem Bildschirm die Wettervorhersage, Wolken und Schneeflocken über Moskau, Sonne in Wladiwostok, am mittleren Ural Temperaturen um minus 20 Grad. Er holte einen kleinen Taschenkalender hervor und notierte sich die Angaben, um meiner Mutter später berichten zu können, unter welchen Bedingungen sein Aufenthalt stattgefunden hatte. Ich saß still auf dem Sofa, ich schrak zusammen, als die Sprungfedern knarrten, als müsse ein subtiles Gleichgewicht bewahrt werden, das Gleichgewicht, das er zwischen sich und Rußland hergestellt hatte und das ich nur durcheinanderbringen konnte.

Große Prospekte verliefen kilometerlang in gleichmäßigen Abständen zum Fluß, Nebenstraßen wurden im rechten Winkel dazu geführt, von allen erhöhten Punkten fiel der Blick im Osten unweigerlich auf das Werk.

Hinter der ersten Kreuzung begann ein neuer Hochhausblock, genau so grau wie der, aus dem ich kam. Die Einförmigkeit der Bebauung erzeugte eine gewisse Unübersichtlichkeit, Quadrate und Rechtecke schlossen sich wie etwas Identisches aneinander, und man verlor das Gefühl dafür, ob man überhaupt vorwärts ging. Es gab keine Mitte, kein Zentrum, zu dem die Bewegung hinstreben konnte, die Straße verflüchtigte sich weit hinten, ohne Versprechungen, irgendwo anzukommen. Mir wurde klar, daß ich die Entfernungen unterschätzt hatte. An der nächsten Haltestelle mischte ich mich unter die Wartenden und schob mich in den Windschatten einer alten Frau mit wollenem Kopftuch. Als die Straßenbahn kam, schloß ich mich ohne nachzudenken den Personen an, die hineindrängten. Ich hatte nicht darauf geachtet, um welche Linie es sich handelte, es war mir bereits erstaunlich gleichgültig geworden, mir reichte es, daß es drinnen etwas wärmer war, daß es voranging, und ich verließ den Waggon dort, wo die meisten Leute ausstiegen.

Der Himmel hing eigenartig tief, er hing dicht über den Köpfen, ich ging eingeklemmt zwischen einer dunkelgrauen Decke zu Häupten und einer blaugrauen Wolkenbahn zu Füßen, festgetreten, spiegelglatt. Ich schlich gebeugt über den Bürgersteig wie in einem Schraubstock, der sich immer fester zudrehte, vor dem sich das Leben zurückzog, sich in taktischer Trägheit immer mehr nach innen wandte. Ich wollte in eine Haltung tatenlosen Abwartens fallen, in Winterschlaf, Winterstarre, bis sich von selber, im Außen, etwas änderte, ich wollte mich im Bett vergraben und schlafen, bis die fremden Straßen, fremden Häuser, fremden Menschen endgültig verschwunden waren. Immer breiter klaffte ein Riß zwischen der Person, die eine Absicht hatte, und derjenigen, die sie ausführte, ich wollte einkaufen gehen, ich wollte es nicht, planlos bewegte sich ein dickes Paket mühsam über holpriges Eis, der Frost stellte sich quer, er wollte es dem Paket so schwer wie möglich machen, es zwingen, alle Vorsätze aufzugeben, es dazu bringen, sich der Situation willenlos, gedankenlos zu überlassen.

Wie eine verschlossene Zimmertür, an die man klopft:

du stehst davor, dahinter.

Du besteigst eine Straßenbahn

als flackernder Schatten, wie zu früh

aufgestanden und noch

halb gestohlen vom Schlaf,

hier und da, distanzlos, in fahrenden Zimmern,

in Wohnzimmern, Schlafzimmern, Küchen, du

wiederholst dich, du hältst an dir fest.

In den Randzonen stapeln sich

die Quadratmeter, Stockwerk für Stockwerk

wieder die Türen in Grau,

die du auswendig kennst, die identischen Grundrisse,

Naßzellen, Kochecken, Fenster und Fernseher,

gläserne Nischen, aus denen es zieht.

Du steigst um, es ist etwas wie

sich in ein Kleid drücken,

Plätze, verborgene, einnehmen,

sich in den Alltag

einschmuggeln, ducken, verstecken;

du lächelst dann, als wolltest du die Wirklichkeit

über dich beruhigen.

Zwei zielstrebige Frauen überholten mich und betraten ein Geschäft. Das Schaufenster hatte sich eingetrübt, man konnte von außen nicht hineinsehen. Ich ließ mich treiben, ich folgte ihnen. Die Frauen kauften Brot. Sie brauchten lange, um ihre Taschen zu öffnen, das Kleingeld aus dem Portemonnaie zu suchen, ihre Pakete zu verstauen. Auf dem Linoleumboden breitete sich Schneematsch aus.

Ich wählte längliches Gebäck, das mit Kakaopulver überstäubt war und aussah wie ungeschälte Kartoffeln. Die Verkäuferin wickelte es in dünnes graues Papier. Ich nahm das Päckchen entgegen, bezahlte mit steifen Fingern, eine Münze fiel mir herunter, ich krümmte mich zu Boden, tappte unbeholfen hinter ihr her, fand sie nicht wieder. Ich legte eine andere Münze auf die Theke, meine Hände zitterten, ich zitterte am ganzen Leib, schon mürbe gemacht, ein altes Mütterchen.

Der Milchladen eng und dämmrig, eine Grotte mit gekachelten Wänden, milchblaue Kacheln bis zur Decke. Es roch säuerlich, die Luft war sehr feucht. Sie legte sich wie ein nasses Tuch auf mein Gesicht, umschlang mich und stellte mich an einen Platz, eine Umarmung, etwas zu dicht, etwas widerlich, klamm und verschwitzt zugleich. Einige Kästen mit leeren Flaschen standen auf dem Boden, hinter der Theke eine Frau in weißem Kittel. Ich betrachtete die roten, blauen, gelben und grünen Aluminiumkappen, mit denen Vollmilch, Magermilch, Buttermilch und Kefir verschlossen waren. Man sah dieser Milch nichts an. Ein junger Mann kaufte zwei Flaschen Vollmilch und verstaute sie sorgfältig in einem Rucksack. Er behandelte die Flaschen mit großer Sanftheit, er hielt die Milch wie etwas Kostbares und schnürte den Rucksack gelassen zu.

Die deutschen Ingenieure waren vor Milch gewarnt worden. Den Verzehr von Milch, Fisch, Pilzen sollten sie vermeiden. Mein Vater hatte sich vor Reiseantritt einer Strahlenmessung unterziehen müssen, bei seiner Rückkehr würde er zu einer Kontrolluntersuchung geschickt werden. Aufenthalt in belasteten Gebieten unterlag einer besonderen ärztlichen Aufsicht. Aufenthalt in belasteten Gebieten führte in bestimmten Fällen zu einem Gehaltszuschlag. Ich war nicht beim Arzt gewesen. Ich würde auch später nicht hingehen.

Der junge Mann drehte sich nach mir um und schien etwas sagen zu wollen, einen Moment nur, er suchte meinen Blick, dann wandte er sich ab und verließ das Geschäft. Er hatte halblange schwarze Locken und ein feines blasses Gesicht, mit dem er intelligent wirkte, er war, soweit man es bei der dicken Winterkleidung ermessen konnte, recht beleibt.

Als ich auf die Straße trat, wartete er auf mich.

»Sie sind nicht von hier?« fragte er.

»Nein«, sagte ich knapp und hob das Kinn. Seine Stimme klang angenehm dunkel, ich sah ihn mißtrauisch an und runzelte die Stirn.

Er lächelte flüchtig, für einen Moment huschte ein Lächeln über sein Gesicht und verbarg sich wieder. Bis dahin hatte er ernst meinen Mantel betrachtet, meine Mimik, meine komplizierte Frisur. Mir fiel nichts Besseres ein, als meine Handschuhe aus der Tasche zu holen, enge Lederhandschuhe, die sich nicht so einfach überstreifen ließen, die sich meinem Willen nicht fügten. Ich krümmte und dehnte die Finger. Er sah mir ruhig zu. Er fragte mich nicht aus. Er kramte in seinem Rucksack und brachte zwei Früchte zum Vorschein, Granatäpfel. Er drückte mir die Granatäpfel in die Hände, es war ein Geschenk für einen sehr weit angereisten Gast.

»Konstantin Semjonowitsch.«

Der junge Mann deutete eine Verbeugung an und stapfte mühsam durch den Schnee davon. Jetzt sah ich, daß er wirklich dick war. Wenn man direkt vor ihm stand, fiel es nicht auf, man achtete auf das Gesicht, auf die Hände, aber an seinem Gang, die Füße auswärts gestellt, die Schritte kurz, war es auch von hinten zu erkennen.

Der Schnee fiel wieder dichter und man drohte darin zu verschwinden. Die Menschen zogen unterwürfig den Kopf ein, die Welt wurde unscharf und löste sich in Tausende von Flocken auf. Man erkannte sich darin nicht mehr wieder, wurde verwechselt, austauschbar.

Ein paar Passanten kamen mir entgegen, ich ließ mich von ihnen mitziehen. Bei einem Straßenhändler erstand ich ein Pfund Mohrrüben, ein paar schrumpelige Äpfel. Der Wind trieb die weiße Masse schräg über die Dächer. Straßenbahnen fuhren ratternd die schnurgerade Straße entlang. An einem Kiosk wurden Zeitungen, Zigaretten und Wodka verkauft, Menschen in Mänteln und Fellmützen bewegten sich mechanisch über den Bürgersteig. Ich bewegte mich mit, lustlos, zufällig, mein Dasein erschien mir seltsam erzwungen, und daß ich mich dafür ins Zeug legte, Pläne verfolgte, Einkaufslisten abhakte, war irrelevant, war lächerlich und grotesk. Auf meine persönlichen Absichten kam es hier nicht an, ob ich einen freien Willen, einen ausgebildeten Intellekt, einen vorgeprägten Charakter besaß, interessierte nicht, der Schnee fiel maßlos auf die Erde, er deckte Unregelmäßigkeiten zu und ebnete die Stadt ein, machte alles gleich. Man würde über kurz oder lang vorhersehbar reagieren und ein schützendes Gebäude aufsuchen, man würde sich damit abfinden müssen, in dieser Landschaft vollkommen unwichtig zu sein, ein etwas wärmerer Fleck im nicht enden wollenden Schnee, ein kaum zu unterscheidender Punkt im groben Raster aus Wind und Kälte, ein Punkt, dessen Existenz nicht von Bedeutung schien und der von nichts zeugte als von der Kleinheit und Machtlosigkeit des einzelnen.

3 Wohnzonen

Theo Cziczinski wohnte zwei Stockwerke über uns. Eine Frau in schwarzem Cocktailkleid und wuschigen rosa Pantoffeln öffnete uns die Tür. Theo stand in einem abgetragenen Pullunder hinter ihr: Garderobe für einen Nachbarschaftsbesuch. Auch ich hatte etwas von dieser merkwürdigen Privatheit an mir, ich war in dünnen Strümpfen, knappem Rock, halbtransparenter Bluse die Treppen hinaufgestöckelt, mein Vater hatte mich durch beheizte Flure mit graugrünen Teppichen geführt, an numerierten Türen vorüber, niemand begegnete uns, aber ohne Mantel und Schal, ohne Hut und Handschuhe, ohne auch nur ein Stück Straßenkleidung unterwegs von einer Wohnung zur anderen fühlte ich mich nackt.

Mein Vater in festen Schuhen, Krawatte und Jackett dagegen für alle Eventualitäten gerüstet, aufrecht und entschlossen, diesen Besuch mit größtmöglichem Anstand hinter sich zu bringen, nicht als Vergnügen, sondern als Pflicht.

Theo wies mit ausladender Geste ins Wohnzimmer. Theo, herzlich und befangen, seine Befangenheit mit der polternden Wärme des Hausherrn und Frauenbesitzers überspielend. Man merkte ihm an, daß er über unsere Gesellschaft ernstlich froh war, daß er meinen Vater ohne Vorbehalte respektierte und sich von seinem Besuch geehrt fühlte und daß er sich dies vor sich selbst und vor seiner Hausdame nicht ganz eingestehen wollte. Sein Pullunder diente ihm dazu, die Bedeutung dieses Abends etwas abzuwiegeln, dem Verlauf von vornherein eine Gemütlichkeit zuzuweisen, die sich von selber womöglich nicht einstellen würde.

Wir hatten nichts abzulegen. Theo bot uns einen Platz an. Die Frau verschwand im Hintergrund und rückte kleine Schälchen mit Pralinen, Erdnüssen und Gebäck zurecht, an denen es eigentlich nichts zu rücken gab, weil alles vorbereitet war.

»Wir sind etwas in Zeitdruck geraten, Vera mußte noch zu einer Konferenz, die Arme. Sie hat ständig Konferenzen, zusätzlich zum Arbeitspensum, und dabei so schlecht bezahlt, als Lehrerin! Einen solchen Beruf ergreift man hier nur aus Überzeugung«, erklärte Theo und nickte halb anerkennend, halb mitleidig, »aber Vera ist prima, sie ist ausdauernd, sie schafft das.«

Er hatte Vera an einer Bushaltestelle kennengelernt. Es war windig und kalt, sie mußte niesen, und er hatte ihr ein Papiertaschentuch angeboten. Sie war sofort bereit, sich mit ihm zu verabreden. Theo machte einen leicht linkischen Eindruck, er versteckte den Kopf zwischen den Schultern und stand schüchtern im Raum. Ich hätte von ihm nicht erwartet, daß er es aus eigener Kraft zu einer Romanze brachte. Theo öffnete großzügig mehrere Flaschen, es gab wieder Sekt.

»Meine Vera ist ein feiner Kerl«, sagte er, als spreche er über eine Abwesende oder über ein kleines Kind. »Sie hat es so schwer gehabt im Leben, einen Trinker geheiratet, der alles versoffen hat, nicht ungewöhnlich in Rußland, aber dennoch, als sie sich von ihm getrennt hat, war ihr Kind schon elf Jahre alt. Eine weitere Heirat – aussichtslos, hier will niemand eine Frau mit Kind. Der Frauenüberschuß ist so erheblich, daß jede Frau froh sein kann, einen abzukriegen, das will ich mal ehrlich sagen, da darf man sich nichts vormachen. Aber sie, Vera, ist so tapfer, sie hat sich ganz allein um das Kind gekümmert, obwohl sie ja immer arbeiten gegangen ist. Lehrerin, ein schwerer, anspruchsvoller Beruf, und sie bildet sich auch noch weiter, abends liest sie Fachzeitschriften, sie ist so intelligent, es ist ein Jammer, daß sie so wenig Freude gehabt hat im Leben. Ich versuche, das so gut auszugleichen, wie ich kann, es ist rührend, wie sie sich freut, wenn ich ihr ein Geschenk mache, Kleinigkeiten nur, ich habe ihr etwas Schmuck gekauft, für mich ist das ja nicht teuer, gar nicht teuer, aber für sie eine Kostbarkeit. Sie ist so anspruchslos, meine Vera, so einfach, dabei doch eine gebildete Frau. Sie versucht jetzt sogar Deutsch zu lernen. Sie versteht schon viel, ich spreche langsam mit ihr, und es ist erstaunlich, wie schnell sie die Sprache auffaßt, wie gut wir uns miteinander verständigen können, wo ich selbst ja kein Wort Russisch kann.«

Vera hatte sich zu uns auf eine Sesselkante gesetzt. Sie nippte vornehm an ihrem Glas und verzog die roten Lippen an passender Stelle zu einem Lächeln.

»Ich verstehe alles«, sagte sie, »wenn Sie langsam sprechen, verstehe ich alles.«

Sie bot uns Konfekt an, drängend, unerbittlich. Mein Vater griff beherzt zu, er hatte einen Instinkt für Pflichterfüllung. Vera stellte Lehrbuchfragen, Wie gefällt Ihnen die Stadt, Was unternehmen Sie in Ihrer Freizeit, Haben Sie sich an unser Klima schon gewöhnt, Fragen, die mein Vater geduldig, langsam und deutlich im Lehrbuchton beantwortete. Die Stadt ist sehr interessant. Es gibt einige Sehenswürdigkeiten. Ich gehe spazieren. Ich schreibe Briefe an meine Frau. Ich fotografiere bemerkenswerte Punkte. Es ist mir nicht zu kalt.

Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung, schon das Zuhören strengte mich an. Veras gezierte Bewegungen, ihre korrekte Aussprache, ihre konzentrierten Formulierungen machten mich seltsam aggressiv. Es handelte sich nicht um ein gemütliches Beisammensein, es handelte sich um eine Situation, die sie für ihre Fortbildung nutzen wollte.

Wie Theo den Abend einschätzte, blieb ungeklärt. Er rechtfertigte sich vor uns, er betonte sein Glück und pries die Vorzüge seiner Freundin, er pries seine Freundin an und versuchte meinen Vater von seiner Gutwilligkeit zu überzeugen, Theo gab sich naiv und hatte auf naive Weise Hintergedanken, er sah mir bittend in die Augen, als müsse er mich beschwichtigen. Er holte ein paar Fotografien aus seiner Brieftasche und reichte sie mit dem selbstverständlichen Stolz des Familienvaters herum.

Der Sohn machte eine Lehre bei der Post, die Tochter studierte im ersten Semester. Seine Frau Erika, aschblonde Dauerwelle, Sonntagsstaat, hatte ihren beiden Kindern den Arm um die Schultern gelegt, sie steckten die Köpfe zusammen und blickten von unten in die Kamera, als habe man sie bei einer Geheimnistuerei freudig überrascht. Die drei posierten im Wohnzimmer vor einem Ölgemälde. Alpenlandschaft, Damwild, der Rahmen vergoldetes Pseudobarock.

Theodor Cziczinski, Sohn eines Bergarbeiters aus Duisburg-Ruhrort, Enkel schlesischer Einwanderer väterlicherseits, Abkömmling einer Krämerfamilie mütterlicherseits, war unter seinen Geschwistern derjenige,der es am weitesten gebracht hatte. Theo zeigte uns ein Foto von seinem Reihenhaus. Ein Haus mit sehr unscheinbar gestaltetem Vorgarten, ein Haus, das sich in der Reihe nicht vordrängte, das eher zurückfiel. Mit der Wasserwaage gestutzte kniehohe Hecke, scharfkantig gemähter Rasen, Wege aus Waschbetonplatten, in den Ritzen kein Moos. Ich konnte mir Theo vorstellen, wie er, durchaus pfiffig, aber auch vor der Zeit rentnerhaft, das Wachsen seines Grases überwachte. Seines eigenen Grases, seiner eigenen Hecke, seiner eigenen Achtbarkeit.

Vera nahm das Vorzeigen der Fotos unbeteiligt hin wie eine altbekannte Prozedur. Sie stellte elegant ihr Glas ab, schien zufrieden, daß Theo für die Unterhaltung der Gäste angemessen Sorge trug, und hielt uns die Gebäckschale vor.

Theo nahm die Fotos wieder an sich. Er zog umständlich seine Cordhose hoch, kramte geheimnisvoll im Wohnzimmerschrank und legte einen Videofilm ein.