Nimbus - Marion Poschmann - E-Book

Nimbus E-Book

Marion Poschmann

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Beschreibung

Nimbus, die dunkle Wolke, ist eine Erscheinung aus Schwung, Pracht, Weite, und doch gehört sie dem Formlosen, Ungreifbaren. Sie entfaltet Wirkung, sie bestimmt die Atmosphäre, zugleich entzieht sie sich, bleibt unbeherrschbar. Mit festem Griff und Subtilität, Witz und Zärtlichkeit unternimmt Marion Poschmann in ihren neuen Gedichten den Versuch, Nähe und Ferne zusammenzudenken und die maßlosen Kräfte der äußeren Gegenwart in einen Raum der Innigkeit zu verwandeln. Aber wo ist innen? Die Erforschung Sibiriens vor Beginn der Industrialisierung, flüchtige Begegnungen mit Tieren, die Nuanciertheit eines Farbtons oder die Verletzlichkeit von Eismassen spiegeln ebenso wie die kleinen magischen Praktiken des Alltags die Einzigartigkeit der globalen Veränderung.
Nimbus ist eine Feier des Sublimen und des Schönen, mitreißend und formbewusst, unverwechselbar im Ton, lustvoll und philosophisch.

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Seitenzahl: 45

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Marion Poschmann

Nimbus

Gedichte

Suhrkamp

Langsam wandelt

die schwarze Wolke.

Friedrich Gottlieb Klopstock

Inhalt

Sibirischer Tierstil

Und hegte Schnee in meinen warmen Händen

Während der Wald wieder wichtiger wird

Die Top-Eis- und Schneefestivals der nördlichen Hemisphäre

1 Harbin, China

2 Krasnojarsk, Sibirien

3 Manjur, Innere Mongolei

Kurgankultur

Über die Hügel

Hysteria siberiana

Restschnee

Animismus

Krähen

Schafe

Quallen

Rehe

Kolkrabe

Murmeltiere

Dachse

Kröten

Stadtschamanen

Penns Wälder

Starterkits I

Starterkits II

Heimwege I

Heimwege II

Milchpunkte I

Milchpunkte II

Ghost Detector I

Ghost Detector II

Ärzte im Plattenbau

Wettermachen

Die magischen Objekte meiner Mutter

Kunststoff

Pfauenschreie, Pflanzenjäger

Dunkle Spiegel

Isegrim

Pathosformel

Bäume der Erkenntnis

Farnfraktal

Algenfalten

Wolkenportale

Bäume der Erkenntnis

Luft

Laub

Licht

Ordnungen der Wildnis

Odenstrophen, Module

Seladon-Oden

I

II

III

IV

V Ode an die Bordsteinflechte

VI

Die Große Nordische Expedition

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

Transsib

Geistergespräche

Schlittschuhlaufen (mit Klopstock)

Eislochtauchen

Kryptodepression

Whiteout

Lakenfahrt

Daimon

Eigengrau

Schwarzpigment

Nymphaion

Neopren

Hypnopomp

Shinto

Nimbus

Sibirischer Tierstil

Und hegte Schnee in meinen warmen Händen

Vielgestaltig ist das Ungeheure,

und nichts ist ungeheurer als der Mensch.

Sophokles, Antigone

Noch gestern hielt ich mich in tiefverschneiten

Bergen auf. Jetzt sind sie eingeebnet,

aufgelöst, ganz schlicht, so wie man einen

Kühlschrank abtaut. Ich sah Wasser rinnen,

sah das Eis in Brocken von den Wänden

brechen, alles fiel zu Tal und wurde

flüssig, wurde Tal und wurde nichts.

Noch gestern betete ich Berge an.

Ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie

an mich, nach Hause, zur Erinnerung

an das Zerstörungswerk, das ich hier tat,

ich taute Grönland auf mit meinem Blick,

ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll

der Andacht überflog. Dem Wunsch ist nichts

unmöglich, heißt es doch, und wo ein Wille

ist, da ist ein Weg, die dünne Luft noch

dienstbar sich zu machen, das Ungeheure,

Ungeheuerlichste zu bezwingen,

ganz leicht, als schliefe man in seinem Sessel

und träumte nur von einem langen Flug.

Während der Wald wieder wichtiger wird

Letztens entnahm man noch Haushaltseis

aus der zwiebligen Durchsichtigkeit verdichteten

Firns, der sich voranschiebt Meter für Meter

durch die Jahrtausende, Saalekaltzeit,

Birkenpollen und Sauergräser in tieferen

Schichten, im Eisbohrkern konserviert.

Ich machte mich mit den Mächten, Gewalten

gemein, ich streckte meine unendliche Zunge,

Gletscherzunge, Gorgonenzunge, leckte an

Landeisschilden, fraß Treibeis, Packeis,

trug lichtblaue Sterne und scharfkantige Kristalle

im Mund, und ich redete in stetigen Flocken,

Frostsprache, Zungenrede des Schnees

ließ Bilder verharschen, verschimmern, öffnete

Flüsterspalten, in die alles hineinstürzt, was

übermüdet wandert, kleine Einfälle, Mammute,

Birkenwälder, mit Gletschermilch groß geworden,

jetzt formlose Gegenstände aus Schnee,

aus viel Schnee, noch mehr Schnee, Schneefall

und Toteis und groß über alle Vergleichung,

so daß jede Schätzung scheitert.

Ich war nackt wie ein Gletscher, ich stand auf den

Eisbalkonen, verkündete Schneemächtigkeit,

die Auflast weiterer Massen, aus meinem

Rachen trat Dampf, alle gezählten

Sterne über mir ausgehaucht, alle

moralischen Zitzen unter mir ausgesaugt,

ich streckte die Zunge, Abwehrzunge heraus

und sah ins Unendliche, sah ins beständige

Schneewehen, welches für jene ein Abgrund ist.

Die Top-Eis- und Schneefestivals der nördlichen Hemisphäre

1 Harbin, China

Wie einer eine Gabel

         auf seinem Tellerrand ablegt,

weitet der Wind den Raum,

      schleift die Steppe zu Staub, läßt die Ströme

stocken: die Temperaturdepression

            friert Bildenergien,

im Wasser gespeichert, Gespiegeltes, flüchtig Gesehenes

                      ein –

Bewegungen – schockgefrostet,

            in trübe Blöcke gebannt,

in graues Flußeis mit weißer

          Behauchung: Kältebausteine,

ohne Bearbeitungsspuren,

         mit Handschuhen angefaßt,

mit Wasser zusammengespachtelt, das allzu rasch hart wird,

                      glashart.

Ein langsames Tasten, Testen und Glätten –

                so mauern sie windige,

ambivalente Städte mit halbtransparenten

                  Wänden,

Kaiserpaläste und Hofdamenschlösser

               aus großen Gefühlen,

wie Eislaternen,

      mit einem flackernden Licht im Innern.

2 Krasnojarsk, Sibirien

Die Schalen des Zorns wieder aufgefüllt,

             ins Eisfach geschoben und

dann die Figuren vorsichtig ausgelöst:

                Mosbacher Löwe,

Höhlenbär, Säbelzahntiger –

         Eismumien, mit Quellwasser

abgeschmirgelt zu schimmernden Tiergeistern,

                beinahe durchsichtig,

fast kristallin. Die polierten Bäuche

                Wahrsagekugeln

der Weite, die Hintergründiges zeigen

             mit leichter Verzerrung,

Leerstellen.

   Wind geht durch unvollständiges Gelände,

der Wind verwischt Grenzen. Schnee

          weht gegen Flanken, bleibt kleben.

Steppenwisente wandern

         mit Schneehauben auf ihren Rücken

entlang einer Gleichgewichtslinie,

             Riesenhirsche tragen

ihre enormen Geweihe

         durch Zehrgebiete zwischen

den Zeiten, äsen dort, fressen die Kälte,

                selbst nichts als Frost.

3 Manjur, Innere Mongolei

Die Landschaft in Teile zersägen.

          Dem Eis bei der Arbeit zusehen:

antauen, schmelzen und wieder fest werden,

             reißen und brechen.

Herden von Pferden herausfräsen,

          Kruppen wie Hügelkuppen und

Schweife wie der Altai,

          also gläserne, in der Bewegung

gebremste Berge herstellen,

          neben den Rentierleibern,

mit Hammer und Meißel geschlagen

          aus vollkommen klaren Quadern.

Dieses Detail wurde nachträglich angesetzt.

                Für ein Geweih

ziemlich bescheiden. Zwei kurze Stangen,

                einmal verzweigt.

Räume ins Schlingern bringen.

          Den Schnee zu Figuren fügen,

grün illuminiert von verirrtem Polarlicht,

             spektralblau, magenta.

Am Himmel treiben Hund, Affe, Hahn,

             treiben Ratte und Drache,

wirbelnde Jahre

      treiben in Roerich-Farben dahin.

Kurgankultur

Minusinsk, hieß es, Minusbetrachtungen,

hinten in Rußland das Licht von

gefrorenen Tieren und wie es die Höhlen

von innen bescheint,

schimmernde Panzer um einzelne

Roßhaarballen, Gewölle, Matratzen

aus Stroh, die in der Erinnerung auftauchen,

auftauen, Fetische aus den Minusgraden

der Grabanlage, die Schädelbecher

wieder zum Leben erweckt

und modrige Felle

in einem Bademantel aus Eis.

Was überdauert: das Licht von vergoldeten

Tieren, Cerviden, zusammengerollt,

den Kopf in die eigenen Hufe verbissen und

endlos rotierend im Sonnenzauber Sibiriens.

Über die Hügel

Pumaflügel im Rücken,

so ritt ich

durch helle, durch dunkle Taiga und tiefer

hinein in den trübgewordenen Firnis

der alten Ikonen, die zärtliche Schwärze

historisch gewordener Wälder,

ritt ausladend und

gravitätisch, wie ein Geweih.