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Familiengeheimnisse umgeben Rosmarie seit ihrer Kindheit, die sie in der damaligen DDR bei den Großeltern verbrachte, denn ihre Mutter hatte sie, als sie noch im Kleinkindalter war, nicht mitgenommen, als sie in den Westen floh. Warum musste sie in Leipzig bleiben? Und warum wurde sie mit zwölf Jahren nach einem Weihnachtsbesuch bei ihrer bis dahin völlig unbekannten Mutter im Westen zurückgelassen? Außerdem plagte sie die Ungewissheit über ihren Vater, denn niemand in der gesamten Familie gab ihr Auskunft darüber, was damals in ihrem Zeugungsjahr 1946, also kurz vor der Vertreibung aus Südschlesien, passiert war. Eines Tages bekam sie die Lebenserinnerungen ihres Großvaters in die Hände und vertiefte sich in seine sehr präzisen Aufzeichnungen, die von seiner Geburt im Jahre 1872 bis zu seinem notgedrungenen Neuanfang in Leipzig berichten. Doch auch darin fand sie keine Erklärungen, was ihre eigene Geschichte betraf und so forschte sie weiter, später dann gemeinsam mit ihrem Ehemann. Sie besuchten die Heimat der Großeltern im heutigen Polen und nach und nach fanden sie immer mehr Puzzleteile, die auf eine Familientragödie hinwiesen.
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Seitenzahl: 259
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Familiengeheimnisse prägen Rosmarie seit ihrer Kindheit, die sie in der damaligen DDR bei den Großeltern verbrachte, denn ihre Mutter hatte sie zurückgelassen und floh in den Westen. Warum musste sie in Leipzig groß werden und dann im Teenageralter bei ihrer bis dahin völlig unbekannten Mutter im Westen? Außerdem plagte sie die Ungewissheit über ihren Vater und dass sie von niemandem in der gesamten Familie Auskunft über die Geschehnisse in ihrem Zeugungsjahr 1946 kurz vor der Vertreibung aus Südschlesien durch die Polen erhielt.
Eines Tages bekam sie die Lebenserinnerungen ihres Großvaters in die Hände und vertiefte sich in seine sehr präzisen Aufzeichnungen, die von seiner Geburt im Jahre 1872 bis zu der unglückseligen Vertreibung aus der schlesischen Heimat und über den Neuanfang in Leipzig berichten.
Doch sie erfuhr daraus nichts, was ihre eigene Geschichte betraf und so forschte sie weiter, später gemeinsam mit ihrem Ehemann, besuchte die Heimat der Großeltern im heutigen Polen und fand nach und nach immer mehr Puzzleteile, die auf eine Familientragödie hinwiesen.
Teil 1 – Konstantin
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Meine Jugenderinnerungen!
Schlesischer Alltag
Kindheit
7. Kapitel
8. Kapitel
Lehrzeit
Wanderschaft
9. Kapitel
10. Kapitel
Militärzeit
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Teil 2 - Rosmarie
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Hallo, hallo!
Immer noch keine Reaktion, obwohl Rosmarie bereits mindestens zehnmal auf die Klingel gedrückt hatte und an der Tür laut klopfte.
„Ist denn niemand da?“
Komisch, dachte sie, Opa muss doch Zuhause sein. So wie ihr berichtet wurde, hatte er Probleme beim Laufen und saß überwiegend in seinem bequemen Ohrensessel. Wahrscheinlich machte er ein Nickerchen. Vielleicht konnte er auch nicht mehr so gut hören? Na, kein Wunder, schließlich war er nunmehr immerhin schon über sechsundneunzig Jahre alt. Aber Fräulein Stockmann, und bei dem Gedanken daran, dass man die alte Dame immer noch mit Fräulein anredete, musste sie unwillkürlich schmunzeln, also, Fräulein Stockmann sollte doch wenigstens die Klingel hören. Aber es machte ihr niemand die Haustür auf.
Nun, dachte sie, ich kenne mich ja hier sehr gut aus, denn in diesem Haus hatte sie ihre Kindheit verbracht. Ich werde schon irgendwie reinkommen. Mal sehen, ob der Haustürschlüssel immer noch im Geheimversteck liegt. So wie damals, wenn sie aus der Schule kam und die Großeltern zum Einkaufen weg waren.
Sie ging um das große, imposante Haus herum, machte das kleine Gartentürchen auf und blickte erstaunt zur Terrasse, die man nur noch erahnen konnte, denn das kleine Gärtchen davor war nicht mehr wie in ihrer Kindheit gepflegt, sondern total mit Pflanzen überwuchert. Ihre Großmutter kümmerte sich zeitlebens darum, denn sie liebte es, in den sommerlichen Abendstunden, den Sonnenuntergang auf ihrer Bank zu genießen. Doch nun konnte man deutlich sehen, dass hier schon seit längerer Zeit niemand mehr etwas getan hatte. Sie kämpfte sich durch das Gestrüpp zur Terrasse vor und freute sich, als sie das von Großvater selbst gebaute Vogelhäuschen noch immer an seinem alten Platz an einem Ast hängen sah. Hier hatten sie früher immer den Ersatzschlüssel deponiert und sie stellte fest, dass dieser tatsächlich noch da war.
Sie nahm ihn an sich, ging zur Haustür zurück und schloss mit sehr zwiespältigen Gefühlen auf.
Was würde sie erwarten? Wie ging es Großvater? Wie hatte er den Tod seiner geliebten Frau überwunden? Immerhin hatte er nun schon seine dritte Ehefrau überlebt. Wie verkraftet er diesen erneuten Schicksalsschlag?
Fragen über Fragen wirbelten durch ihren Kopf, seit sie in Hannover von ihrer Mutter das Telegramm gezeigt bekam.
„Oma Auguste gestorben. Beerdigung 3.1.69. Leipzig, 29.12.68. Fräulein Mücke.“
Das war alles, was sie erfahren hatten.
Ihre Mutter nahm das sehr theatralisch auf, flehte zum Himmel und konnte es gar nicht fassen, dass Oma gestorben sein soll und haderte mit dem Schicksal. Dieses sonderbare Verhalten passte so überhaupt nicht zu ihrer Mutter, denn soweit Rosmarie das in all den Jahren, seit sie nunmehr bei ihrer Mutter in Hannover lebte, erfahren hatte, konnte sie nicht feststellen, dass es eine innige Beziehung zwischen den beiden gab. Und das hatte nichts damit zu tun, dass sie der sogenannte „eiserne Vorhang“ viele Jahre getrennt hatte. Das Ganze kam ihr aufgesetzt und irgendwie unglaubwürdig vor. Sie selbst ist es schließlich, die geschockt und todtraurig darüber ist, dass ihre geliebte Großmutter gestorben ist. Aber ihre Mutter ließ Rosmaries grenzenlose Traurigkeit überhaupt nicht zu, ja, beachtete ihre Gefühle gar nicht und erging sich lieber in Selbstmitleid. Dieses Verhalten entfremdete sie immer mehr von ihrer Mutter und verstärkte ihr äußerst gespanntes Verhältnis zueinander, das darin gipfelte, dass sie ihr vor ein paar Jahren als Teenager einen gerichtlich bestellten Vormund verpasste, da sie ihrer Meinung nach schwer erziehbar wäre. Ja, sogar mit einer Einweisung in ein Heim hatte sie gedroht, was jedoch dann durch diese Vormundschaft schließlich vom Tisch war. Damals dachte Rosmarie, dass das wohl die absolute Krönung in ihrer Beziehung wäre, aber nun musste sie einsehen, dass es immer schlimmer wurde.
Nachdem ihre Mutter endlich mit der unseligen Selbstbemitleidung zu Ende war, wurde sie zugleich konkret und berief sofort den Familienrat ein, der darin bestand, dass sie ihre Schwester, also Rosmaries Tante Anita, die nicht weit entfernt wohnte, zu sich bestellte. Ja, tatsächlich, zu sich bestellte, denn auch die etwas ältere Schwester hatte in ihren Augen zu gehorchen, und sie tat es auch. Bald saßen dann die drei zusammen und beratschlagten, was denn nun zu unternehmen wäre. Es lag auf der Hand, dass einzig Rosmarie die Chance hatte in dieser kurzen Zeit die Einreise in die DDR zu erreichen, da sie die Genehmigung dazu seit ihrer sogenannten „Entführung“ in die Bundesrepublik durch ihre Großeltern in der Tasche hatte und nicht extra die Einreise beantragen musste. Also bestimmte ihre Mutter, dass sie als Begründung der eiligen Reise nach Leipzig das Telegramm in der Hand mit dem nächsten Zug fahren sollte. Auch die sehr problematische Entscheidung, was denn nun mit dem hochbetagten Großvater, der ja nunmehr ganz alleine in dieser durch die Grenze isolierten Stadt lebte, passieren solle, überließen sie der jungen Frau. Das Einzige was sie ihr mit auf den Weg gaben war, dass sie ihn dazu befragen solle, ob er mit ihr nach Hannover kommen wolle oder vielleicht lieber in einem Heim in Leipzig leben möchte. Selbst die Frage, ob und wo er überhaupt dann in Hannover unterkommen könnte, war nicht geklärt, sodass auch dieses Problem schwer auf ihr lastete.
-Konnte sie dem alten Mann das denn einfach sagen, dass sie eigentlich gar nicht wusste, wo er seinen Lebensabend in der für ihn fremden Stadt verbringen soll? Wohin sollte sie ihn bringen, wenn er ja dazu sagen würde? In der kleinen Wohnung der Mutter war absolut kein Platz und ihre Tante, die zwar in einem etwas größeren Haus wohnte und dementsprechend eventuell die Möglichkeit dazu hätte, hatte das nicht zu bestimmen, da ihr patriarchalischer Ehemann einzig das Sagen hatte und dem noch zustimmen musste. Doch dazu hatte die Zeit nicht gereicht. Das war demnach keine sichere Option.
Und wenn er sich für ein Heim in Leipzig entscheiden würde? Wie konnte das geregelt werden und wie lange würde das dauern? Sie konnte unmöglich für längere Zeit weg, denn dann würde sie womöglich ihren Studienplatz, den sie glücklicherweise bekommen hatte, vielleicht aufs Spiel setzen.
Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie den Schlüssel zögernd umdrehte und in das große, dunkle Entree eintrat. Sie betätigte den Lichtschalter, wie von frühester Kindheit an gewohnt, und sah erstaunt, dass alles noch genau so aussah wie damals. Die schwere Eichentür knarrte, als sie sie zuzog, genau wie immer.
Die Tapeten mit großen Ornamenten waren ebenso noch an den hohen Wänden, wie die zwei riesigen Kronleuchter in der Mitte des Empfangsraumes. An der Seite stand der große Holztisch, der bei besonderen Anlässen in die Mitte gerückt wurde, damit alle Bewohner bei einer Feier daran sitzen konnten. Der uralte Perserteppich war immer noch so zerschlissen wie früher, aber hatte die Zeit ebenso überdauert, wie die betagte Anrichte, die an der anderen Seite stand. Sogleich fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt und genoss es, ein Gefühl des Zuhauses zu haben. Hier in dieser Halle traf sich oft die Hausgemeinschaft, es wurde gemeinsam Weihnachtsschmuck gebastelt, die von Oma gebackenen Plätzchen ausgestochen und phantasievoll dekoriert. Der Nikolaus kam, tadelte unartige Kinder und holte danach kleine Tüten mit Süßigkeiten, Äpfeln und Nüssen für jeden aus seinem großen Jutesack.
Geburtstage, Weihnachts- und Fastnachtsfeiern fanden hier statt, ja sogar Versteckspielen war ein sehr beliebter Zeitvertreib für die Kinder bei Regenwetter. Jedoch, etwas war sonderbar, alles erschien ihr plötzlich viel kleiner, als sie es in Erinnerung hatte. So, als wäre alles geschrumpft. Aber klar, sagte ihr der Verstand, es ist völlig normal, dass ihr nunmehr alles kleiner vorkam. Nicht die Gegenstände sind geschrumpft, sondern sie ist gewachsen und kein Kind mehr von zwölf Jahren, das sie damals beim Verlassen des Hauses gewesen war.-
Nur kurz gönnte sie sich die nostalgischen Erinnerungen, denn die Sorge um ihren Großvater kam ihr wieder zu Bewusstsein. Sie ahnte schon, wo er sich aufhielt, sollte er Zuhause sein. Also eilte sie über den Flur zur Tür, die in die Wohnküche führte. Wie sie es als Kind gelernt hatte, klopfte sie höflich an, doch es rührte sich nichts. Dann etwas lauter, aber immer noch nichts.
Sollte er doch außer Haus sein?
Ganz behutsam öffnete sie die nicht abgeschlossene Tür, setzte ihr Gepäck ab, das außer einem kleinen Koffer auch noch zwei Kränze beinhaltete, da es bekannt war, dass Blumen in der DDR nicht gerade einfach zu bekommen waren und spähte in den Raum. Auch hier hatte sich überhaupt nichts verändert.
Auf der Bank am Kachelofen gleich neben der Tür, wo er sich immer im Winter den Rücken wärmte, war er nicht zu sehen.
Aber sie wusste, dass er da sein musste, denn der für sie altvertraute Pfeifentabakgeruch hing in der Luft.
Sie ging weiter in den Raum hinein, schaute zum alten Sofa, das jedoch ebenfalls leer war. Es dämmerte ihr, dass er es sich bestimmt auf seinem heißgeliebten Ohrensessel, der in der Nähe des Küchenherds steht, bequem gemacht hatte. Und richtig, als sie näher kam, sah sie, dass Großvater Konstantin dort saß, wie immer sehr gut mit weißem Hemd, Krawatte und seiner Weste bekleidet. Er war eingenickt. Sein Kopf fiel ein wenig zur Seite und er schnarchte leise vor sich hin.
Daneben auf dem kleinen Tischchen lag auf einem Teller seine noch etwas schmauchende, große gebogene Pfeife, die sie immer an die des Lehrer Lämpel aus Wilhelm Buschs Max und Moritz erinnerte.
Als sie ihn so sitzen sah, kam er ihr irgendwie verloren vor, ja, wie sie ihn noch nie vorher gesehen hatte. Er, der allzeit starke, so souveräne Herr, vor dem jedermann Respekt hatte, wirkte klein und zerbrechlich. Das irritierte Rosmarie so sehr, dass sie sich kaum getraute, ihn aufzuwecken.
Eine kleine Weile sah sie ihn nur an und dabei kam ihr wieder schmerzhaft zu Bewusstsein, dass ihre so sehr geliebte Großmutter nicht mehr da ist. Sie schaute zum Herd, sah sie förmlich vor sich und in rasender Geschwindigkeit kamen unzählige Erinnerungen in ihr hoch.
-Hier, am Herd, hatte sie fast immer gestanden und hatte auch in den schlimmsten Zeiten dafür gesorgt, dass irgendetwas zum Essen auf den Tisch kam und keiner Hunger leiden musste. Ihr liebevolles „Rosilein“, das sie all die letzten Jahre so vermisst hatte, hörte sie so deutlich, als stünde sie neben ihr und würde sie zum Essen rufen. Wieso haben sie mir das nur angetan?
Warum durfte ich nicht bei ihnen bleiben? Ich war hier in meiner Kindheit so glücklich und zufrieden.
Für sie persönlich war es eine schöne Zeit hier in Leipzig, denn von den negativen Seiten des Arbeiter- und Bauernstaates ahnte sie nichts und erfuhr erst sehr viel später, als sie im Westen war, dass es sowas wie Stasi, Bespitzelungen und Verhaftungen von Regimegegnern gab. Auch den Mauerbau erlebte sie erst, als sie schon in Hannover war. Sie erinnerte sich gerne an die großartigen 1.Maifeiern mit den Umzügen auf der „Straße der Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, die direkt an der Ecke ihres Zuhauses vorbeiführten. Dabei erinnerte sie sich an eine Begebenheit, die sie all die Jahre über völlig vergessen hatte. Sie stand damals an der Straßenecke und musste wohl ziemlich traurig ausgesehen haben, da ihr Großvater es nicht wollte, dass sie bei den „Jungen Pionieren“, aus welchen Gründen auch immer, nicht teilnehmen durfte. Als ihre Klassenfreunde vorbeimarschierten und fröhlich mit Tüchern den Zuschauern zuwinkten, sah sie ihr Klassenlehrer dort stehen und ging spontan zu ihr. Wortlos griff er in seine Tasche, holte ein blaues Halstuch hervor und band es ihr um. So ausgestattet konnte sie dann auch an dem Umzug durch Leipzig teilnehmen und war nicht länger ein Außenseiter. Diese Geste ihres Lehrers fand sie wunderbar und er machte das noch mehrmals, ohne dass Großvater Konstantin davon etwas mitbekam. Auch die Radrennen fanden hier auf dieser Straße statt und sie und alle Nachbarskinder standen am Straßenrand und feuerten ihr großes Idol Täve Schur an.
Auf der Straße vor ihrem Haus konnten sie unbesorgt toben, denn hier fuhren höchstens mal ein paar Fahrräder durch. Abenteuerlich ging es zu, wenn sie in den zahlreich noch vorhandenen Trümmern verstecken spielten. Es grenzte fast an ein Wunder, dass es niemals zu schwerwiegenden Unfällen kam, denn abgesichert war das alles nicht gerade.
Warum nur musste ich zu meiner Mutter? Sie war für mich doch eine völlig fremde Frau gewesen?
Und was war eigentlich mit meinem Vater, über den ich niemals etwas erfahren habe und der in der Familie einfach totgeschwiegen wurde?
Ich wurde damals in Hannover einfach abgegeben. „Entführt“, wie die Polizei der DDR es bezeichnete und wofür Großvater sogar verurteilt wurde.
Gesagt hatte man mir nichts davon und schon gar nicht gefragt was ich will. Das tat so weh.
Nächtelang habe ich damals geheult und mit dem Schicksal gehadert.
Aber kann ich diesen alten Mann hier deshalb verachten?
Wer ist denn nun der oder die Schuldige?
Meine Mutter, die in den „goldenen Westen“ geflohen ist und mich als kleines Kind in Leipzig bei den Großeltern zurückgelassen hatte?
Oder meine Großeltern, die mich nach vielen Jahren dann in Hannover bei meiner Mutter ließen und alleine wieder zurückfuhren? –
Diese Gewissensfragen quälten Rosmarie seit langem und sie kam einfach zu keinem schlüssigen Ergebnis.
Jetzt wurde sie endlich volljährig und durfte von nun an selbst über sich bestimmen und das war im Moment für sie das Wichtigste überhaupt.
Dabei fiel ihr ein, dass dieser für sie so bedeutsame Tag genau morgen war, nämlich am 3. Januar. So hatte sie sich ihren Geburtstag nun wirklich nicht vorgestellt. Sie wollte ausgiebig feiern und diesen Tag mit Freundinnen und Freunden genießen. Stattdessen stand sie nun in der Wohnung ihrer Kindheit und grübelte über die Vergangenheit.
- Das ist nicht gut, sagte sie sich. Ich muss an die Zukunft denken und mir mein eigenes Leben aufbauen. Das hat von nun an absolute Priorität. Und dass das nicht einfach wird, das war ihr voll und ganz bewusst.
Ok, hör auf damit.
Jetzt liegen erst einmal andere wichtige Dinge an, die bewältigt werden müssen. -
Und genau in diesem Moment bemerkte sie, dass ihr Großvater aufwachte.
Er öffnete die Augen und sah sie erstaunt an.
„Ah, Rosilein. Du hier? Wie schön.“
Unwillkürlich zuckte Rosmarie ein wenig zusammen, da er diesen Kosenamen nannte, denn das war schon eine Seltenheit bei ihm. Aber sie freute sich darüber, stellte ihren Koffer auf den Boden und stürmte auf ihn zu, umarmte ihn und gab ihm ein Küsschen auf die Wange.
„Du bist ja eine richtige junge Dame geworden“, sagte er zu ihr, „und schick siehst du aus. Lass dich anschauen.“
„Ja, ist lange her, dass ich hier war. Und nun, zu diesem traurigen
Anlass. Mir wäre es wesentlich lieber gewesen, wenn es einen anderen Grund gegeben hätte euch zu besuchen.“
„Da hast du recht, mir auch.“
Es schien ihr, als hätte er, als er das sagte, leicht wässrige Augen bekommen. Aber nein, das konnte nicht sein, dass Großvater Emotionen zeigte. Er, der immer so beherrscht, ja, manchmal auch recht streng war, ließ eigentlich niemanden so recht an sich heran. Doch das war jetzt etwas ungerecht, dachte sie, denn ihr gegenüber zeigte er sich früher hin und wieder von einer ganz anderen Seite, fürsorglich und beschützend. Als kleines Mädchen, erinnerte sie sich, durfte sie sogar auf seinem Schoß sitzen. Wenn dann hin und wieder abends der Strom abgestellt wurde, saß sie bei Kerzenlicht bei ihm und er erzählte ihr Geschichten aus der alten Zeit, manchmal sogar richtige Gruselgeschichten. Und wie er erzählen konnte. Gebannt lauschte sie immer seiner sonoren Stimme, noch dazu im schlesischen Dialekt, das das Ganze dann noch unwirklicher und fremdartiger erscheinen ließ. Sie war dann immer sehr traurig, wenn ihre Oma rief und sie ins Bett musste. Rosmarie riss sich aus diesen Gedanken und wandte sich ihrem Großvater zu.
„Opa, hast du denn überhaupt schon was gegessen?“
Als er verneinte, fuhr sie fort: “Gut, dann schau ich mal in der Speisekammer nach, was ich da so finde.“ Doch da sah es wirklich trostlos aus. Ein wenig Margarine, ein paar Scheiben Wurst und ein angebrochenes Marmeladenglas war alles. „Das ist ja sehr bescheiden. Ich gehe mal kurz rüber zu Kleemanns und schau mal, was es im Laden heute zu kaufen gibt. Bin gleich wieder da.“
„Ja, ist recht“, rief er ihr noch nach, als sie schon in der Tür verschwand.
*
Kurze Zeit später war sie auch schon wieder zurück mit einer großen Papiertüte in der Hand.
„Also, ehrlich, das ist schon sehr erbärmlich, was ihr hier im Laden habt. Man bekommt ja kaum was zu kaufen. Wenn ich da an unsere Supermärkte denke, wie vollgestopft die mit allen möglichen Dingen sind.“
Dabei schüttelte sie den Kopf, sodass ihre langen rötlichen Haare wild durcheinander gerieten und packte die mitgebrachten Lebensmittel aus.
Sogleich machte sie sich daran das Essen zuzubereiten und bald ließen es sich die beiden am Küchentisch gut schmecken. Es war zwar nicht üppig, aber es gab frisches Gemüse, Kartoffeln und sogar für jeden eine große Bratwurst.
So nach und nach kamen dann die anderen Mitbewohner nach Hause. Fräulein Stockmann und Frau Nordhof mit ihrer Tochter. Jeder hatte eine abgeschlossene Wohneinheit hier im Haus, die alle über die große Eingangshalle zu erreichen waren. Mit großer Freude wurde Rosmarie begrüßt und diese bat sie sogleich an den Küchentisch und lud sie zum Essen und Trinken ein. Das war durchaus so üblich, dass man sich bei Gelegenheit gegenseitig einlud und größere Familienfeste wurden immer gemeinsam im Entree gefeiert.
Etwas später ließ sich auch noch die Nachbarin, Fräulein Mücke, blicken und Rosmarie vernahm mit großer Erleichterung, dass sie und Fräulein Stockmann bereits alles Erforderliche für die morgige Beerdigung erledigt hatten.
Natürlich waren alle sehr neugierig zu erfahren, wie es denn Rosmarie in den letzten Jahren so ergangen war und löcherten sie mit Fragen. Sie hatte zwar absolut keine Lust dazu, aber tat ihnen doch den Gefallen und erzählte vieles über ihr Leben und über Allgemeines aus dem Westen.
Das lenkte sie ein wenig ab und so musste sie nicht andauernd an den traurigen Verlust ihrer Großmutter denken und es war etwas leichter zu ertragen.
Als alle dann in ihre Wohnungen gingen, schaute sie noch mal in Großvaters Schlafgemach, denn er hatte sich schon etwas früher verabschiedet. Es interessierte sie, ob er denn auch alleine klar kam. Was sich auch bestätigte, da sie sah, dass er seine Kleidung ordentlich auf einen Bügel gehängt hatte und friedlich in seinem Bett lag und schlief. Beruhigt konnte sie sich zurückziehen in die sogenannte „gute Stube“. Dieses Zimmer lag gegenüber auf der anderen Seite der Eingangshalle und wurde tatsächlich nur ganz selten benutzt und war in erster Linie für Gäste gedacht. Um ein wenig die Kasse aufzubessern, wurde es manchmal auch für ein paar Tage vermietet, hauptsächlich, wenn in Leipzig die Messe stattfand und in dieser Zeit Hotelzimmer Mangelware waren. Wie genügsam die Menschen hier waren, dachte sie, als sie die Einrichtung sah. Ein einfaches Doppelbett, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein kleiner Kleiderschrank. Als Waschgelegenheit diente eine Schüssel und eine Karaffe mit heißem Wasser, die auf der Kommode standen. Und das war’s auch schon. Von wegen Dusche oder gar Badewanne und man musste die Gemeinschaftstoilette, die sich gegenüber dem großen Entree befand, mit benutzen. Es amüsierte sie ein wenig bei der Vorstellung, dass man dieses sehr bescheidene Zimmerchen den verwöhnten Westeuropäern oder gar Amerikanern anbieten würde, die sich mit ihrem Westgeld natürlich locker ein Hotelzimmer mit allem Komfort leisten konnten.
Nachdem sie sich etwas frisch gemacht und ihren Schlafanzug angezogen hatte, fiel sie müde ins Bett, fand aber lange keine Ruhe, da ihr tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf gingen und es dauerte ewig, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Sehr früh am Morgen wurde sie wach und sah erstaunt, dass Großvater Konstantin bereits im schwarzen Sonntagsanzug sauber und korrekt wie immer am Küchentisch saß. Er hatte sogar schon Kaffee aufgesetzt und bat sie zu sich. Ein wenig stolz sagte er zu ihr, dass das immer noch Kaffee aus dem letzten Päckchen wäre, das sie vor einiger Zeit von ihrer Mutter aus dem Westen erhielten.
„Wir sind immer damit sehr sparsam umgegangen und haben euren Kaffee etwas gestreckt, damit er lange hält. Auch haben wir ihn niemals verkauft, wie das die Anderen meist tun, sondern haben uns diesen kleinen Luxus für uns aufgehoben.“
Ja, das stimmt, dachte Rosmarie und erinnerte sich an die sehnlichst erwarteten Pakete in ihrer Kindheit, die regelmäßig von ihrer Mutter geschickt wurden. Da waren Dinge dabei, richtige kleine Schätze, wie Schokolade, Kaugummi und so Wertvolles wie Nylonstrümpfe, die man dann für viel Geld verkaufen konnte. Das war wirklich die einzige gute Erinnerung, die sie an ihre Mutter hatte und deshalb fiel es ihr damals auch nicht schwer, immer sofort einen lieben Dankesbrief zu schicken. Ob das von der Mutter honoriert wurde, konnte sie auch heute noch nicht beurteilen. Gesagt hatte sie es jedenfalls noch nie, auch nicht später, als sie bei ihr in Hannover lebte. Aber egal, zumindest hatte sie ihnen damit etwas Gutes getan.
Der Kaffee schmeckte einfach grausig, so dünn wie leicht gebräuntes Wasser. Aber Rosmarie ließ sich nichts anmerken, um ihren Großvater nicht zu verletzen.
Dann machte auch sie sich fertig, denn es wurde langsam Zeit, den beschwerlichen Gang zum Friedhof anzutreten.
Fräulein Stockmann hatte auch daran gedacht, dass Herr Grünwald, wie sie ihn immer respektvoll anredete, nicht mehr so gut zu Fuß war und hatte vorsorglich ein Taxi bestellt, denn der Friedhof lag ziemlich weit entfernt.
An Rosmarie ging die ganze Zeremonie der Beerdigung völlig vorbei, da sie gedanklich weit weg war und wenn man sie später über Einzelheiten befragen sollte, hätte sie keinerlei Erinnerungen mehr daran. Es kam ihr alles so unwirklich vor. Sie wollte nur noch, dass es endlich vorbei wäre und wachte aus diesem Zustand eigentlich erst auf, als sie alle wieder zurück im Haus waren und sie sah, dass die Damen bereits den großen Tisch in der Eingangshalle gedeckt hatten und Kaffee und Kuchen für die Trauergäste bereitstellten.
Großvater setzte sich wie gewohnt an das Kopfende und sah sehr gefasst aus.
Rosmarie bewunderte ihn, dass er immer noch diese Kontenance bewahrte und sich seine Trauer, und da war sie überzeugt, dass er sie hatte, nicht anmerken ließ.
Ansonsten konnte sie mit dieser allgemein als „Leichenschmaus“ titulierten Feier nichts anfangen und war sehr erleichtert, dass die Gäste doch relativ bald wieder gingen. Nur die Hausbewohner waren noch da und gemeinsam wurde alles aufgeräumt.
Später am Abend waren die beiden dann alleine und saßen in der Wohnküche zusammen, Großvater in seinem Sessel, Rosmarie auf einem Stuhl neben ihm. Es graute ihr vor der Aussprache über seine Zukunft, aber, was sollte sie machen, diese Sache musste sobald es irgend ging geklärt werden.
Jedoch, wie sollte sie anfangen?
Wider Erwarten musste sie gar nicht beginnen, denn er kam direkt darauf zu sprechen, so, als hätte er ihre Gedanken gelesen und als wolle er ihr damit helfen.
„Rosilein, du siehst es ja selbst. Ich glaube nicht, dass ich alleine hier leben kann. Ich bin leider nicht mehr der Jüngste und spüre so langsam mein Alter. Die Damen helfen mir wo immer sie können, aber darauf möchte ich nicht bauen. Sie sind ja auch nicht mehr so frisch, wenn du verstehst, wie ich das meine. Also, kurz gesagt, wir müssen eine andere Lösung finden.“
„Ja“, unterbrach ihn Rosmarie, „du hast vollkommen recht und Mutter sagte“,...
„Ach, jetzt hör auf mit deiner Mutter. Das will ich überhaupt nicht hören, was die zu sagen hat. Das interessiert mich einen Dreck.“
„Aber, Opa“, versuchte sie zu Wort zu kommen.
„Nichts da, kein Wort mehr über deine Mutter. Du bist hier und nur auf dich werde ich hören. Die Anderen können mir alle dem Buckel runter rutschen. Ich habe sie mein ganzes Leben nicht gebraucht und werde das nun am Lebensende ganz bestimmt nicht ändern.“
„Aber Tante Anita meint auch, dass du....“
„Ja, ja, Anita, das ist ‚ne Gute“, und dabei sah er sie an und fuhr fort: „Weißt du, du erinnerst mich ein wenig an sie, nur, du bist stärker als sie, viel stärker. Anita ist schlicht und einfach zu lieb für diese Welt. Und dann hat sie auch noch einen Mann bekommen, der herrisch über sie bestimmt. Gut, sie hat ihn sich selbst ausgesucht und damals in dieser sehr schlechten Zeit war das für sie ja auch bestimmt das Beste, aber nun muss sie auch damit leben. Ich wurde ja nur gefragt, habe zwar zugestimmt, aber arrangiert, wie das früher allgemein so üblich war, habe ich diese Ehe nicht.“ Lag da in seinen Worten etwas wie Bedauern? dachte Rosmarie leicht verwirrt, schob diese Gedanken aber beiseite, denn nun galt es im Jetzt wichtige Entscheidungen zu treffen.
„Was meinst du denn? Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Willst du mit mir nach Hannover kommen? Oder hast du andere Pläne?“ „Pläne? Du bist gut. Ich soll mit fast siebenundneunzig Jahren noch Pläne haben? Das kannst du abhaken. Ich mache keine Pläne mehr. Wie es kommt, so kommt es!“
„Ja, aber, Opa, wir müssen eine Entscheidung treffen. Ob wir wollen oder nicht.“
„Sicher, ja, aber ich entscheide das nicht mehr. Sag du, was zu machen ist und ich füge mich. Du wirst das schon hinkriegen. Ich sagte doch, du bist stark und machst das bestimmt richtig. Das Einzige was ich nicht will, ist, dass ihr mich hier in ein Heim abschiebt und ich darin umkomme.“
Etwas konsterniert schaute sie ihn an, bevor sie antworten konnte. „Wie bitte, ich soll über dein weiteres Leben entscheiden? Dein Vertrauen ehrt mich, aber wie könnte ich das? Ich bin völlig mittellos, habe keine eigene Wohnung und weiß noch nicht einmal wohin mit mir, geschweige denn mit dir.“
„Ach, jetzt beruhige dich erst mal. Ich habe volles Vertrauen zu dir und ich bin mir sicher, dass dir was einfällt. Aber jetzt entschuldige mich einen Moment. Ich gehe kurz zu meiner „Schatzkammer“. Bin gleich wieder zurück.“
Rosmarie wusste natürlich sofort, was ihr Großvater damit meinte. Er hatte in der Speisekammer eine große Flasche mit selbst gemachtem „Aufgesetzten“. Immer vor dem Schlafengehen gönnte er sich eins, zwei Gläschen davon. Das lässt den Tag vorübergehen und fördert einen geruhsamen Schlaf, pflegte er stets dabei zu sagen. Sie musste lächeln, als ihr sein „Geheimrezept“ einfiel.
Dafür mussten ca. drei Esslöffel Wachholderbeeren zerstampft werden. Dieses wurde dann in eine saubere Flasche gefüllt und darauf kam der gute Nordhäuser Doppelkorn. Wobei ihr Opa immer betonte, dass es auch der „Gute“ sein müsse. Alles zusammen musste dann mindestens zwei Wochen stehen bleiben, aber zwischendurch hin und wieder geschüttelt oder umgestülpt werden.
Nun, das konnte Rosmarie jetzt wahrhaftig auch gebrauchen und deshalb rief sie ihm zu, dass er ihr auch ein Glas mitbringen möge. Er kam zurück und hatte gleich die ganze Flasche dabei.
„Heute gönnen wir uns mal was, nicht wahr, mein großes Rosilein?“
Er goss ihr und sich ein und sagte: „ Prost, auf diesen scheiß Tag! Auf dass er vorübergeht und wir so was nicht mehr erleben müssen.“
Sie stießen an, leerten die Gläser in einem Zug und füllten sogleich nach.
Rosmarie wusste, dass sie aus dieser Nummer nicht mehr herauskam. Ihr war völlig klar, dass sie nun die Verantwortung für den alten Herrn übernommen hatte und dass sie dafür sorgen musste, dass er in Hannover irgendwo unterkommen konnte. Dieser moralischen Verpflichtung würde sie nicht mehr entgehen können.
Leicht beschwipst gingen sie später zu Bett und sie war echt froh, dass dieser scheiß Tag nun vorüber war.
Und dieser scheiß Tag war ausgerechnet ihr so lange sehnlichst erwarteter einundzwanzigster Geburtstag. Doch daran hatte niemand gedacht. Ja, selbst ihr kam es erst wieder zu Bewusstsein kurz vor dem Hinüberdämmern in den durch den Schnaps diesmal etwas leichter zu findenden Schlaf.
Am nächsten Tag galt es die Ausreise zu regeln. Das war wider Erwarten kein großes Problem, da für Rentner kein Ausreiseantrag notwendig war, sondern lediglich ein Besuchsschein beantragt werden musste. Die Polizeistelle in Leipzig stellte die erforderlichen Papiere sofort aus und sie konnten am Bahnhof sogleich die Fahrkarten nach Hannover kaufen.
„Ich kann es kaum glauben, dass das alles so reibungslos von statten geht mit der Ausreise“, sagte sie zu ihrem Großvater.
„Wieso wundert dich das?“, antwortete er ihr, „die wollen doch, dass ich in den Westen gehe und natürlich auch, dass ich dort möglichst für immer bleibe.“
„Wie, die wollen das? Was meinst du denn damit?“
„Na, ist doch sonnenklar. Ich als Rentner koste die schließlich nur Geld. Wenn ich weg bin, ja, dann brauchen sie nicht mehr zahlen und sparen meine Rente, die Kranken- und Heimkosten und vieles mehr. Dann ist der Westen dran und die lachen sich ins Fäustchen. Das ist doch bekannt hier im sogenannten „Arbeiter- und Bauernstaat.“ Dabei konnte er sich ein säuerliches Grinsen nicht verwehren.
„So habe ich das ja noch nie gesehen“, staunte Rosmarie, „aber ich kann mir schon denken, dass die so ticken. Na, egal, der nächste Zug nach Hannover geht erst übermorgen. Da haben wir noch genügend Zeit unsere Sachen zu packen und alles mit Fräulein Stockmann zu regeln. Natürlich müssen wir auch dran denken ein Telegramm nach Hannover abzusenden. Ach, das könnten wir ja auch gleich hier im Bahnhof erledigen, bevor es vergessen geht. Wir kennen ja nun die Ankunftszeit.“
Fürchterliches Gedränge herrschte im Zug, aber da sie Platzkarten hatten, konnten sie sich bald in ihr Abteil zurückziehen, verstauten die Koffer und Taschen im Gepäcknetz und machten es sich, soweit es möglich war, bequem. Schon bald hörte man das unmissverständliche laute Schnaufen der altertümlichen Dampflok und ganz langsam setzte sich der Zug in Bewegung und lief aus dem imposanten großen Leipziger Hauptbahnhof aus, immer schneller werdend. Großvater Konstantin sah gedankenverloren aus dem Fenster den dahin eilenden Häusern nach.
Rosmarie beobachtete ihn dabei, ohne dass er es bemerkte.