Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte - Fahim Amir - E-Book

Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte E-Book

Fahim Amir

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Karl-Marx-Preis 2018 "Bei Tieren wird die Linke rechts", postuliert Fahim Amir und holt zum Gegenschlag aus. Kritik an Umweltzerstörung oder industrieller Tierhaltung basiert meist auf konservativen Ideen einer "unberührten Natur" oder auf der ökokapitalistischen Sorge um nachhaltiges Ressourcenmanagement. Gegen die Romantisierung der Natur setzt Amir Politik statt Ethik. Statt Tiere kulturpessimistisch zu bloßen Opfern zu erklären, wird ihre Geschichte aus einer Perspektive der Kämpfe erzählt: Wie renitente Schweine maßgeblich die Entwicklung der modernen Fabrik bestimmt haben. Wie unbeherrschte Ansammlungen von Menschen und Tieren sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Zähmung New Yorks widersetzten. Wie Singvögel in der Stadt sich dank hoher Östrogenspiegel im Abwasser dopen und das Nikotin von Zigarettenstummeln zur Parasitenabwehr in ihren Nestern nutzen. Die Geschichte malariöser Moskitos und der Versuche ihrer Bekämpfung wirft ein stroboskophaftes Licht auf neokoloniale Beziehungen zwischen medizinischen und politischen Fieberschüben. Es gibt kein Zurück in die vermeintlich reine Natur – neue urbane Ökologien sind jedoch eine Chance für neue Konzepte des Miteinanders und Gegeneinanders. Nicht um moralische Selbsterhöhung oder marktförmige Imaginationen gesellschaftlicher Reform durch korrekten Konsum geht es hier, sondern um utopische Momente, die die Gegenwart zum Stottern bringen.

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FAHIM AMIR lebt als Philosoph und Autor in Wien. Amir lehrte an Universitäten und Kunsthochschulen in Europa und Lateinamerika; er beschäftigt sich mit den Übergängen von NaturKulturen und Urbanismus, Kunst und Utopie, kolonialer Historizität und Modernismus. Amir war war u. a. Kurator des Live Art Festivals (Kampnagel Hamburg, 2013), einer Kunstausstellung (Secession Wien, 2014) und eines Symposiums für Neue Musik (Internationale Ferienkurse Darmstadt, 2016). Er arbeitete mit Künstler*innen wie Chicks on Speed, Deichkind, Ted Gaier und Rocko Schamoni. Amir war u. a. Mitherausgeber von Transcultural Modernisms (Sternberg Press, 2013) und schrieb das Nachwort zur deutschen Übersetzung von Donna Haraways Manifest für Gefährten (Merve, 2016).

Schwein und Zeit wurde mit dem österreichischen Karl Marx Preis geehrt, stand auf der Sachbuch-Bestenliste von Deutschlandfunk Kultur, ZDF und Die Zeit und wurde von Goethe-Institut und Frankfurter Buchmesse zu einem der besten Bücher des Jahres 2019 gewählt. Es ist ins Englische (Between the Lines, 2020) und Persische (Elm, 2021) übersetzt worden und erscheint 2022 in französischer Übersetzung (Editions Divergences). Auszüge des Buches wurden 2021 am Wiener Burgtheater aufgeführt.

Sofern nicht imLiteraturverzeichnis andersangegeben, sind alleÜbersetzungen vom Autor

Edition Nautilus GmbHSchützenstraße 49 aD - 22761 Hamburgwww.edition-nautilus.deAlle Rechte vorbehalten© Edition Nautilus GmbH 2018OriginalveröffentlichungErstausgabe September 2018Umschlaggestaltung:Maja Bechertwww.majabechert.deAutorenporträt Seite 2:© Jakob Gsöllpointner2., vom Autor aktualisierteund ergänzte AuflageNovember 2021ePub ISBN 978-3-96054-275-9

INHALT

Vorwort zur zweiten Auflage

No space is innocent • Corona • Zur Lektüre

Einleitung

Bei Tieren wird die Linke rechts • Tiere als Täter • Kollektive Körperschaften • Tiere als Projektionsflächen des Klassenkampfs • Das Drama des revolutionären Begehrens • Tiere – auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat • Von Kühen und Küken • Urlaub in Thailand und ein neuer »Trend« unter Leichen • Wo kommen all die Tiere her? • Wider die traurige Tiermoderne • Friedrich Engels entschuldigt sich beim Schnabeltier

Mit der Kraft der Taube: Auf alles scheißen

Slavoj Žižek, Fidel Castro & Charlie Hebdo im Taubenschlag • Tauben in Kabul und Istanbul • Die Geburt einer politischen Metapher • Engel des Fordismus • Die Militarisierung der Fassade • Die visuelle Ökologie des Schmutzes • Vom Taubenvergiften • Militante Omas und Kanax der urbanen Tierwelt

Die Schweinische Multitude: New York/Paris/London

Hog Riots • Plebs & Pork • Das Kommunistische Manifest und der Smithfield Market • Die Lage der arbeitenden Schweine in England • Multituden als widerständige Gemenge: Neben Staat und Volk • Eine Revolte der Nerven • Gramsci in Zeiten der Biosecurity: Schweine essen Seele auf • Du bist Teil der Lösung, Teil des Problems oder Teil der Landschaft

Renitente Schweine und die Geburt der Fabrik

Porcopolis • Die Herrschaft der Mechanisierung • Weltlabor der kapitalistischen Moderne • Die Geburt des Fließbandes • Die Schweine leisteten über den Tod hinaus Widerstand • Vom Zerlegeband zum Fließband • Crazy Horses: Marx, Manager, Manège • Dressierte Gorillas • Der Mensch als Provinz • Tiere der Migration

Neoliberale Bienen, Soli-Moskitos & Anarcho-Termiten

Lesestoff für den Weg in die Hölle • Imperiale Insekten • Mosquito Army • Die Geburt der Segregation aus dem Geist der Moskitobekämpfung • Frauen in Panama • Faschismus und die Göttin des Fiebers • Giftiger Fortschritt • Imperial, kolonial, national, NGO • Bambule im Habitat Hamburg • Nationale Echos • Das politische Heil im Termitendarm

Andere Ökologien: Berghain, Östrogene & Vogelnester

1. September 1914 • Berghain-Ökologien • Porno, Pharma, Macht • Erregungspotenziale statt Artgerechtigkeit • Ironischer Artenschutz • Birds & Bombs • Saringetti • Verstrahlte Spiritualität • Der diskrete Charme bourgeoiser Natur • Von Natur als Strafe zu Natur als Erlösung • Dein Körper: Tempel oder Vergnügungszentrum

Politik statt Moral

Black Hole Sun • Um Klassen besser • Verkokste Veganer*innen • Utopischer Widerstand im Wiener Freibad • Sozialrevolutionäre Dreijährige • Die Gegenwart zum Stotternbringen • Erblindet! • Die Dekolonisierung der Sinne • Solidarität ist die Zärtlichkeit der Spezies • Die große Mitleid-Show • Ein Huhn namens Gzuz • Gorillas am Hebel

Anmerkungen

Literatur

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Lass die Affen aus ’m ZooHaftbefehl

Dieses Buch ist ein Plädoyer für Leben und Kämpfen in ökologisch und politisch verschmutzten Räumen. Wir leben nach Tschernobyl und Fukushima im Zeitalter von E-Nummern und nichtdeklarierten Inhaltsstoffen. Wie übernächtigte Raver müssen wir uns eingestehen: Wir sind schon verstrahlt, es gibt kein Zurück mehr. Doch wir sind nicht ganz allein als urbanes Strandgut am Tag nach der Party angespült worden. Wenn wir um uns blicken, erkennen wir die Konturen anderer Ökologien: Virtuos singende Hormonvögel und mexikanische Nikotin-Nestbaupraktiken höhlen die Idee einer »unberührten« Natur aus. Stadttauben eignen sich als »Ausländer« der urbanen Tierwelt die Stadt an, während ökologische Ordnungshüter*innen an älteren Frauen verzweifeln, die sich nicht am Taubenfüttern hindern lassen wollen.

Hatte einst Brecht das Theaterpublikum angeherrscht: »Glotzt nicht so romantisch«, so sollten auch wir unsere Vorstellungen von Natur entromantisieren und politisch mutieren lassen. Denn Kritik an Umweltzerstörung basiert meist auf konservativen Ideen einer »jungfräulichen Natur« oder wird in die ökokapitalistische Sorge um nachhaltiges Ressourcenmanagement transformiert.

Die Biodiversität, um die es in dem Buch geht, ist die der Widerständigkeit – auch an unerwarteten Orten: Unbeherrschte Ansammlungen von Menschen und Schweinen widersetzten sich der Zähmung New Yorks zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Fünfzig Jahre später provozierten renitente Paarhufer in Chicago und Cincinnati die Entwicklung des Fließbands.

Die Geschichte malariöser Moskitos und die Versuche ihrer Bekämpfung werfen ein stroboskophaftes Licht auf neokoloniale Beziehungen zwischen medizinischen und politischen Fieberschüben. Die klimatisch unmögliche Termitenkolonie von Hamburg lässt uns über die Bedeutung von Lebensräumen und deren Invasion nachdenken.

No space is innocent

Während sich in der biofleischgewordenen Idee von Artgerechtigkeit Vorstellungen des guten Lebens mit Bildern des schönen Lebens verbinden, geht es hier um etwas anderes. Tiere und Menschen werden als politische Artgenossen in den Blick genommen. Die Geschichte und Gegenwart von Tieren werden aus einer Perspektive der Kämpfe erzählt. Daraus kann nichtunschuldige Solidarität entstehen, anstatt in den paternalistischen Fallen von Mitleidsethik und Verantwortungsrhetorik zu verharren. Nicht um moralische Selbsterhöhung oder marktförmige Imaginationen gesellschaftlicher Reform durch korrekten Konsum geht es hier, sondern um utopische Momente und tierliche Revolten.

Diese Verschiebung der Perspektive auf Tiere als politische Akteure macht es möglich, ihre Bedeutung anders als bisher gewohnt in den Blick zu nehmen. So erscheinen Tiere nicht mehr nur als klassistische, sexistische oder rassistische Markierungen, sondern erweisen sich als mehr-als-menschliche diskursive Räume, innerhalb derer sich Kämpfe artikulieren. Denn Tiere teilen nicht nur unsere Räume, sie bewohnen auch unsere Träume.

Bei einer Publikumsdiskussion nach einer Lesung aus Schwein und Zeit berichtete die Leiterin einer großen Wohneinrichtung für Flüchtlinge, dass es in den letzten Jahren nicht immer einfach war, den aus dem Libanon, Afghanistan usw. Geflüchteten »hiesige« Werte zu erklären. Nur eines wollte sie nie wieder hören: das hartnäckige und unverbesserliche Unverständnis der Flüchtlinge, warum Tauben nicht gefüttert werden dürfen.

Nicht nur leben heute die meisten Menschen in Städten, hier wird auch die größte Wirtschaftsleistung erbracht und am meisten konsumiert. Die Zukunft des Planeten wird sich in den Städten entscheiden. Aber weder die Natur noch die Stadt sind für alle gleich. Für manche Wesen, menschliche und nichtmenschliche, wird der Aufenthalt im öffentlichen Raum erschwert. Deshalb sind diese Zusammenhänge nicht von der Frage zu trennen: Wem gehört die Stadt? Auch darum geht es in Schwein und Zeit. Das Buch will zu einer Weitung unseres ökologischen und politischen Vorstellungshorizonts beitragen.

Dabei ist Humor unverzichtbar. Denn je brisanter eine politische Frage, wie heute die der »ökologischen Krise«, desto wichtiger ist es, nicht zu verkrampfen. Wer allzu fest zupackt, beschädigt dabei womöglich den Gegenstand und kann außerdem nicht mehr loslassen.

Wir brauchen Tiere, um uns in ihnen als ähnlich oder anders zu erkennen, so der Historiker Boria Sax: »Jedes Tier ist eine Tradition, und zusammen bilden sie den Großteil unseres Erbes als menschliche Wesen. Keinem Tier fehlt die Menschlichkeit völlig, wie auch keine Person jemals vollkommen menschlich ist. Für sich selbst genommen, sind wir Menschen einfach Klumpen Protoplasma.«1

Sofern wir also nicht nur ein »Klumpen Protoplasma« sein wollen, stellt sich die Frage, im Spiegelbild welcher Wesen wir uns erkennen und verkennen wollen – nicht im Sinn absoluter Erkenntnis, sondern im Sinn einer provisorischen und politischen Frage. Metaphorische und materielle Ebenen können dabei nicht immer auseinandergehalten werden – und müssen dies auch nicht. Und überhaupt: Wie soll der Spiegel beschaffen sein, in welchem wir uns betrachten und in welchem sich die Tiere widerspiegeln? In Schwein und Zeit ist es Sozialgeschichte und politische Theorie auf der Grundlage eines leicht verwilderten Kulturmarxismus.

Corona

Aus Angst vor der »Schweinegrippe« diktieren Risikoalgorithmen schon länger das Leben der Menschen in der Schweineindustrie. Mit dem Auftreten des neuartigen Coronavirus ist es zu einer Globalisierung solcher Biosicherheitsregeln gekommen. Dies ist kein Zufall.

Denn der Coronavirus-Erkrankung ging das Fieber der neoliberalen Reformen und Freihandelsabkommen der 1990er Jahre voraus. Der mit diesen Reformen verbundene Marktradikalismus führte in vielen Ländern zu einer schlechter ausgestatteten öffentliche Gesundheitsversorgung sowie generell zu einem Abbau staatlicher Regulierungen in Bereichen wie Lebensmittelqualität, Tierhaltung und Fleischverarbeitung. Schrittweise wurde die profitorientierte Ausnutzung unterschiedlicher Standards des Arbeitsrechts und des Umweltschutzes erleichtert. So ermöglichte beispielsweise das Nordamerikanische Freihandelsabkommen von 1994 US-Investoren die Errichtung industrialisierter Schweinefarmen in Mexiko. Nicht lange danach, im Jahr 2009, brach dort die »Schweinegrippe« aus.

Im postmaoistischen China wiederum war die Geflügelzucht einer der ersten Wirtschaftszweige, der für Marktmechanismen geöffnet wurde. In den 1990er Jahren verdrängten Großkonzerne immer mehr kleine Produzenten vom Markt. In der Folge wechselten viele Bauern und Bäuerinnen zu lokalen Vogelarten oder ungewöhnlichen Zuchtlinien. Dazu gehörten jene Wildgänse, die im Jahr 2005 eine wesentliche Rolle beim Ausbruch der »Vogelgrippe« spielten. Vielerorts wurde die verarmte Landbevölkerung dazu gedrängt, auf die Haltung oder Bejagung wilder Tiere wie Bambusratten, Schuppentiere oder Zibetkatzen umzusatteln; letztere gelten als die Ursprungswirte des SARS-Ausbruchs von 2002 / 2003.

In vielen Teilen Afrikas wird das Fleisch von Wildtieren als »Buschfleisch« bezeichnet. Heute ist Buschfleisch, das mit dem Auftreten von HIV und Ebola in Verbindung gebracht wird, wieder stark auf dem Vormarsch. Dank der Straßen, die ursprünglich für den Bergbau und die Holzwirtschaft gebaut wurden, dringen Jäger immer tiefer in die Wälder vor. Die Zunahme der Jagd, des Verzehrs und des Verkaufs von Buschfleisch hat mit dem Zusammenbruch der Kleinfischerei zu tun. Die Europäische Union, China und Südkorea haben mit ihrer industriellen Überfischung und dem daraus resultierenden Zusammenbruch der Fischpopulationen an den afrikanischen Küsten maßgeblich dazu beigetragen.

Beziehungen und Prozesse wie diese geraten aus dem Blick, wenn in Medienberichten über ein als »chinesisch« bezeichnetes Virus die Aufmerksamkeit auf scheinbar extravagante kulinarische Vorlieben und exotische »wet markets« gelenkt wird. Letztere sind zumindest öffentlich, während das, was in westlichen Schlachthöfen vor sich geht, in der Regel dem öffentlichen Blick entzogen bleibt. Im Westen werden gegenüber den Exzessen der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie gern der lokale Markt und der kleine Bauernhof in Stellung gebracht. Im »selbstgerechten Blick auf die Anderen«2 haben sich solche Vorstellungen schnell in das dystopische Bildvokabular pandemischer Imaginationen verwandelt. Vergleichbare Zusammenhänge zwischen Gesellschaft, Geschichte, Wirtschaft, Alltagskultur und Politik aufzuzeigen, ohne die weder Natur noch die Rolle von Tieren begriffen werden kann, ist ein Anliegen dieses Buches.

Zur Lektüre

Die Kapitel bauen aufeinander auf, dies bedeutet aber keineswegs, dass sie in dieser Reihenfolge gelesen werden müssen: Jedes Kapitel steht für sich und kann nach eigenen Interessen als Einstieg in das Buch gewählt werden. Während beispielsweise das Einleitungskapitel für diejenigen besonders relevant ist, die sich für Methodenfragen, Motivationslandschaften und biografisch-impressionistische Kontexte interessieren, ist das Schlusskapitel etwas exemplarischer verfasst und bezieht kompakt Stellung.

EINLEITUNG

Nur ein Verrückter würde behaupten, Tiere seien politisch. Dieser Verrückte bin ich. Vielleicht erscheint die Idee politischer Tiere nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr ganz so verrückt. Aber selbst wenn, ist dies möglicherweise nicht ganz so schlimm, versicherte uns einst eine deutsch-amerikanische Diva: Wer nicht verrückt wird, der ist nicht normal.

Damit sind wir schon bei einer der Gewissheiten, die dieses Buch in Zweifel zieht. Ist der sogenannte Vollbesitz menschlicher Fähigkeiten eine unbedingte Voraussetzung dafür, politisch zu sein, und wen schließt das aus?

Diese Fragen lassen sich bis zu den Ursprüngen des Wortes »politisch« zurückverfolgen, das sich von der altgriechischen Polis ableitet: Dabei handelte es sich um die Bezeichnung für das religiöse und administrative Zentrum des antiken Stadtstaates sowie für die dort versammelten Bürger. Seit es das Wort überhaupt gibt, war der Ort des Politischen als ein Raum definiert, zu dem weder Pflanzen noch Tiere, weder Sklaven noch Frauen Zutritt hatten. Hier waren nur freie griechische Männer zugelassen. Alle anderen wurden an den Rand der Polis verbannt, wo sie entweder arbeiten mussten oder aufgefressen wurden.

Im Gegensatz dazu argumentiert dieses Buch, dass es reicht, sich der eigenen Beherrschung zu widersetzen, um politisch aktiv zu sein. Der Raum des Widerständigen ist durch ein Kontinuum von Widerstandsformen gekennzeichnet, nicht von einer »the winner takes it all«-Situation, wo alles Menschliche politisch ist und alles Nichtmenschliche frei davon.

Zwischen der Widerständigkeit eines Tierknochens gegen seine Bearbeitung und dem voll ausgewachsenen Widerstand einer revolutionär gesinnten Organisation, die ihre Feuertaufen in zahlreichen historischen Konflikten bestanden hat, gibt es ein Kontinuum von Widerstandsformen. Tiere sind Teil davon, so ein wesentlicher Gedanke dieses Buches. Das bedeutet keine Gleichmachung mit Menschen, sondern die Herausarbeitung »partieller Verbindungen«1.

Kategorien haben ihren Sinn, denn sie ermöglichen Orientierung. Zugleich ist sowohl die Welt selbst in Veränderung als auch die Begriffe und Theorien, die versuchen, sich einen Reim auf diese Welt-in-Bewegung zu machen. Dies gilt besonders für die Moderne: Da Kapitalismus immer ein Neo-Kapitalismus ist, der seine Grundlagen und Mittel unaufhörlich revolutioniert, hinkt die Theorie meist der gesellschaftlich-konkreten Veränderung hinterher. Zugleich leben wir nach wie vor im Kapitalismus, nicht im Postkapitalismus, deshalb ist die Aufmerksamkeit gegenüber Neuem genauso wichtig wie strukturelle Kontinuitäten nicht aus dem Blick zu verlieren. Hinzu kommt das Erfordernis, die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Diskursen auf der Höhe der Zeit zu suchen, ohne sich die kritischen Haare vom Kopf wehen zu lassen.

Angesichts des Gegenwinds neigt das kritische Denken dazu, sich zu verhärten, sich auf die Verteidigung des einmal Erkannten zu versteifen, aus Angst, dies auch noch zu verlieren – nachdem die gesellschaftliche Realität wenig Anlass zur Hoffnung auf einen Wetterwechsel gibt. Gerade in dieser Situation wäre es paradoxerweise noch wichtiger voranzuschreiten, die adäquatesten und ermächtigendsten Gedanken zur Funktionsweise der Gegenwart vorzulegen und die engagiertesten Kräfte der Gesellschaft um die konsequentesten Analysen herum zu sammeln.

Zu den engagiertesten Kräften der Gesellschaft zählen zunehmend diejenigen, die sich auf Tiere beziehen. Die Reaktion des Staates auf tierpolitischen Aktivismus spricht Bände – wie im Fall des »Wiener Neustädter Tierschützerprozesses« und seiner beunruhigenden Umstände.2

Immer mehr Menschen politisieren sich über die Kritik an der gesellschaftlichen Behandlung von Tieren. Diese positive Entwicklung durch gesellschaftstheoretische und sozialhistorische Analysen zu reflektieren ist Ziel dieses Buches und ein Beitrag zu kritischer Philosophie – diese verstand Marx, wie er es in seinem Brief an Arnold Ruge 1843 selbst ausdrückte, als »Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche«3.

Bei Tieren wird die Linke rechts

Der Umgang der DDR mit der Frage nach dem Tier, wie er von Anett Laue in ihrem Buch Das sozialistische Tier4 erforscht wurde, könnte exemplarisch für den bisher vorherrschenden Umgang mit der Frage nach dem Tier in der marxistischen Tradition stehen. Die vollständige Nutzbarmachung der Natur als Ziel sozialistischer Politik umfasste selbstverständlich Tiere als Teil ebendieser Natur: Die Entwicklung des Broilers, d. h. des industriellen »Brathähnchens«, wurde gefeiert; Tierschutzvereine wurden als unerwünschter Ausdruck eines bürgerlichen Individualismus von »Hundeonkeln und Katzentanten« aufgelöst. Das war nicht nur »sachgerecht« – wie der angemessene Umgang mit Tieren in staatssozialistischer Diktion lautete –, sondern konnte sich auch auf Marx berufen. Im Manifest der Kommunistischen Partei hatte dieser es sich nicht nehmen lassen, die »Abschaffer der Tierquälerei« zu desavouieren, die er zum »konservative[n] oder Bourgeoissozialismus« rechnete und die seines Erachtens danach strebten, »den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern«5.

Das erste Tierschutzgesetz bekam die DDR im Oktober 1989, d. h. im letzten Monat ihres Bestehens. Dieses Gesetz ging zwar weit über die bundesdeutschen Bestimmungen hinaus, doch es war zu spät: Das BRD-Tierschutzgesetz hatte Vorrang im wiedervereinigten Deutschland. Anlass für den späten Sinneswandel in der DDR war das Erstarken der Ökologiebewegung; bis dahin hatte, bis auf zwei Änderungen, das nationalsozialistische Reichstierschutzgesetz von 1933 gegolten.

Die beiden Änderungen betrafen zum einen die Abschaffung des antisemitisch motivierten Schächtverbots sowie zum anderen die Herabsetzung des Strafmaßes für Tierquälerei von bis zu zwei Jahren auf bis zu sechs Monate.6 Bruno Kiesler, Leiter der Abteilung Landwirtschaft beim ZK der SED, hatte schon 1962 gemahnt: »Wir können doch nicht bis in den Kommunismus mit einem Tierschutzgesetz von 1933 arbeiten.«7

Auf marxistischer Grundlage sind wir seitdem kaum weitergekommen: Bei Tieren wird die Linke rechts. Das soll heißen, es gibt kaum fortschrittliche Positionsbildung, die sich von der Hegemonie bürgerlich-liberaler Diskursbildung abhebt. Die Zeiten verlangen es jedoch: Hatte sich Marx in einer Rezension über die »gemüthlichen Vereine zur Abschaffung der Thierquälerei«8 lustig gemacht, war George W. Bush das Lachen wohl längst vergangen, als er am 27. November 2006 seine Unterschrift unter den Animal Enterprise Terrorism Act setzte. Dieses umstrittene Gesetz stellt alle Handlungen »mit der Absicht, die Tätigkeiten tiernutzender Unternehmen [›Animal Enterprises‹] zu beschädigen oder zu beeinflussen«, als »Terrorismus« unter Strafe.9 Bezeichnenderweise lautet der Titel eines Buches, das die Folgen dieses Gesetzes für tierpolitische Aktivist*innen beleuchtet, Green Is the New Red.10

Tiere als Täter

Dies ist eine Streitschrift für eine Politisierung der Tierfrage auf der Grundlage eines leicht »verwilderten« Marxismus. Dieses Anliegen ist dringlich, denn egal, ob es um Jagd, Zoos, Zirkusse oder Tierversuche geht, ob Pelz, Gänsestopfleber oder Massentierhaltung zum Problem werden, ob an Walfang, an Tiertransporten oder auch an ganz normaler Fleischproduktion Kritik geübt wird – Tiere erregen die Herzen so sehr wie sonst weniges. Doch anstatt den fortschrittlichsten Kräften sozialer Veränderung tiefergehende und weiterreichende Antworten zu liefern, die über bürgerlich-liberale Versprechungen hinausgehen, trotten marxistische Ansätze diesen hinterher. Sowohl bei der Analyse der Rolle von Tieren im Kapitalismus als auch bei der Kritik des Status quo von Tieren in konkreten Gesellschaften erinnert die Linke oft an eine traurig-ratlose Arrièregarde.

Dies gilt umso mehr für den Marxismus, der sich bei Tieren nie von bürgerlich-liberalen Diskursen emanzipiert hat – wenn er überhaupt jemals etwas Fortschrittliches zu diesem Thema zu sagen hatte, das über naiv verhegelte oder idealistisch-humanistische Plattitüden hinausging. Was Paul B. Preciado über den Feminismus sagt, gilt auch für die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung. Stimmen aus dem Inneren dieser Bewegung wurden zuerst an den Rand gedrängt und dann vergessen, um heute »seltsam« zu erscheinen. Im Folgenden geht es darum, einige zentrale Grundlagen der politischen Auseinandersetzung um Tiere zu reflektieren.

Wenn wir für einen Moment jene hoffnungslosen Murxist*innen, für die der Sozialismus in der restlos perfektionierten Beherrschung und Ausbeutung von Tieren besteht, beiseiteschieben und Ultrahumanist*innen ignorieren, die sich weigern, über Tiere zu sprechen, solange nicht alle Probleme der Menschen für immer gelöst sind, würden wohl die meisten Menschen zustimmen, dass Tiere vor unbotmäßiger oder extremer Gewalt geschützt werden sollten.

Dabei ist die politische Frontstellung primär von zwei unterschiedlichen Ansätzen geprägt: Zum einen gibt es den Tierschutz, der das Los der Tiere graduell verbessern will, und zum anderen gibt es Tierrechtler*innen und Tierbefreier*innen, die die Abschaffung des Eigentumsverhältnisses Tieren gegenüber zum Ziel haben.

Aber ganz gleichgültig, ob mildtätig Tierschutzbewegte oder militante Tierrechtsaktivist*innen – eines vereint beide Seiten dieser Frontstellung: Tiere werden als Opfer gedacht, denen das Elend dieser Welt zustößt. Diesen archimedischen Punkt nehmen auch zeitgenössische Moralphilosophien ein, wenn sie Tiere als unmündige »moral patients« fassen, denen souveräne Menschen als »moral agents« gegenüberstehen; diese Position vertraten auch Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung (1947), wo sie den Umgang mit Tieren als wesentlichen Aspekt innerer und äußerer Naturbeherrschung verstanden.

Diesen vorherrschenden Positionen in der Tierfrage wird hier ein anderer Blickwinkel gegenübergestellt: Hier geht es darum, die Geschichte der Tiere als Teil von Klassengesellschaften aus einer Perspektive der Kämpfe zu denken. Hat Marx die Hegelsche Dialektik vom Kopf auf die Füße gestellt, wie es gemeinhin heißt, so ist es damit noch nicht getan – sie muss auf die Hufe und Pfoten gestellt werden.

Ich schlage vor, Tiere als politische Akteure des Widerstands zu fassen und tierlichen Widerstand als Motor für die Modernisierung kapitalistischer Produktionsformen zu verstehen. Tiere werden hier nicht als halb so intelligent oder ein Viertel so kreativ wie Menschen gefasst, wie dies populärwissenschaftlich so gerne geschieht, nicht als Sekundär-Entitäten ohne eigene ontologische Qualität, sondern als mächtige Koproduzent*innen von Welt.

Der gesamte Apparat an Zäunen, Käfigen, Gehegen, Überwachungs- und Monitoringsystemen ist eine Antwort auf die monströse Akteurschaft von Tieren, sie betont ihre weltformierende Kraft, anstatt sie stets als defizitär (zu wenig Sprachfähigkeit, zu wenig Abstraktionsfähigkeit, zu wenig Planungsfähigkeit usw.) zu verstehen, wie dies für gewöhnlich passiert.

Der Widerstand der Tiere ähnelt natürlich so gar nicht liberalen Vorstellungen zivilgesellschaftlicher Partizipation an bürgerlichen Selbstgesetzgebungsprozessen. Tiere verfassen keine Unterschriftenlisten, starten keine Bürgerinitiativen, gehen weder wählen noch kandidieren sie selbst. Der Widerstand von Tieren ähnelt mehr dem Widerstand von US-Sklav*innen vor dem amerikanischen Bürgerkrieg: individuelle und kollektive Arbeitsverweigerung, Sabotage, Flucht, Gewalt gegen ihre Besitzer*innen. Er erinnert auch eher an Aufstände in den Banlieues: Das Anzünden von Autos und öffentlichen Verkehrsmitteln, die Entglasungen und Plünderungen erscheinen in der öffentlichen Wahrnehmung ebenfalls als »unpolitisch«, weil sie sich nicht in den repräsentativ-politischen Horizont einfügen. Doch auch die Kritik des Brandsatzes ist eine brennende Kritik, und auch die individuelle Enteignung ist eine Form politischer Aneignung. Was angegriffen wird, ist nicht zufällig.

Wenn mit Michel Foucault gesagt werden kann, dass Kritik die Weigerung bedeutet, so regiert zu werden, ist jeder Fluchtversuch von Tieren auf dem Weg zum Schlachthof eine praktische Kritik der Verhältnisse – ohne vorher eine Akademie für Staatsbürgerkunde durchlaufen zu haben, um rechtsphilosophisch gültige Kritik üben zu dürfen. Das Marx’sche Diktum zur Funktionsweise der Ideologie – sie wissen es nicht, aber sie tun es – gilt auch für den Widerstand von Menschen und Tieren innerhalb ideologischer Verhältnisse.

Eng gefasste Intentionalität als Lackmustest politischer Souveränität frei über sich verfügender Subjekte muss eine solche Widerständigkeit ausschließen. Doch von Cultural Studies und Psychoanalyse haben wir gelernt, dass es diese Formen des Widerstands nichtsdestotrotz gibt. Weder für Menschen noch für Tiere muss Kritik bewusst oder begrifflich verfasst sein, sonst würden wir in einer Welt ohne gegenkulturelle Moden, ohne Unbewusstes und Träume leben.

Kollektive Körperschaften

Wenn kollektive Willensbildung die Voraussetzung für demokratische Partizipation und sozialistische Räteherrschaft darstellt, so ließe sich fragen, ob es dafür nicht auch eines kollektiven Körpers bedarf. Dieser kollektive Körper müsste weder die – sozialhistorisch spät etablierte – Körpergrenze zum Problem erheben noch in den Abgründen nationalsozialistischer Vorstellungen völkischer Körperlichkeit verkümmern. Sowohl in den Widerstandspraktiken gemischter, menschlich-tierlicher Akteurschaften als auch in der herrschaftlich-abwertenden Begriffsbildung werden Konturen einer solchen kollektiven politischen Körperlichkeit sichtbar, die den Ausdruck der Solidarität verdienen. Diese sind selten unschuldig. Menschen und Tiere bilden Assemblagen von Kampfgefährt*innenschaft, die zusammen Politik und Leben zu beeinflussen vermögen. Denn Tiere treten nicht nur als »Staatsfeinde« auf – wie im maoistischen Versuch der »Ausrottung der vier Übel« (Ratten, Fliegen, Stechmücken und Sperlinge) während des Großen Sprungs nach vorn –, sondern sie affizieren Menschen und rufen Gefühle hervor, die Teil von staatlichen Reformprozessen werden oder über sie politisch hinausgehen können.

Die tierethisch vorherrschende Frage »Können sie leiden?« weicht hier einem anderen Interesse: Wo und wie leisten und leisteten Tiere Widerstand, und wo gibt und gab es Kampfgefährt*innenschaften zwischen Menschen und Tieren? Daraus kann Solidarität entstehen statt bloß paternalistisches Mitleid.

Mitleid hat nicht selten sozialchauvinistische Züge: Vergessen wir nicht, dass Adolf Hitler Mein Kampf während seiner Landsberger Haft auf dem Schreibpapier der Familie Wagner schrieb, ein Reproduktionszusammenhang, in welchem Vegetarismus als Moral der Herrenmenschen hoch im Kurs stand.11 Der von Klassenvorurteilen durchtränkte und kulturalistisch verbrämte Gestus der besseren Behandlung von Tieren durch bessere Menschen ist ein Erbe des Mitleid-Gedankens, der, in neue Schläuche gegossen, als Sittlichkeitsgebot zeitgenössischer Ethik in Supermarkt-Regalordnungen wiederauftaucht.

Tiere als Projektionsflächen des Klassenkampfs

Schon die ersten Tierschutzgesetze waren von Klassenverhältnissen durchdrungen.12 Eines der ersten Tierschutzgesetze der westlichen Welt, ein britisches Gesetz zum Schutz von Zugpferden vor unbotmäßiger Gewalt durch Kutscher, zeigt dies deutlich. Es handelte sich nicht zufällig um das als »edel« und repräsentativ geltende Pferd, das vor der plebejischen Gewalt geschützt werden sollte, während die Gesetzgeber im House of Lords kein Problem damit hatten, im Rahmen herrschaftlicher Jagden Füchse zu Tode zu hetzen. Ein anderes frühes Tierschutzgesetz, ebenfalls in Großbritannien erlassen, schränkte Hundekämpfe massiv ein. Die Beschneidung von Ohren und Schwänzen für hunderassentypische Erscheinungsbilder galt nicht als problematisch, sehr wohl aber ein Sich-Zusammenfinden der emotional aufgeheizten Unterschicht in unkontrollierten Räumen.

Ein Blick ins Heute zeigt die ungebrochene Kraft des Tier-Klassismus von oben: Die deutsche Reality-Doku-Serie »Die Haustier-Nanny« ist ein zeitgenössischer Fall einer solchen Klassenpädagogik, die sich auf das Tierliche richtet, um zugleich die Menschen zu dressieren. Eine Expertin der Haustierhaltung besucht Familien und ihre Haustiere, um zu »helfen«. In jeder Folge zeigt sich aufs Neue, dass die betroffenen Unterschichtmenschen sich nicht nur geschmacklos kleiden und stillos leben, nein, sie behandeln auch noch ihre Tiere schlecht. Man hat es ja schon immer gewusst. Ein klarer Fall für humanistische Interventionspolitik.

Ähnlich ist es um die globale Verteilung von Tierquälerei bestellt: Es sind immer die »Anderen«, die die Tiere schlecht behandeln – Chines*innen ist Tierleid angeblich egal und die Menschen an den Peripherien der westlichen Welt lassen Katzen und Hunde in ihrem Elend existieren, ohne ihnen mit wohlfahrtsstaatlichen Agenturen zu Leibe zu rücken.

In diesen unterschiedlichen Kontexten reproduziert sich die humanistische Maxime, dass der Umgang mit den Tieren ein Gradmaß für zivilisatorische Entwicklung sei. Herrenmenschenmoral ist dieser Sittlichkeit der besseren Menschen nicht fremd. Statt moralisierende Handlungsanweisungen vom Urteilsthron des bürgerlichsten Teils der Philosophie, der Ethik, zu geben, versteht sich der vorliegende Ansatz als Beitrag zur Ausformung politischer Solidarität, die das Empathische in sich aufnimmt, anstatt sich auf Mitleid »von oben« zu beschränken.

Das Drama des revolutionären Begehrens

Die russische Philosophin Oxana Timofeeva spricht von der Perspektive eines Kommunismus mit nichtmenschlichem Antlitz. Dies tut sie vor dem Kontext einer Diskussion von Menschenrechten und Bürgerrechten angesichts der Jagd auf illegale Migrant*innen im Mittelmeer und in Europa. Das Problem, das sie hier sieht, ist die Koppelung von Menschenrechten an die nationalstaatliche Gewährleistung dieser Rechte. Unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeutet dies, dass Menschenrechte de facto nur Staatsbürger*innen zustehen: »Die Institutionen von Menschenrechten und Bürgerrechten basieren auf dem Ausschluss von Nichtbürgern und Nichtmenschen.«13 Sie gibt zu bedenken, dass auch Tierbürgerrechte unter den gegenwärtigen Verhältnissen nur mit dem dazugehörigen Apparat von Grenzschutz-Agenturen denkbar wären, die »illegale Tiere aus den Wäldern der globalen Peripherie davon abhalten würden, die glücklichen europäischen Felder zu erreichen«14.

Revolution ist für Timofeeva niemals nur human, sie ist monströs – so wie die Außerirdischen, die in den Hollywoodfilmen während des Kalten Krieges die Kommunist*innen symbolisierten. Die mit der Revolution verbundene Bewegung über Menschen und Menschenrechte hinaus ist für sie in einem Gedicht mit dem Titel »Ode an die Revolution« (1918) des Sowjet-Dichters Vladimir Majakowski präzise gefasst: »Aufs sinkende Schlachtschiff / schickst du Matrosen, / dorthin / wo vergessen / ein Katerchen miaut.« Dazu schreibt Timofeeva: »Dieses Bild der Revolution ist bemerkenswert und kraftvoll. Es trifft ins Schwarze. Es gibt etwas Absurdes und Irrationales in der exzessiven Großzügigkeit der revolutionären Geste, die Majakowski darstellt – stellen Sie sich vor, wie verrückt ein Armeekommandeur sein müsste, um ein Bataillon von Matrosen, erwachsene bewaffnete Männer, loszuschicken, die ihr Leben für eine winzige, politisch unbedeutende Kreatur riskieren sollen. Genauso sollte sich das Drama des revolutionären Begehrens darstellen.«

Tiere – auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat

Tiere kommen in Marx’ Schriften oft vor, zumeist, um menschliche Arbeit zu illustrieren oder ihre spezifische Qualität in Abgrenzung zu »tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit« zu präzisieren:

»Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eignen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichem Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtes-ten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.«15

Wenn sich Marx das Bewusstsein als Architektenhirn vorstellt, übergeht er damit die reale Praxis von Architekt*innen und fällt hinter seine eigenen materialistischen Erkenntnisse zurück. Architekturen entstehen nicht im Kopf und werden dann Wirklichkeit. Die Tätigkeit von Architekt*innen ist Teil einer größeren Topologie vielfältiger Handlungsformen, zu der funktionierende Bleistifte und Stromversorgung ebenso gehören wie unausführbare Bauvorschriften, unberechenbare Arbeiter und Überraschungen aller Art auf der Baustelle – wie Mücken und Malaria.16 Der rationale Ingenieur/Architekt, der in Marx’ Erzählung die geistlose Biene aussticht, ist kein zufälliges Beispiel: Die Regulierung von Wasserwegen und die Errichtung architektonischer Großprojekte gelten in der Moderne als paradigmatische Triumphe der Beherrschung und Nutzbarmachung von Natur.17

Dies bedeutet für die marxistische Auseinandersetzung mit Tieren zwei mögliche Stränge:

1.) Sollten nicht gegenwärtige Erkenntnisse über Fähigkeiten und Qualitäten von Tieren Eingang in die Reflexion Marxscher Überlegungen fließen? Marx bereitete sich akribisch auf jeden Artikel vor, den er publizierte, und las alle Quellen, derer er habhaft werden konnte. In diesem Sinn könnten neue Erkenntnisse aus Ökologie und Ethologie, Philosophie und Ökonomie die Marx’schen Grundannahmen erweitern, ohne sie strukturell zu revidieren. Das Marxistische ist die Methode, nicht das Ergebnis, so dieser Strang.

In diese Richtung denkt der bekannte Marxist David Harvey, was die Zielgerichtetheit von Tieren angeht, die für Marx wesentlich war. Wir sind, Harvey zufolge, auch nicht die einzigen Organismen, die die äußere Natur transformieren und sich dabei selbst transformieren: »Bienen machen es, Biber machen es, alle Arten von Organismen tun es.«18

2.) Die zweite Richtung argumentiert, dass eine posthumanistische Rekonstruktion grundlegender marxistischer Kategorien unabkömmlich sei, so beispielsweise die berühmte Biologin und heterodoxe Wissenschaftsdenkerin Donna Haraway.19 Agnieszka Kowalczyk weist auf der Grundlage von Harry Cleavers20 autonom-marxistischem Verständnis von Marx’ Kapital darauf hin, dass dieses entweder analytisch oder politisch gelesen werden kann – mit eklatant divergierenden Ergebnissen für das marxistische Projekt und für die Konzeptualisierung von Tieren innerhalb marxistischer Intelligibilität.21

Meine Perspektive ist ein Optimismus des Verstandes, der auf kritisch-solidarische Weise dem Marx’schen Projekt die Treue zu halten versucht, auch und gerade indem sozialgeschichtliche Bezüge integriert und Marx-Fremdes in Konversation zu den »Klassikern« gebracht wird.

Tiere sind auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß Teil der Kontinuität der lebendigen Arbeitskraft, die in der marxistischen Tradition der toten Arbeit – ein anderes Wort für Kapital – gegenübersteht.

Erstere kann bis zu einem gewissen Grad gezähmt werden, aber sie kann auch verwildern, was ein wiederkehrendes Thema dieses Buches ist. Die dabei entwickelte Perspektive ist nicht die eines Staatsmarxismus, sondern verschreibt sich der Wiederbelebung eines ungezähmten und unberechenbaren Marxismus. In diesem Zombie-Marxismus spielen Tiere eine besondere Rolle, weil sie uns zwingen, liebgewonnene Aspekte von Theorie, Politik und Alltagskultur zu überdenken.

Von Kühen und Küken

Was Jocelyne Porcher getan hat, wäre wohl in Marx’ Sinn gewesen: Hatte dieser doch zeitlebens Erfahrungsberichte von Arbeiter*innen und den historischen Bedingungen der Produktion gesammelt. Alle drei Bände des Kapital sind voll davon. Marx verteilte bekanntlich sogar Fragebögen an Arbeiter*innen, um Genaueres über die Funktionsweise industrieller Arbeit aus erster Hand zu erfahren.

So ist das Team französischer Arbeitssoziolog*innen um Porcher auch vorgegangen, nur statt mit Fragebögen mittels Videokameras: Im Rahmen eines Forschungsprojektes wurde das Treiben in einem kleineren Kuhstall dokumentiert und analysiert, anstatt wie sonst nur den Bauern zu interviewen.22 Das Ergebnis von einem Monat 24/7-Überwachung? Kühe üben gewerkschaftsartige Macht aus, denn jüngere Kühe folgen dem Beispiel von älteren Artgenossinnen und bewegen sich zum Beispiel so lange nicht vom Fleck weg, bis bestimmte Forderungen wie Nahrung, Abkühlung u. Ä. erfüllt werden. Doch dies allzu schnell auf alle Tiere zu verallgemeinern, wäre verfrüht, die konkreten Produktions- und Arbeitskontexte sind entscheidend: Bei industriellen Küken etwa scheinen die »workeristischen« Verhandlungsspielräume deutlich geringer zu sein: Sie werden als Generation zu Zigtausenden auf einmal zum Schlüpfen gebracht und existieren bis zur Tötung ohne Anschluss an Ältere, was bedeutet, dass Widerstandserfahrungen und Kampftraditionen kaum weitergegeben werden können. Während Porcher bei ihren Analysen von nichtmenschlicher Arbeit in der Landwirtschaft versucht, ohne viel Marx auszukommen, zeigt Barbara Noske in ihrer Forschung einen höchst produktiven Umgang mit Marx’ Erkenntnissen.23

Urlaub in Thailand und ein neuer »Trend« unter Leichen

Ich war Ende der 1990er noch keine zwanzig Jahre alt, als ich an einem buddhistischen »Retreat« in Thailand teilnahm – während meine Reisegefährten von einer Insel zur anderen hüpften. Mit einem dreitägigen Inselbesuch hatte der gemeinsame Aufenthalt in Thailand begonnen, das kannte ich also schon und es reizte mich damals wenig. Auf der kleinen Fähre, die uns von diesem ersten Besuch aufs Festland zurückbrachte, fuhr zufällig auch ein Beamter des thailändischen Tourismusbüros mit. Ich nützte die Gelegenheit und fragte den freundlichen Herrn im weißen Hemd, welchen Thailand-Tipp er mir geben würde, wenn er nur eine einzige Empfehlung aussprechen dürfte. Er musste nicht lange nachdenken und schlug vor, ein bestimmtes buddhistisches Meditationszentrum zu besuchen. Dieses sei eigentlich für Thais gedacht, aber die ersten zehn Tage jedes Monats wären alle Angebote des Tempels englischsprachig, um auch Ausländer*innen die Möglichkeit zu geben, den Buddhismus kennenzulernen. Zwei Nachfragen hatte ich zu diesem Zeitpunkt: Erstens, würde es dort auch veganes Essen geben? Und zweitens, wie religiös waren die Mönche und Nonnen dort?

Ich hatte nämlich keine Lust auf weitere Missionierungsversuche, nachdem ich eben erst zehn Jahre islamischen, evangelischen und katholischen Religionsunterricht in der Schule besucht hatte. Diese Sorge zumindest war unbegründet. Im Meditationszentrum, das ich kurz danach tatsächlich besuchen sollte, wurde der Buddhismus mehr wie stoische Philosophie oder aufklärerische Psychoanalyse vermittelt. Und meine erste Frage wurde vor Ort auf die schönste Weise beantwortet: Nie wieder aß ich so köstliches thailändisches Essen wie dort. Bis auf zwei vegetarische Mahlzeiten während der zehn Tage, die ich dort verbrachte, war das Essen zur Gänze vegan. Das war alles andere als selbstverständlich: Zu Beginn des Urlaubs hatte ich in unzähligen Gasthäusern und Restaurants, vor Imbissbuden und in Bars wiederholt zu erklären versucht, dass ich keine Nahrungsmittel von oder aus Tieren zu mir nehmen wollte – aufgrund der Sprachbarrieren in erster Linie pantomimisch