Schwesternschere - Carmen Gauger - E-Book

Schwesternschere E-Book

Carmen Gauger

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Beschreibung

Eine Familie namens Röder. Etwas zerstört den Gleichklang. Tochter Milda studiert. Verlässt auch die Heimat, das Vogtland. Schwester Liane aber bleibt dort in jenem kleinen Ort namens Schacht. Noch zu Lebzeiten der Eltern ist der Schnitt bei den vieren schon da. Liane hat die eine Haus-Hälfte vorab. Milda sollte immer die andere Hälfte bekommen. Sie, nun Lehrerin und Chorleiterin, aber 500 Kilometer weit weg wohnend. Die DDR gehört jetzt zum Westen, die Menschen ändern sich, so vieles vergeht. Alles kreist in dieser Geschichte symbolisch um das Erbe. Milda schreibt im Roman auf, was sie „erfährt“, wie man sie verdrängt, wie die Eltern von der Tochter Liane vereinnahmt werden. Das ist mehr als ein Familienroman. Das ist eine Erkundung des Menschen und seiner vielfältigen Abgründe. Was ist mit ... und was wurde aus den Werten? Zugleich geht es um ganz große, bisweilen um ganz banale Dinge: Gefühle, Herkunft, Beziehungen, Besitz, Utopien, Neid, Familienbande. Tod. Wer wuchs wie auf? Wurde dann was? Strebt wonach? Der Roman beschreibt die neuen Schnitte in einer Familie, mit vielen Ereignissen, mit Rückblicken auf die Generationen davor. Alles ist drin. Fast schon ein Vogtland-Epos. Liane zickt; Milda versteht die Welt nicht mehr. Das sind diese Schwestern, die auseinanderdriften, weil die eine, die Dage­bliebene, so anders geworden ist. Und weil zugleich die im Norden eine neue, offenere Weltsicht bekommen hat. In diesem Buch ist aufgeschrieben, was eine Kernfamilie vereint, was sie spaltet. Dazu das Geflecht von Geschwistern, Tanten und Onkeln, Großeltern, die Kinder, auch die vielen Treffen, gepaart mit allerlei Hoffnungen und Enttäuschungen. Bis zum Ende sind da die Fragen. Und dieses ureigentlich so unwichtige, einfache Erbschafts-Haus! Und welche Leben sind nun alle auf den Kopf gestellt? Wo herrscht Wut, wo Verzweiflung? Wo Gelassenheit? Milda erzählt es, und wir wollen alles wissen. Das irrwitzige Panoptikum des Lebens in einem berührenden Beispiel.

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INFO | TITEL

 

 

 

Carmen Gauger

 

Schwesternschere

Eine verletzte Familie. Roman

 

:::

 

K|U|U|U|K

Verlag mit 3 U

INHALT

Eine Familie namens Röder. Etwas zerstört den Gleichklang. Tochter Milda studiert. Verlässt auch die Heimat, das Vogtland. Schwester Liane aber bleibt dort in jenem kleinen Ort namens Schacht. Noch zu Lebzeiten der Eltern ist der Schnitt bei den vieren schon da. Liane hat die eine Haus-Hälfte vorab. Milda sollte immer die andere Hälfte bekommen. Sie, nun Lehrerin und Chorleiterin, aber 500 Kilometer weit weg wohnend. Die DDR gehört jetzt zum Westen, die Menschen ändern sich, so vieles vergeht.

Alles kreist in dieser Geschichte symbolisch um das Erbe. Milda schreibt im Roman auf, was sie „erfährt“, wie man sie verdrängt, wie die Eltern von der Tochter Liane vereinnahmt werden. Das ist mehr als ein Familienroman. Das ist eine Erkundung des Menschen und seiner vielfältigen Abgründe. Was ist mit ... und was wurde aus den Werten?

Zugleich geht es um ganz große, bisweilen um ganz banale Dinge: Gefühle, Herkunft, Beziehungen, Besitz, Utopien, Neid, Familienbande. Tod. Wer wuchs wie auf? Wurde dann was? Strebt wonach? Der Roman beschreibt die neuen Schnitte in einer Familie, mit vielen Ereignissen, mit Rückblicken auf die Generationen davor. Alles ist drin. Fast schon ein Vogtland-Epos.

Liane zickt; Milda versteht die Welt nicht mehr. Das sind diese Schwestern, die auseinanderdriften, weil die eine, die Dage­bliebene, so anders geworden ist. Und weil zugleich die im Norden eine neue, offenere Weltsicht bekommen hat.

In diesem Buch ist aufgeschrieben, was eine Kernfamilie vereint, was sie spaltet. Dazu das Geflecht von Geschwistern, Tanten und Onkeln, Großeltern, die Kinder, auch die vielen Treffen, gepaart mit allerlei Hoffnungen und Enttäuschungen. Bis zum Ende sind da die Fragen. Und dieses ureigentlich so unwichtige, einfache Erbschafts-Haus! Und welche Leben sind nun alle auf den Kopf gestellt? Wo herrscht Wut, wo Verzweiflung? Wo Gelassenheit? Milda erzählt es, und wir wollen alles wissen. Das irrwitzige Panoptikum des Lebens in einem berührenden Beispiel.

DIE AUTORIN

 

Carmen Gauger wurde 1952 im sächsischen Dornreichenbach geboren und wuchs in einem kleinen vogtländischen Dorf auf. Nach dem Abitur studierte sie von 1971 bis 1975 an der Pädagogischen Hochschule Zwickau. Seit 1975 wohnt und arbeitet sie in Mecklenburg-Vorpommern als Lehrerin und Chorleiterin. Sie schreibt Gedichte und Erzählungen. „Schwesternschere“ ist ihr Debütroman. Die Autorin ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter.

IMPRESSUM

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek erfasst diesen Buchtitel in der Deutschen Nationalbibliografie. Die bibliografischen Daten können im Internet unter http://dnb.dnb.de abgerufen werden.

 

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und Medien – auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere neuartige Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

HINWEIS: Deutsch ist überaus vielschichtig und komplex. Der Verlag versucht, nach bestem Wissen und Gewissen alle Bücher zu lektorieren und zu korrigieren. Oft gibt es allerdings mehrere erlaubte Schreibweisen parallel. Da will entschieden werden. Zudem ergeben sich immer wieder Zweifelsfälle, wozu es oft auch keine eindeutigen Antworten gibt. Schlussendlich haben auch die Autorinnen und Autoren ureigene Sprachpräferenzen, die sich dann bis in die Kommasetzung, Wortwahl und manche Schreibung auswirken. Bitte behalten Sie das beim Lesen in Erinnerung.

 

Coverbild „Schere mit Köpfen“ © Vera Gauger | Entwurf Cover-Layout © Vera Gauger

 

E-BOOK-ISBN 978-3-96290-021-2

Erste Auflage E-BOOK April 2020

 

HINWEIS: Es gibt dieses Buch auch als Papierbuch.

 

KUUUK Verlag und Medien Klaus Jans

Königswinter bei Bonn

K|U|U|U|K – Der Verlag mit 3 U

 

www.kuuuk.com

 

Alle Rechte [Copyright] © KUUUK Verlag | [email protected] und © Carmen Gauger | [email protected]

...

 

 

Kein Schmerz ist größer,

als sich der Zeit des Glückes

im Elend zu erinnern.

 

Dante, Die Göttliche Komödie, Inferno, 5. Gesang

Prolog

Milda schreckte hoch. Sie keuchte. Ihr Herz raste. Endlich fand sie den Lichtschalter. Halb vier. Entsetzlicher Traum!

 

Ein riesiger Monitor mit den Lebensdaten ihrer Eltern. Orakelhaft: Erwin Röder, geboren 3. August 1929 – gestorben Oktober 2014.

„Wahnsinn! Erwins Todesdatum! Drück’ nochmal drauf“, rief ihre Mutter begeistert: Edith Röder, geboren 7. August 1930 – gestorben März 2016.

„Das haut dem Fass den Boden aus. Jetzt du!“

Milda Balow, geboren 14. August 1953 –

Noch bevor ihr Todesdatum erschien, wurde die Übertragung gestört. „Schnee“ auf der Röhre, wie beim Westfernsehen in Dresden, dem „Tal der Ahnungslosen“.

Milda tauchte mit unvorstellbarem Druck aus der Tiefe ihres Unterbewusstseins auf.

„Meine Eltern! Ihre Geburtsdaten! Wie ist das möglich?

Und ihr Tod! Oktober 2014! März 2016! Kann nicht sein.

Und ich? Davongekommen, davongekommen“, hämmerte es in ihrem Kopf.

Dem ersten Entsetzen folgte Erleichterung.

„Schließlich ist noch genug Zeit“, sagte sie sich, „jetzt haben wir Spätsommer 2013. Nichts zu befürchten.“

Um erneut einschlafen zu können, musste sie den Traum aus dem Kopf kriegen. Sie schrieb ihn auf.

Kein Auto, keine Katze, kein Vogel störten die nächtliche Ruhe. Lotheim war noch nicht erwacht.

Milda kuschelte sich wieder ins Bett und fiel sofort in den Schlaf.

 

Am nächsten Morgen informierte sie sich über Traumarten. Sie vermutete, von einem Wahrtraum geplagt worden zu sein. Der sei kurz, habe konkrete Daten und keinerlei hinweisende Fakten aus der Realität, wodurch man auf das Todesdatum hätte schließen können.

 

Ihren Mann Wieland entsetzte der Traum nicht. Schließlich erzählten sie sich schon jahrelang die tollsten Nachtgeschichten beim Frühstück.

Als sie ihren Töchtern Greta und Ava davon berichtete, waren sie schockiert. So etwas hatten sie noch nie gehört. Was Greta anschließend sagte, leuchtete allerdings ein. Bestimmt habe nicht jeder einen solchen Traum, nur besonders sensible Menschen, die auch in der realen Welt eng mit den Traumfiguren verbunden sind.

Gretas Mann Hauke äußerte lapidar, wenn dieser Traum wahr werde, müsse er sich vor Milda gruseln.

Er brauche sich nicht zu sorgen, vielleicht treffe die Voraussage nicht ein, dann sei es kein Wahrtraum gewesen, beruhigte ihn seine Schwiegermutter Milda.

Ihren Eltern Erwin und Edith in Schacht und auch der im Elternhaus wohnenden Schwester Liane und ihrem Mann Reinhardt sagte Milda natürlich kein einziges Sterbenswörtchen. Avas Freund Thorben widersprach sie energisch. Sie sei keine Hellseherin!

1

„Bist du endlich da? Du bist fast die Letzte. Die anderen haben schon ihre Zimmer belegt. Fünfzehn sind wir, dich eingerechnet. Begrüße schnell Mutti. Die ist noch im Wohnmobil“, wurde Milda von ihrem Vater empfangen. Sie zuckte zusammen. Ziemlich rau der Ton. Sie fühlte sich gemaßregelt, wie so oft, wenn sie gegen Vaters Willen verstoßen hatte. Er war seit seiner Kindheit ein strenges Regime gewohnt und hasste nichts mehr als Unpünktlichkeit. Sie küsste ihn, worauf er lächelte. Obwohl er manchmal unberechenbar war, liebte sie ihn.

Milda klopfte ans Wohnmobil. Ihre Mutter, die kurzen grauen Haare ganz zerzaust, guckte durchs Fenster. Als sie sah, dass die Klopfende Milda gewesen war, öffnete sie in Unterwäsche die Tür. Milda trat ein.

„Guten Tag, meine Große, ich bin noch nicht so weit, hatte gerade gelegen. Kopfschmerzen. Ich bin dann zur Begrüßung heute Nachmittag auch im Saal. Geh erst mal zu Hanne aufs Zimmer.“ Sie drückte ihre Tochter und schob sie aus dem Wohnmobil.

 

Im Hotelzimmer machte sich Mildas vier Jahre ältere Cousine Hanne frisch. Beide hatten gemeinsam ein Doppelzimmer genommen.

„Milda, lange nicht gesehen. Ich freue mich.“

Hanne war eine schöne Frau, ein Marina-Vlady-Typ, nur mit halblangen, hellblonden Haaren. Milda schämte sich ein bisschen, weil Wieland wieder nicht zum Verwandtentreffen mitgekommen war, dachte dann aber, besser so, als seine schlechte Laune ertragen zu müssen. Die vielen Verwandten gingen ihm auf die Nerven, zumal sie sich oft gegenseitig überschrien, um gehört zu werden. Außerdem störte ihn die lange Fahrt von Lotheim in Mecklenburg-Vorpommern, dem Wohnort der Familie Balow, bis nach Redichberg im Süden Brandenburgs. Sie brauchte Hanne nichts zu erklären oder vorzuschwindeln. Ihre Cousine wusste Bescheid und hatte mal gesagt, lieber Probleme mit dem Mann, als allein zu sein.

„Wie machst du das bloß, dass man dir dein Alter nicht ansieht? Wanderst du nach wie vor mit deiner Gruppe?“, fragte Milda.

„Bewegung, gute Laune, Magnesium und dann habe ich ja immer noch mein Ehrenamt. Du weißt schon, die Betreuung der Alten. Das hält jung. Du und ich, wir haben die guten Gene der Familie Röder geerbt. Schau deinen Vater an, sieht der wie vierundachtzig aus? Wir beide werden sehr alt, aktiv wie wir sind“, sagte Hanne.

An ihr nahm sich Milda ein Beispiel: rackern, Spaß haben und das Leben genießen. Miesepeter nicht nahe an sich rankommen zu lassen, das war Hannes Motto. Das Glas war für sie stets halbvoll, selbst das Schlimmste war nur halb so schlimm. Sie einigten sich auf die jeweilige Betthälfte, wobei Milda dachte: „Hoffentlich kann ich schlafen.“

Die Frauen zogen flache Schuhe an, weil sie vor dem Kaffee noch spazieren gehen wollten. Obwohl Milda elegant gekleidet war und sich gleich den anderen präsentieren wollte, schlüpfte sie in sportliche Sandalen. Das sah nicht perfekt aus, war aber bequem. Ihre Beine waren nicht sehr lang und besonders groß war sie auch nicht, aber mit den Hochhackigen konnte sie manches kaschieren. Die würde sie abends anziehen. Inzwischen war sie in einem Alter, in dem man auf die Gesundheit achten musste. Deshalb hatte sie den flachen Schuh gewählt. Nach dem Spaziergang würde sie schnell ins Hotelzimmer huschen und die Pumps anziehen.

 

Im Foyer stießen die zwei auf Mildas Cousine Melanie und deren Mann Gundolf. Die beiden hatten Melanies Eltern mitgebracht, Tante Ingrid und Onkel Fritz. Fröhliche Leute, von denen Hanne und Milda lachend empfangen wurden. Mitgehen wollten die vier nicht. Es war zu warm. Das Bierchen lockte. Vielleicht würden sie sich auch einen Kurzen genehmigen, meinte Onkel Fritz.

 

Milda und Hanne schritten zügig voran, sie waren sich einig. Es würde viel zu essen geben, sie müssten mit Energieverbrauch vorsorgen.

Das Hotel lag unmittelbar am Redichberger See. Hinterm Gebäude räkelte man sich in Badeanzügen oder weißen Bademänteln auf Sonnenliegen.

Milda sagte: „Den Badeanzug habe ich daheim gelassen. Ich war seit ewigen Zeiten nicht mehr schwimmen. Meinen Luxuskörper kann ich niemandem zumuten. Vor Jahren war ich mit meiner Jüngsten im Freibad. Wir hatten einen wunderbaren Bikini für Ava gekauft. Als wir uns in den Kabinen umzogen, ergriff uns eine seltsame Scham. Wir wickelten uns in die Badetücher, saßen vorm Bassin und überlegten, wann und ob wir überhaupt ins Wasser gehen sollten. Schließlich fuhren wir unverrichteter Dinge wieder heim.“

„Ihr seid zwei Püppis! Das kann mir nicht passieren. Im Sommer schwimme ich jeden Morgen in meinem Gartenpool, egal, wer zuschaut. Ins Meer gehe ich auch.“

Die Wege am Redichberger See waren gesäumt von hohen, blühenden Hecken, deren Namen die beiden Cousinen nicht kannten, obwohl sie verschiedene Büsche in ihren heimatlichen Gärten angepflanzt hatten. Milda hob sich meistens die Kärtchen der Stauden und Hecken auf, konnte aber später nicht mehr nachsehen, weil ihr entfallen war, wo sie die Anhänger aufbewahrt hatte.

Im Schatten unter den hohen Linden, deren Duft betörte, saßen schicke ältere Herrschaften auf hellen Parkbänken. Milda dachte: „Mutter müsste mehr laufen, aber die entschuldigt ihre Bequemlichkeit regelmäßig mit dem Hinweis auf Osteoporose. Vater ist agil.“

Vor Hanne kam ein kleiner Blondschopf mit seinem Mountainbike gerade noch zum Stehen. Es staubte. Die Eltern riefen ihn zurück, man hörte sie schimpfen. Rechts von ihnen zog ein monumentaler Spielplatz den Blick der Frauen auf sich. Ein Turm wie im Märchen, Hängebrücken vor einer Holzburg mit bunten Fähnchen voll phantastischer Symbole. Kleine Jungen verfolgten einander auf einer schwankenden Brücke, Säbel schwingend. Die Mütter und Väter saßen auf Decken und alberten mit ihren Babies herum.

Hanne und Milda wurde wehmütig zumute. Ihre Töchter hätten durchaus mit zum Verwandtentreffen kommen können. Aber sie arbeiteten die ganze Woche und wollten ihre kurz bemessene Zeit am Wochenende nicht auf der Autobahn verbringen, wie sie sagten. Vielleicht waren den 30-Jährigen die alten Verwandten auch zu anstrengend.

Milda und Hanne kehrten um, es gab gleich Kaffee. Die beiden frischten ihr Make-up auf. Milda zog ihre Pumps an und Hanne auch.

 

Das Foyer weitete sich zur Seeseite hin in einen kleinen Saal aus, den Erwin Röder reserviert hatte. Er organisierte seit Jahren regelmäßig diese Familientreffen, meistens am Redichberger See. Dorthin fuhren Mildas Eltern jeden Sommer. Mit dem Wohnmobil waren sie „mobil“.

Erwin Röder plante zeit seines Lebens alle Ausflüge der Familie. Als Milda klein war, packten Vater und Mutter sie und Liane jedes Wochenende in den blauen Trabant. Auf ins Museum, hoch zur Burg, rein in die Gedenkstätte der Arbeiterbewegung! In einem kleinen Heftchen sammelte der Vater Stempel, zum Nachweis, dass er dort gewesen war. Bei einer gewissen Anzahl von Stempeln erhielt man freien Eintritt. Milda hatte sich stets auf die Wochenenden gefreut. Schwester und Mutter konnten sich selten für die Ausflugsziele begeistern. Geschichte war nicht ihr Ding.

 

Kaffeezeit. Nun stand der Vater in der Mitte des Saales am Fenster und hielt eine kleine Begrüßungsrede. Dabei sprach er alle einzeln an und gab ihnen zu verstehen, dass er sich über deren Anwesenheit freue. Währenddessen betrachtete Milda ihre Verwandten, die sie ein Jahr nicht gesehen hatte. Mutters Schwester, Tante Ida, war dünn geworden. Dick angezogen fror sie vielleicht. Alt wirkend, aber nicht teilnahmslos, brachte sie mit kurzen Zwischenbemerkungen ihre Verwandten zum Lachen. Vater schüttelte den Kopf. Das mochte er nicht, wenn man seine Rede unterbrach. Mildas Onkel Herbert, der Mann der dünnen Tante, trug unter dem Anzug ein langärmeliges Hemd und darüber eine Weste. Er war rot im Gesicht.

Milda sagte leise zu ihm: „Zieh was aus, es ist warm.“

Er schüttelte den Kopf. Vater war beim Bruder der Mutter und dessen Frau angelangt, Onkel Fritz und Tante Ingrid. Beide erschienen gern zu Familienfeiern, genossen das Essen und schwelgten in alten Erinnerungen. Mildas Cousinen hatten ihre Partner mitgebracht, nur Hanne und Milda waren solo unterwegs.

Da öffnete sich mit Schwung die gläserne Tür und Mildas jüngere Schwester Liane rauschte mit ihrem Mann Reinhardt herein. Den Auftritt genossen sie sichtlich. Ein Raunen ging durch den Saal. Das Ehepaar Kurz war fein gestylt, es trug Designer-Kleidung.

„Entschuldigt, wir hatten noch zu tun. Wir kamen nicht rechtzeitig los. Überall Stau. Wir müssen gleich wieder raus. Unser BMW steht vorm Eingang.“

Milda blickte zu Hanne. Die verdrehte die Augen. Kurzens eilten hinaus.

Vater sagte zu allen Anwesenden: „Die zwei sind überarbeitet. Ich bin froh, dass sie es überhaupt möglich gemacht haben herzukommen. In ihrem Reiseunternehmen klingelt Tag und Nacht das Telefon. Was da alles dranhängt – die ganze Verantwortung! Die zwei können einem leidtun.“

Milda dachte: „Ich habe auch Tag und Nacht zu tun. Chorauftritte, Vorbereitungen, Versammlungen, Eltern- und Schülergespräche. Alles ist aufregend, ich werde von schlaflosen Nächten gequält. Habe ich keine Verantwortung? Die Frau Geschäftsführerin und der Herr Prokurist leben auf großem Fuß, das sieht man ja, währenddessen mir die Erziehung der Hoffnung unseres Volkes obliegt.“

Ihr gegenüber sackte Onkel Herbert plötzlich zusammen und rührte sich nicht mehr. Alle sprangen auf und schrien. Herberts Tochter Berit schlug ihm ins Gesicht, immerzu seinen Namen rufend, und riss Jackett, Weste und Hemd auf. Als Einziger bewahrte Erwin Röder die Nerven. Der ehemalige Einsatzleiter der Volkspolizei wusste sofort, was zu tun war. Er verständigte den Notruf.

Sie legten den Onkel in die stabile Seitenlage. Inzwischen hatte er das Bewusstsein wiedererlangt und atmete schwer, hochrot. Die Feier fing schrecklich an. Aufgelöst sprachen alle durcheinander. Vermutungen, was mit Herbert wäre, machten die Runde.

Nach kurzer Zeit kam der Rettungswagen und nahm den Onkel mit. Seine Tochter begleitete ihn.

Die Familie zerstreute sich, man hing seinen Gedanken nach. Manche hielten ein Schläfchen. Beim Abendbrot wollten alle wieder im Saal sein.

Hanne beschloss, mit ihrer Schwester Urte und dem Schwager Horst um den See zu wandern.

 

Milda klopfte zum zweiten Mal ans Wohnmobil ihrer Eltern, das schräg gegenüber vom Hotel geparkt war.

„Leise, Mutti liegt schon wieder. Willst du mit mir um den See fahren?“, fragte ihr Vater. „Du kannst Muttis Rad nehmen.“

Sie freute sich, war darauf eingestellt. Ihre Sportsachen lagen noch im Kofferraum. Als Studentin hatte sie lange Radtouren mit ihrem Vater gemeistert.

Einmal sagte er zu ihr: „Wir sind die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten.“

Sie hatten die Filmkomödie immer wieder gemeinsam im Fernsehen oder im Kino angeschaut, schon zu DDR-Zeiten.

Dreh- und Angelpunkt des Filmes war ein Wettflug von London nach Paris im Jahr 1910 – gespickt mit amüsanten Gags. Gekleidet wie die Darsteller jenes Filmes – in Handschuhen, mit Motorradbrille und Lederkappe – war Milda mit ihrem Vater bergab und bergauf gesaust.

In Redichberg würde es allerdings kaum einer Anstrengung bedürfen, so platt wie das Land war.

Gerade losgefahren, merkte Milda, dass ihr keine Vergnügungsfahrt bevorstand, denn der Vater war hinter der nächsten Kurve verschwunden. Als sie dort ankam, ­wartete er schon, sagte aber nichts.

„Irgendwas ist mit dem Fahrrad“, vermutete sie.

Sie tauschten die Räder. Er fuhr vorn, trat mächtig in die Pedale. Auf einmal war er wieder weg. Sie sah ihn weiter hinten warten.

„Vielleicht muss aufgepumpt werden?“, mutmaßte sie diesmal.

„Pass auf. Ich umrunde seit sechzehn Tagen täglich den See. Für die 20 Kilometer brauche ich 54 Minuten. Nun beeile dich mal ein bisschen.“ Er blickte sie streng an.

Da wurde ihr klar, dass er mit seinen 84 Jahren einfach schneller war als sie, obwohl sie oft Rad fuhr. Sie bedauerte, nicht gemütlich mit ihm fahren zu können, zu schwatzen oder im Wald zu pausieren, wagte aber keinen Widerspruch.

Sie trat ihrerseits nun ebenfalls kräftig in die Pedale. Sie strampelte, was das Zeug hielt.

Lauschige Einbuchtungen, kleine versteckte Strände. Herrlich war die Redichberger Landschaft anzuschauen! Von jeder Stelle aus gewann man neue Eindrücke.

Gern hätte sie angehalten. Der Vater spürte das, denn er stoppte gleich, stieg ab und fotografierte. Er war wieder guter Laune und sie studierten gemeinsam die Info-Tafeln.

Früher war hier Braunkohle abgebaut worden. Nach dem Ende der Kohleförderung wurden die riesigen Tagebaugruben geflutet. An der entstandenen Seenkette war ein Naherholungszentrum gewachsen.

Milda fragte ihren Vater nach Details, von Technik verstand sie nicht viel. Seine Erklärungen erfüllten sie mit Stolz. Er konnte sehr bildhaft sprechen, manchmal mit Händen und Füßen. Oft machte er sich einen Spaß daraus und übertrieb, wenn er merkte, dass sich sein Gegenüber darüber amüsierte. Wie witzig er war und so stark! Sie lehnte sich glücklich an ihn.

Er sagte: „Gut siehst du aus, mein Mädchen. Du hast die kräftigen Haare meiner Mutter. Den dicken Zopf, den sie vorm Schlafengehen geflochten hat, habe ich immer bewundert.“

 

Milda war sechs, als sie die Großmutter zum letzten Mal sah. Damals im Krankenhaus konnte sie nicht glauben, dass Großmutter Erna wirklich krank war. Sie hatte eine frische Gesichtsfarbe, rosige Wangen, sprach ruhig und freundlich zu allen. Einen Tag später war sie tot. In der Aussegnungshalle hielten die Eltern Milda zurück, sodass sie keinen Blick mehr auf ihre arme Großmutter werfen konnte.

Von ihrem Schoß war sie jauchzend in den Graben gefallen, ohne dass sie von den Raben gefressen worden wäre. Wenn Großmutter Erna die fidele Reiterin in den Sumpf fallen ließ, landete der Wildfang mit einem Plumps auf dem Boden.

Jahre später war jedoch Milda die Akteurin. Hinterm Kasperletheater teilte sie der Schwester Liane die Rollen zu.

„Trari, trara, das Kasperle ist da“ war das Einzige, was die Kleine sprechen konnte. Spaß hatten die beiden Schwestern trotzdem. Eine Puppe war immer hochzuhalten und hin und her zu schieben. Bühnendekorationen malte Milda. Liane schnitt sie fein säuberlich aus und hielt sie brav in die Höhe. Milda führte ein Märchen nach dem anderen auf. Die Schwestern waren glücklich.

Unterm Wohnstubentisch hörte Milda eigentümliche Geschichten, wenn sich die Nachbarsfrauen über ihre Männer ausließen.

Überall fand Milda Verstecke und Ecken, in denen sie für sich war. Aus dem Spiegelfach in der Schlafstube erklang:

 

Kleines Haus am Wald, morgen komm’ ich bald,

wenn alle Glocken erklingen im Tal.

Glück und Sonnenschein ziehen bei dir ein.

Das alles gibt’s nur ein einziges Mal.

Wenn ich schlafen geh’, schau ich in die Höh’

und ruf’ hinauf, bis das Echo verhallt.

Denn drinnen wohnst ja nur du,

drum singe ich immerzu:

Kleines Haus, kleines Haus dort am Wald.

 

Milda hatte lange gebraucht, um der Mundharmonika Melodien zu entlocken.

An derselben Stelle ein- und ausgeatmet, erklangen zwei nebeneinanderliegende Töne. Es war schwierig, ein Lied aufzubauen. Nach langem Üben hatte sie den Bogen raus. Ihr Mundharmonika-Spiel begleitete von da an jegliches Tun der Erwachsenen.

In der Vorweihnachtszeit wurde mit Großmutter Erna Stollenteig im großen Backtrog geknetet. Oma zog ihr Kleid aus, die Schürze verbarg den Unterrock nur zum Teil. Der Schweiß rann ihr von der Stirn, die nackten Arme wabbelten. Sie keuchte und atmete schwer. Aus ihrem Haarknoten lösten sich dicke Strähnen. Das Kneten nahm kein Ende. Nach dem Aufgehen des Teiges wurde er zu Laiben geformt. Über zehn Stollen brachten die beiden mit dem Handwagen zum Bäcker.

 

Großmutter Erna hatte Schmerzen beim Gehen. Die Fußbeulen zeichneten sich unter dem Schuhleder ab. Nur zwei Paar Schuhe besaß Großmutter als Erwachsene, ein Paar für alle Tage, eins für Sonntag.

Daran wurde Milda von ihrem Vater erinnert, vor allem, wenn sie teure High Heels kaufte, für die wenig Leder verarbeitet wurde.

„Für ein Quentlein Material einen Haufen Geld“, pflegte er zu sagen.

 

Inzwischen durchfuhren Milda und Erwin ein Waldstück, vorbei an einem weiteren Campingplatz. Nun war das Rad tatsächlich aufzupumpen. Aber womit? Die Luftpumpe hatte sich in Luft aufgelöst. Das Wortspiel sprach sie lieber nicht aus. Ein entgegenkommender älterer Herr erfasste die Situation und bot ihnen Hilfe an. Er pumpte Mildas Rad gleich selbst auf und sagte: „Ihr Mann ist nicht gut vorbereitet. Wenn man eine schöne junge Frau hat, muss man auf alles gefasst sein.“

Anstatt auf diese anzügliche Bemerkung schlagfertig zu antworten, korrigierte sie den Fremden: „Das ist nicht mein Mann, das ist mein Vater.“

Erwins Gesicht verdunkelte sich.

„Hatte er etwa als mein Mann gelten wollen?“, fragte sie sich verwundert.

Der Fremde entgegnete nichts und schwang sich aufs Rad.

Vater und Tochter befuhren erneut die ausgewiesenen Radwege. Links näherten sie sich einem Aussichtsturm.

„Komm, wir machen Pause. Äpfel essen.“

Missmutig lehnte der Vater zunächst ab, stieg dann aber trotzdem vom Rad. Ohne ein Wort aßen sie die Äpfel. Sie fragte, was denn los sei, bekam aber keine Antwort. „Griesgrämig“, dachte sie. Ob sie ihn denn auf den Aussichtsturm brächte? Die Seeumrundung schien ihm nun keine Rekordzeit mehr zu bringen und er stimmte zu. Ein Lächeln umspielte seine Züge, vielleicht dachte er an den Lauerturm zu Hause.

Türme, Berge, Flugzeuge, Gasballons, Schiffe, das Meer, der Himmel faszinierten ihn.

Auf jedem Ostseefoto sah man Erwin Röder mit hochgestrecktem Arm, damit er in der Menge der Badenden auch zu finden war.

 

Sie stiegen auf den Turm, doch schon auf der zweiten Plattform erfasste Milda ein Schwindel, der sie jedes Mal in gewisser Höhe überfiel.

Sie ließ sich nichts anmerken, denn der Vater war nun, im Gegensatz zu ihr, ganz gelöst.

„Geh doch einfach weiter“, rief er.

Als ob das so leicht wäre! Jungenhaft erstieg er den Turm.

„Wunderbare Aussicht“, hörte sie ihn wieder, „komm schon!“

Sie ließ sich nicht hochlocken. Immer noch auf der zweiten Plattform hockend, wartete sie auf seinen Abstieg.

Als er erschien, vermeinte sie in seinen Augen einen verächtlichen Zug zu entdecken.

Nun waren es nur noch wenige Kilometer bis zum Hotel. Hinter der nächsten Kurve tauchten Hanne, Horst und Urte auf.

„Ihr seid schon hier?“, fragte Milda.

„Wir sind seit zwei Stunden unterwegs. Gerade sagte ich zu meinem Schwager Horst: ‚Wenn Milda kommt, schmeiße ich ihr den Schirm zwischen die Speichen. Du hältst sie fest und ich nehme das Rad. Ich kann nicht mehr.‘ Keine Angst! Mach’ ich natürlich nicht!“

Die drei lachten prustend. Milda bot ihrer Cousine das Rad an. „War nicht so gemeint“, sagte Hanne daraufhin.

Vorm Wohnmobil wusch Mutter in ihrer grünen Plasteschüssel Geschirr ab. Sie trug einen weinroten Trainingsanzug. „Wo hat sie den her? Der sieht aus wie die Anzüge vor vierzig Jahren, fehlt bloß noch das Dynamo-Zeichen“, dachte Milda.

„Na, mein Mütterchen, hast du ausgeschlafen?“, fragte sie.

„Von wegen Mütterchen, du bist schon so ein Mütterchen. Ich bin deine Mutti, kein Mütterchen. Geht es dir gut? Wir hatten bisher keine Gelegenheit, länger miteinander zu reden, aber heute Abend ist genug Zeit. Erwin, komm endlich rein und dusch’ dich. Ich habe dir deine Anziehsachen aufs Bett gelegt.“

Milda umarmte ihre Eltern und ging ins Hotel.

 

Abends versammelte sich die Verwandtschaft pünktlich im Frühstückssaal, um von Erwin weitere Order zu empfangen. Abendbrot gab es hier nicht, wie man erfuhr, eben nur Frühstück. Vater hatte deshalb einige hundert Meter weiter in einem Restaurant am See Plätze reserviert. Da bemerkte Milda Onkel Herbert. Er war wieder da, sah gut aus, schwatzte und lachte.

„Meine Regierung hat mich zusammengeschissen, weil ich euch Angst eingejagt habe. Es war nur ein Kreislaufkollaps. Ich hatte zu wenig getrunken, bei der Hitze.“

Gott sei Dank. Alle liefen gemächlich los, nur Liane und Reinhardt schliefen noch immer den gerechten Schlaf der schuftenden Bevölkerung. Milda weckte die beiden. Große Konversation ergab sich nicht. Beeilung war angesagt, wenn sie nicht zu spät kommen wollten. Für eine Umarmung war noch Zeit, selbst für ihren geliebten Begrüßungstanz: „Schwesterchen, komm, tanz’ mit mir. Beide Hände reich’ ich dir. Einmal hin, einmal her, rund herum, das ist nicht schwer“, sangen die beiden Schwestern und tappten wie Tanzbären im Zimmer von Liane und Reinhardt umher.

Auf das „Ei, das hast du fein gemacht, ei, das hätt’ ich nicht gedacht“ wurde in Ermangelung von Zeit verzichtet.

 

Während Liane und Reinhardt im Hotelzimmer noch mit sich zu tun hatten, lief Milda voraus und rannte den anderen Verwandten hinterher, die auf dem Weg zum Restaurant waren, in dem man das Abendbrot einnehmen wollte.

Sie hörte sie schon von Weitem singen: „Das Wandern ist des Müllers Lust.“ Sie stimmte ein und dachte: „Das wird lustig werden!“

Im Restaurant galt es, schnell und zügig zu bestellen, wie Mildas Vater sagte. Warum, war ihr schleierhaft.

Jetzt sollte es doch erst richtig gemütlich werden! Dass sie nun bei der Bestellung länger überlegte und die anderen aufhielt, war in ihren Augen nicht schlimm. Sie wollte was Kalorienarmes bestellen, am besten Fisch und Gemüse und keinesfalls Soße.

Wenn es hier eklige Mehlpampen gebe, wolle sie lieber auf Soße verzichten, flüsterte sie Hanne zu.

Alle Bestellungen nahm die Kellnerin geduldig auf, obwohl sie die einzige Bedienung im voll besetzten Lokal war.

Leute kamen, schauten sich um und gingen wieder, weil sie keinen Platz fanden.

Für Liane und Reinhardt waren zwei Stühle freigehalten worden. Hanne schwatzte mit Milda. Sie bauten das Aufeinandertreffen am See aus. Ihr Lachen war ansteckend. Milda stand auf, setzte sich hierhin und dorthin, um sich ihren Cousinen und deren Männern zuzuwenden und Tanten und Onkel nach der Gesundheit zu fragen. Das war ihre Art in größeren Gesellschaften, damit sich keiner benachteiligt fühlte. Vielleicht hatte sich diese Besorgnis aus ihrer pädagogischen Leitlinie, im Unterricht keinen unbeachtet zu lassen, ergeben.

 

In dem Moment erschienen die ausgeschlafenen Unternehmer im Restaurant.

Lianes Mann nahm gar nicht erst Platz. Er begann sofort zu telefonieren und ging gleich danach raus auf die Terrasse. Dort sah man ihn gestikulieren. Seine Mimik schien nichts Gutes zu verheißen. Er sprach immerzu, als hätte er gar kein Gegenüber am anderen Ende der Leitung.

Reinhardts Frau Liane studierte inzwischen die Speisekarte und meinte, halblaut vor sich hinmurmelnd, aber so, dass es die neben ihr Sitzenden hörten: „Ja, wir müssen immer zu erreichen sein. Ohne Reinhardt läuft nichts. Übermorgen haben wir einen Termin in München.“

Das Essen wurde aufgetragen und die Unterhaltung ebbte ab.

„Dein Fisch wird kalt!“, rief Vater Milda zu.

Milda kehrte zurück an den Tisch. Vater blickte strafend. Das störte sie nicht. Sie begann, genüsslich zu essen. Wirklich vorzüglich. Manche bestellten ein zweites und drittes Bier, manche Wein.

„Auf die Gesundheit!“, rief Onkel Herbert.

„Ein Hoch auf die Röder-Familie!“, ergänzte Onkel Fritz.

„Hoffentlich kommen wir noch oft in dieser Runde zusammen.“ Tante Ingrid prostete allen zu.

„Ich sehe ja ein Mitglied der Röder-Familie öfter als die meisten von euch. Nicht wahr, Milda? Wenn du Ava in Berlin besuchst, kommst du ab und zu in meinen Kosmetiksalon. Wer schön sein will, muss leiden. Haha!“, lachte Melanie.

 

Milda setzte sich zu Edith, ihrer Mutter: „Was hast du gegessen?“

„Karpfen blau. Das hat geschmeckt! Na, meine Große, obwohl du kleiner bist als Liane, erzähl’ mal. Wie läuft es in der Schule?“

Typisch Mutter. Sie wollte alles wissen, hörte genau zu und erinnerte sich selbst nach Jahren noch an Einzelheiten und Vorlieben, obwohl sich die Familie vergrößert hatte. Lieblingspralinen, Elisenpfefferkuchen, hausgemachte Marmelade, Äpfel und Birnen und sogar Wielands Wunschwürste tummelten sich in den Paketen, die sie verschickte. Auch die deutsche Hauspflaume durfte nicht fehlen. Leider erreichte die Pflaume Lotheim häufig in matschigem Zustand, denn die Deutsche Post war nicht die schnellste.

Äußerlich lädierte Pakete störten keinen, obwohl sie aussahen, als hätte man damit Weitwurf geübt.

Familie Balow freute sich trotzdem. Es war, als bekäme sie ein Westpaket, was sie allerdings nie bekam, weil Angehörige von Angestellten der Deutschen Volkspolizei keinerlei Westkontakt haben durften.

Milda erzählte ihrer Mutter, dass es neulich Zoff wegen der Zensuren gegeben hatte. Nachdem das Kultusministerium die Kopfnoten abgeschafft hatte, wurden sie in Form von Sozialkompetenzen wieder eingeführt. Die Empfehlung lautete, vier Zensuren für jeden Schüler. Darüber wurde abgestimmt. In vorauseilendem Gehorsam entschied sich das gesamte Kollegium, dem Vorschlag des Ministeriums zu folgen.

„Stell dir vor, eine dreizügige Schule! Wie viele Zensuren ich zu schreiben hätte!

Bei den Kleinen existieren noch mehr Klassen, 5d und 5e! Ich unterrichte alle Schüler in Musik. In der Dienstberatung gab ich zu bedenken, dass ich die Kinder nur mit Sitzplan vor der Nase benennen könne, geschweige daheim noch wisse, wer hinter welchem Namen steckt.

Ich hatte ausgerechnet, 6400 Zensuren schreiben zu müssen, was mich eine ganze Woche so und so viel Zeit kosten würde. Und wenn ich nur zwanzig Sekunden über jede Zensur nachdächte, was natürlich zu wenig wäre, käme ich doch auf kein Ergebnis.

Ich weiß nicht, wer sich hinter der Zensur verbirgt. Also müsste ich die Zensuren von meinen Kollegen abschreiben. Das ist nicht der Weisheit letzter Schluss.“

„Wie seid ihr denn nun verblieben?“, fragte Mutter kopfschüttelnd.

„Ich stimmte gegen den Beschluss und füllte die Formulare einfach nicht aus, übrigens als Einzige.

Aber als dann die Klassenkonferenzen vor der Tür standen, konnte ich nachts nicht einschlafen und schrieb schließlich eine Glosse, die morgens halb fünf fertig war. So bin ich den Mist gedanklich losgeworden.

Wieland lachte sich beim Frühstück schlapp, empfahl mir jedoch, die Schrift nicht auszuhängen. Ich reichte sie unter der Hand weiter.

Die Chefin sagte übrigens nichts, als deutlich wurde, dass meine Zensuren überall fehlten.“

„Sie schätzt dich natürlich als Kulturtante ihrer Schule und weiß, dass du auch am Wochenende wer weiß wie viele Kilometer fährst, wenn Veranstaltungen angesagt sind. Bei euch in Mecklenburg liegen die Orte wirklich weit auseinander. Das kostet viel Benzin“, bemerkte Edith Röder.

Milda war angetan von Mutters Beistand. Edith Röder wollte in der heutigen Zeit kein Lehrer sein, die vielen Lehrbuchverlage, ständig wechselnde Gesetze, je nachdem, welche Regierung gerade dran ist, das müsse doch verwirrend sein.

Und dann habe man noch die Eltern zu ertragen, die meinten, die Schule sei ein Dienstleistungsbetrieb, und oft genug kämen sie mit Rechtsanwälten an. Da müssten die Lehrer ja zwangsläufig mit den Nerven fertig sein, ergänzte Edith fachkundig.

Nun ging es ans Bezahlen.

„Milda und Hanne, euer Essen übernehme ich“, rief Vater übern Tisch.

Milda bedankte sich artig, aber Hanne meinte, sie habe selber Geld.

„Nein, sei still. Wenn ich sage, ich bezahle, dann mache ich das auch.“ Erwin nickte ihr zu.

Hanne wagte verschiedene Einwände, sodass Erwin Röder schon missmutig wurde.

Da schrie Liane: „Halt deine Gusche, hast doch gehört, was dein Onkel sagt. Du hast wenig Geld, also kannst du dir das Essen bezahlen lassen!“

Der ganze Tisch verstummte und blickte Liane an. Das störte sie nicht.

Hanne war rot geworden und sagte nichts mehr. „Gott, in dem Alter muss Hanne sich so dumm kommen lassen“, dachte Milda und setzte sich wieder zu ihr.

 

„Was ist mit meiner Schwester los?“, fragte sich Milda nachts. Hanne war anscheinend auch noch nicht eingeschlafen. Sie drehte sich von einer Seite auf die andere. „Wie ein Lämmerschwanz“, hätte Wieland gesagt.

„Hanne, bist du auch aufgeregt?“

„Ich ärgere mich über Erwin und Liane. Dieser Befehlston! Liane ist nie großartig von zu Hause weggekommen. Die Ausbildung zur Augenoptikerin in Jena ging ja auch bloß zwei Jahre und am Wochenende ist sie immer nach Hause gekommen. Die drei glucken seit Jahrzehnten aufeinander.“

„Ärgere dich nicht. Ich habe auch Probleme, gegen solche Frechheiten anzugehen. Mir fällt meistens erst später ein, was ich hätte sagen müssen. Ich male mir Dialoge aus, in denen ich zum Schluss als Sieger dastehe. Sogar ein Buch legte ich mir zu: ‚Wie begegne ich dummen Sprüchen?‘, mit CD zum Üben.“

„Und?“, fragte Hanne.

„Man soll etwas völlig Entferntes und Aberwitziges antworten, um die Schimpfkanonade des anderen zu stoppen. Du hättest Liane zum Beispiel mitteilen können, dass du auf deinen frisch gebackenen Pflaumenkuchen hölzerne Edelweißknöpfe legst.“

„Was, das kann nicht sein!“, brüllte Hanne, „dann hält man mich für verrückt! Ein komischer Ratschlag.“

Sie lachten schallend. Kurz vorm Einschlafen erwog Milda, am nächsten Tag Liane gründlich zur Rede zu stellen.

 

Morgens um acht saßen die toughen Achtzigjährigen zuerst im Frühstückssaal, in heller, freundlicher Kleidung und nach Eau de Cologne duftend.

Gegen neun erschienen ihre Töchter mit Ehegatten. Milda und Hanne kamen solo. Mildas Cousine hatte ihren Mann vor Jahren durch einen Unfall verloren.

Zwei Generationen unter einem Hoteldach. Ob das gutging?

Als Horst am Abend vorher darauf beharrte auszuschlafen, hatte das Erwin nicht gepasst. Onkel Fritz entschärfte die Situation. Er meinte, es solle doch jeder zum Frühstück kommen, wann er will. Also kam man überein, spätestens bis neun im Frühstücksraum zu sein.

Das Essen war reichhaltig, das Übliche für ein Mittelklasse-Hotel. Liane fehlte allerdings der Lachs. Obst wäre auch nicht genug da. Niemand reagierte. Sie ging zur Küche und kam mit Pfirsichen wieder.

Nach dem Essen blieben die meisten sitzen, zeigten Fotos ihrer Kinder und Enkel. Milda hatte keine Bilder mit, aber der Vater ließ eine rosafarbene, durchsichtige Mappe mit floralen Motiven herumgehen, in der kopierte Fotos von Mildas Kindern, der Hochzeit von Liane und Reinhardt und Urlaubsbilder von Edith und Erwin zu sehen waren. Die Mappe, in der die Kopien steckten, kam Milda bekannt vor.

Ob das die Hülle von ihrer Festzeitung zu den elterlichen Geburtstagen sei, fragte sie Erwin.

Vater stritt das ab.

Nach dem Frühstück ging jeder seiner Wege.

„Wollen wir drei spazieren gehen?“, fragte Milda ihre Schwester.

„Nein. Ich habe keine geeigneten Schuhe mit. Lass uns in die Stadt fahren, Schaufensterbummel.“

Milda war es recht. Sie stieg in Reinhardts BMW.

Das schöne Wetter lockte am Sonntagvormittag viele Leute in die Stadt. Der Rathausplatz mit seinen hellen Bürgerhäusern im Viereck und die Postmeilensäule auf dem Markt waren prachtvoll restauriert. Brasserien und Restaurants lockten zur Einkehr. In den Auslagen der Geschäfte lag moderne Kleidung, für jeden Geldbeutel das Passende.

Die drei setzten sich unter den Sonnenschirm eines Cafés und aßen Eis. Liane und Reinhardt wirkten endlich etwas entspannt. Beim Wortgeplänkel hin und her wurde Small Talk bevorzugt.

Milda überlegte, wie sie die Rede auf Lianes Befinden bringen könnte. Nichts Geeignetes fiel ihr ein. „Bloß keinen Streit heraufbeschwören! Wenn sie mich auch so anschreit wie Hanne, habe ich die Brille auf“, dachte Milda.

Reinhardts Handy klingelte. Er verließ den Tisch und gab irgendjemandem resolut Auskunft. Es lief nicht gerade freundlich ab. Wieder bei ihnen, wurde er von seiner Frau nach dem Anrufer gefragt. Strabau, der zu blöd sei, diese Mallorca-Reise zu reklamieren, antwortete Reinhardt. Liane meinte, sie habe schon mehrmals festgestellt, dass der Strabau mit seiner Arbeit überfordert sei. Man müsse wohl mal über seine Entlassung nachdenken. Milda zuckte zusammen.

„Vielleicht sollten wir heute wieder nach Hause fahren, was meinst du, Reinhardt?“

„Aber ihr seid doch noch gar nicht lange hier“, wollte Milda rufen, doch Reinhardt sagte, es sei ihm egal. Man könne auch am Montag fahren. Bei schönstem Sonnenschein setzten sich die drei wieder ins Auto und fuhren zum Hotel. Milda wollte noch ein bisschen laufen.

„Warum sind die beiden gestern so aggressiv gewesen?“, fragte sie sich. „Die beiden sind schrecklich gestresst, nur mit sich beschäftigt, das ist einfach nervend.“

Im Foyer hatte sich ein Teil der Verwandtschaft versammelt, weil manche von den Jüngeren abreisen wollten, nämlich die, welche am Montag wieder arbeiten mussten, wie zum Beispiel Melanie, Mildas Cousine.

An der Rezeption herrschte Gedränge. Auch Mildas Eltern standen dort, worüber sie sich wunderte.

„Die wollten doch noch länger bleiben“, erinnerte sie sich.

 

Da sah sie ihre Schwester. Sie stand unmittelbar am Empfang und wühlte in ihrer Handtasche. Dabei murmelte sie leise etwas in Richtung Hausdame.

„Was machst du, Liane?“

„Ich bezahle, wir wollen los.“

„Aber, wieso denn, ihr wolltet doch erst morgen fahren“, sagte Milda.

„Reinhardt will heim.“

„Das stimmt nicht, er hat gesagt, ihm sei es egal!“, rief Milda.

Unerwartet drehte sich ihr Vater um, schlug ihr auf den Unterarm und zischte: „Halt die Gusche. Wenn Liane spricht, hast du still zu sein.“

Mildas Tinnitus klopfte an.

2

„Ihr Programm war wieder schön gewesen. Dass die jungen Leute alte Weihnachtslieder singen, findet man heute selten. Meistens mögen sie nur englische Musik. Ich kann kein Englisch. Früher sang ich auch im Chor, aber jetzt will meine Stimme nicht mehr.“

Die Frau im Rollstuhl wartete, dass man sie ins Zimmer brachte. Milda versprach, im Frühling wiederzukommen. „Notenständer, Brille – habe ich denn alles?“, vergewisserte sie sich.

Die Straßen waren glatt. Sie musste einen größeren Sicherheitsabstand halten.

„Die vielen Ampeln und immer ist Rot, belastend. Das Tannengrün an den Straßenlampen kann nicht echt sein! Zu Weihnachten muss es ja auch noch frisch aussehen. Es ist erst Montag nach dem zweiten Advent. Zwei Wochen sind es bis Weihnachten. Ich werde mit den Schülern ab morgen nur noch Weihnachtslieder singen, erzählen, wie früher gefeiert wurde. Die Kleinen freuen sich aufs Fest und die Großen werden auch was mitzuteilen haben“, dachte Milda.

Hinter ihr hupte es und beim Überholen quietschten Reifen. Der Fahrer zeigte ihr einen Vogel. Er beschimpfte sie, wie an der Mimik zu erkennen war.

„Du kannst mich mal“, murmelte sie.

Vor Weihnachten lagen die Nerven blank. Geschenke hatte sie zum Glück schon gekauft. Dieses Jahr wollte sie versuchen, alles rechtzeitig einzupacken. Zwei Konzerte standen bevor, und die Arbeiten der Zwölften mussten korrigiert werden. Wenn sie wenigstens besser schlafen könnte! Unausgeschlafen war es schwer, im Unterricht freundlich zu sein. Mit großer Anstrengung gelang es ihr, aber später im Lehrerzimmer war sie sehr abgespannt.

Danach kam sie nur mühsam durch den Feierabendverkehr. Heute hielten sie die Lichterketten munter. Am Weihnachtsmarkt sah sie die schwankenden Gondeln des Riesenrades. Das Schaukeln konnte sie nicht vertragen.

 

Als Mildas Kinder noch klein waren, wurde sie von ihnen auf dem Rummelplatz ins Kosmodrom gezerrt. Obwohl sie wusste, was ihr blühte, hatte sie ihnen den Gefallen getan. Ihr Körper wurde mit einer unvorstellbaren Kraft an den Innenrand der sich mit Wahnsinnstempo drehenden Riesenschachtel gepresst. Das Gesicht verlor unter der Fliehkraft seine Form, als machte sich das Fleisch davon. Sie schrie, Augen und Zähne wollten aus ihren Höhlen treten. Sie klammerte sich verzweifelt an den Sitz. Ihre Muskeln verkrampften. Zeit und Raum waren wie weggeblasen. Sie war auf sich selbst zurückgeworfen. Apathisch torkelte sie aus dem Kosmodrom, voller Übelkeit. Alles war ihr egal, selbst ihre Kinder. Sie übergab sich.

 

Neben ihr bremste ein Fiat. Bald hätte sie den gerammt. „Konzentration, sonst machst du Fehler“, ermahnte sie sich laut.

Das Weihnachtsgeschäft lockte unzählige Kunden in die abendliche Großstadt. Das Gewusel lenkte Milda ab.

„Nur auf die Straße schauen, sonst passiert was!“ Sie fand ihre Selbstgespräche schon zum Lachen.

Bis nach Hause bemühte sie sich, die rotierenden Tageseindrücke im Kopf zu stoppen.

Das Tor war geöffnet, die zwei riesigen Holzeulen rechts und links glotzten sie an. Im Dunkeln sahen sie gruslig aus, unheimlich und fremd.

„Heute warst du lange unterwegs, bist bestimmt fertig. Gleich gibt es Abendbrot.“

Wieland stellte ihr einen Salat vor die Nase. Salate waren seine Spezialität, keiner wie der andere, alle sehr wohlschmeckend. Sie wolle erst noch mit den Eltern telefonieren, das habe sie ihnen vorgestern versprochen, meinte sie zu Wieland.

 

„Vati! Wie kurt es sich? Habt ihr euch in Bad Elster eingelebt? Ist mein Adventspaket angekommen?“

„Die schöne Schweizer Schokolade war bestimmt teuer. Ich konnte nur einen Biss machen. Das verstehe ich nicht. Schokolade habe ich noch nie verschmäht. Mir tut der Magen furchtbar weh. Ich nehme seit Tagen nur Tee und Zwieback zu mir. Das Angebot in der Kurklinik ist wunderbar, ich kriege aber nichts runter“, klagte Vater.

„So geht das nicht, Vati! Zum Arzt!“

Es kam keine großartige Unterhaltung zustande.

 

Sie kannte Bad Elster, dort hatte sie ihre Eltern oft besucht. Das waren fantastische Tage gewesen. Täglich Wanderungen im frisch gefallenen Schnee, vorbei an den goldenen Zapfsäulen der Quellen, die für jedes angegriffene Organ Heilung versprachen.

Sie nahmen nur jeweils einen kleinen Schluck und genossen das salzige Wasser.

Am frühen Abend, im Licht der alten Laternen, funkelten die Schneekristalle wie kleine Edelsteine. Unbekannte grüßten einander freundlich. Es war, als forderte jede Villa zum Eintritt auf.

Milda bedauerte, diesmal nicht bei ihren Eltern im Kurort zu weilen. Die Gespräche in den nächsten Tagen verliefen ähnlich wie das erste. Selbst zu den Feiertagen und Silvester klagte Vater immer noch über Schmerzen und Appetitverlust. Er verlor an Gewicht.

 

Nach Neujahr flog sie zu ihrer Tochter Greta, die in Schwabach, nahe Nürnberg, wohnte.

In der S-Bahn vom Flugplatz Nürnberg bis zum Bus nach Schwabach dudelte an jeder Haltestelle aus dem Lautsprecher die Aufforderung, mit der Dorle zu tanzen und zu walzen, und zwar bis nach Schweinau.

„Ach, wenn doch nicht nur hier, sondern überall Volkslieder anstatt englischer Popsongs erklängen, das wär’ was! Wo sind unsere Traditionen hin?“ Gedankenverloren blickte sie zum Fenster hinaus.

 

Als Milda an der Haustür klingelte, kam Mia angesaust, ihre Enkelin. Sie fielen sich in die Arme.

„Mein liebes Ömchen, endlich bist du da.“

Sie liebte das Kind, hatte eine innige Beziehung zu ihr. Mia zog sie in den Flur. Dort standen Kisten und Kästen, über die beide steigen mussten, um zu Greta zu gelangen.

Ihre Tochter wickelte Gläser in Zeitungspapier. Vor ihr stand ein leerer Karton.

„Familie! Mein liebes Mütterchen, willkommen.“

Das mochte Milda, dieses „Mütterchen“. Es hatte was Fürsorgliches, Märchenhaftes.

Greta zog ihre Mutter an sich.

Hauke, der mit einem Akku-Schrauber das Zimmer betrat, rief: „Liebe Schwiegermama, komm her. Lass dich drücken. Schön, dass du da bist.“

Die Familie hatte das Haus gegenüber gekauft. Milda war gekommen, um beim Umzug zu helfen.

 

Ihre Tochter ließ sie am Morgen ausschlafen. Das Haus war leer, es roch nach Aufbruch.

Milda trug das verpackte Geschirr über die Straße. Eine Kiste nach der anderen, den ganzen Vormittag lang. Ihr Rücken schmerzte, obwohl sie um therapeutisches Bücken, Heben und Tragen bemüht war.

Sie verweilte kurz auf dem Gartenweg und machte Streckübungen, als die Tür ins Schloss fiel.

„Ach, der Schlüssel liegt drin, auf dem Schuhschrank!“, durchzuckte es sie.

Wie sollte sie ins Haus kommen? Sie musste von Hauke den Zweitschlüssel holen.

Betroffen wurde ihr klar, dass sie ungeschminkt war und in Haukes alten Klamotten rumlief.

„In diesem Aufzug ins Architekturbüro! Das kann ja was werden!“, ging es ihr durch den Kopf.

Wohl oder übel schlurfte sie los. Zum Glück war Haukes Betrieb nicht weit entfernt.

Unten am Tor blickte sie nach oben, in die zweite Etage, wo er arbeitete. Sie schlich durch den Flur und nahm die Treppe.

Das grelle Licht der LED-Röhren leuchtete unbarmherzig. Es war nicht zu verhindern, auf Angestellte zu stoßen. Betont freundlich erkundigten die sich, ob Milda Hilfe brauche. Sie schämte sich, blickte niemanden an und verneinte.

Das Großraumbüro mit den Architekten war vom Korridor aus einsehbar. Ihr Schwiegersohn saß auf einem der hinteren Plätze. Dorthin würde sie keinesfalls gehen, so wie sie aussah. Sie steckte nur den Kopf durch die Tür und bat ihn, kurz rauszukommen. Die Herren blickten auf, versanken gleich danach wieder in ihre Arbeit. Hauke gab ihr den Schlüssel. Sie entschuldigte ihr Aussehen, was er aber offensichtlich nicht als notwendig ansah.

„Geschafft!“, dachte sie erleichtert, „nicht schlimm gewesen.“

Mutter Edith hätte gesagt, Milda habe hier keine Hochzeit ausschlagen müssen, sie solle nicht eitel sein, keiner gucke nach ihr.

Solche Bemerkungen waren deprimierend. Die Tochter mutierte gedanklich zur grauen Maus. Wenn sie etwas erwiderte, hieß es, sie lege jedes Wort auf die Goldwaage.

„Stimmt wahrscheinlich“, dachte Milda, „machst dir das Leben selber schwer.“

Bis zum Mittag hatte sie im Haus zu tun. Sie buk Eierkuchen, bestrich sie mit Marmelade, rollte sie ein und deckte einen Teller darüber. Sie hatte die Pfannkuchen zum Wenden natürlich nicht hochgeschmissen. Ohne Zuschauer verpuffte die Wirkung.

Als sie fertig war, holte Milda ihre Enkelin von der Grundschule ab. Auf dem Heimweg fragte die Kleine ihr Ömchen, ob sie am Nachmittag mit ihr Schule spielen dürfe. Mia wolle aber die Lehrerin sein.

 

Greta war schon zu Hause. Sie arbeitete wegen ihres Kindes verkürzt. Als Mediengestalterin war es Greta auch möglich, in schwierigen Situationen Homeoffice in Anspruch zu nehmen.

Die drei aßen die Eierkuchen mit Apfelmus.

„Ich hätte so gern mit dir gekocht und du hättest die Pfannkuchen wieder bis an die Decke geworfen“, sagte Mia.

„Wie wir das früher gemacht haben, Mutti“, erinnerte sich Greta.

Das Telefon klingelte.

Mildas Schwester Liane war dran: „Die Eltern waren jetzt endlich beim Arzt. Vati liegt im Krankenhaus. Die müssen noch rausfinden, was er hat, hoffentlich nichts Schlimmes. Ich rufe dich wieder an.“

Milda erschrak. Die Magenschmerzen waren also noch nicht verschwunden!

Greta meinte, Opa habe zeitlebens ungesund gelebt, immer viel zu viel gegessen. Auch zu fett. Raucher sei er auch gewesen. Es deute alles auf nichts Gutes hin.

Den ganzen Nachmittag waren die beiden Frauen nicht bei der Sache.

Beim Schule-Spielen war Milda unaufmerksam. Sie hatte sich was anzuhören! Mia schimpfte sehr: „Jetzt steh’ auf. Warum hast du nicht zugehört, Kindchen? Außerdem sollst du gerade sitzen und den Stift ordentlich halten. Entweder du machst, was ich sage, oder wir gehen zum Direktor!“

Das Spiel verlief nicht nach dem Sinn der kleinen Lehrerin. Milda konnte es ihrer Enkelin nicht recht machen.

 

Irgendwie brachte Milda den Tag über die Runden. Abends konnte sie nicht einschlafen und grübelte. Die Krankheit ihres Vaters ging ihr nicht aus dem Kopf. Gegen Morgen erwachte sie aus unruhigen Träumen.

Ein schnelles Frühstück, den Beutel mit leeren Flaschen aufs Fahrrad und erst mal zum Glascontainer gefahren, so war der Plan. Die Sonne wärmte. Der Schnee taute und wurde langsam schmutzig.

 

Während sie die Flaschen entsorgte, klingelte ihr Handy.

„Vati hat Krebs im Endstadium.“ Was Liane unter Weinen hervorbrachte, traf Milda mitten ins Herz.

Sie krümmte sich, beide Hände auf der Brust. Voller Angst versuchte sie durchzuatmen. Stiche bei jedem Atemzug.

Was ihre Schwester noch sagte, hörte Milda nicht.

Der Schnee unter ihren Füßen verwandelte sich in Dreck. Sie fror. Die Sonne verschwamm vor ihren Augen. Sie fand kein Taschentuch. Blitzartig überfiel sie ihr Tinnitus.

 

Als Greta und Mia nach Hause kamen, saß Milda schluchzend in der Küche. Was sie stockend erzählte, löste Entsetzen aus. Greta tröstete Milda. Mia schmiegte sich an sie. Was war zu tun?

Da betrat Hauke die Küche. Die drei redeten auf ihn ein. Der Schwiegersohn versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Er schlug vor, im Internet über die tückische Krankheit nachzulesen.

Greta sagte: „Nein! Wir müssen erst mal Oma Röder in Schacht anrufen! Sie ist bestimmt geschockt. Wie viele Monate hat Opa noch? Ruf doch endlich an, Mutti!“

„Jetzt ist es zu spät!“, warf Milda ein, „erst morgen.“

 

Milda lag bis weit nach Mitternacht wach.

Vollmond. Sie dachte an ihren Vater.

Wenn der Mond hell und leuchtend am Himmel stand, rief er an, egal, wo sich beide befanden: „Schau hinaus. Siehst du den Mond über Soho? Wir sind uns ganz nah.“

Manchmal sang er: „Haben Sie schon mal den Mann im Mond gesehen?“

„Ach, Gus Backus. Ich war jung, als ich den hörte.“

Vater wollte damals wissen, wie die Titelzeile auf Englisch hieß.

„Have you ever seen the man in the moon?“

Er sprach das lustig aus, konnte sich aber diese wenigen Worte schlecht merken. Das Russische war ihm geläufiger.

In Mondscheinnächten fragte Milda ihren Vater immer wieder nach dieser Zeile. In der Folge wiederholte er den Satz unaufgefordert zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten, was jedes Mal mächtiges Gelächter nach sich zog.

Im vorigen Sommer zu Gretas Geburtstag – Edith, Liane und Reinhardt waren schon im Bett – sang Milda kurz vor Mitternacht mit ihrem Vater und den erwachsenen Töchtern das Lied vom Mond, der schon aufgegangen war, in einer zu Herzen gehenden Mehrstimmigkeit.

Doch Punkt zwölf erhob sich der Vater und sagte: „Der Geburtstag ist vorbei. Gute Nacht.“