See'len - Angelika Rainer - E-Book

See'len E-Book

Angelika Rainer

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Beschreibung

ARCHAISCH UND GEGENWÄRTIG ZUGLEICH: ZARTE PROSAMINIATUREN VON ANGELIKA RAINER. Das Wasser! Das Wasser! Das bin ich! Das bin ich! Ist das schon Erkennen, an dem man zugrunde geht? DAS WASSER ALS SPIEGELBILD DER SEELE "See'len" werden im Hochgebirge mehrere nebeneinanderliegende Seen genannt, die zu klein und darum namlos geblieben sind. Schon in Urzeiten gab es die Vorstellung, dass dem See die Seele entsteigt. Über die Betrachtung von SEEN UND DER SEELE IM SPIEGEL DES SEES gelangt Angelika Rainer zum MYTHOS VON NARZISS UND ECHO, einer Geschichte von VERLANGEN UND VERWANDLUNG, VERGEHEN UND BEWAHREN. Mit ihren lyrischen Erzählungen "Luciferin" und "Odradek" hat sie Publikum und Kritik zum Staunen gebracht. In ihrem neuen Band geht das literarische Ausnahmetalent in einem unverwechselbaren lyrischen Ton der Frage nach, OB DER MENSCH SICH ERKENNEN KANN UND WIE NOTWENDIG EIN GEGENÜBER DAFÜR IST. "Und ein weiteres Mal zeigt sich, was Lyrik sein kann: ein Ereignis!" Die Presse, Robert Huez

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Inhalt

ZEHN SEEN

NARZISS UND ECHO

NARZISS

ECHO

VON DER SEELE

ZEHN SEEN

SEE’LEN

Der Weg war lang, schmal, mehr Rinne als Weg, wir konnten nur einen vor den anderen Fuß setzen. Beerensträucher wuchsen von den Böschungen herab in die Wege.

Im Gehen, ohne langsamer werden zu müssen, konnten wir die Beeren abstreifen, wir kamen nicht außer Atem.

Unser Ziel war nicht eindeutig.

Wir stiegen keinem Gipfel entgegen, wir suchten die See’len, fanden Weiher und Tümpel, namenlose kleine Augen im Krummseggenrasen.

Bevor wir die Wolken am Himmel suchten, sahen wir sie in den See’len liegen. Dass sie mehr als einmal vorhanden waren, machte uns nicht sicherer im Wissen, wo wir uns befanden.

Wir sahen kein Vieh, nur Viehzäune und Schießscheiben auf der Weidefläche nahe dem Ufer.

Ungesehen darf er sich nie meinen, der Mensch.

Einst hat es hier kein Wasser gegeben, aber Edelsteine, Himbeeren und Pilze. Die Fremden wussten dies zu schätzen, trugen alles mit sich.

Als die Dinge davon getragen wurden, betrachteten die Hirten sie als das Ihre und beschlossen, die Dinge behalten zu wollen.

Sie erschlugen Pilze und Himbeeren. Die Fremden sollten nicht mit der Hirten Hab und Gut von dannen ziehen.

Der Hirten Gier wurde bestraft.

Das Land wurde überflutet, alle Schätze waren verloren.

Einst wird es hier keinen See mehr geben.

Schon in einem anderen Jahr wird dieses Land an ganz anderen Orten

Augen haben.

Die heurigen Seen werden im nächsten Jahr an anderen Stellen zu finden sein. Das einst überflutete Land kommt einmal da, einmal dort zum Vorschein, stellt den Buckel auf, wie Katzen es tun.

Was verbirgt die Tiefe außer Daphnien, Kiemenwürmchen,

Stille, Erbsenmuscheln oder nichts?

Was erzählt sie?

Würden wir uns abseilen ins Innere der Welt, vielleicht würden wir auf den Grund eines Sees treffen, könnten von außen an seine Wanne klopfen, ihn nach seinem Alter, nach seiner Geschichte befragen.

Mir begreifliche Erdzeitalter liegen in den Tiefen der See’len.

Steine, die ich in die Hand nehme, hat mein Vater, als er jung war, ins Tal, in den See geworfen, manchmal getreten.

Das ist lange her.

Weit sind die Steine seither nicht gekommen.

So weit ist die Welt noch zu begreifen.

In jener Nacht blieben wir bei den See’len, die wie Sterne auf der Erde ausgelegt sind.

Wir trugen die alten Steine zusammen, um eine Feuerstelle zu errichten.

In den eingefassten Flammen zeigten sich ein Fischkutter, Hirtentäschchen, Schwingelgras und Schneebeeren.

Der Wind ließ nichts sein, wie es sein sollte.

Er löschte die Flamme vor der Zeit.

Die Feuerstelle blieb als kahler Kreis zurück, von Steinen und Grasbüscheln gerahmt, das Innenfeld nackt, weil die Gräserwurzeln angefressen worden waren, um das Wasser zu halten, das sonst an den Gräsern verdunstet wäre.

Am Morgen grüßten uns zwei Hirten vom oberen Weg herab.

Sie grüßten schreiend und winkend.

In dieser Einöde mussten sie Stimme zeigen.

Sie schwangen ihre Stöcke, waren freundlich, wollten sich nach Tagen unter Schafen mit Menschen verständigen.

Von uns aus gesehen waren sie klein und gedrungen.

Unser Augpunkt war für ihr Erscheinungsbild ungünstig, da er unter ihrem Standort lag.

AUGE GOTTES

1

Das Auge Gottes ist ein Dreieck oder ein Tümpel auf dem Weg zum Gletscher, nahe den Sternen.

Bis ins späte Frühjahr, beinahe bis in den Sommer hinein, ruht das Auge Gottes unter einer Schneedecke. Dann wird es warm, und Wellen aus Schmelzwasser erschaffen ein Lid.

Das Inselchen in der Mitte des Auges wird überschwemmt.

Wollgras wächst, der Augapfel wird sichtbar.

Ein Wollgrasinselchen ist der Augapfel Gottes.

So sieht das Auge sie nicht mehr, die Sünde.

Sah es nämlich nicht vornehmlich sie?

Zu bevorzugen sind jene göttlichen Augen, deren Augenhöhle ohne Augapfel bleibt oder deren Augapfel wenigstens ein Wollgrasinselchen ist.

Bulbus oculi vacui horror –

ein Krater, ein Abgrund dort, wo keine Pupille sich rührt.

Das Auge Gottes wird nicht mit anderen Weihern verwechselt werden.

2

Einmal war der Tümpel ausgetrocknet gewesen.

Die Erde war rissig geworden, hatte sich gefurcht, hatte Schluchten und Klüfte gebildet.

Ein Laichteppich von Gras- oder Moorfröschen, vielleicht auch von

Bergmolchen lag auf der rissigen Tümpelerde, in der neues Gras keimte.

Der Laichteppich glich dem Glasauge des Großonkels.

Das Glasauge war dem Kind ein Rätsel gewesen wie der Großonkel, von dem es nur wusste:

Er liebte Rumkugeln und verschenkte sie großzügig.

Einst war er von einem Augenarzt sehr beleidigt worden.

Dieser hatte sein gesundes Auge untersucht, weil er es für das Glasauge gehalten hatte.

Das Glasauge war ein Rätsel.

Und dennoch wusste das Kind, welches Auge den Weg ins Innere bereithielt, in welches Auge es schauen musste, um den Großonkel anzutreffen, um zur Seele zu gelangen.

Es war die Pupille, die half, das richtige vom falschen Auge zu unterscheiden.

Der Weg war deutlich sichtbar wie die dürren Wasseradern in den See hinein, aus dem See hinaus

Zuleitungen, Abflüsse, Venen, Arterien

Zeilen im Krummseggenrasen

Nervenbahnen des Auges.

3

Der Erde Haut ist ein Weiher, ein See

das Auge Gottes, ein Seelein

silberner Einlass in die Welt unter der Welt

ein Tümpel, in den man die Hand taucht und schleunig zurückzieht

weil der Grund einen verschlingen wird.

4

Symmetrien / Anatomien

In eine knöcherne Höhle

in eine Grube im Schädel mit Ausgängen für Nerven, Blutgefäße, Tränen ist das Auge samt Augapfel gebettet.

In einer erdigen oder felsigen Wanne, in einer Falte der Erde ist der See ausgebreitet.

An seinen Ufern, in den Lidwinkeln des Auges lagern Schlafsand, Augensteine, verwandelter Schlaf, Gestalt gewordener Traum.

In den pelagischen Regionen des Auges tritt die Welt auf –

ein Baum, ein Haus, ein Vogel, ein Mensch.

Ein Tränenfilm liegt auf der Hornhaut

auf dem Wasser ein Schleier

die Wasserblüte.

Zuweilen gibt es Überflutungen

im Auge, im See

wenn der Wind zu stark weht

wenn getitschte Steine oder das Gemüt zu hohe Wellen schlagen.

5

Das Tränenbein ist der kleinste Knochen im Schädel.

Das Tränenwärzchen sitzt im inneren Lidwinkel.

Das traurige Auge ist dunkel, wässrig und tief wie ein See. Es spricht:

Ich habe viel geweint und habe Tränen noch genug.

An den unteren äußeren Lidern lagern sie wie alter Schnee in Schattenrinnen.

Wasser fließt unter dem Einfluss der Schwere.

Das Fließen ist eine äußerst verwickelte Erscheinung.