Seelenblick - Erich Weidinger - E-Book

Seelenblick E-Book

Erich Weidinger

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein Spaziergang am Taferlklaussee mit seiner Freundin Helena und dem Golden Retriever ihrer Nachbarin soll für Landpolizist Werner der Auftakt zu einem ruhigen Wochenende sein. Da gräbt der Hund am Wegesrand eine Leiche aus. Zwar übernehmen seine Kollegen die Ermittlungen, doch der Urlaub ist im Eimer. Werner hat trotz seines Berufs Angst vor Leichen und muss sich von dem Schock erholen. Dabei hilft es nicht, dass seine Tante Vera sich mit fiesen Typen anlegt, Helena etwas Wichtiges vor ihm verbirgt und er trotzdem auf Verbrecherjagd geht. Denn Polizist bleibt Polizist.

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Seitenzahl: 212

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Erich Weidinger

Seelenblick

Krimi aus dem Salzkammergut

Zum Buch

Ärger im ParadiesLandpolizist Werner ahnt nichts Böses, als er sein Urlaubswochenende mit einem gemütlichen Morgenspaziergang gemeinsam mit Freundin und Hund um den Taferlklaussee beginnen möchte. Da buddelt der Golden Retriever am Wegesrand eine Leiche aus. Der Urlaub ist gelaufen, denn obwohl Werner Polizist ist, hat er panische Angst vor Leichen und muss sich von dem Schock erst mal erholen, während seine Kollegen die Ermittlungen übernehmen. Als wäre das nicht genug, bringen private Probleme den zart besaiteten Polizisten zusätzlich völlig aus dem Konzept: Natascha, die junge Freundin von Werners Tante Vera, erbt ein Haus mit dunkler Vergangenheit, die bis heute nichts von ihrem Schrecken verloren hat. Dazu hat Werners Freundin Helena ein Geheimnis, das sie mit dem Haus verbindet …

Erich Weidinger wuchs am Attersee im oberösterreichischen Salzkammergut auf – dem Lieblingsrefugium vieler Künstler. Nach einer Friseurlehre und einer pädagogischen Ausbildung arbeitete er mehrere Jahre mit benachteiligten Kindern. Wegen der Liebe zur Literatur wechselte er in den Buchhandel und begann selbst zu schreiben. Neben seiner Leidenschaft für die Sagenwelt ist ihm auch die Leseförderung sehr wichtig, deshalb ist er auch viel in Schulen unterwegs. Er hat mehrere Kinderbücher und Krimi-Anthologien herausgebracht. „Seelenblick“ ist sein zweiter Kriminalroman.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Michael Maritsch / maritsch.com

Die zwölf Fotografien im Roman stammen von Michael Maritsch.

ISBN 978-3-8392-7172-8

Kapitel 1 – Freitag, später Nachmittag

Altmünster

Auch am Traunsee könne er seinen Seelenblick finden, dachte Revierinspektor Werner Zufall, der sich in einer unnatürlichen körperlichen Verrenkung befand.

Der See lag wie unberührt in einem vor Jahrtausenden ausgespülten Bett. Ostwärts der Traunstein, ein riesiger Felsen, der jedes Jahr seine Opfer sucht und findet so wie der nahe gelegene Attersee. Am Felsen die unvorsichtigen und unglückseligen Bergsteiger, die über den Stein in die Tiefe stürzen, und der See, der seine ertrunkenen Schwimmer und Taucher in sich aufnimmt und meist für ein Jahr aufbewahrt. Manche wurden nie gefunden.

Ein gemäßigter Abendwind strich über die spiegelglatte Wasserfläche des Traunsees und ließ eine kaum erkennbare Struktur auf dem Gewässer entstehen. Gegenüber der Gebirgslandschaft, die von der Sonne beschienen wurde, lagen die Ortschaften Altmünster und Traunkirchen im Schatten, wo sich nach dem Abzug der Sonnenstrahlen die kühle blaue Stunde über den Häusern und ihren Gärten breitgemacht hatte.

Mehrere Augenpaare verfolgten die Fahrt eines Motorbootes, die beinahe etwas Eremitenhaftes an sich hatte, da sonst kein Fahrzeug oder Wesen auf dem See zu sehen war. Die Wellen, die dabei entstanden, schickten im Abendlicht letzte glitzernde Funken auf den Weg.

Die meisten Übungsräume des Sportzentrums am Westufer waren zum See hin ausgerichtet. Die riesige Glasfront bot eine bemerkenswerte Aussicht über den herrlichen Traunsee. Immer mehr Touristen erkoren ihn und die anderen Salzkammergutseen zum Ziel ihrer Sommerfrische und trieben damit die Mieten und Grundstückspreise in der Region ins Unermessliche. Doch vom Spätherbst bis ins Frühjahr wirkte die Gegend verlassener und ursprünglicher.

Hinter dem Glasfenster bewegten sich acht Frauen und zwei Männer nach den Anleitungen einer weiblichen Leitfigur. Sie trugen knappe, sportliche Kleidung, vorwiegend in den Farben Weiß und Grau. Die Personen waren inzwischen teilweise erschöpft, ihre Körper verschwitzt. Die Abschlussübungen des Yogakurses waren heute – wie an den zwei vorangegangenen Tagen – eine kurze Meditation und die Kobra.

Ava, die Kursleiterin, war nicht imstande, die heutigen Übungen korrekt vorzumachen, da sie bei der morgendlichen Anfahrt mit ihrem Motorrad von einem Wagen abgedrängt worden war und sich an einer Leitplanke das Knie verletzt hatte. Mit einem Stützstrumpf hielt sie sich aufrecht. Sie hatte beschlossen, erst nach Abschluss des heutigen Kurses einen Arzt aufzusuchen. Ava hieß mit bürgerlichem Namen Eva Mühlböck. In ihrem Yogaleben nannte sie sich Ava, was im alten Persien der Bezeichnung »wohltuender Klang« nahe kam.

Werner Zufall, Polizeibeamter vom Attersee, war einer der zwei männlichen Kursteilnehmer. Er fand, dass Avas Stimme alles andere als wohltuend klang, wofür sie nichts konnte. Trotzdem musste er sich anfangs an dieses krächzende Timbre gewöhnen, was ihm am zweiten Tag kein Problem mehr bereitete. Ausgenommen bei den geführten Meditationen, bei denen er nicht die nötige Konzentration aufbrachte und sich zusätzlich von Avas seltsamer Stimmfärbung irritieren ließ.

Er hatte sich für diesen Kurs angemeldet, um zu testen, ob die Yogaübungen seinem derzeitigen Gemütszustand positive Verbesserung verschaffen konnten. Er suchte eine neue solide Basis, seinen verloren gegangenen Seelenfrieden. Er formulierte und gebrauchte für sich selbst wegen seiner Liebe zum See Worte wie Seelenblick, Seelengrund und Seelenfriede. Sie erfüllten seine Sehnsucht nach Glück und Zufriedenheit.

Eine alte Freundin aus der Zeit der Volksschule hatte ihm den Rat gegeben, Yoga auszuprobieren. Sie trafen sich alle paar Wochen und sprachen, seit sie sich im Erwachsenenalter wieder neu kennengelernt hatten, über grundlegende Themen. Vertrauensvoll, jeder falschen Scham entledigt. Kein Freund oder Verwandter kannte ihn so gut wie Ingeborg, ohne dass er je mit ihr sexuell verkehrt hätte. Sie wusste Bescheid über seine beruflichen Schwierigkeiten als Polizist, dass er Gewalt verabscheute, immense Angst vor Leichen hatte, die ihm seit dem letzten Herbst psychische Probleme bescherte. Auslöser war ein spektakulärer Fall gewesen. Deshalb hatte sie ihn überzeugt, an dem Kurs teilzunehmen. Obwohl es für ihn ein Eintauchen in eine komplett andere Welt war, fühlte er nach dem zweiten Tag, dass diese Yogapraktiken in ihm Positives bewirkten. Dass sie ihm guttaten, selbst wenn er nicht alles mit der nötigen Ernsthaftigkeit betrachtete und ausführte, im Gegensatz zu den acht Frauen.

Neben ihm gab es einen zweiten Mann im Kurs. Klaus, den Nachnamen hatte er nicht verraten, er sei eigentlich nicht von hier, was immer er damit gemeint hatte. Das Wort »eigentlich« hatte für Werner keinen Sinn. Ein Begriff, der hier typisch österreichisch verwendet wurde. Eigentlich nicht von hier. Was nun? Ja oder nein? Eigentlich nicht, eigentlich schon, eigentlich … Mit diesem Wort brauchte man sich nicht dingfest machen zu lassen. Eigentlich mag ich dich, eigentlich bin ich enttäuscht, eigentlich …

Eigentlich ist eigentlich ein unnötiges Wort.

Dieser Klaus gehörte sicher zu den introvertierten Zeitgenossen. Die beiden Männer hatten sich bisher nur kurz miteinander unterhalten, lediglich ein paar nette oder witzig gemeinte Floskeln während der Pausen und zum Abschluss des jeweiligen Tages im Duschraum ausgetauscht. Werner war überrascht, wie anstrengend diese Übungen, von Ava »Asanas« genannt, für ihn waren. Er hatte zum Glück wie immer seine Waschutensilien in der Sporttasche dabei. Dass er sie tatsächlich brauchen würde, hätte er nicht gedacht.

Ava gab zu verstehen, dass sich alle auf den Bauch legen sollten. Wie auswendig gelernt und tausendmal rezitiert ertönten ihre Anleitungen:

»Die Fersen aneinander und die Stirn ohne Druck auf die Yogamatte legen. Ganz sachte. Den Po etwas anspannen.«

Am ersten Tag bei dieser Übung hatte Werner Angst gehabt, dass ihm hörbare oder gar riechbare Gase entgleiten könnten. Obwohl er inzwischen wusste, wie man die Kobra ausführte, kam er sich am Boden liegend eher wie ein Leichnam vor, weniger wie ein entspannter Schlangenkörper. An diesem Tag hatte er ständig damit zu kämpfen, dass sich seine Gedanken verselbstständigten. Vor allem bei den kurzen Meditationen musste er sich geistig mehrmals wieder auf die Yogamatte zurückholen.

»Hier sein! Mit Geist und Körper! Im Jetzt sein! Stellt die Hände in Brusthöhe auf die Matte, ruhig und bewusst aus- und einatmen. Beim nächsten Atemholen Schulter und Kopf anheben. Die Arme bleiben möglichst entlastet. Der gestreckte Rücken hält uns aufrecht. Den Atem kurz anhalten und beim Ausatmen die Stirn wieder zu Boden senken. Das Ganze öfters hintereinander, alleine, ohne meine Anleitung. So wie es euch angenehm ist. Wer die Spannung aushält, kann ein paar Atemzüge lang in aufgerichteter Schlangenhaltung bleiben.«

Werner spürte bei dieser Übung seine Verspannungen im Becken- und Schulterbereich sowie seltsamerweise auch am Fußrücken, da die Zehen nach hinten zeigten und nicht auf dem Boden aufgestellt waren. Beim dritten Aufrichten hielt er den gestreckten Oberkörper und blickte in die Ferne. Über den See auf den Erlakogel, der wie der Traunstein im Abendlicht erstrahlte. Wie vielen, die hier im Salzkammergut aufgewachsen waren, war ihm bekannt, dass der Berg im Volksmund »die schlafende Griechin« genannt wurde. Er zeigte angeblich (österreichisch: eigentlich) das Profil einer schlafenden Griechin mit fliehender Stirn. Da Werners derzeitige Freundin eine Griechin war, jedoch ohne fliehende Stirn, stellte er sich Helenas Gesicht am Grad des Erlakogels vor. Seine Mundwinkel, die er am Morgen von einem Dreitagebart befreit hatte, verformten sich zu einem Grinsen. Unbewusst hatte er den Atem lange, zu lange, angehalten und plötzlich strömte alles aus ihm heraus. Der verbrauchte Atem, die Spannung des ganzen Körpers und ein humorvoller Laut, der in ein befreiendes Lachen überging. Selbst sein Enddarm stieß durch das Nachlassen der Körperspannung geräuschbetont Luft mit bereichertem Gas aus. Werners Stirn knallte auf die Gummimatte und er musste sich lachend zur Seite drehen. Seine Yogakolleginnen um ihn herum waren erst irritiert und fielen, wie durch ein Virus angesteckt, in sein Lachen ein, ohne die Ursache zu kennen. Dieses wie aus dem Nichts entstandene Lachyoga dauerte einige Minuten. Werner kullerten Tränen über die Wangen. Ava, mit ihrer ehrfürchtigen Ernsthaftigkeit, konnte sich ebenfalls der Lachdynamik nicht entziehen. Ihr Lachen hatte einen Tonfall, der dem eines wiehernden Pferdes nicht unähnlich war, was die Gruppe noch hemmungsloser prusten ließ.

Nachdem Werner sein verweintes Gesicht mit dem verschwitzten T-Shirt getrocknet und schlussendlich seine Humorattacke aufgeklärt hatte, stellte sich beim abschließenden Ohmmmm… nicht mehr die notwendige Ernsthaftigkeit ein.

Im Duschraum für Männer verzierte ein Lächeln Klaus’ Gesicht. »Der war aufgelegt!«, meinte er grinsend und verschwand unter dem breiten Wasserstrahl der Kaltdusche.

Werner war das »Warmduschen« angenehmer.

Aus dem nebengelegenen Duschraum der Damen vernahmen die beiden Kichern und Gegacker, welches Männer gerne mit den Geräuschen aus einem vollen Hühnerstall verglichen.

Einige Kursteilnehmerinnen saßen abschließend bei einem Rooibostee zusammen. Werner verabschiedete sich mit übertriebener Gestik, als wäre er ein höfischer Gesandter aus dem Mittelalter, und fuhr Richtung Attersee. Er wollte sich für ein Stündchen mit Helena treffen, bevor sie sich in eine schlafende Griechin verwandelte.

Mit entspannten Gesichtszügen, eins mit sich selbst und zufrieden, bewegte er seinen Wagen über die Hochalmstraße am Taferlklaussee vorbei nach Steinbach hinüber. Im Radio lief »Crazy«, er erinnerte sich zwar im Moment nicht daran, von wem die Nummer war, drehte dafür auf volle Lautstärke und grölte mit. Um die Umwelt teilhaben zu lassen, öffnete er das Fenster auf der Fahrerseite und brüllte sein eigenes »Crazy« in die Welt hinaus. Genau so fühlte er sich, im positiven Sinne, für den Moment losgelöst von allen irdischen Sorgen und Zwängen. Sein jetziges Fahrverhalten hätte jeden Polizisten veranlasst, den Wagen anzuhalten und ihn zumindest abzumahnen. In dieser Jahreszeit war die Hochalmstraße wenig befahren und menschenleer. Lediglich eine einsame Kuh am Rand einer eingezäunten Wiese, wahrscheinlich vom Bauern beim Reinholen vergessen, blickte kurz zu ihm auf, während er den Refrain aus dem Fenster schmetterte.

Als er oberhalb von Steinbach den Attersee erblickte, der in der nächtlichen Dunkelheit dalag, erwärmte sich sein Herz um gefühlte 20 Grad. Er liebte diesen unvergleichlichen Anblick, und jedem, der ein Gefühl von Schönheit und Naturliebe in sich trug, ging es genauso. Viele andere Wagenlenker erzählten immer wieder von dem gewaltigen optischen Eindruck, der einem das Gemüt sofort hob.

In Alexenau, dem ersten Ort auf Weyregger Gemeindegebiet, wenn man von Steinbach kam, wohnte Helena mit ihrem neunjährigen Sohn in einer geräumigen Mietwohnung eines neu errichteten Objektes mit Sicht auf den See, das über einen hauseigenen Badeplatz verfügte. Die Griechin hatte Werner heute nicht mehr erwartet. Sie begrüßte ihn mit einem Kuss, wobei ihre langen knallroten Haare mitgeküsst wurden, wie es oft vorkam.

»Möchtest du einen Tee mit getrocknetem Ingwer und Apfelscheiben? Oder entgegen der esoterischen Regel doch ein Bier?« Ihr verschmitzter Blick erklärte alles. Sie fand es amüsant, dass er als Polizist an diesem Kurs teilnahm. Für sie waren Yoga, Qi-Gong und Ähnliches unbedeutender Hokuspokus. Sie stand, wie sie oftmals behauptete, mit beiden Beinen auf der Erde und hielt mit ihrer Häme nicht zurück. Das tat sie nie.

»Gerne ein Bier! Nun hat mich die normale Welt ja wieder.«

Er nahm in der schmalen Küche an einem Tisch mit wackeligen Hockern Platz und Helena drückte ihm ein geöffnetes »Zipfer Sparkling« in die Hand. Sie beugte sich über ihn, ihr rotes Haar fiel abermals wie ein Vorhang, hinter dem sie ihn mit einem herzhaften Kuss bedachte. Werner wollte mehr, doch sie schwang die Haarpracht mit einer Handbewegung zurück und wandte sich der Küchenzeile zu.

»Schläft Alexandros?«

»Nein, er sitzt in der Badewanne und stellt mit den Spielzeugschiffen die Seeschlacht von Salamis nach. Ich möchte, dass er zeitig ins Bett geht. Morgen Nachmittag hat er seinen ersten Einsatz als Ministrant bei einem Begräbnis. Er war deswegen den ganzen Tag sehr aufgeregt.«

Werner mochte den zarten Akzent seiner Freundin. Sie sprach perfekt Deutsch, da sie als Kind in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war. Nach Österreich war sie erst vor ein paar Monaten gezogen, wo sie erneut mit einer weiteren Sprache konfrontiert worden war: dem oberösterreichischen Slang. Am liebsten hatte er es, wenn sie versuchte, in der regionalen Mundart zu sprechen, und das mit griechisch-deutschem Akzent. Dabei konnte er selten ernst bleiben, musste sie sofort küssen, um ihr nicht das Gefühl zu geben, dass er sie auslachte.

»Helena, ich werde mit Vater und Tante Vera auch am Begräbnis teilnehmen. Die Bärbel war eine entfernte Verwandte meiner Mutter. Wir können gerne gemeinsam hingehen.«

»Ach! Und wenn ich die heilige Messe besuche, gehst du nie mit! Werde ich dich irgendwann doch zum Kirchengehen bekehren können?«

Helena war erzkatholisch. Das ständige Kirchengerenne war Werner zuwider. Gerne hätte er mit ihr einen Sonntagvormittag im Bett verbracht, doch wenn sie nicht arbeiten musste, ging sie in die Kirche. Helena arbeitete als Mädchen für alles in einer Ferienwohnungsanlage mit angeschlossenem Hofladen für heimische Bioprodukte in Weyregg. Putzfrau, Zimmermädchen, Rezeptionistin, Köchin, Verkäuferin und was sonst anfiel. Gäbe es nicht eine alteingesessene Pfarrersköchin, die den rumänisch-stämmigen Pfarrer betreute, hätte sie sich dieser Aufgabe ebenfalls mit Hingabe angenommen.

Werner hatte sie vor den letzten Weihnachtstagen bei einem adventlichen Pfarrkaffee kennengelernt, zu dem ihn sein Vater mitgeschleppt hatte. Endlich eine Frau, die nicht von seinem Vater Jakob für ihn auserwählt oder getestet worden war. Die nicht vorher ihren gemeinsamen Männerhaushalt begutachtet hatte. Der alte Herr war mit dieser »Wahl«, wie er es nannte, zufrieden. Werner hatte Helena vor seinem Vater gewarnt und war sich nie sicher, wie weit er gehen würde, da er gerne mit ihr flirtete. Das tat sein Erzeuger mit jeder weiblichen Person in seinem Umfeld. Einerseits machte ihn das liebenswert, andererseits konnte er dabei furchtbar anstrengend und peinlich sein.

Alexandros, Helenas Sohn, kam direkt vom Bad in die Küche, nickte Werner zu und öffnete die Kühlschranktür. Er stand nackt im gelblichen Schein der Kühlschrankbeleuchtung und nahm einen Orangensaft sowie eine Kindermilchschnitte heraus, während sich eine Pfütze unter ihm bildete.

Mit einem kurzen Laut, der »Gute Nacht« bedeuten sollte, verschwand er in seinem Zimmer. Gefolgt von der überforderten Mutter, die ein Geschirrtuch in Händen hielt und offenbar nicht wusste, ob sie zuerst den Sohn damit abtrocknen oder den Boden aufwischen sollte.

»Alexandros! Metaxy ton theon!«

Bei den Göttern. Obwohl Helena Christin war, nahm sie oft ihre griechischen Götter in den Mund. Ihr eigener Name stammte immerhin von einer Halbgöttin. Helena, gezeugt von Zeus, in der Gestalt eines Schwanes, und Leda, der schönsten Frau Griechenlands. Ein Kalenderbild in einem billigen Rahmen hing in Helenas Schlafzimmer. Eine Kopie von Michelangelos Gemälde, hatte sie ihm erklärt. Viel Fantasie benötigte diese Darstellung nicht, wenn man das Geschehen deuten wollte. Werner wunderte sich jedes Mal beim Betrachten, dass sie so etwas Anzügliches an der Wand hängen hatte. Ein Lächeln zeichnete sich in seinem Gesicht ab, während er der Vorstellung eines mit einer weiblichen Gestalt kopulierenden Schwanes nachhing.

Da Helena, die Sterbliche, die nächsten Minuten nicht mehr hervorkam, trank er als vernachlässigter Geliebter gemächlich sein Bier aus. Er war inzwischen gewohnt, dass manche seiner Besuche so endeten, und verließ mit einem »Kalinychta!« die Wohnung, was nichts anderes hieß als gute Nacht. Gleiches kam dumpf aus dem Zimmer ihres Sohnes zurück.

Morgen, am Samstag, würde er sie wieder treffen. Sie hatte sich extra für ihn das Wochenende freigenommen, da er bis Mitte der kommenden Woche in Zwangsurlaub war, um fristgerecht die nicht verbrauchten Urlaubstage vom Vorjahr abzubauen. Auf den letzten hundert Metern der Heimfahrt wurde ihm bewusst, dass er lange nicht mehr dermaßen fröhlich und zufrieden gewesen war. Und das an drei aufeinander folgenden Tagen.

In seinem Haus in Weyregg war von außen kein Licht auszumachen, außer jenes im Flur, das sie immer eingeschaltet ließen. Sein Vater war sicher unterwegs. Sie bewohnten das Gebäude seit dem Tod der Mutter vor etwa zehn Jahren gemeinsam. Jeder ein Stockwerk für sich, die Küche benützten beide. Jakob war mit seinen bald 67 Lenzen beamteter Frühpensionist, so bezeichnete er sich selbst.

Er sagte gern über sich: »Vor fünf Sommern durfte ich das Rentendasein antreten, dem ich, noch immer in vollem Saft stehend, mein aktives Freizeitverhalten entgegenhalte. Der Kampf gegen das Verkümmern ist in vollem Gange!«

Sein Job in der Schulbehörde hatte ihm nicht viel abverlangt, deshalb schien er gut erhalten zu sein. Dass er in Weyregg als Hobbyjäger ohne eigenes Jagdrevier lebte, war für ihn kein Problem, da er mit genügend Jägern befreundet war, in deren Revieren er seinem Zeitvertreib nachgehen konnte. Der Vater war in jeder Hinsicht aktiver als sein Sohn. War ja keine Kunst, wenn man für den Rest seines Lebens arbeitsfrei gestellt war.

Werner bereitete sich zwei Wurstbrote zu und stieg kauend die Stufen zum Schlafzimmer hinauf. Auf seinem Handy erschien eine SMS von Helena:

»Muss morgen früh den Hund der Nachbarin Gassi führen. Kommst du mit? Fahren wir zum Taferlklaussee hinauf?«

Nach einigen fettigen Fingerkontaktpunkten auf seinem Handydisplay war die Nachricht abgeschickt:

»Gerne, ich hole dich und Gerda kurz vor 8 Uhr ab.«

Gerda hieß der Hund von Helenas Nachbarin, ein Golden Retriever. Ein männlicher kastrierter Hund mit weiblichem Namen. Warum er auf Gerda hörte, darüber gab es verschiedene Spekulationen. Für den Hund gab es kein Gendern, das war ihm sozusagen Wurst, und die fraß er lieber.

Kapitel 2 – Freitag, Nacht

Taferlklaussee

Der Mann war dunkel gekleidet. An den Kofferraum seines schwarzen Wagens gelehnt wartete er seit vielen Minuten. Das durch Nebelschwaden gedämpfte Mondlicht ließ auf dem Parkplatz die Konturen von zwei abgestellten Fahrzeugen erkennen.

Es war kühl hier oben an diesem unbebauten Moorsee, der vor geraumer Zeit zu einem Naturschutzgebiet erklärt worden war und tagsüber viele Spaziergänger und Wanderer anzog.

Eine dickere Jacke wäre sinnvoll gewesen. Während er die fünfte Zigarette rauchte, beobachtete er den Zugang zum Taferlklaussee. Der Fahrer des zweiten Wagens kam endlich angetrabt und steuerte auf sein Gefährt zu. Ein Nachtläufer, der mehrmals die circa 600 Meter rund um den See gelaufen war. Der Atem und die Körperausdünstung des Sportlers stiegen in der kühlen Nachtluft zu einer dünnen Dampfsäule auf, ähnlich wie der Zigarettenqualm des Rauchenden.

Um nicht aufzufallen, drückte der Raucher den Glimmstängel auf dem Schotterboden aus und ließ die Kippe in einer winzigen Blechdose verschwinden, ungesehen vom Läufer. Er täuschte vor, hier eine Pause eingelegt zu haben, stieg in seinen Hyundai Kona und hielt sich das Mobiltelefon ans Ohr, ohne zu telefonieren. Es dauerte einen AC/DC-Song lang, abgespielt von der Musik-App des Handys, bis der Nachtsportler die Schuhe gewechselt hatte und mit dem hellen Ford Escort abgefahren war.

Kaum war er in der Dunkelheit verschwunden, stieg der Mann wieder aus, öffnete die Heckklappe und entnahm dem Kofferraum einen zusammenlegbaren Campingspaten aus Eisen, eine dunkelblaue Sporttasche ohne Aufdruck und knöchelhohe dunkelgrüne Gummistiefel. Er schlüpfte in die Stiefel, die für sein Vorhaben hilfreicher waren, und zog eine Feuchtigkeit abweisende Überhose an. Dann wandte er sich der gegenüberliegenden Seeseite zu. Der Kies knirschte unter seinen Füßen.

Nach ein paar Minuten Fußmarsch sah er im nächtlichen Mondschein die Umrisse des Schilfgrases. Dahinter erhoben sich die wenigen Bäume eines spärlich bewachsenen Waldes. Er zog eine Stablampe aus der Hosentasche, horchte, ob ein Geräusch zu vernehmen war, das nicht der nächtlichen Natur entsprang, und zog seine Jacke aus, um sie zusammengefaltet über eine hölzerne Balustrade zu hängen.

Unter dieser Abgrenzung zwischen Weg und Wildnis schlüpfte er durch. Stapfte durch den Matsch, der von vielen grünen Blättern bedeckt war, die sich in unzähligen Jahren zwischen Weg und Wald breitgemacht hatten. Die Lampe warf einen schmalen Kegel durchs Dickicht.

Nun war er der Verursacher von unnatürlichen Geräuschen. Das Schmatzen der Stiefel im schlammigen Untergrund war deutlich zu hören. Den Kampf mit den unliebsamen austreibenden Sträuchern gewann er mit einem unbedeutenden Kratzer auf dem Kinn. Die Anordnung von Bäumen in einem Wald verändert sich zum Glück kaum. Außer einer umgestürzten dürren Fichte war alles gleich wie letztens und davor. Er brauchte nicht lange, um die richtige Stelle zu finden. Den neuen Spaten aufgeklappt, die Beine zur Sicherheit breit gestellt, begann er sein Vorhaben. Die Stablampe steckte in seinem Mund und beleuchtete die Stelle, der sein Augenmerk galt.

Das saubere Schaufelblatt glitt in den feuchten Boden. Mist, das nasse Erdreich war zu schwer für diesen kurzen Spaten. Die Hälfte des Aufgenommenen rutschte wieder in das entstehende Loch zurück. Er hätte abermals die alte Gartenschaufel mitnehmen sollen, die ihm im Auto zu sperrig und auffällig war. Leise raunte er vor sich hin und kniete sich in das nasse Moos, um effizienter zu graben. Er kam langsamer voran als geplant. Warum hatten sie dieses Versteck gewählt, das sich nur umständlich erreichen ließ? Dämlicher ging es nicht. Mehrmals hatte er darum gebeten, eine andere Stelle zu wählen. Es gebe doch genug trockenere Möglichkeiten in dem Wäldchen.

Er meinte, sich zu erinnern, dass es letztens nicht so tief eingegraben gewesen war. Von den Füßen und den in dem Schlamm steckenden Knien bis weit über die Hose hinauf verdreckt, ergriff er eine glatte, eiskalte Fläche. Der Deckel einer rechteckigen Metallbox. Darin steckte das Erwartete in einer Plastikfolie.

Ob des schmatzenden Geräusches beim Graben und der vollendeten Freude über das Auffinden des Gesuchten hatte er nicht wahrgenommen, was hinter seinem Rücken geschehen war.

Mit beiden Händen an der mit Erde beschmierten Folie ziehend, traf ihn ungeschützt etwas Hartes im Genick. Mit einem kurzen Aufschrei sackte er seitlich in den Matsch. Ein Teil eines zerbrochenen Astes flog über ihn hinweg. So rasch, wie es seine Lage ermöglichte, drehte er sich herum, um nicht völlig schutzlos zu sein. Das rettete ihn vor einer Pistolenkugel, die neben ihm mit einem ploppenden Geräusch ins Erdreich ging. Im Strahl der am Boden liegenden Lampe spritzte Schlamm auf.

Er nahm trotz der Dunkelheit eine Gestalt wahr, die vermutlich weiterhin mit einer Waffe auf ihn zielte.

Der schmierige Schmutzfilm auf seinem Körper half ihm, sich schnell wegzudrehen. Er rutschte im Feuchten auf den Angreifer zu, um ihn mit den Füßen aus dem Gleichgewicht zu bringen, was ihm tatsächlich gelang. Die Waffe entglitt dem Schützen und landete hörbar irgendwo auf dem Boden. Ein – im wahrsten Sinn des Wortes – schmutziger Kampf entbrannte unter den Bäumen, deren Wipfeln von dunklen Wolken, die in diesem Moment aufzogen, das Mondlicht entzogen wurde.

Kapitel 3 – Freitag, Nacht

Taferlklaussee

Mithilfe eines harten Gegenstandes wurde starker Druck auf den Hinterkopf ausgeübt, wodurch sich das Gesicht dem Boden näherte. Es verschwand zur Gänze im feuchten Erdreich. Durch den Kontakt mit der ungewohnten Masse und dem plötzlichen Verschluss der oberen Atemwege verschlossen sich sofort auch Augen und Mund. Die panikartig eingesaugte Luft wurde angehalten. Der Schutzreflex verweigerte selbst der Nase jeden Versuch einer Atmung, was ohnehin wegen des Eindringens der fremdartigen Substanz in beide Nasenlöcher nicht mehr möglich gewesen wäre. Bevor die Lippen den Mund abgeriegelt hatten, war einiges an verschlammter Materie in die Mundhöhle eingedrungen, welche die Zunge geübt und automatisiert nach hinten schob, um sie zu schlucken, was in diesem Fall nur unzureichend gelang. Die äußerliche Fixierung der Halswirbelsäule und der weiterhin anhaltende Druck verhinderten, dass der Kehlkopfapparat seiner physiologischen Funktion nachkam. Die Erde quetschte sich in Folge durch die geschlossenen Augenlider und befüllte auch die Nasenhöhlen an der verbogenen Nasenscheidewand entlang. Seit ein paar Schlägen auf die Nase hatte sich die einst mittels einer Septumoperation begradigte Nasenscheidewand erneut verkrümmt, was jedoch in diesem Fall nicht mehr zu den zukünftigen Problemen des Opfers zählen würde.

Um der entsetzlichen Lage zu entkommen, fing der Mann mit den Händen und Füßen zu schaufeln an, was den Fixierenden zwang, ihn durch sein ganzes Körpergewicht auf den Boden zu pressen.

Nach etwa 15 Sekunden der reflexartigen Schutzmechanismen und schwindenden Sauerstoffreserven erreichte die sonst um 80 gelegene Herzfrequenz das Dreifache. Bewusstes Hören war unmöglich, durch die Befüllung der Ohrengänge drang sowieso nichts mehr bis zu den Trommelfellen.