Seelenfriede - Erich Weidinger - E-Book

Seelenfriede E-Book

Erich Weidinger

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Rudi will endlich seine Natascha erobern. Dafür bricht er mit ihr in ein Bootshaus ein. Doch dort entdecken die beiden etwas, das sie von ihrem Vorhaben schnellstens absehen lässt. Als Inspektor Zufall zu einem Todesfall am See gerufen wird, muss er sich seinen Ängsten stellen, denn Leichen geht er normalerweise aus dem Weg, was für einen Polizisten berufsbedingt schwierig ist. An drei Tagen passiert plötzlich so viel, dass Zufall nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Langsam fügen sich die einzelnen Geschehnisse zusammen, aber nicht alles ist so, wie es zunächst scheint.

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Seitenzahl: 191

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Erich Weidinger

Seelenfriede

Kriminalroman

Zum Buch

Tatort Attersee Rudi will endlich seine große Liebe Natascha erobern. Dafür bricht er mit ihr in ein Bootshaus ein. Doch dort entdecken die beiden etwas, das sie von ihrem Vorhaben schnellstens absehen lässt. Die Flucht des jungen Paares endet allerdings anders als gewollt … Seelenfriede, so nennt Inspektor Zufall den Zustand der Ruhe und Einsamkeit, wenn er mit dem Boot allein auf dem See unterwegs ist. Er ist gern Polizist, aber Gewaltdelikten und vor allem Leichen geht er normalerweise möglichst aus dem Weg, was für einen Polizisten berufsbedingt schwierig ist und für die Ermittlungen hinderlich sein kann. In nur wenigen Tagen passiert am See plötzlich so viel, was den Inspektor an seine Grenzen bringt, dass er nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Nur langsam fügen sich die einzelnen Geschehnisse zusammen – und nicht alles ist so, wie es zunächst schien.

Erich Weidinger wuchs am Attersee im oberösterreichischen Salzkammergut auf – dem Lieblingsrefugium vieler Künstler. Nach einer Friseurlehre und einer pädagogischen Ausbildung arbeitete er mehrere Jahre mit benachteiligten Kindern. Wegen der Liebe zur Literatur wechselte er in den Buchhandel, betreibt am Attersee die einzige Buchhandlung, die 2021 zur Buchhandlung des Jahres gewählt wurde. Er begann vor vielen Jahren zu schreiben und hat mehrere Sagen- und Kinderbücher sowie Krimi-Anthologien und Romane veröffentlicht.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2023

„Seelenfriede“ erschien erstmals 2015 beim Kehrwasser Verlag

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lorenzo / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7470-5

1

Freitagabend Buchberg bei Seewalchen

Ein abgenutztes hölzernes Ruderpaar wurde wiederholt in das klare Wasser getaucht. Das alte, doch schön gepflegte Ruderboot schaukelte am nahen Ufer entlang. Zwischen den Anlagen, von Bootshaus zu Bootshaus, von Steg zu Steg.

Ungewöhnlich, fast sommerlich warm erschien der späte Oktoberabend am Attersee, dem größten der österreichischen Salzkammergutseen. Eine natürliche Stille umfing die Wiesen, Felder und Seegrundstücke des westlichen Ufers. Selbst von der nahe gelegenen Straße drangen nur selten leise Autogeräusche durch die Büsche und Bepflanzungen, die im Sommer neugierige Blicke auf die diversen Seegrundstücke und Bootshäuser abhalten sollten. Das helle Rufen einer männlichen Reiherente im Schilf, auf der Suche nach einem willigen Weibchen, verlieh der Stille am See den Beweis einer intakten Fauna. Die Sonne spendete ihre letzten Strahlen und ließ die Oberfläche des Wassers in vielen wunderschönen Farben funkeln und leuchten. Für Farbtherapeuten und Hobbymaler eine schwierige Entscheidung, welchem Farbton sie sich zuerst hingeben beziehungsweise welchen sie als ersten einfangen sollten. Die Eigentümer, darunter auch viele Zweitwohnungsbesitzer, hatten ihre Bade- und Bootshäuser bereits winterfest gemacht. Die hölzernen Fensterläden geschlossen, die alten wettergegerbten Türen meist nur mit einem Vorhängeschloss abgesperrt, die Falltore, die die Einfahrt für die Boote freigaben, herabgelassen. Alles schien unberührt und stillzustehen. Einer Western-Geisterstadt gleich. Einer am Wasser. Statt der Veranden vor den Saloons und den Anbindebalken für Pferde harrten hier verlassen die hölzernen Stege, Plattformen und Metallringe für Bootstaue einer abermaligen Verwendung entgegen. Ab und zu war anstelle eines rhythmischen Hufgeräusches ein leises, fast gleichmäßiges Plätschern zu hören. Vom sanften Wind entfachte Wellen brachen sich an den Planken und Pfählen der Bootshäuser und Stege.

Der junge Mann, der die Ruder ins Wasser schlug, legte nacheinander an den neu errichteten Pfahlbauhäusern und Plattformen an. Stieg aus dem Boot und versuchte herauszufinden, ob er unbemerkt und ohne ein Schloss aufzubrechen in eines der Gebäude eindringen konnte. Die giftgrünen Gummisandalen an seinen Füßen quietschten jedes Mal beim Herumgehen auf den Holzbrettern. Er deutete der zweiten Gestalt im Boot, still zu sein. Dies wiederholte sich mehrmals, hatte den Anschein einer stummen Herbergssuche, bei der nie geklopft wurde und auch kein singender Wirt die Tür öffnete.

Endlich gelang es ihm, mit sanftem Druck die hölzerne Verschalung eines größeren Badehauses aufzudrücken und zur Seite zu schieben. Dabei bohrte sich ein dünner, abgebrochener Holzspan in seine Haut, unterhalb des kleinen rechten Fingers. Unhörbar fluchend, versuchte er mit der linken Hand und in weiterer Folge mit den Lippen, den Span herauszuziehen. Dadurch brach der winzige hervorstehende Teil ab. Der Eindringling rieb die wunde Stelle an den Jeans am Oberschenkel, was ein noch tieferes Eindringen des restlichen Fremdkörpers in die Hautschichten zur Folge hatte. Die unversperrte gläserne Schiebetür, die sich hinter der Verschalung verbarg, konnte er nun ohne Schwierigkeiten öffnen.

Das Innere des Gebäudes glich eher einem Wohnzimmer als einem einfachen Bootshaus, wie man von außen vermuten würde. Ein rotes Sofa mit Couchtisch dominierte die Mitte des Raumes.

Rudi, so hieß der junge Einbrecher, wollte Natascha, seine Angebetete, endlich hier in aller Einsamkeit erobern. Da er Tischler gelernt hatte, wusste er, dass diese Couch in der Fachsprache »Récamiere« genannt wurde und ursprünglich keine Rückenlehne hatte. Witzig fand er, dass er genau vor eine Woche mit seinem Vater so ein Teil aus dem bekannten schwedischen Möbelhaus abholen hatte müssen, das den bezeichnenden Namen »Lugnvik« trug, der sich sogleich in seiner Erinnerung verankert hatte. Die letzten drei Buchstaben des Wortes bezeichneten laut ausgesprochen sein Vorhaben, welches er mit Natascha auf genau dieser Couch auszuführen gedachte. Mit einem Lächeln auf den Lippen, das Wort »Lugnvik« leise aussprechend, drehte er sich zu seiner Liebsten um und schlich möglichst lautlos mit dem quietschenden Schuhwerk zu seinem schwimmenden Transportmittel zurück.

»Komm, Nasti, da drinnen ist es wunderschön«, flüsterte er. Nachdem er Natascha beim Aussteigen geholfen hatte, vertäute er das Ruderboot an dem Bootshaus, sodass es unter der hölzernen Plattform, leises Plätschern verursachend, hin und her schaukelte. Es würde ruhiger und geduldiger auf seinen Besitzer warten als das schnaubende Westernpferd an der Tränke vor dem Saloon.

Rudi schob seine Herzensdame durch den Eingang in das Bootshaus. Natascha blies überrascht die Backen auf, sie stellte sich vor, wie im Sommer die Glasfront die Sicht auf den See freigeben würde. Rudi, in sich eine Vorfreude auf verbotenen Luxus und erlaubte Gelüste verspürend, stand noch hinter ihr.

»Keine Angst, ich bin nicht eingebrochen. Es war offen! Hast du den Wein, Nasti?«, fragte er seine Freundin, die unschlüssig vor dem Sofa mit dem kleinen verstaubten Glastisch stand.

»Oh, der ist noch im Boot, Rudi. Hab ich vergessen.«

Natascha trat unsicher von einem Bein auf das andere. Es sah so aus, als überlegte sie, ob sie das Eindringen hier gutheißen sollte, und vor allem, ob dies die richtige Spielwiese wäre, denn natürlich war klar, was ihr Bootsmann an diesem Abend beabsichtigte. Sie war tatsächlich noch unschlüssig, ob sie den Einbruch ihres Freundes dulden sollte, oder ob sie nicht doch besser zurück aufs Boot wollte. Sie blickte sich im Raum um, der sie mit seiner kargen, dafür aber geschmackvollen Einrichtung für sich gewann.

Rudi ging ins Freie, sah sich verstohlen um, legte sich auf den Steg, zog an der Leine und versuchte, die Weinflasche zu ergreifen, ohne ins Boot steigen zu müssen. Den Oberkörper über dem Wasserspiegel in der Luft, die Hände weit nach vorne gereckt konnte er die Flasche fassen. Beim Aufrichten entglitt sie ihm, fiel in den See und verschwand zwischen den Pfählen, auf denen das Gebäude thronte.

»Scheiße, der gute Wein!«, schimpfte er und überlegte kurz, ob er in das kühle Wasser steigen sollte. Zehn Euro, das war die teuerste Weinflasche, die er je gekauft hatte. Bevor sie von der Bootshütte seines Onkels, zwei Buchten südlicher, abgelegt waren, hatte er ihr drei Wodka Energy, auch Flügerl genannt, verabreicht. Natürlich mit Eis und einer Scheibe von einer Zitrone, die er einem Zitrusbaum auf Nachbars Terrasse entwendet hatte. Mit dem Wein wollte er den Höhepunkt in jeder Hinsicht krönen.

Natascha stand plötzlich hinter ihm und meinte:

»Rudi, mir ist kalt. Lass den blöden Wein! Wir haben eh schon genug getrunken. Ich mag keinen mehr. Da wird mir nur schlecht davon.«

Na wunderbar! Wie komm ich ihr sonst an die Wäsche?, dachte Rudi. Na, egal. Irgendwie wird es schon klappen.

Rudi nahm Nasti an der Hand, legte den Finger an die Lippen, um ihr klar zu machen, dass sie im Freien nicht zu laut sprechen sollte. Er blickte umher, um sich zu vergewissern, dass sie von niemandem beobachtet wurden. Er schob seine Liebste wieder in die Hütte hinein. Das Fischerboot, das in weiterer Entfernung zwischen zwei Bootshäusern aufgetaucht war, hatte er nicht bemerkt.

Er dirigierte Natascha zur Couch und sah sich im Raum um, ob er hier etwas zu trinken finden könne. Tatsächlich stand in einem Kästchen eine Flasche mit klarer Flüssigkeit ohne Etikett. Den Schraubverschluss geöffnet, stellte Rudi fest, dass es Schnaps war.

»Egal, passt auch. Besser als nichts.«

Im Raum roch es etwas abgestanden, vermischt mit dem typischen Wassergeruch, den die Einheimischen als »fischelnd« bezeichnen.

»Irgendwie riecht es hier streng«, meinte Natascha und rutschte unsicher auf der Couch herum, unbewusst mit einer Hand die Beschaffenheit der Unterlage testend.

»Nasti, Schätzchen. Hier hab ich was Feines. Komm, trink!«

Rudi reichte ihr die Flasche, nachdem er selbst einen kräftigen Schluck genommen hatte. Der Schnaps war nicht so scharf wie der Selbstgebrannte von seinem Onkel. Wahrscheinlich war er etwas »ausgeraucht«, wie dieser schale Getränke nannte.

»Uh, das ist ja ein heftiger Stoff.«

Natascha versuchte, die Flasche abzuwehren, doch Rudi ließ ihr keine Chance und hielt ihr während des Trinkens das Gefäß fest an den Mund, sodass sie mehr schlucken musste, als sie es vorhatte. Nasti schnappte nach Luft, röchelte, hustete und schlug sich ein paarmal auf die Stelle zwischen Hals und Brust. Als ob sie das innere Brennen damit lindernd beeinflussen könnte. Ihr Gesicht und auch das sonst so leichenblasse Dekolleté wurden fleckig rot.

Rudis Chance. Er setzte sich neben sie, klopfte ihr auf den Rücken, zog ihr die kunstlederne hellgrüne Jacke aus und legte diese auf dem Boden ab. Er fuhr mit seiner Hand unter ihr T-Shirt mit dem Aufdruck eines böse blickenden Smileys und massierte ihr den Bauch. Dabei berührte er mit den Fingern ein weiteres unvermutetes Kleidungsstück.

Mist, sie hat einen BH an!

Rudi griff erneut zur Flasche.

»Du musst nochmals trinken, das lässt den ersten Schock weichen. Glaub mir, ich weiß das von meinem Onkel. Der kennt sich mit Schnaps gut aus.«

Das Mädchen, unfähig sich zu wehren, ließ alles geschehen und nahm nochmals einen Schluck. So verging einige Zeit mit Massieren, Trinken, Streicheln und Küssen. Bald hatte Rudi das Hemd abgelegt und beugte sich über Nasti, die unbeholfen auf Lugnvik lehnte. Jetzt ohne T-Shirt, aber mit rosa Büstenhalter, wo keiner hätte sein müssen, da wirklich nicht viel da war. Die Flasche war fast ausgetrunken, und die Hemmungen schienen zu fallen. Natascha kicherte, zu anderem war sie nicht mehr imstande. Auch Rudi hatte bereits die Fähigkeit verloren, sich normal zu artikulieren. Er war gerade dabei, die Jeans abzustreifen, die er, ohne aufzustehen, nur bis zu den Knien hinabziehen konnte. Natascha bemerkte seine Erektion und versuchte, mit einer Hand unter seine eng anliegenden schwarzen Shorts zu kommen. Gleichzeitig begann Rudi, sich mit dem männerfeindlichsten Kleidungsstück zu befassen, das es gab.

»Nasti, BH«, murmelt er.

»Hi, hi … hicks.«

Von ihr war keine Hilfe zu erwarten, sie hatte genug mit seinen Shorts und dem darunter Erhobenen zu tun.

Rudi versuchte nun, halb neben Nasti liegend, die Hand unter den BH zu schieben. Er rutschte von der Couch und hielt sich dabei an ihrem elastischen BH fest, der seinem Griff entglitt und mit einem Klatschen auf Nastis Oberkörper zurückschnellte. Im nächsten Moment spürte er einen Schmerz an seinen Hoden. Durch das Abrutschen hatte einer ihrer Fingernägel dem Hodensack eine Schramme zugefügt.

»Au!«, schrien beide gleichzeitig. Natascha stiegen Tränen in die Augen. Sie hielt ihre Hände vor ihre Brust und jammerte.

»’tschuldigung«, stammelte Rudi sich aufrappelnd.

»Mir … schlecht«, vernahm er.

»Was?« Rudi war noch auf den Knien.

Nasti sprang plötzlich auf, ihr Fuß stieß mit Wucht genau in Rudis Schritt. Er ging erneut zu Boden und spürte seinen Unterleib in einer weniger erregenden, dafür schmerzhafteren Intensität.

Seine Freundin verschwand durch eine Tür hinter der Couch, ohne zu wissen, was sich dahinter wohl verbergen würde.

Rudi, seine Hände zwischen den Beinen haltend, schnappte nach Luft und versuchte, sich aufzurichten. Die Erektion war rasch abgeklungen. Sich aufrappelnd hörte er, wie sich Natascha hinter der Tür übergab. So laute Töne hatte er von ihr noch nie gehört. Kaum hatte er sich erhoben – seine Jeans unterhalb der Knie, eine Hand bei seinen beleidigten Hoden – stand sie plötzlich, um vieles bleicher, als sie ohnehin schon war, im Türrahmen. Tränen flossen über ihre Wangen, und Reste von Erbrochenem klebten an Mund, Kinn und Oberkörper.

»Kotzen … da … da …«, und sie zeigte zurück in den Raum, aus dem sie gekommen war. Dann brach sie weinend zusammen, kauerte im Türrahmen.

Rudi ärgerte sich über die ganze Situation, zog etwas beschämt und zu schnell die Hand aus seiner Hose, was ihn nochmals schmerzerfüllt zusammenzucken ließ.

»Na und? Ich hab auch schon oft geko…!« Er musste sich zusammenreißen, um nicht unfair zu werden. Sein Schmerz war allemal heftiger und nachhaltiger als Nataschas Theater über den BH und das Erbrochene. Er ging auf sie zu, um ihr aufzuhelfen, doch Nasti zeigte wieder hinter sich und schluchzte weiter.

Er stieg über sie hinweg und betrat einen kleinen Raum. Ein schlimmer Geruch kam ihm entgegen, und das Restlicht der Abenddämmerung reichte gerade, um die Szene zu erfassen. Er stand in einem winzigen Badezimmer direkt vor einer Toilette und einer schmalen Badewanne. In dieser lag ein lebloser Frauenkörper, nur mit einem Bikini bekleidet. Viel war von dem Körper nicht zu erkennen, da er überall mit Nastis Erbrochenem bedeckt und das Gesicht zum Teil durch ein Handtuch verdeckt war. Rudi konnte sich ebenfalls nicht mehr halten und erbrach in die Wanne. Er versuchte, mit den Händen zu verhindern, dass sich sein Mageninhalt über den Frauenkörper vor ihm ergoss, doch er war zu verwirrt und betrunken. Hilflos kniete er vor der Wanne und verwischte mit seinen Fingern die Flüssigkeit auf dem Körper der unbekannten Frau, der sich seltsam fremd und kalt anfühlte. Dann sank Rudi neben der Badewanne nieder und fing ebenso wie Nasti zu jammern und zu weinen an.

Erst die fast hysterischen Schreie von Natascha im offenen Türrahmen ließen ihn wieder zu sich kommen. Immer noch den dumpfen schmerzhaften Druck im Unterbauch, kroch er auf den Knien zu seiner Freundin. Es war ihm nicht klar, ob der Schnaps, der Schlag in die Hoden oder der grauenvolle Anblick im Badezimmer seine Übelkeit verursacht hatte und er sich übergeben musste. Wahrscheinlich alles zusammen.

Natascha sprang plötzlich auf, schnappte sich ihr T-Shirt und stürmte hinaus auf die Plattform, unter der sich die stützenden Pfähle und das Ruderboot befanden. Bald würde alles zur Gänze im Dunkeln liegen. Rudi lief ihr nach und sah, wie sie versuchte, das Boot unter dem Holz hervorzuziehen. Durch den erlittenen Schock fühlte er sich wieder nüchtern und hatte seine Sprachfähigkeit zurückerlangt. Er bedeutete ihr zu warten und holte rasch die Jacken aus der Hütte.

»Nasti, zieh dich an. Wir müssen kurz nachdenken.«

Er hockte sich vor sie, nahm sie an der Schulter und drehte sie um. So zärtlich hatte er sie selten berührt. Er schöpfte mit der Hand Wasser aus dem See und versuchte, ihr den Mund und die Brust zu säubern, ohne zu bemerken, dass sein eigenes Erbrochenes auf seinem Körper klebte.

»Lass das, ich kann das selber«, meinte sie schroff und schob mit angeekelter Miene seine Hand weg. Sie stieg eine kleine Holztreppe hinab und wusch sich, so gut es ging, mit dem Seewasser. Dann nahm sie Rudi ihre Jacke aus der Hand und zog sich an.

»Komm, schnell, wir müssen weg!«, sagte er auffordernd, nachdem auch er sich notdürftig gewaschen hatte. Auf dem Bauch liegend, zog er das Boot an dem Seil unter der Plattform heraus. Unbeholfen hob er ein Ruder, das ihm beim Einsteigen im Weg lag, heraus. Sich aufrichtend, drehte er es mit Schwung in der Luft herum und erwischte mit dem Ruderblatt die Schläfe von Natascha, die daraufhin mit einem kurzen erschrockenen Laut zur Seite ins Wasser fiel.

»Natascha?«

Stille.

2

Freitagabend Rund um den Kopf

Das alte nasse Holzruder wurde aus dem Boot emporgehoben und herumgedreht. Die Bewegung schleuderte größere, kleinere und ganz winzige Wasserpartikel in die Luft. Verteilte diese auf alles, was sich in unmittelbarer Umgebung befand: Personen, Gegenstände, Holzbretter oder zurück auf die Wasserfläche.

Dazu gehörte auch Nataschas Körper. Ihre Arme, Beine und ihr Kopf. Die Partikel trafen ebenso Hautpartien, die nicht von Textilien geschützt waren. Die Oberhaut, die jene feinen Wassertropfen aufnahm, gab das kaum erspürte Auftreffen nicht an das Gehirn weiter. Es war ja nicht mehr, als die Schweißdrüsen im Gewebe der Haut selbst an Flüssigkeit produzieren konnten. Aus diesem Grunde war eine Information an das zentrale Nervensystem nicht notwendig.

Auch der feine Luftzug, der der Luftverdrängung des auf den Kopf zukommenden Holzblattes vorausging, konnte nur ganz leicht von der äußersten Hautschicht wahrgenommen werden. Da jeder Körper ständig geringfügigen Luftdruckveränderungen ausgesetzt ist, war in diesem Fall eine Weiterleitung der Information an das Gehirn unwichtig, obwohl es für Natascha nicht unbedeutend gewesen wäre. Je näher der Fremdkörper dem Kopf kam, desto größer wurde die Chance, es zu bemerken. Die Geschwindigkeit alleine machte dies unmöglich.

Es ging alles so rasch vonstatten, dass das Haupt der jungen Frau dem Ruderschlag völlig ungeschützt ausgesetzt war.

Das etwas schräg gehaltene Ruderblatt knallte auf die Schläfenpartie. Epidermis, Dermis und Subkutis, die drei Hautschichten, platzten in der angegebenen Reihenfolge auf, und die darin liegenden Schweiß- und Talgdrüsen wurden dadurch beschädigt oder zerquetscht. Die auseinanderklaffenden Wundränder stellten sich wellenförmig auf und verfärbten sich, angereichert mit dem wenigen Blut, das aus der Wunde trat.

Die Haut an Nataschas Stirn war lediglich von minimal schützendem, kaum sichtbarem Haar bedeckt, und unter den Hautschichten befand sich so gut wie kein Fettgewebe. Deshalb schlug der Holzkörper mit geringfügiger Abbremsung auf das Schläfenbein ein, verletzte neben weiteren Partien den Schläfenmuskel und beleidigte den Schläfen-Ohr-Nerv, den Nervus auriculotemporalis, auf das Schlimmste.

Der Schädelknochen ist in dieser Region im Vergleich zu anderen Stellen um vieles dünner. Somit übertrugen sich die durch den Schlag ausgelöste Erschütterung und Energie nicht nur auf das gesamte Kopfskelett. Nein, auch das darin befindliche und bis dahin friedlich in seiner Flüssigkeit schwimmende Zerebrum mit all seinen Funktionen bekam einen kräftigen Stoß verpasst. Enorm beschleunigt, stieß das Gehirn auf die dahinter liegende Schädelwand, prallte daran ab und suchte sich austarierend wieder seine ursprüngliche Lage. So wie bei alten Flipperautomaten durch ungestümes Rütteln das berühmte »Tilt« hervorgerufen wurde, schaltete die Zentrale unmittelbar auf Stand-by und ließ die Frau in eine Bewusstlosigkeit gleiten. Den Fall in das Wasser, das Erspüren der sie nun umgebenden Flüssigkeit konnte ihre Haut nicht mehr an die dafür zuständige Abteilung im Kopf melden. Genauso wenig wie andere Sinneswahrnehmungen.

3

Samstag, früher Vormittag Buchberg bei Seewalchen

Das Mädchen saß auf einem weißen weichen Teppich mit langen Fransen. Diese Stelle im Wintergarten war seit Kurzem zu ihrem Lieblingsplatz geworden. Sie versank in ihrer Fantasiewelt. Umgeben von einer für ihr Alter zu großen Anzahl an Spielsachen. Im Moment war sie mit den Kleidern ihrer Puppen beschäftigt, von deren sie mehr als genug hatte. Am liebsten waren ihr die neuen, teilweise fast kitschigen Plastikpuppen, denen sie beim Spielen immer wieder verschiedene Namen gab. Die selbst gemachte gesichtslose Unisex-Puppe ihrer Großmutter, Montessori-Kindergärtnerin, blieb meist unberührt im Vorhaus in einem alten, zur Dekoration aufgestellten Puppenwagen zurück. Nur bei Enkelbesuchen wurde ihr dieses pädagogisch wertvolle Spielgerät, mit inzwischen bestickten Augen, dafür ohne Nase und Mund, von den Eltern als Spielzeug aufgezwungen.

Ihre Mutter war zu einer Nachbarin gelaufen, um sich etwas für die Küche zu besorgen. Es war nie ein Problem, das kleine Mädchen für kurze Zeit alleine zu lassen. Meist blieb es, wo es sich befand, und war mit seinen beinahe vier Jahren sehr vernünftig.

Ganz leise summte Claudia eine Melodie und strich das rosa Kleid ihrer Puppe glatt, nachdem sie es über den Plastikkopf und Körper gezogen hatte. Etwas von draußen lenkte Claudias Aufmerksamkeit ab. War es ein Vogel? Oder eine Katze? Gar eine Katze, die einen Vogel jagte? Sie sah durch die gläserne, nur angelehnte Terrassentür. Die Neugier lockte sie in den Garten, in dem sich der Frühnebel, der oft bis zum späten Vormittag über dem See lag, langsam lichtete. Die Puppe in der Hand erhob sie sich, bewegte sich zur Tür und drückte sie nach außen auf.

Ohne sich umzudrehen, ging die Kleine hinaus. Trat mit ihren schwarzen Kinderschuhen auf das noch feuchte Gras. Sie hörte Vogelgeschrei, konnte es aber, da sie zu jung war, nicht richtig zuordnen. Sie lief über die Wiese auf die Lärmquelle zu. Die Puppe glitt ihr aus den Fingern und blieb einsam im Grünen liegen. Das Grundstück zog sich sanft abfallend zum See hin. Claudia näherte sich dem Ufer und sah durch die letzten abziehenden Nebelschwaden schwarze Krähen aufgeregt am und im flach ausufernden Wasser hin und her hüpfen.

Das Mädchen hob beide Hände in die Höhe und rief:

»Flieg Vogerl, flieg!«

So, wie sie es im Kindergarten gelernt hatte. Eine Krähe flog tatsächlich davon, doch zwei weitere krächzten und pickten an etwas herum, das halb im Wasser lag. Claudia trat näher. Grober, von Menschenhand angeschütteter Kies führte vom Trockenen ins Nasse hinein. In dieser Bucht lief der See seicht am Ufer aus. Das Mädchen bewegte sich auf das im Wasser Liegende zu. Spürte die Feuchtigkeit an den Füßen und zog sich die Schuhe aus, die sie ordentlich nebeneinander ins Gras stellte, so wie es ihr Vater an der Garderobe tat, dessen Ordnungsliebe manchmal an Besessenheit grenzte. Schließlich stieg sie in das ihre Fußknöchel umspielende Wasser, ging in die Knie und zog an den langen Haaren, die im Nassen breit gefächert, wie kunstvoll drapiert, anzusehen waren. Sie kannte dies von einer ihrer Puppen, die sie meist als Nixe verwendet, wenn sie sie mit in die Badewanne nahm.

Es war ein menschlicher Körper, der mit dem Gesicht nach unten halb im Wasser, halb am Ufer lag. Die sanften Wellen hoben ihn ständig auf den Kies ins Trockene und zogen ihn wieder ein Stück zurück.

Eine Krähe saß auf dem durch die Strömung freigelegten Hinterteil, hielt den Kopf schräg und blickte verunsichert und nervös auf das zarte Menschlein am Ufer. Der Vogel spannte die Flügel aus, schlug damit einmal, zweimal, als ob er wegfliegen würde, und faltete sie schließlich wieder zusammen. Dabei hob er abwechselnd die Krähenfüße, um die Krallen erneut fester in das blasse Fleisch zu versenken. In Sekundenschnelle hackte der Vogel in die nackte Haut unter sich. Hob darauf drohend den Kopf, einen Hautfetzen aus dem Schnabel hängend, nur um zu sehen, ob ihm das neu angekommene, fremde Wesen den riesigen Leckerbissen abspenstig machen wollte. Ein kurzes, einschüchterndes Krächzen, das Mensch zu verstehen geben sollte, sich möglichst rasch zu entfernen.

»Nicht schimpfen!«, sagte das Mädchen, deutete der Krähe mit erhobenem Zeigefinger und legte die Stirn in Falten, ihre zweite, nicht Montessori