Seelenglut - Erich Weidinger - E-Book

Seelenglut E-Book

Erich Weidinger

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Beschreibung

Während Landpolizist Werner Adler bei einer Taufe auf Korfu griechische Erlebnisse der dritten Art erfährt, wütet daheim am Attersee ein Feuerteufel. Kaum zu Hause und zurück im Dienst, wird der Polizist selbst mit Feuerlegung und einem Todesfall konfrontiert. Wer beschäftigt auf so kriminelle Weise die Feuerwehren von Unterach? Ist der Täter etwa in den eigenen Reihen zu suchen? Und was hat das alles mit Adler und seinem Privatleben zu tun? Drei Tage, eine Menge Probleme …

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Erich Weidinger

Seelenglut

Krimi aus dem Salzkammergut

Zum Buch

Feuer im Paradies Landpolizist Werner Adler begleitet seine geliebte Helena und ihren Sohn Alexandros nach Korfu, wo sie als Patin bei einer griechisch-orthodoxen Taufe fungiert. Die griechischen Begegnungen der dritten Art hätte Werner sich etwas anders und vor allem friedlicher vorgestellt. Er denkt schon an den nächsten Tag, an dem er seinen Dienst aushilfsweise in Unterach, der südlichsten Gemeinde am Attersee antreten wird. Dort wütet inzwischen ein Feuerteufel und hält vor und während des traditionellen Kastanienfests die Feuerwehren in Atem. Doch was hat das alles mit Werners Jugendfreundin Ingeborg und dem IT-Beni zu tun, den er um geheime Recherchen zu Helenas Familie und deren Vorgeschichte gebeten hat? Als wäre das alles noch nicht genug, wankt auch der Friede in seiner Beziehung zu Helena. Drei Tage, die Adler wieder einmal ein fast unmögliches Durchhaltevermögen abverlangen.

Erich Weidinger wuchs am Attersee im oberösterreichischen Salzkammergut auf – dem Lieblingsrefugium vieler Künstler. Nach einer Friseurlehre und einer pädagogischen Ausbildung arbeitete er mehrere Jahre mit benachteiligten Kindern. Wegen der Liebe zur Literatur wechselte er in den Buchhandel und begann selbst zu schreiben. Die Leseförderung ist ihm sehr wichtig, deshalb hat er mehrere Anthologien für Kinder und Erwachsene herausgebracht.

»Seelenglut« ist nach »Seelenfriede«, »Seelenblick« und »Seelensturm« sein vierter Kriminalroman aus dem Salzkammergut.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Schauplätze sind real, doch wurden für die Dramaturgie Gebäude, Straßen und dergleichen ebenfalls erfunden.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Erich Weidinger

ISBN 978-3-7349-3068-3

Widmung

Allen Frauen und Männern der Freiwilligen Feuerwehr gewidmet, die sich täglich mit dem Einsatz ihres Lebens für andere einsetzen.

Karte

1. Samstagsausgabe des Printmediums »Salzkammergut Report« Rubrik: Menschen aus der Gegend

Vom Zufall zum YouTube-Star: Polizist am Attersee wird zum Internetphänomen.

Schörfling am Attersee: Was als gewöhnlicher Arbeitstag begann, entwickelte sich für Gruppeninspektor Werner Adler aus Schörfling zu einem wahrhaft außergewöhnlichen Phänomen. Innerhalb weniger Wochen avancierte der Polizist zum Internetstar, nachdem ein kurzes Video von ihm die digitale Welt im Sturm eroberte. Der 37-jährige Adler, der erst kürzlich seinen Familiennamen Zufall hinter sich ließ und einen neuen Namen annahm, konnte sein Glück kaum fassen. Der Vorfall ereignete sich vergangenen Sommer, als der uniformierte Beamte wie so oft mit dem Dienstboot auf dem Attersee unterwegs war. Auf einem nahe gelegenen Partyboot feierte eine Gruppe junger Menschen ausgelassen mit der Musik des oberösterreichischen Ausnahmekünstlers Parov Stelar. Kaum vernahm er die Melodie von »Catgroove«, konnte sich Werner Adler nicht mehr zurückhalten und fing spontan an, auf dem Boot zu rappen. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, war, dass eine Zuschauerin sein Talent mit dem Handy festhielt und das Video später im Internet veröffentlichte.

Im Laufe weniger Wochen verbreitete sich der Clip mit einer rasenden Geschwindigkeit von 100.000 Klicks viral im Netz. Aktuell nähert sich die Zugriffszahl sogar der 200.000er-Marke. In kürzester Zeit wurde der ungewollte Ruhm zum Alltag für den bescheidenen Polizisten. Überrascht und amüsiert zugleich erklärte Werner Adler, dass er niemals erwartet hätte, dass gerade dieses für ihn so unspektakuläre Video eine solche Welle der Begeisterung und Belustigung auslösen könnte.

Inzwischen hatten sich sogar ausländische Presseagenturen bei dem Polizisten gemeldet, um über seine unerwartete Bekanntheit zu berichten. Um diesem überraschenden Ansturm Herr zu werden, bat Adler seinen pensionierten Vater, die zahlreichen Anfragen zu bearbeiten. Er wolle trotz des plötzlichen Ruhms weiterhin seinen Dienst als Polizist in Ruhe ausüben.

In jüngster Vergangenheit wurde bekannt gegeben, dass das Management von Parov Stelar Werner Adler zu einem Live-Event im kommenden Frühjahr nach Linz einladen möchte. Damit eröffnet sich dem Polizisten eine einzigartige Gelegenheit, den Musiker persönlich kennenzulernen und möglicherweise sogar mit ihm gemeinsam aufzutreten. Ein Aufeinandertreffen zweier so unterschiedlicher Stars verspricht, eine spannende Begegnung zu werden.

Wir werden die weiteren Entwicklungen genau verfolgen und über das mögliche Treffen zwischen dem Musiker und dem Polizisten berichten. In der Zwischenzeit können Sie das Video, das ebenfalls unzählige Male von unseren eigenen Redaktionsmitgliedern angesehen wurde, über den auf der Online-Ausgabe vom Salzkammergut Report hinterlegten YouTube-Link finden.

2. Samstag, früher Nachmittag

Korfu, Griechenland

Werner Adler musste nicht an das ständige Läuten des eigenen Smartphones denken, das er bei seinem Vater Jakob am Attersee zurückgelassen hatte. Er wollte sich hier auf Korfu nicht von den Anfragen der lästigen Presseleute traktieren lassen. Er gab Alexandros, dem Sohn seiner Lebensgefährtin, ein Zeichen, das Telefon seiner Mutter vor dem Betreten der Kirche auszuschalten.

Der sakrale hohe Raum mit der von Ikonen besetzten Rückwand, die gleichzeitig als Zwischenwand diente, war für sein Dafürhalten zu dunkel gehalten – selbst für eine orthodoxe Kirche. So dachte er zumindest, denn am Vortag hatte er das erste Mal eine solche besucht. Und heute erneut. Bereits das Eintreten durch das große Portal löste nicht nur bei ihm ein ehrfürchtiges Verhalten aus. Die leise und doch gut wahrnehmbare musikalische Beschallung – ein religiöser Gesang, der Werner Adler an gregorianische Choräle erinnerte – schnitt den Lärm von draußen ab. Die schmalen korfiotischen Marktgassen der Inselhauptstadt waren trotz der letzten Oktobertage reichlich von Touristen bevölkert, wenn auch nicht in sommerlichem Ausmaß.

Kein katholisches Gotteshaus in Österreich wirkte für ihn nur annähernd so andächtig wie diese griechisch-orthodoxe Kirche, einem Heiligen gewidmet, dessen Namen er sich nicht merken konnte, es auch gar nicht versuchte.

Seine Freundin Helena stand vorne am goldglänzenden Taufbecken, das aus dickwandigem Messing gefertigt war. Im Arm trug sie ein sechs Monate altes Baby, die Tochter ihrer Cousine Gaia. Das Mädchen erhielt erst mit der heute bevorstehenden Zeremonie ihren richtigen Namen, den die Taufpatin, in diesem Fall Helena, nach dem zeremoniellen Akt mit geweihtem Wasser laut aussprechen sollte. Werner drängte sich der kuriose Gedanke auf, was wohl passieren würde, wenn sie statt des vorher vereinbarten Namens einen völlig anderen verlautbaren würde. Nach religiösem Gesetz galt der von den Pateneltern ausgesprochene Vorname als verbindlich.

Helena, die gebürtige Griechin, in Deutschland aufgewachsen und nun mit ihrem elfjährigen Sohn als alleinerziehende Mutter im österreichischen Salzkammergut lebend, war vergangenen August von ihrer Verwandten gebeten worden, hier auf ihrer Heimatinsel Korfu Taufpatin zu werden. Stolz und voller Freude hatte sie ohne zu zögern zugesagt. Selbst vor vielen Jahren ebenso auf dieser Insel griechisch-orthodox getauft, war sie in Deutschland in Ermangelung orthodoxer Kirchen jedoch katholisch erzogen worden.

Ein Termin für dieses wichtige Sakrament war schnell gefunden worden, denn zwischen dem 26. Oktober, dem österreichischen Staatsfeiertag, und dem Wochenende nach dem 1. November waren die Schulen landesweit geschlossen, und ihr Sohn Alexandros konnte sie somit begleiten, ohne vom Unterricht befreit zu werden. Nach den Geschehnissen des Sommers, in dem sie ihn für kurze Zeit in Werners Obhut gegeben hatte, wollte sie denselben Fehler nicht noch einmal wiederholen, und Werner pflichtete ihr in dieser Sache nur allzu gern bei. Er war dienstlich oft genug gezwungen, Verantwortung für andere Menschen und Dinge zu übernehmen, und war froh, wenn er in seiner Freizeit davon verschont blieb.

Werner Adlers Polizeikollegen am Attersee hatten für ihn den Dienst getauscht, um ihm die Begleitung seiner geliebten Helena zu ermöglichen. Sollte er am Sonntag wie geplant vormittags in Salzburg eintreffen, seien sie jedoch froh, wenn er am Nachmittag die Arbeit so früh wie möglich antreten könne. Er war für einen Monat dem Dienst in Unterach zugeteilt, und der Sonntag sollte sein erster Tag dort sein.

Helena hatte ihn zu Hause über den bevorstehenden Ablauf der Feier informiert. Sie allein werde mit dem Säugling und dem Priester, von den Griechen Pappas genannt, am Taufbecken stehen und das Kind erst nach der heiligen Taufe den Eltern übergeben dürfen. Der religiösen Tradition zufolge müsse das nackte Baby dreimal zur Gänze ins Wasser getaucht werden, doch die junge Mutter war sich mit der griechisch-deutsch-österreichischen Taufpatin einig darüber, dass sie dies auf keinen Fall zulassen wollten, um dem Mädchen eine mögliche Traumatisierung in seinem so jungen Leben zu ersparen. Helena hatte Werner auf YouTube ein Video gezeigt, in dem ein orthodoxer Priester mehrmals mit Gewalt ein Baby ins Becken tauchte, obwohl sich dieses schreiend und strampelnd dem zu entziehen versuchte. Ein solches Vorgehen und die daraus resultierende Erfahrung wollten sie dem kleinen Mädchen nicht zumuten. Zum Glück gab es inzwischen kirchliche Patriarchen, die eine gemäßigtere Taufzeremonie vorzogen.

Bei der Begrüßung vor der Kirche hatte es dann jedoch eine gewisse Aufregung gegeben, die Werner zuerst nicht nachvollziehen konnte, da er der griechischen Sprache nicht mächtig war. Alexandros, der zwar nicht alles wörtlich, aber zumindest inhaltlich verstand, hatte ihn aufgeklärt. Der zur Taufe vorgesehene Patriarch hatte sich heute Morgen bei einem Sturz über eine Treppe das linke Bein gebrochen, und somit sollte ein anderer, älterer Priester das Erteilen des Sakramentes übernehmen. Dieser bestand darauf, bei der Segnung an der ursprünglichen Tradition festzuhalten. Es wurde lange diskutiert, bis die Frauen und Männer übereinkamen, das Kind nur einmal statt dreimal kurz ins Wasser zu tauchen. Es war an den Gesichtern der Kirchenmänner deutlich abzulesen gewesen, wie sehr ihnen die Einmischung der dominanten Frauen widerstrebte.

Werner, der nach seiner Zeit als Ministrant und Mitglied in der Weyregger KJ, der ortsansässig geführten katholischen Kinder- und Jugendgruppe, nicht mehr für religiöse Belange zu begeistern war, hatte den Diskurs und die letzten Vorbereitungen mit einem innerlichen Kopfschütteln verfolgt. Alexandros war das Unverständnis aufgrund seiner eindeutigen Mimik nicht entgangen, hatte gegrinst, was Werner ebenfalls wahrgenommen und seinerseits mit einem Lächeln beantwortet hatte. Er hatte mit einer väterlichen Geste über das dunkle Haupt des Halbgriechen gestrichen, der, so wie er, nur katholisch getauft war.

Während der Vorbereitungen zum Flug auf die größte ionische Insel hatte Werner in Helenas Wohnung zufällig Bankpapiere entdeckt, die auf einen Kredit hinwiesen, den sie für diese Reise aufgenommen hatte. Obwohl es ihn nichts anging, hatte er seine Freundin zur Rede gestellt und gefragt, weshalb sie das Geld benötige, und vor allem, warum sie ihn nicht gebeten habe, ihr finanziell auszuhelfen. Sie hatte ihm eröffnet, dass in Griechenland die Paten für die Taufe aufzukommen hätten. Taufkerze, Taufkleider, ein edles Kreuz zum Umhängen, den Obolus für die Kirche und einiges mehr habe sie als Patin zu begleichen. Die Flüge für sie und ihren Sohn seien selbst in der Nebensaison wahrlich nicht günstig. Und ihn um Geld zu bitten, habe sie deshalb nicht vor, weil das die Partnerschaft nur unnötig belaste. Mit einigen Überstunden in dem smarten Hotel am Attersee, in dem sie als Mädchen für alles arbeitete, sowie mit Erhalt des Weihnachtsgeldes Ende November könne sie den Kredit bald begleichen. Damit war das Thema für sie abgehakt gewesen. Helena war in manchen Sachverhalten hartnäckig und uneinsichtig. Das hatte Werner inzwischen mehrmals festgestellt. Er wusste, dass sie sich über die Anfrage der Patenschaft wahnsinnig gefreut hatte und bereit war, nahezu alles in Kauf zu nehmen, um dieser ehrenvollen Aufgabe keine Abfuhr erteilen zu müssen.

Am Vortag der Taufe waren sie in den Gassen der Stadt rund um die Kirche des Inselheiligen unterwegs gewesen. Wieder ein Name, der schwer zu merken war: Spyros … oder so ähnlich. Helena hatte es aufgegeben, ihm die Geschichte von Àgios Spyrídon näherzubringen, womit er wiederum kein Problem hatte. Im Gegenteil. Er hätte gewiss kein Verständnis dafür aufgebracht, noch dazu, da der Heilige nicht einmal von Kerkyra abstammte und erst als Toter vom Zyprer zum Korfioten wurde.

Cousine Gaia, die Mutter des Kindes, hatte inzwischen einige der benötigten Sachen für Helena besorgt, doch das Taufkreuz beabsichtigte die Patin unbedingt selbst auszusuchen und zu kaufen.

Die Altstadt war für einige Stunden gefüllt mit Touristen, die zwei riesige Kreuzfahrtschiffe im nahen Hafen ausgespuckt hatten. Bei der Fahrt nach Kerkyra, wie die Hauptstadt sowie die Insel hier von den Bewohnern genannt wurde, blieb Werner die Luft weg. Schockiert ob der monströsen Wasserfahrzeuge, die der Altstadt mit ihren zwei historischen Festungen von Ferne ihre Beschaulichkeit abspenstig machten, schüttelte er den Kopf. Doch war ihm bewusst, dass die meisten der Korfioten von den Touristen lebten. Es drängte sich ihm die Worthülse »sanfter und nachhaltiger Tourismus« auf, von dessen Umsetzung er für solch eine Insel keine Vorstellung hatte. Zu Hause am Attersee wünschten sich viele Einheimische mehr Touristen, dafür weniger sogenannte Zweitwohnbesitzer, und hier verhielt sich das Problem in ganz anderen Dimensionen, die die beschauliche Fantasie vieler Atterseebewohner ins Unglaubliche steigern würde.

Helena hatte ihre beiden Männer in einen hell erleuchteten, winzigen Laden geführt, der mit Ikonen und spirituellen Devotionalien vollgestopft gewesen war. Mit ihnen und der älteren, freundlich lächelnden Verkäuferin schien die Aufnahmekapazität des Mini-Geschäftes erreicht worden zu sein. Nach ein paar ausgetauschten griechischen Worten hatte die Frau zwei geblisterte, mit weißem Leder überzogene Präsentierteller hervorgezogen, auf denen eine Menge kleiner Kreuze befestigt waren.

Um den Wortschwall der Korfiotin zu unterbrechen, hatte sich Helena zu Werner und Alexandros umgedreht, damit sie ebenfalls die verschiedensten Versionen begutachten konnten. Der Junge hatte auf ein goldenes Kreuz mit einer silbernen Jesus-Figur getippt.

»Agàpi mou, wir haben den gleichen Geschmack.«

Den Blick auf Werner gerichtet, wollte sie auch seine Zustimmung erheischen.

»Was meinst du, mein Großer?«

»Ich würde eines ohne Gekreuzigten nehmen. Die andern finde ich kitschig«, fügte er ehrlich an.

Erneut hatte sich die Verkäuferin eingemischt, um die Qualität und die Vorzüge des in Augenschein Genommenen zu loben. Das Preisetikett war Werner erst jetzt aufgefallen.

»Bist du deppert! 390 Euro! Wir wollen doch nicht den ganzen Laden kaufen.«

»Beruhige dich. Das ist das wichtigste Taufgeschenk, und das kostet natürlich etwas. Außerdem kaufe ich es und nicht wir!«

Mit der Verkäuferin hatte Helena erneut ein paar griechische Wörter gewechselt und auf das gewünschte Kreuz gezeigt. Werner, wie ein Walross schnaubend und der Möglichkeit beraubt, weiter seinen Einwand vorzubringen, wurde auf ihre Aufforderung hin von Alexandros aus dem Laden gezogen. Somit waren ihm die Preise der weiteren notwendigen Utensilien, wie Taufkerze, Taufschatulle und was noch alles in der faltbaren Sporttasche Platz gefunden hatte, entgangen.

Die ältere Dame und Helena, beide mit zufriedenem Lächeln, waren abschließend auf die schmale Gasse herausgetreten, um sich voneinander zu verabschieden. Da Werners aktiver griechischer Wortschatz bisher nur aus zwei Wendungen bestand – kaliméra und efcharistò –, hatte er nichts davon verstanden, was die alte Griechin sagte, als sie ihm eine winzige hölzerne Ikone in die Hand drückte. Nachdem er sich verwirrt mit kaliméra bedankt hatte, was aber so viel wie »Guten Tag« hieß, hatte er peinlich berührt versucht, sich zu entschuldigen.

Die Griechin hatte milde gelächelt und war in ihren Heiligenshop zurückgeschwebt. Kein Wunder bei dem Umsatz, da war das kleine hölzerne Geschenk in seiner Hand lediglich eine freundliche Geste, so wie man in Österreich in manchen Geschäften ein Zuckerl bekam.

Das Minikreuz, geziert mit einem bunten, kitschigen Bildnis eines Heiligen, über dem ein kleines Loch eingestanzt war, bot die Möglichkeit, ein Band oder Kettchen einzufädeln. Nie im Leben wäre Werner auf die Idee gekommen, sich so etwas umzuhängen.

Helena hatte ihm zärtlich über den Oberarm gestrichen: »Oh, wie nett von ihr! Du musst sie küssen!«

»Was? Bist du verrückt? Warum sollte ich eine alte, mir unbekannte Griechin küssen? Geht’s noch?«

»Nein, Werner. Du bist manchmal echt begriffsstutzig. Die Ikone sollst du küssen und nicht die Frau!«

Er war nur zu einem ungläubigen Kopfschütteln fähig gewesen und hatte das winzige hölzerne Ding fragend angesehen, als überlegte er, ob er nun doch die Frau oder dem unnützen Holzplättchen auf seiner Handfläche einen Kuss aufdrücken sollte. Alexandros hatte amüsiert gegrinst und beobachtet, wie der Freund seiner Mutter ihr die Miniikone entgegengestreckte, da er nicht wusste, was er damit anfangen sollte.

Helena hatte mit einer gewissen Ironie in der Stimme gesagt: »Gut, dann kannst du sie wenigstens weihen lassen, in dieser Kirche hier.« Sie zeigte auf den gegenüberliegenden Eingang einer hoch aufragenden Kirche, die er bisher nicht als solche wahrgenommen hatte.

»Agios Spyridon, der auf dem Bildchen, hat dort seine letzte Ruhestätte gefunden.« Mit diesen Worten war sie durch die riesige Seitentür der Kirche getreten, und den beiden Männern war nichts anderes übrig geblieben, als ihr zu folgen.

In diesem heiligen Gebäude wurden tatsächlich die Gebeine des Inselheiligen aufgebahrt. Viele gläubige Inselbewohner und Besucher pilgerten hierher, um ihm die Füße zu küssen, was auch Helena verkündete, vorzuhaben.

Werner meinte abermals, sich verhört zu haben. »Das ist jetzt ein Scherz, nicht wahr? Du willst wirklich einem Toten die Füße küssen?« Verwundert, eine plausible Erklärung fordernd, hatte er seine Geliebte angeblickt. Selbst dem Jungen, der in Österreich nur Alex genannt werden wollte, war das Entsetzen anzusehen. Das Amüsement eines Außenstehenden war ihm in Sekundenschnelle abhandengekommen.

»Das gehört zum Ritual. Bei jedem Aufenthalt auf Korfu besuche ich unseren Agios und erweise ihm meine Huldigung. Letztes Mal habe ich es bei einem Ausflug ohne euch gemacht.«

»Tss … Wäre es nicht hygienischer, wenn du ihm nur zuwinkst? Oder ihm einfach die Füße wäschst, so wie es der Papst alle heiligen Zeiten bei armen Menschen macht? Du kannst es gerne bei mir zuerst versuchen.«

Der ironische Vorschlag hatte Alexandros zu einem erleichterten Glucksen verleitet. Währenddessen war Werner weiterhin bemüht, die Totenbegegnung der dritten Art abzuwenden: »Liebe Helena, meine Phobie Verstorbenen gegenüber nimmt keine Rücksicht auf das Datum ihres Ablebens.«

Den Jungen plagte noch eine andere Sorge: »Mamá, ich muss das aber nicht machen, oder? Parakalo peite oxi!« Er hatte tatsächlich Angst, dem bigotten Beispiel seiner Mutter folgen zu müssen.

Werner, die Hände von hinten beschützend auf die schmalen Schultern des Jungen gelegt, war zum verbalen Kampf gerüstet und preschte vor. »Nein, wir dürfen das gar nicht, Alex. Wir zwei sind katholisch getauft. Also sind wir so etwas wie Ungläubige. Aber, Helena, solltest du das wirklich machen, werden wir zwei Männer dich erst wieder küssen, wenn du dir den Mund gewaschen, die Zähne geputzt und den Rachen gespült hast.« Und verschwörerisch zu Alex gewandt ergänzte er: »Möge die Reinheit mit uns sein.«

Zur Bekräftigung dem Sohn der anscheinend Wahnsinnigen die offene erhobene Hand zum Einschlagen hingehalten, hatte dieser die Geste sofort nachvollzogen, was in dem Kirchenraum ein klatschendes Echo auslöste. Zum Unbehagen Helenas. In einer Kirche war so ein Verhalten natürlich unerwünscht. Doch im Gewusel der Touristen hatte es kein Aufsehen erregt. Die Pappas waren inzwischen an unangemessenes Verhalten von nicht orthodoxen Besuchern gewöhnt.

Die beiden Star-Wars-Fans hatten mit verschwörerischer Einstimmigkeit verweigert, sich in die Warteschlange einzureihen, um den engen Raum mit dem goldenen Sarg zu betreten. Und mit stiller, doch merkbarer Belustigung beobachteten sie durch den offenen Eingang, wie vorwiegend Frauen sich vor dem Schrein bekreuzigten und sich über die offene Stelle des Sarkophags beugten. Detailgetreu wollte sich Werner das Ganze nicht vorstellen, und die zu Ekel verzogenen Gesichtszüge von Helenas Sohn erübrigten jegliche Deutung.

Nachdem Helena sich ein dünnes Tuch über ihre rötliche Haarpracht gezogen hatte, beugte sie sich wie ihre Vorgängerinnen in den goldenen Schrein. Den beiden Verweigerern war der Blick in den Sarg und auf die Füße des Heiligen, die in roten, samtbestickten Schuhen steckten, erspart geblieben. Grausame Bilder waren jedoch vor ihren inneren Augen entstanden, die Werner schnell wieder zu verdrängen versuchte.

Nach einigen geschlagenen Kreuzzeichen hatte Helena dem betenden, beistehenden Patriarchen einen handbeschriebenen Zettel überreicht. Werner und Alexandros, durch ihre sichtliche Abscheu nun doch Aufsehen erregend, hatten verärgerte Blicke anderer Gläubiger auf sich gezogen. Sie waren von den Insulanern sicherlich als rüpelhafte Kreuzfahrtschiffsreisende schubladisiert worden.

Helena, mit erhabener Miene und ohne einen weiteren Blick auf ihre Gefolgschaft zu verschwenden, hatte die Kirche durch einen seitlichen Ausgang verlassen, als wäre sie allein hierhergekommen.

Neben dem Seiteneingang war ein Altar mit dem Bildnis des Inselpatrons aufgebaut, bei dem sie drei dünne Stabkerzen von einer Selbstbedienungsvorrichtung nahm, um jedem der Männer eine zu überreichen.

»Zumindest eine Kerze solltet ihr hier spenden. Morgen bei der Taufe erwarte ich mir von euch mehr Ehrfurcht und religiösen Respekt.«

Unter strengem Blick hatten Freund und Sohn, wie reuige Sünder mit gesenktem Kopf und heimlichem Lächeln auf den Lippen, die Kerzen angezündet und sie neben vielen anderen flackernd in ein dafür vorgesehenes Sandbett gesteckt. Werner hatte dem Jüngeren dabei zugeflüstert: »Ich dachte immer, wir zwei sind die einzigen Männer, die deine Mutter küsst!«

Diese Worte hatten Alexandros so zum Lachen animiert, dass dadurch mehrere der aufgestellten Kerzen zum Erlöschen gebracht worden waren.

3. Samstag, früher Nachmittag

Unterach am Attersee

Er hatte ihr Eintreten nicht bemerkt, der Song »Angry« von den Rolling Stones dröhnte durch den Raum.

»Dreh das bitte ab!«

Benno zuckte von seiner Computertastatur zurück. Erst als er sah, wer ihn so erschreckt hatte, lächelte er erleichtert. Beschäftigt mit dem Überprüfen der Zahlen, die er auf zwei Bildschirmen durchscrollte, hatte er die Außenkamera nicht mehr im Blickwinkel gehabt und dadurch ihre Annäherung nicht registriert.

»Ich sagte, dreh die Musik ab!«

Er regelte die Lautstärke zurück und war schon im Begriff, das neue Album der Stones zu loben, als Ingeborgs ernster Gesichtsausdruck ihn davon abhielt. Er schaltete den Ton zur Gänze ab.

»Jetzt reicht es mir! In Zukunft kannst du dir die Post selbst aus Mondsee abholen! Was denkst du dir eigentlich, meinen Namen für dein Postfach zu verwenden?«

Es war ihr anzusehen, wie sauer sie war. Sie knallte zwei dicke, mit Versandetiketten versehene Kartontaschen neben ihn auf den Schreibtisch, wobei sie dadurch eine offene Chipspackung von der Tischkante fegte.

»Benno, kannst du mir erklären, wie du auf diese Schnapsidee kommst? Das geht gar nicht! Ich habe immer wieder das Gefühl, dass du meine Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft nur ausnützt.«

Sie strich mehrmals ihre dunklen Haare zurück, die auf Kinnhöhe in einer sachten Föhnwelle endeten. Ein kleiner Tick, den Benno an ihr mochte und der ihn hin und wieder zu einem Schmunzeln verführte. Doch in diesem Moment war ein Lächeln nicht angebracht.

Er drehte sich auf dem extrabreiten und massiven Bürostuhl zu ihr um. »Ingeborg, es tut mir leid. Das war nur für ein paar bestimmte Sendungen. Ich werde deinen Namen in Zukunft nicht mehr verwenden. Ich werde das Postfach abmelden. Versprochen.« Treuherzig und schuldbewusst blickte er zu ihr auf.

Sie erhob sich mit strengem Blick über ihn wie eine Lehrerin über einen reumütigen Schüler, was ihn an alte, schwarz-weiße Kinderfilme erinnerte, die er sich gerne ansah, obwohl er bereits einer ganz anderen Film-Generation angehörte. Ein grauer Haarknoten an ihrem Hinterkopf hätte das Klischee noch komplettiert. Nun zuckten seine Mundwinkel doch für den Bruchteil einer Sekunde nach oben. Es entging ihr leider nicht.

»Findest du das witzig, oder was?« Sie bückte sich, hob die Chipspackung auf und warf sie ihm gegen die breite Brust, die ohne erkennbare Abgrenzung in ein riesiges Fettpolster überging, das auf den mächtigen Oberschenkeln lag und sie somit fast zur Gänze bedeckte.

»Was ist denn so Wichtiges in diesen Kuverts, dass du sie dir postlagernd schicken lässt?«

Mit verschwörerischem Ausdruck in der Stimme meinte Benno nur: »Glaub mir, Ingeborg, das möchtest du nicht wissen. Tut mir ehrlich leid, ich wusste nicht, dass es dich so verärgert.«

Ingeborg schnaubte. Der Verdacht, dass sie ihm Päckchen mit erotischem Inhalt gebracht haben könnte, drängte sich ihr auf. Wenn es so war, wollte sie tatsächlich nichts Genaueres darüber wissen. Doch das war trotzdem kein Grund für dieses Vorgehen, und sie gab sich deshalb auch nicht damit zufrieden: »Ich verstehe bis heute nicht, weshalb du überhaupt ein Postfach benötigst! Unterach hat bestimmt nette Briefträgerinnen, so wie wir in Nußdorf, und einen Postpartner im Ort gibt es auch. Ein Elektrogeschäft!«

Benno blickte beschämt zu Boden und sprach leise, mehr zu sich selbst als zu ihr: »Ich will nicht, dass jemand anderes hereinkommt. Du weißt schon, warum. Die Paketfahrer legen alles draußen unter die kleine Bank beim Eingang.«

Ja, sie wusste, dass er sich seines fetten Körpers schämte, ebenso wegen des Zustands des Wohnraumes, in dem es nur so von Papierstapeln, Verpackungsmüll und anderem Unrat wimmelte. Ihr Zorn hatte sich beinahe verflüchtigt, und sie sah sich in dem stickigen Raum um, der dringend mal wieder durchgelüftet werden sollte.

Benno drehte sich zurück zu den Bürotischen, die, in einem L zusammengestellt, Platz für die zwei großen Computerbildschirme, einen Drucker und zwei Tastaturen boten. In drei übereinandergestellten Türmen von Bürokörben stapelten sich vorwiegend statt Papieren und Dokumenten verschiedenste Süßigkeiten und deren leere Verpackungen.

Er zog an einer schmalen Schublade an seinem Schreibtisch und entnahm ihr einen Hunderteuroschein.

»Hier, als Kilometergeld und Entschädigung für deinen Ärger. Wird nicht wieder vorkommen, Ingeborg. Bitte bleib mir gut gewogen, was soll ich denn ohne dich machen?«

Sein verzweifelter Blick vertrieb ihren restlichen Ärger. Sie schnappte sich das Geld und nahm neben ihm auf einem gewöhnlichen Holzstuhl Platz, den sie dazu erst von weiteren leeren Süßigkeiten-Verpackungen befreien musste. Dann rutschte sie damit auf Benno zu, drehte ihn so zu sich, dass er nicht umhinkam, sie anzublicken, und nahm seine Hände in ihre. »Beni. Ich sag es dir nochmals. Wenn du so weitermachst, weiß ich nicht, ob du Weihnachten noch erleben wirst. Du musst auf deinen Körper achtgeben. Nur hier zu sitzen und alles in dich hineinzumampfen, was dir in die Hände kommt, ist keine Zukunftsperspektive. Wann bist du das letzte Mal im Freien gewesen?«

Er zuckte mit den Schultern und sah sie mit treuherzigen Augen an, in denen sie seine Verzweiflung ablesen konnte.

»Dachte ich mir, dass du das gar nicht mehr weißt. Beni, ich mag dich! Trotz deines Fehlverhaltens und deiner Sucht. Wirklich. Aber du darfst meine Freundschaft und Hilfsbereitschaft nicht bis aufs Letzte ausreizen, klar? Du brauchst jetzt nicht zu antworten, denn ich habe keine Zeit mehr. Heute Nachmittag ist das Unteracher Kastanienfest, da helfe ich mit. Am Montag nach dem Mittagessen machen wir gemeinsam sauber. Merke dir das gleich mal vor. Und den ganzen Müll hier«, sie zeigte auf die am Boden liegenden angerissenen Verpackungshüllen und den anderen Mist, »den verräumst du selbst bis dahin. Okay?«

Das war keine Bitte, sondern ein Befehl, und er war im Bilde, dass er diesen auszuführen hatte, wollte er sie nicht endgültig als Freundin und vor allem als Helferin verlieren. Obwohl die beiden nicht mal verwandt waren und sie um einiges älter war als er, kümmerte sich niemand so sehr um ihn wie Ingeborg. Er war regelrecht auf sie angewiesen.

Beim Verlassen des Raumes, der rechts in einen ebenso vollgestopften Gang hin zum Eingang führte, gerade mal so breit, dass er mit dem Bürostuhl durchrollen konnte, merkte sie mit bitterem Tonfall an: »Und geh mal wieder duschen. Du riechst!«

Er schob sich mit der Kraft seines Fußes, der mehr Ähnlichkeit mit dem eines Elefanten hatte, vom Tisch weg und rief: »Danke, Ingeborg. Du bist ein Schatz! Bitte nicht zusperren, ich bestelle mir für den Abend eine Pizza. Ich schließe später selbst ab.«

Eine Portion würde nicht ausreichen, doch so eine kleine, ausgesprochene Selbsttäuschung beruhigte sein schlechtes Gewissen sich selbst gegenüber.