Seelenfänger - Andreas Brandhorst - E-Book
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Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Zacharias Calm verfügt über eine besondere Gabe: Als »Traveller« kann er mit dem Bewusstsein anderer Menschen in Kontakt treten. Mit seiner Fähigkeit trägt er maßgeblich zur Aufklärung von Straftaten bei. Eines Tages kehren plötzlich andere »Traveller« von ihren Reisen in das Bewusstsein ihrer Klienten nicht mehr zurück. Wohin sind sie verschwunden? Steckt ein Verbrechen dahinter? Gemeinsam mit der Therapeutin Florence macht sich Zacharias auf die Suche nach seinen Kollegen. Es beginnt eine gefährliche Mission in mentalen Welten, bei der die Grenze zwischen Realität und Traum schon bald verschwimmt. Und dann stehen Zacharias und Florence einem skrupellosen Gegner gegenüber, der sogar die Realität bedroht ...

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© Piper Verlag GmbH, München 2019

Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München 2012

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, Markus Weber unter Verwendung von Thinkstock Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Streng-Geheim-Akte

Ein neugieriger Mann

Die Foundation

1 - Die Sonne hing ‎…‎‎

2 - Das Licht der Pazifiksonne ‎…‎

Penelope

Stadt im Meer

3 - Ein sicherer Ort, ‎…

4 - Zacharias und Florence traten ‎…‎

5 - Im Zickzack rannte ‎…‎

Schnittstellen

Der Seelenfänger

6 - Hochhäuser gerieten ‎…‎

7 - Es war erstaunlich ‎…

8 - Zacharias zögerte, ‎…

9 - Vielleicht stecken wir ‎…

Emergenz

Ein Anfang

10 - Ein Messer steckte ‎…‎

11 - Das Messer war ‎…

12 - Die erste Station ‎…

13 - ‎»Florence?«, brachte Matthias ‎…‎

Ein Erwachen

Eine weiße Tür

14 - Die Etagen der Foundation ‎…

15 - Die erste Überraschung ‎…

16 - Zacharias ließ ‎…

17 - In Kattarat fuhren ‎…

18 - Hier sind wir ‎…

Am Abgrund

Die Festung

19 - Matthias und das Admin-Büro ‎…‎

20 - Florence trug nicht ‎…

21 - Sie hatten es auf ‎…‎

22 - Sie waren früh losgegangen, ‎…‎

Vom Himmel gefallen

Lassonde Willkommen in der Realität I

23 - Benedict zog ‎…‎

24 - Vielleicht lag es an der Einsamkeit, ‎…‎

Container

Lassonde Willkommen in der Realität II

25 - Das Luftschiff ‎…‎

26 - Erasmus und die anderen ‎…‎

27 - Protektor hatte ‎…‎

Weltensplitter

28 - Eine nahe Explosion ‎…‎

29 - ‎»Er hat ihn erschossen!«, ‎…

30 - Kälte erwartete ihn, ‎…

Ein göttliches Anliegen

31 - Ein Moment wie ‎…‎

32 - ‎»So sieht man sich wieder«‎, ‎…‎

Zuflucht

33 - Flackerndes Licht schlug ‎…‎

34 - Wohin du auch gehst, ‎…‎

35 - Kronenberg.‎ ‎…

Reset

36 - Es war eine stille, ‎…‎

37 - Wissen und Wahrheit ‎…

38 - Zacharias schwankte, ‎…‎

39 -Ein Feuer brannte ‎…

Entfesselt

Wissendes Nichts

Eine Lücke füllen

Epilog

Stimmen in der Nacht

Aus einer anderen Welt

 

Ich denke, also bin ich.

 

Worte sind schwer.

Manche von ihnen wiegen so viel wie eine ganze Welt.

 

Hier lag er und träumte davon zu denken. Oder dachte er vielleicht, dass er träumte?

Ich denke, also bin ich, dachte Zacharias und träumte von Leben.

Ein neugieriger Mann

Wie machen sie es?«, fragte der Mann, den das Philanthropische Institut geschickt hatte. Er gab sich sehr freundlich, aber Florence und ihre Kollegen hielten ihn trotzdem für einen Controller, der ihnen auf die Finger sehen sollte. »Wie stellen sie es an?«

»Es sind besonders begabte Personen«, erwiderte Direktor Rasmussen und erweckte den Eindruck, sich in seinem grauen Vollbart verkriechen zu wollen. »Wir geben ihnen und den Patienten Tetranol, und das ermöglicht es den SGPs, den Special Gifted Persons beziehungsweise Travellern, wie wir sie nennen, sich mit dem Unterbewusstsein der Kontaktpersonen zu verbinden.«

»Sie spazieren darin umher, nicht wahr?«, fragte der PIMann fasziniert und sah durchs große Fenster in den Raum, der wie ein gemütlicher Salon eingerichtet war. Zurzeit hielten sich dort vier Traveller auf, unter ihnen einer, der im Rollstuhl saß und als besonders talentiert galt: Zacharias. »So hat man es mir beschrieben. Sie nehmen mental an den Träumen der Zielpersonen teil und agieren darin wie Komparsen in einem Film. Obwohl sie eigentlich selbst krank sind und hier therapiert werden, nicht wahr?«

»Nun …« Rasmussen wechselte einen Blick mit Florence und den anderen Therapeuten. »Ich würde sie nicht als ›krank‹ bezeichnen, Mr. Thorpe. Sie sind … anders als wir. Einige von uns glauben, sie könnten eine Antwort der menschlichen Evolution auf das Ende der uns vertrauten Welt sein. Und wie sie es anstellen … Ein Trauma kann für den Geist einer Person ähnlich dramatische Folgen haben wie eine Krebserkrankung für den physischen Körper. Manchmal wuchert es, bildet Metastasen und vergiftet das Bewusstsein. Die Traveller sind wie Chirurgen des Geistes. Sie finden die Geschwulst im Denken und Fühlen der Zielperson und schneiden sie heraus.«

»Das klingt … aufregend«, sagte Thorpe.

»Es kommt darauf an, was Sie unter Aufregung verstehen«, warf Florence ein. »Sie haben eben von Komparsen in einem Film gesprochen. Mögen Sie Horrorfilme, Mr. Thorpe?«

Die Foundation

1

Die Sonne hing rot wie Blut an einem grauen Himmel, unter dem sich die Wellen eines grauen Meeres zu schaumgekrönten Bergen auftürmten. Mit zornigem Donnern schmetterten sie auf einen Strand aus schwarzem Kies, der nach zwei Dutzend Metern an den brüchigen Fassaden hoher Gebäude endete. Die Tür, die sich vor Zacharias und Florence geöffnet hatte, schwebte etwa einen Meter über dem Strand, der Brandung so nahe, dass sie die Gischt spürten. Sie standen auf der Schwelle, hinter ihnen ein grollender, kalbender Gletscher, weiß unter einem kobaltblauen Himmel, und vor ihnen die Welt mit dem wütenden Meer und den Klippen aus Gebäudefronten, grau wie der aufgewühlte Ozean und der Himmel darüber.

»Er versucht uns zu verwirren.« Zacharias sprang, landete auf nassem, knirschendem Kies und half Florence herunter. Wie von einem Windstoß erfasst schlug die Tür zu und verschwand. »Was sagen die Daten?«

Florence hob die Hand zum Interface-Äquivalent am Ohr. »Sein Zustand ist stabil. Er schläft. Tetranol-Phase bei sechzig Prozent. Wir haben Zeit genug, Zach.«

»Er schläft«, sagte Zacharias und beobachtete, wie eine weitere Welle wuchs, wie sie noch höher wurde als die anderen vor ihr und zum Strand rollte. »Aber er weiß von uns, und sein Unterbewusstsein wehrt sich mit Derealisation. Er will uns verwirren und vom Weg abbringen.« Zacharias konzentrierte sich auf die Welle, und sie teilte sich, schlug rechts und links von ihnen auf den Kies. Ihre Ausläufer erreichten die nächste Gebäudefront und leckten daran empor. Einige lockere Putzfladen lösten sich, und die Reste der Welle nahmen sie mit, als sie über den Strand zurückströmten und sich wieder mit dem Meer vereinten.

»Die Verbindung ist gut«, sagte Zacharias zufrieden. »Ich bleibe in ihm.« Es fühlte sich auch gut an, zu sprechen und sich zu bewegen. Er genoss es jedes Mal und brauchte Florence nicht extra darauf hinzuweisen; sie wusste es genau. Er lächelte bei diesem Gedanken.

»Warum lächelst du, Zach?«, fragte Florence.

»Nur so«, log er und nahm ihre Hand. »Komm, lass uns die nächste Tür suchen. Sie muss hier ganz in der Nähe sein; ich spüre es.« Es juckte hinter seinem linken Auge, ein sicherer Hinweis.

Seite an Seite gingen sie über den schwarzen Kies, während das Meer rauschte und weiterhin Wellen donnernd auf den Strand schlugen. Die Erschütterungen waren so heftig, dass der Boden unter Zacharias’ Füßen erzitterte.

»Ich habe nie etwas davon gehalten, dass die Patienten direkt vorher vom Kontakt erfahren«, sagte er. »Es gibt ihnen Gelegenheit, sich vorzubereiten, ob Tetranol oder nicht. Es ist besser, die Verbindung herzustellen, wenn sie nicht direkt damit rechnen. Das macht es leichter für uns.«

»Du schaffst es«, sagte Florence. »Du wirst immer besser.« Zacharias lächelte erneut. »Spricht da die Therapeutin, die mein Selbstbewusstsein stärken will, oder …?«

»Lass dich nicht ablenken«, mahnte Florence. »Von nichts. Erinnere dich an Lingbeek. Zuerst die Aufgabe, Zach.«

Sein Lächeln wuchs in die Breite. »Lingbeek … das ist eine Ewigkeit her; damals war ich jung und unerfahren.«

»Und heute bist du alt und reif, ja?«

Zacharias ging nicht darauf ein. »Wenn wir dies erledigt haben, könnten wir noch ein wenig bleiben. So wie beim letzten Mal. Niemand braucht zu wissen, wie lange es gedauert hat. Wir nehmen uns ein wenig Zeit …«

»Pass auf!«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Zacharias eine Bewegung. Ein hoher Erker löste sich von dem Gebäude, an dem sie gerade vorbeikamen, und stürzte in die Tiefe.

»Schließ die Augen, Flo.«

Sie kam der Aufforderung sofort nach.

Zacharias beobachtete den tonnenschweren Erker, der wie eine steinerne Faust auf sie herabschlug, und dachte: Es gibt dich nicht; du kannst mich nicht von deiner Existenz überzeugen.

Es krachte, der Boden erbebte heftiger, Steinsplitter flogen umher, und es wogte Staub, so dicht, dass Meer, Strand und Gebäude für einige Sekunden hinter einem Schleier grau wie der Rest der Welt verschwanden.

»Das Trauma versucht sich zu schützen«, sagte Zacharias und ging weiter, Florences Hand noch immer in der seinen. Sie hob die freie Hand zum Interface. »Die Sensoren registrieren stärkere Hirnaktivität. Herzschlag und Atmung werden schneller.«

»Er schläft, aber sein Unterbewusstsein ist hellwach.« Zacharias blickte über die Fassaden, suchte nach Hinweisen und verließ sich dabei auf seinen besonderen Instinkt.

»Wir sind hier nicht unverwundbar«, sagte Florence mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. »Du bist besser geworden, Zach, aber du machst noch immer den Fehler, gelegentlich in deiner Wachsamkeit nachzulassen. Denk an Helen und Duke. Sie sind ebenfalls unvorsichtig gewesen und haben drei Monate gebraucht, um den Schock zu überwinden. Von Penelope ganz zu schweigen.«

Penelope, dachte er, während er die Suche nach der nächsten Tür fortsetzte. Santa Maria. »Weißt du, was mit ihr passiert ist?«

Sie schritten über den Strand, über knirschenden, ächzenden Kies, während links von ihnen das wütende Meer donnerte und die Sonne blutrotes Licht auf den Strand warf.

»Such die Tür, Zach.«

»Ich suche sie, Flo, ich suche sie. Aber du hast Penelope erwähnt und mich neugierig gemacht. Was ist mit ihr passiert? Seit drei Jahren liegt sie im Bett, nicht wahr? Angeschlossen an Maschinen, die sie am Leben erhalten. Hat sie einen Schock erlitten wie Helen und Duke?«

Florence sah sich voller Unbehagen um. »Ich weiß, wie gern du redest, wenn wir unterwegs sind, Zach, aber wie gesagt: Du solltest besser aufpassen. Unterschätze die Gefahr nicht. Fühl dich nie zu sicher.«

Ich spreche, weil ich hier sprechen kann, dachte Zacharias und fragte: »Hat sich Penelope zu sicher gefühlt? War sie unvorsichtig? Und wie kam es zur Stigmatisation? Ist sie in einer der Seelen, die sie besucht hat, Jesus begegnet?« Es war scherzhaft gemeint, aber diese Welt, mit dieser blutroten Wunde am leichengrauen Himmel, gab den Worten einen seltsamen Klang.

»Sie war ein Traveller wie du und die anderen …«

»Nein, nicht wie ich«, sagte Zacharias sofort.

Florence verstand ihn und nickte. »Sie lag schon in dem Bett, als ich zur Foundation gekommen bin«, fuhr Florence fort. Der Wind zerzauste ihr das dunkle Haar und ließ die Locken fliegen. Mit Mühe widerstand Zacharias dem plötzlichen Wunsch stehen zu bleiben, die zierliche Frau in die Arme zu schließen und sie zu küssen. Ich würde sie gern umarmen, weil ich sie hier umarmen kann, dachte er. »Und die Male an den Händen erschienen ein Jahr später. Niemand zweifelt daran, dass sie psychogener Natur sind. Helen war die Erste, die sie Santa Maria nannte.«

»Aber was ist mit ihr passiert?«

»Ein Trauma bei einer Behandlung, habe ich gehört«, sagte Florence. »Sie hat versucht, jemanden zu heilen, und dabei ist sie krank geworden. Auch das kann passieren, wenn man nicht aufpasst, Zach.«

»Hat jemand versucht, in ihr nach dem Rechten zu sehen und sie zurückzuholen? He!« Er wandte sich Florence zu.

»Wir könnten es versuchen. Was hältst du davon?«

»Du bist gut, Zach, aber noch nicht so gut. Es fehlt dir an Disziplin. Vielleicht in einigen Monaten …«

Das Jucken hinter dem linken Auge wiederholte sich, und Zacharias deutete zur fleckigen Gebäudewand vor ihnen. »Da ist sie, die nächste Tür, gut versteckt. Und die letzte, glaube ich.« Zacharias neigte kurz den Kopf zur Seite, als lauschte er einer Stimme, die ihm etwas zuflüsterte. »Ja, die letzte.«

Dünne Linien bildeten sich in der Mauer, als Zacharias sie berührte. »Komm schon, zeig dich«, sagte er ungeduldig. »Ich weiß, dass du da bist.«

Die Linien wuchsen aus der Gebäudefront heraus und in die Breite, wurden zu einer Tür, schmaler als die anderen. Silbrig glänzende Stacheln bildeten sich an ihrer Klinke, fielen aber mit einem Klirren wie von Glas ab, als Zacharias den Blick darauf richtete. Er öffnete die Tür und trat auf eine breite Straße, ihr Kopfsteinpflaster so blutrot wie die Sonne am Himmel über dem tosenden Meer. Rechts und links führte die Straße an Backsteinmauern vorbei, die fast so rot waren wie das Kopfsteinpflaster und sich nach jeweils etwa hundert Metern in grauem Nichts verloren. Auf der anderen Seite, der Tür direkt gegenüber, stand ein breites schmiedeeisernes Tor offen und gab den Weg frei auf eine asphaltierte Zufahrt, die vor einer schneeweißen, im Jugendstil errichteten Villa endete. Mehrere Luxuslimousinen standen dort, und weitere Wagen reihten sich auf dem Parkplatz neben der Villa aneinander.

Nichts rührte sich. Es war vollkommen still.

»Das Ziel befindet sich in dem Haus«, sagte Zacharias mit plötzlicher Gewissheit. »Wir sind fast da, Flo.«

Sie überquerten die Straße – hinter ihnen verschwand die schmale Tür –, schritten durchs Tor und folgten dem Verlauf der Zufahrt. Nichts regte sich, nicht ein einziges Blatt an den Bäumen, die das Asphaltband säumten.

Rechts neben der Villa, hinter mehreren Büschen und von der Straße aus nicht zu sehen, stand eine Kutsche mit zwei angeschirrten rabenschwarzen Pferden, beide ebenso in Zeitlosigkeit erstarrt wie alles andere, das eine mit gesenktem Kopf, das andere mit einem gehobenen Vorderlauf.

»Was hat die Kutsche zu bedeuten?«, fragte Zacharias und versuchte, alle seine Gedanken auf die Mission zu fixieren. Florence hatte recht. Es war gefährlich, sich ablenken zu lassen. Unglücklicherweise war es gerade der Umstand, dass er sich frei bewegen und sprechen konnte, der es ihm oft schwer machte, sich zu konzentrieren.

Florence lauschte kurz dem Flüstern des Interface-Äquivalents. »Die Datenbanken enthalten keine relevanten Informationen.«

»Und die Villa?«

»Das Haus seiner Eltern. Er wohnte dort noch, als er den ersten Selbstmordversuch beging.«

Sie gingen zum breiten, von Säulen gesäumten Eingang des Hauptgebäudes, vorbei an mehreren silbergrauen Limousinen. Neben einem Bentley stand ein älterer Mann in dunkler Livree und hielt, ebenso in einem Moment eingefroren wie die beiden schwarzen Pferde, einen Lappen in der Hand, mit dem er Staub vom Kotflügel geputzt hatte. Zacharias sah ihm in die Augen, fand aber kein Leben darin. Als er die Treppe zwischen den beiden Säulen hochstieg und durch die offene Tür trat, spürte er ein Prickeln tief in seinem Innern.

»Ich hab ihn auf dem Radar«, sagte er. »Er ist im Haus.«

Er, das war Randolph Amadeus Quint, achtzehn Jahre jung und ein Prioritätspatient der Foundation, eingeliefert vor einigen Tagen, nach seinem dritten Selbstmordversuch. Dass er zu einem PP geworden war, verdankte er seiner Mutter, die Teilhaberin des Philanthropischen Instituts war. Sie besaß Anteile an dem IT-Riesen MS-Oracle, Mitglied des Konsortiums, das den Bau von Sea City finanziert hatte. Mutter Q war so philanthropisch gewesen, ihre Beziehungen spielen zu lassen, um Sohn Randolph Amadeus ganz oben auf die Behandlungsliste zu setzen. Um ihm das Leben zu retten und zu verhindern, dass er noch einmal versuchte, sich umzubringen.

Auf dem Weg durch den Flur kamen sie an zwei Kellnern vorbei, die sich anschickten, Tabletts mit Dutzenden von Sektgläsern in einen Ballsaal zu tragen. Einer kam gerade durch die Tür der Küche, und der zweite weiter vorn hatte einen Fuß zum nächsten Schritt gehoben.

»Ich weiß, warum hier alles erstarrt ist«, sagte Zacharias.

»Er braucht seine ganze Aufmerksamkeit für etwas anderes. Vielleicht bereitet er etwas vor.«

»Eine Falle?«

»Vielleicht. Oder er versucht, sich zu verbergen. Aber jetzt entwischt er mir nicht mehr.« Er ging weiter, an den Kellnern vorbei und in den Ballsaal, auf dessen Tanzfläche Dutzende von elegant gekleideten Paaren standen, die Männer in dunklen Anzügen, die Frauen in Abendkleidern. Auch sie bewegten sich nicht und schienen darauf zu warten, dass an diesem stillen Ort erneut Musik erklang und sie den Tanz fortsetzen konnten. »Gib mir den Grundriss, Flo.«

»Du solltest jetzt besser keine Daten empfangen.«

»Meine Güte, von wie vielen Kilobyte reden wir hier? Hundert? Zweihundert? Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde!«

»Jede Datenübertragung gefährdet die Synchronisation, Zach.«

»Ich komme damit klar, Flo. He, ich habe alles im Griff. Gib mir Telemetrie.«

Sie gab ihm die Daten, und für einen Moment verschwammen die Gestalten auf der Tanzfläche, als würde man sie durch welliges Glas betrachten, das jemand aufund abbewegte. Ein Brummen zog durch den Saal, wie von einem Insektenschwarm, und Florence schloss die Hand um das Interface-Äquivalent an ihrem Ohr. Die Verbindung schien zerfasern zu wollen, aber Zacharias hielt sie fest.

Er war so sehr darauf konzentriert, die Synchronisation mit dem Patienten zu stabilisieren, dass er die Gestalt zu spät bemerkte. Sie kam aus den Schatten links neben dem Eingang, selbst kaum mehr als ein Schemen, huschte ihm entgegen und hob einen im Licht des großen Kronleuchters glitzernden Gegenstand. Eine scharfe Klinge schnitt erst durch die Luft und dann in den Arm, den Zacharias instinktiv gehoben hatte, um den Kopf zu schützen. Er duckte sich zur Seite, als rasiermesserscharfer Stahl Fleisch und Knochen durchtrennte, verbannte den Schmerz mit einem autosuggestiven Befehl aus der Wahrnehmung und sprang, um dem zweiten Hieb, mit der Rückhand geführt, zu entgehen.

Der abgetrennte Arm fiel zwei Meter entfernt zu Boden, neben der dunklen Gestalt mit dem seltsam leeren, stillen Gesicht. Zacharias achtete nicht auf das Blut, das mit jedem Herzschlag aus seinem Armstumpf spritzte. Er dachte daran, sich zu wehren, hielt plötzlich eine Pistole in der anderen Hand, richtete sie auf die Gestalt und drückte ab, als das Messer erneut nach oben kam.

Seine Wahrnehmung teilte sich, wie es manchmal während eines Einsatzes geschah, wenn das Tetranol wirkte, wie es wirken sollte, und wenn er in der richtigen Stimmung war, wenn er »auf der Welle ritt«, wie es bei den Travellern hieß. Mit dem einen Auge sah er die Kugel, die den Lauf der Waffe verließ und durch die Luft glitt wie durch Wasser, eine Fahne kleiner Verwirbelungen hinter sich herzog, die Stirn des Angreifers erreichte und ein Loch hineinbohrte. Eine halbe Sekunde später kam sie aus dem Hinterkopf, setzte ihren Flug fort, noch immer silbrig, ohne einen Mantel aus Blut, erreichte die Wand und blieb darin stecken.

Mit dem anderen Auge sah Zacharias das Haus wie eine detaillierte grafische Darstellung auf einem Computerschirm der Foundation: leicht grünliche, durchsichtige Wände, mit Linien, die Leitungen und Kabel markierten, dahinter Zimmer und Flure mit eingeblendeten Zahlen, die Auskunft gaben über Entfernung, Länge, Breite und Höhe; rote Silhouetten, wo sich Menschen aufhielten; blinkende Warnsymbole, die auf Sicherheitssysteme hinwiesen – vor allem im großen Arbeitszimmer des Westflügels, wo es einen Wandsafe gab –, und blaue Punkte, die den kürzesten Weg zum Ziel markierten.

Die dunkle Gestalt mit dem leeren Gesicht starrte ihn an, das Loch in der Stirn wie ein drittes Auge, kleiner als die beiden anderen. Sie klappte den Mund auf und sagte: »Wer auch immer du bist, verschwinde von hier.«

Sie drehte sich um und lief plötzlich dorthin, wo die Kugel in der Wand steckte, sprang daneben in ein Gemälde, das einen würdevollen Mann an einem großen MahagoniSchreibtisch präsentierte, und verwandelte sich dort in ein Foto, das neben dem PC-Monitor in einem edlen Rahmen steckte und einen jungen Mann zusammen mit einem Mädchen zeigte, von dem Zacharias plötzlich wusste, dass es die Schwester des jungen Mannes war.

Erster Schmerz machte sich bemerkbar. Zacharias ging zum abgetrennten Arm, hob ihn auf, hielt ihn an die Schulter und stellte sich vor, wie Stumpf und Arm zusammenwuchsen: Knochen, Muskeln, Sehnen, Adern, alles. Der Schmerz verschwand, Blut strömte durch wiederhergestellte Venen; der Arm fühlte sich wie neu an und ließ sich bewegen, als wäre überhaupt nichts geschehen.

»Ich bin gut«, sagte Zacharias stolz auf sich.

»Werd nicht übermütig«, warnte Florence. Sie stand neben ihm, die Hand noch immer am Interface, als könnte sie die Daten dadurch besser empfangen. »Die Biometrie teilt mir mit, dass du müde wirst, Zach. Weil du unvorsichtig bist, Fehler machst und dann mit ihren Konsequenzen fertigwerden musst. Wie jetzt gerade. Du hast noch nicht gelernt, mit doppelten Datenströmen zurechtzukommen, mit dem internen, der dich mit dem Patienten verbindet, und dem externen, der Zugriff auf unsere Datenbanken gestattet. Die Störung der Synchronisation durch die Datenübertragung gab dem Angreifer Gelegenheit, dich zu attackieren.«

Zacharias legte den Arm um ihre zarten Schultern, drückte Florence kurz an sich und ließ sie dann wieder los. »Du machst dir zu viele Sorgen.«

»Und du bist zu unbekümmert.«

Er bewegte noch einmal den wieder angewachsenen Arm und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war. Von Schwäche keine Spur. Er steckte voller Kraft und freute sich über jede Gelegenheit, Gebrauch davon zu machen.

»Ich habe den Grundriss«, sagte er und sah ihn jetzt mit beiden Augen, eine schematische Darstellung vor den Konturen des Ballsaals, mit blauen Punkten, die ihm den Weg wiesen. »Ich weiß, wo er ist, unser Randolph Amadeus. Er will nicht, dass wir entdecken, was ihn zu den Selbstmordversuchen getrieben hat.« Er empfing die Informationen, als hätte er Zugriff auf ein fremdes Gedächtnis, und in gewisser Weise war das tatsächlich der Fall. Das Leben von Randolph Amadeus Quint lag vor ihm ausgebreitet, ein Haufen mehr oder weniger banaler Details, die Monate und Jahre gefüllt hatten. Nichts, das er nicht woanders in ähnlicher Form gesehen hatte, ein wohlbehütetes Leben in Luxus, die besten Schulen, jetzt eine private Elite-Universität, finanziert vom Philanthropischen Institut, einige gute Freunde, unter ihnen einer, der …

»Oh, ich glaube, wir kommen der Sache näher«, sagte Zacharias und schritt am Rand der Tanzfläche entlang zur Treppe auf der anderen Seite, die ins Obergeschoss mit Randolphs Zimmer führte. »Mir scheint, Randy hat in den letzten beiden Jahren seine Homosexualität entdeckt. Dies ist sein achtzehnter Geburtstag, und er feiert ihn auf besondere Weise.« Das Zielzimmer im Obergeschoss wies nicht eine rote Silhouette auf, sondern drei, zwei dicht beisammen und eine bei der Tür.

»Das soll der Grund für seine Selbstmordversuche sein?«, fragte Florence skeptisch. »Homosexualität? Meine Güte, dies ist das einundzwanzigste Jahrhundert. Heutzutage bringt sich doch niemand um, weil er plötzlich feststellt, schwul zu sein.«

»Wer weiß.«

Sie hatten die Treppe fast erreicht, als Bewegung in die stille Welt kam. Die Paare auf der Tanzfläche erwachten aus ihrer Starre, drehten sich langsam und glotzten Zacharias und Florence an. Eine nur wenige Meter entfernt stehende Frau in mittleren Jahren, das Haar zu einem kastanienbraunen Turm aufgesteckt und die Augen üppig geschminkt, öffnete den Mund, und ihr Tanzpartner folgte diesem Beispiel. Die Lippen der anderen teilen sich ebenfalls, und ein vielstimmiger Schrei erklang. Er begann wie das Brummen einer langsam anlaufenden Sirene, wurde dann lauter und kletterte gleichzeitig die Tonleiter hinauf, bis er als schrilles Heulen das Glas des Kronleuchters zerspringen ließ. Abrupt brach er ab, und Hunderte von Splittern hingen über der Tanzfläche in der Luft. Die Tänzer waren wieder reglos und standen wie gelähmt, mit Gesichtern wie Fratzen.

»Du bist die Therapeutin«, sagte Zacharias und stieg die Treppe hoch. »Welche symbolische Bedeutung steckt in dem, was wir gerade beobachtet haben? Was hat es mit dem zerbrochenen Kronleuchter auf sich? Und warum sind die Gesichter der Tanzenden zu Fratzen geworden?«

»Es wird alles aufgezeichnet«, erwiderte Florence. »Die Auswertung erfolgt später. Lily wird uns dabei helfen.«

Lily, so nannten Florence und die anderen die Cray XE der Foundation, einen Hochleistungscomputer mit fast hundertfünfzigtausend Cores, die zwei Petaflops erreichten; seine Ressourcen wurden vor allem für die Verwertung von meteorologischen Daten und Klimaberechnungen genutzt. Nur einer kleiner Teil der Kapazität stand der Foundation zur Verfügung, genügte aber selbst für komplexe medizinisch-psychologische Analysen und die Kontrolle der Interface-Systeme mit den daran angeschlossenen Datenbanken. Matthias, einer der Sysadmins von Sea City, hatte für diesen Teil der Cray einen androgynen Avatar programmiert, mit neutraler Stimme, aber irgendwann hatte jemand begonnen, ihn Lily zu nennen, und alle Versuche von Matthias, dem Avatar einen anderen Namen zu geben, waren gescheitert.

Zacharias blieb am Ende der Treppe stehen und deutete in den Ballsaal hinab. »Ich weiß, dass es Randys Geburtstag ist«, sagte er, »aber wo sind die jungen Leute, die man bei einer solchen Gelegenheit erwarten könnte? Flo?«, fügte er hinzu, als Florence nicht sofort antwortete.

»Ich bekomme ein Signal«, sagte sie überrascht, die Hand wieder am Ohr. »Wir werden zurückgerufen.«

Zacharias schüttelte den Kopf und ging weiter. »Nicht jetzt. Sag ihnen, dass wir dies zu Ende bringen. Nur noch ein paar Minuten.« Für ihn hätten es auch Stunden oder Tage sein können, oder Wochen und Monate. Die Rückkehr fiel ihm immer schwer, denn sie bedeutete, dass er auf seine Augen reduziert war und auf den Rest verzichten musste. Hier fühlte er sich besser, stärker, robuster, Herr der Lage. Das andere Leben hatte im Vergleich mit diesem kaum einen Reiz; in dem anderen Leben konnte er kein Mann für Florence sein.

Die Tür am Ende des Flurs war verriegelt; das wusste Zacharias, ohne den Knauf zu drehen. »Schließ die Augen, Flo.«

»Es ist ein Dringlichkeitssignal, Zach …«

»Keine Störungen jetzt. Schließ die Augen und komm.« Er ergriff ihre Hand und zog sie mit sich, durch die Tür, die ihm kaum Widerstand bot, weil er nicht wollte, dass sie ihn aufhielt. Das hatte er bei den letzten Einsätzen gelernt: festen Dingen die Substanz zu nehmen, sie seinem Willen unterzuordnen. Es funktionierte nicht immer, und nicht immer gleich gut; es hing vom Patienten ab, und davon wie das Tetranol wirkte, wie er sich fühlte. Dass Florence die Augen schloss, machte es für sie leichter, denn dadurch kam es zu weniger Konflikten zwischen ihrer Wahrnehmung und dem, was ihr Gehirn für möglich hielt.

Im Zimmer hinter der geschlossenen Tür brannte nur eine Lampe in einer Ecke, und jemand hatte ein Tuch über sie gelegt, um ihr Licht zu dämpfen. Im Bett lagen zwei Jungen, eng umschlungen wie ein Liebespaar, einer von ihnen Randolph Amadeus, mit zotteligem, schweißfeuchtem Haar, die Augen im schmalen Gesicht groß, die Zunge halb im Mund des anderen Jungen, der Malcolm hieß und ein Jahr älter war, die Hand unter der Decke an seinem Glied. Sie hatten sich am College kennengelernt, erinnerte sich Zacharias mit fremden Erinnerungen. Komm, wir machen’s in deinem Zimmer, während die anderen tanzen, das gibt uns den richtigen Kick, flüsterten diese Erinnerungen, begleitet von Hoffnung und Aufregung.

Zacharias blinzelte, und die beiden Jungen lagen nicht mehr eng umschlungen. Malcolm hatte sich zur Seite gerollt und griff nach seinen neben dem Bett liegenden Sachen; Randy zog sich erschrocken das Laken zum Kinn hoch und starrte den Mann an, der vor dem Bett stand. Onkel Dulberg, Halbbruder von Randolphs Vater und das schwarze Schaf der Familie. Na, so was, na, so was, wer hätte das gedacht, sagte Onkel Dulberg zufrieden. Tja, ich habe es gedacht, es überrascht mich überhaupt nicht, mein Lieber. Beobachte dich schon seit einer ganzen Weile. Es wundert mich, dass die anderen noch nicht gemerkt haben, dass du schwul bist. Haben vielleicht nicht den richtigen Blick dafür. Malcolm hat ihn. Nicht wahr, Malcolm? Hast es ziemlich eilig, in deine Klamotten zu kommen, wie? Warum nur, frage ich mich. Wir sind hier doch unter uns.

Bitte, Onkel Dulberg …, wimmerte Randolph, und mit dem Kopf voller fremder Gedanken dachte Zacharias: Armer Randy. Bist da wirklich in eine blöde Situation geraten. Dein Onkel ist schwul wie du und hatte dich schon seit einer ganzen Weile auf dem Kieker. Er hat sich einen Schlüssel für dein Zimmer besorgt und auf die richtige Gelegenheit gewartet.

Oh, mach dir keine Sorgen, Randolph, ich verrate deinem Vater nichts. Dies bleibt unter uns, ganz klar. Und du, Malcolm, bleib ruhig hier. Dulberg streckte den Arm und versperrte damit den Weg zur Tür. Es gibt nichts zu befürchten. Euer kleines Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Und Randolph, da heute dein Geburtstag ist … Ich habe ein Geschenk für dich. Er knöpfte sich die Hose auf.

»Das ist es?«, fragte Florence. »Das ist der Grund?«

»Er hat ihn erpresst.« Zacharias sah noch andere Szenen, komprimiert auf ein oder zwei Sekunden, nackte Gestalten in anderen Zimmern, einige von ihnen schäbig, die verschwitzten Gesichter von Männern, die vierzig oder fünfzig Jahre älter waren als Randolph. »Dulberg hat ihn gezwungen, zum Lustknaben seiner Kumpel zu werden. Ein feiner Onkel ist das, wirklich prächtig. Ich schätze, Mrs. Quint wird ein Wörtchen mit ihm reden wollen, wenn sie hiervon erfährt.«

»Zach … Ich empfange erneut ein Signal. Absolute Priorität. Wir müssen zurück.«

»Nach der ganzen Mühe?«, erwiderte Zacharias. »Wir haben es fast geschafft. Wir wissen, was mit Randy los ist. Jetzt geht es darum, das Trauma zu eliminieren und die Grundlage für eine erfolgreiche Therapie zu schaffen. Ich schlage vor, wir erledigen den Onkel. Das sollte Randys Unterbewusstsein zeigen, dass er ihm nicht völlig hilflos ausgeliefert ist.«

»Absolute Priorität«, wiederholte Florence. Sie stand neben der Tür, ihr schwarzes Haar halb mit den dortigen Schatten verschmolzen, ihr Gesicht ein helles Oval im Halbdunkel. »Die Zentrale schickt jemanden, der uns ersetzt.«

»Jemanden, der die Früchte unserer Arbeit erntet?« Enttäuschung machte sich in Zacharias breit, und sie galt nicht nur der Mission. Er hatte gehofft, noch etwas Zeit mit Florence zu haben. Und ganz abgesehen davon: Die Rückkehr bedeutete für ihn, wieder Fesseln zu tragen.

»Es scheint sehr wichtig zu sein, Zach.« Florence drehte den Schlüssel im Schloss, und als sie die Tür öffnete, trat ein schlanker, grauhaariger Mann ein, mit einer Nase wie ein Klumpen im Gesicht. Conrad, einer der anderen Traveller, ein »Handwerker«, wie man jene Gruppe nannte. Sie räumten auf, erledigten den Rest, beseitigten manchmal die Trümmer, wie auch immer man es nennen mochte.

»Rasmussen erwartet euch«, sagte Conrad und beobachtete die Szene.

»Es ist der Onkel.« Zacharias deutete auf den Mann mit der heruntergelassenen Hose. »Verpass ihm eine Abreibung. Zeig dem Jungen, dass seine Situation nicht völlig hoffnungslos ist.«

»Ich bin auf dem Laufenden«, sagte Conrad würdevoll.

Zacharias wich langsam zur Tür zurück, die nicht mehr auf den Flur führte, sondern in einen vertrauten Raum. Einen Schritt davor zögerte er.

»Komm, Zach«, drängte Florence.

»Weißt du was, Flo?« Er ließ den Blick durchs halbdunkle Zimmer streichen, nahm sich einige Sekunden Zeit und empfing weitere Szenen aus den Erinnerungen von Randolph Amadeus Quint. »Vielleicht hast du recht.«

»Was?« Florence hatte ihr Interface-Äquivalent vom Ohr gezogen, hielt es in der Hand und stand in der Tür, halb auf dieser Seite und halb auf der anderen.

»Es … fühlt sich nicht ganz richtig an«, sagte Zacharias.

»Schwul zu sein und deshalb vom eigenen Onkel erpresst zu werden … Reicht das als Grund für drei Selbstmordversuche?«

»Wenn man sehr sensibel ist …«, Conrad zuckte die Schultern. »Ich kümmere mich jetzt darum. Vielleicht finde ich noch etwas anderes.«

Zacharias nickte, atmete tief durch und ging zusammen mit Florence durch die Tür, die sie zur Foundation zurückbrachte.

 

Unter dem Bett waren die Schatten dichter und dunkler, und sie gerieten in Bewegung, als sich die Tür schloss und das einzige Licht im Zimmer wieder nur von der halb zugedeckten Lampe kam. Zwei Punkte glühten in der Finsternis, wie Sterne am Nachthimmel, oder wie Augen, die kurz den Schein des Mondes reflektierten. Dünne schwarze Linien wuchsen unter dem Bett hervor, kletterten wie Ranken an den Pfosten hoch, erreichten die beiden Jungen – der eine am Bettrand, der andere unterm Laken –, krochen an ihnen empor, ohne dass die Erstarrten etwas bemerkten, und legten sich ihnen wie Schlingen um den Hals. Zwei weitere Linien schlängelten sich an den Innenseiten von Dulbergs Beinen hoch und wickelten sich um sein steil nach oben zeigendes Glied, verschwanden dann unterm Hemd, kamen am Kragen wieder zum Vorschein und bildeten auch an seinem Hals eine Schlinge. Sie schienen sich zuzuziehen, denn die Gesichter der beiden Jungen und des Mannes verwandelten sich in Fratzen, und die Augen traten ihnen aus den Höhlen.

Es blieb alles still. Nach einer Weile flackerte die Lampe und ging aus. Dunkelheit erfüllte alle Ecken des Zimmers und wartete.

2

Das Licht der Pazifiksonne filterte hell und warm durch die halb geschlossenen Jalousien, als Florence den Kopf von der Kontaktfläche hob, die Beine von der Interface-Liege schwang, aufstand und mit müden Knien zum Rollstuhl ging, in dem Zacharias mehr lag als saß. Das Summen der medizinischen Geräte neben ihm schien mit dem leisen Zischen der Klimaanlage zu wetteifern. In seinen großen braunen Augen lagen Enttäuschung und eine Müdigkeit, die sie ebenfalls fühlte. Sein Blick glitt zur Mikrokamera am schmalen Schwenkarm, und auf dem kleinen Monitor über der rechten Armlehne erschienen Worte. Es tut mir verdammt leid, Flo, schrieben Zacharias’ Pupillen. Ich hatte es mir anders vorgestellt.

»Schon gut«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den dünnen, reglosen Arm. »Beim nächsten Mal, versprochen«, fügte sie hinzu und senkte dabei die Stimme, weil sie neben dem Fenster eine Bewegung bemerkte. Und weil die Techniker, die auf der anderen Seite des breiten Innenfensters an den Interface-Kontrollen saßen, sie nicht hören sollten.

Florence wandte sich dem Mann zu, der einige Schritte näher gekommen war und neben dem Bett stehen blieb, in dem Randolph Amadeus Quint lag. Die Augen des Patienten bewegten sich unter den geschlossenen Lidern. Katheter steckten in seinen Armbeugen, und ihre dünnen Schläuche führten zu einem nahen Geräteblock, der Quints Biosignale empfing und die richtige Mischung aus Tetranol und Glukose überwachte. An Stirn und Schläfen klebten Sensoren, die ihn mit Lilys Terminals im Nebenzimmer verbanden; Conrad saß dort mit geschlossenen Augen in einem Interface-Sessel. »Wir standen unmittelbar vor dem erfolgreichen Abschluss der Mission, Jonas«, sagte sie. »Es fehlten nur ein paar subjektive Minuten.«

»Der Ereigniswinkel wurde immer größer«, erwiderte Rasmussen. »Aus einigen wenigen subjektiven Minuten für euch wären hier bei uns zwei oder drei Stunden geworden, und so lange konnten wir nicht warten. Ein neuer Einsatz wartet auf euch, erste Priorität.«

Florence fühlte die Erschöpfung nicht nur in Muskeln und Knochen, sondern auch in ihrem Geist. »Wie viel objektive Zeit ist verstrichen?« Sie deutete zum Außenfenster mit den halb geschlossenen Jalousien; durch eine schmale Lücke glänzte das Blau eines grenzenlosen Ozeans. »Wir sind am Abend aufgebrochen …«

»Aber nicht gestern Abend. Vorgestern«, sagte Rasmussen. Er trug einen Anzug, dessen Grau gut zu seinem Vollbart passte. »Ihr seid fast zwei Tage unterwegs gewesen.«

»Zwei Tage! Und du willst uns sofort wieder losschicken?«

»Leider geht es hier nicht darum, was ich will.« Ein Schatten fiel auf Rasmussens Gesicht, und für einige Sekunden wirkte er nicht mehr wie ein rüstiger Mittsechziger, sondern wie ein dahinwelkender, schwach gewordener Greis. Florence blinzelte, und einige der Falten verschwanden aus Augenwinkeln und Stirn des Mannes, der die SGP-Gruppe zu einer großen Familie gemacht hatte. Er versuchte, sie zu schützen, sie alle, das wusste Florence. Und wenn an den Gerüchten, die seit einiger Zeit kursierten, etwas dran war, wuchs der Druck, mit dem er fertig werden musste; es fiel ihm immer schwerer, die Familie vor einer Welt abzuschirmen, die sich schnell veränderte und auf eine Katastrophe zusteuerte. »Es geht um einen ganz besonderen Patienten, der besondere Hilfe braucht. Ich glaube, nur Zacharias kann sie leisten.«

»Jonas … Zwei Tage sind vergangen! Wir sind fix und fertig. Ich habe seit achtundvierzig Stunden nichts gegessen und getrunken.« In dieser Hinsicht hatte Zach keine Probleme; spezielle Katheter verbanden ihn mit dem Rollstuhl, der ihn ernährte und mindestens eine Woche lang sein Überleben sichern konnte.

»Wir brauchen Zacharias«, sagte Rasmussen sanft. »Was dich betrifft, Florence …«

»O nein. Ihr schickt ihn auf keinen Fall ohne mich los!«

»Wenn du wirklich so erschöpft bist …«

»Ich sterbe vor Durst, mir knurrt der Magen, und meine Knochen sind schwer wie Blei«, sagte Florence. »Aber Zach geht nicht ohne mich auf die Reise.« Sie wankte zum kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers, füllte sich dort ein Glas mit kaltem Mineralwasser und trank.

»Du bist Therapeutin …«, sagte Rasmussen, während sie ihm den Rücken zukehrte, und etwas in seiner Stimme ließ sie erstarren.

»Ja?«, fragte sie vorsichtig, als der Direktor nicht weitersprach. Sie drehte sich nicht um.

»Die beste Therapeutin für unseren besten SGP«, sagte Rasmussen. »Ihr passt zusammen. Aber …«

Er weiß es, dachte Florence plötzlich, trank erneut und ließ das leere Glas langsam sinken. Er weiß von Zach und mir. Jähe Sorge erfasste sie. Wollte Rasmussen sie von Zacharias trennen, um der »therapeutischen Objektivität« willen, die die Foundation verlangte?

»Aber?«

»Die Regeln haben durchaus einen Sinn, Florence. Sie dienen keinem Selbstzweck.«

Plötzlich verstand sie und wirbelte herum. Willst du mich erpressen?, wollte sie Rasmussen fragen. Willst du mich auf diese Weise dazu zwingen, zusammen mit Zach in den nächsten Einsatz zu gehen, obwohl du genau weißt, dass wir beide Ruhe brauchen?

Aber Jonas Rasmussen stand wie ein Häufchen Elend da, wie jemand, der sich selbst verabscheute. Er hob beide Hände, rieb sich das Gesicht und ließ sie wieder sinken.

»Auch du bist müde, Jonas«, sagte Florence. »Was ist passiert?«

»Es passiert ständig etwas. Ich fürchte, Sea City wird nie zu der ruhigen Insel, die ich mir erhofft habe.« Rasmussens Blick ging zu Zacharias, dessen Augen das Geschehen verfolgten. Der Monitor über der rechten Armlehne zeigte mehrere Fragezeichen. »Wir brauchen ihn wirklich, Florence. Jetzt sofort.«

»Nimm Teneker«, sagte Florence. »Er ist fast so gut wie Zach und …«

»Um ihn geht es. Um Teneker. Er sitzt in einem Patienten fest, und wenn wir ihn nicht herausholen, könnte es ihm ergehen wie Penelope. Zacharias ist seine einzige Chance.«

 

Wer nicht schwindelfrei war, mied die Brücke aus Glas, die sich zwischen zwei »Fingern« des Hauptturms von Sea City spannte. In einer Höhe von fast hundert Metern bot sie einen weiten Blick über die schwimmende Stadt, die bereits hundert Quadratkilometer groß geworden war und bis auf tausend wachsen sollte, womit sie größer wäre als das inzwischen halb überflutete Stadtgebiet des alten New York. Nach Norden schränkten Ringund kleiner Finger die Sicht ein, nach Westen der Daumen. Im Nordwesten zeigte sich die größte der Hawaii-Inseln am Horizont. Als Florence sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie viel näher gewesen und hatte im Osten gelegen. Sea City setzte die Fahrt nicht wie ursprünglich geplant nach Osten in Richtung des nordamerikanischen Festlands fort, sondern folgte jetzt einem südöstlichen Kurs, der die schwimmende Stadt vielleicht nach Mitteloder Südamerika bringen sollte.

Der Hauptturm von Sea City mit den Büros, Behandlungszentren und Suiten der Foundation sah aus wie eine hundertfünfzig Stockwerke große stilisierte Hand, die sich bittend dem Himmel entgegenstreckte. Florence stand dieser Art von Symbolik skeptisch gegenüber – sie war als Atheistin aufgewachsen und der Ansicht, dass man keine himmlische Hilfe bei der Lösung irdischer Probleme erwarten durfte, die der Mensch auch noch selbst verschuldet hatte –, aber das Philanthropische Institut versprach sich von solchen Symbolen große Wirkung in der Öffentlichkeit, vor allem bei der Suche nach potenten Geldgebern. Die Erweiterungen von Sea City und der Bau von Sea City 2–5 verschlang gewaltige Summen, und Florence wusste, dass kritische Stimmen laut geworden waren, die eine andere Verwendung der Mittel verlangten. Ein bisschen Symbolik – ein bisschen Pathos – konnte da nicht schaden.

Florence beschattete sich die Augen, um nicht vom Licht der untergehenden Sonne geblendet zu werden, und sah zum Hafen, wo ein großes jachtartiges Schiff am Kai lag, weiß wie Schnee. Mehrere vermutlich von den Hawaii-Inseln stammende militärische Schnellboote leisteten ihm Gesellschaft. Die Schrift am Rumpf der großen Jacht konnte Florence nicht entziffern, aber unter dem H des Hubschrauber-Landeplatzes am Heck bemerkte sie mehrere asiatische Schriftzeichen, deren Kombination ihr vertraut erschien.

»Die Samsung-Nippon-Gruppe?«, fragte sie.

»Die Aufgehende Sonne hat den Patienten gebracht«, sagte Rasmussen, der Zacharias’ Rollstuhl schob. »Heute Morgen. Seine Ankunft war uns angekündigt worden, und Teneker hatte sich vorbereitet, so gut es ging. Viele Informationen bekam er nicht, obwohl wir betont haben, wie wichtig sie sind. Es wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass die betreffende Person großen Wert auf ihre Privatsphäre legt.« Rasmussen drehte den Kopf und warf der hinter ihm über die gläserne Brücke gehenden Florence einen kurzen Blick zu. »Ich weiß nur, dass er aus der NetworkEntwicklungsabteilung kommt. Ein Spezialist für Datennetze. Es muss ein Topmann sein, denn sonst hätten sie ihn nicht hierhergebracht.«

»Von wegen Privatsphäre«, brummte Florence. »Vermutlich befürchtet Samsung-Nippon, dass Entwicklungsgeheimnisse bekannt werden.«

»Was auch immer der Grund sein mag«, sagte Rasmussen. »Teneker sitzt in ihm fest. Seit fast zwölf Stunden. Wir befürchten ein Koma, wenn es nicht gelingt, ihn zurückzuholen.«

Sie hatten die Tür am Ende der Glasbrücke fast erreicht, als sie sich öffnete. Ein Mann in Uniform nahm sie in Empfang, im Blau der SN-Konzernpolizei, an Stirn und Schläfen die Spangen sensorischer Signalverstärker.

Der Uniformierte warf einen kurzen Blick auf die Gestalt im Rollstuhl. »Ist das der Mann?«

»Ja«, sagte Rasmussen.

Florence drängte sich neben ihn und streckte die Hände nach den Griffen aus. »Ich schiebe ihn, Jonas.«

Rasmussen machte ihr bereitwillig Platz, und Florence schob den Rollstuhl, nachdem sie den Monitor über der rechten Armlehne so gedreht hatte, dass sie die Anzeigefläche sehen konnte.

Mach dir keine Sorgen um mich, stand dort geschrieben. Ich schaffe es schon. Und es könnte interessant werden. Vielleicht bekommen wir diesmal auch ein bisschen Zeit für uns.

Der blinkende Cursor hatte die letzten Worte kaum geschrieben, als er zurückkehrte und sie verschwinden ließ.

Florence klopfte Zach auf die Schulter und schwieg, als sie dem Uniformierten durch Zimmer und Flure folgten. Im Verwaltungstrakt begegneten sie dem Sysadmin Matthias, der wie ein Zwillingsbruder des legendären Steven Jobs aussah und mit einem Becher Kaffee zum Hauptterminal von Lily zurückkehrte. Über seine Brille hinweg sah er Florence an und hob beide Brauen, bevor er im Admin-Büro verschwand. Die vertrauten Gesichter von Verwaltungsassistenten erschienen in Türen und hinter Fenstern, ernster als sonst, manche ein wenig verunsichert vom ungewohnten Anblick blauer Uniformen. Männer und Frauen im Blau der Konzernpolizei von Samsung-Nippon standen vor Aufzügen und dort, wo sich Korridore trafen. Sie versuchten, unauffällig zu bleiben, im Hintergrund, doch ihr Anblick war so ungewohnt, dass sie sofort ins Auge sprangen.

Auf Zacharias’ Monitor erschien: Und ich habe die Foundation für unabhängig gehalten.

»So kann man sich irren«, murmelte Florence.

Rasmussen hatte die Worte ebenfalls gelesen. »SN gehört zu den Geldgebern des Philanthropischen Instituts«, sagte er gerade laut genug, damit Florence und Zacharias ihn hörten. »Uns blieb keine Wahl. Dies scheint wirklich wichtig zu sein.«

Ein Fahrstuhl brachte sie eine Etage tiefer, in den »Salon«, wie ihn die Traveller nannten, ein aus Dutzenden von Zimmern bestehendes Behandlungsund Therapiezentrum, zu dem auch zwei große Aufenthaltsräume und eine Cafeteria gehörten. Als sie dort an dem Zimmer vorbeikamen, in dem Penelope seit drei Jahren im Bett lag, angeschlossen an Geräte, die sie am Leben erhielten, sah Florence zur Seite und bemerkte Helen und Duke, die neben der im Koma liegenden Travellerin saßen. Beide standen auf, traten in den Flur und schlossen sich der kleinen Prozession an, wie auch einige weitere Traveller, die – neugierig geworden – aus anderen Zimmern kamen. Vor den Behandlungsräumen im Westflügel des Salons trafen sie auf noch mehr Uniformierte. Zwei Männer in Zivil standen bei ihnen, einer von ihnen der große, schlanke und immer freundliche Thorpe, der seit zwei Monaten im Auftrag des Philanthropischen Instituts bei der Foundation nach dem Rechten sah – Florence mochte ihn noch immer nicht, obwohl einige der anderen inzwischen Freundschaft mit ihm geschlossen hatten oder ihn zumindest als Dauergast bei der Foundation akzeptierten. Der zweite Zivilist war Asiat und kleiner als Thorpe, trug einen gewöhnlichen dunklen Anzug und hatte dünnes, lichtes Haar. Florence schätzte ihn auf etwa fünfzig, und obwohl sie mit der asiatischen Physiognomie nicht vertraut war, erkannte sie in seinem Gesicht etwas, das ruhige Autorität und Kompetenz bewies.

Thorpe kam näher. »Helen, Duke, Elisabeth, Beatrice, Stratford …« Er nannte noch einige weitere Namen, was typisch für ihn war. Thorpe verzichtete nie darauf, Traveller und Personal mit ihren Namen anzusprechen. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, diesmal haben Sie keinen Zutritt.«

»Aber …«, begann die nie um einen Streit verlegene Helen.

»Wir sind hier eine große Familie, Mr. Thorpe«, kam Rasmussen ihr zuvor. »Tenekers Wohlergehen liegt uns allen am Herzen.«

»Das verstehe ich natürlich, Jonas«, sagte Thorpe. »Aber diesmal haben wir es mit besonderen Umständen zu tun.« Wir, dachte Florence, die Hände noch immer an den Griffen des Rollstuhls. Er spricht von wir, als gehörte er wirklich zu uns.

»Mr. Fukuroku legt großen Wert darauf, dass der Kreis der beteiligten Personen möglichst klein bleibt«, fügte Thorpe mit einem kurzen Blick auf den Asiaten hinzu.

Rasmussen seufzte. »Na schön. Ihr habt es gehört«, wandte er sich an die anderen Traveller. »Ich gebe euch später Bescheid, wie es Teneker geht.«

»Ist das der Mann, über den wir gesprochen haben?«, fragte der Asiat, als die anderen Traveller gegangen waren.

»Ja«, bestätigte Thorpe.

»Und die Frau? Brauchen wir sie?«

»Das ist Florence, seine Therapeutin«, sagte Rasmussen.

»Sie begleitet ihn bei seinen Reisen.«

»Braucht er eine Begleiterin?«

»Ich glaube schon, Mr. Fukuroku«, antwortete Thorpe.

»Die Therapeuten der Foundation üben nicht nur eine therapeutische Funktion aus. Sie dienen dem Traveller gewissermaßen als Verbindung zur Realität und …«

»Ja«, sagte der Asiat. »Sie haben es mir erklärt. Ich erinnere mich. Teneker ist allein aufgebrochen.«

»Was der Grund dafür sein könnte, dass er im Geist des Patienten feststeckt«, sagte Rasmussen.

»Zach macht sich nicht ohne mich auf den Weg, so viel steht fest«, betonte Florence und schloss die Hände etwas fester um die Griffe des Rollstuhls.

»Ist sie vertrauenswürdig?« Fukuroku richtete die Frage nicht an den Direktor Rasmussen, sondern an Thorpe. »Der Sicherheitsaspekt darf nicht vernachlässigt werden.«

Der Cursor wanderte über den Monitor. Was wird hier gespielt?, schrieb Zacharias mit den Augen. Was soll dieses Affentheater?

»Ich bin sicher, dass Florence unser aller Vertrauen verdient, nicht wahr, Jonas?«, erwiderte Thorpe.

Eine Frau in mittleren Jahren erschien in der Tür des nächsten Behandlungszimmers. Florence erkannte Agnes, die zum spezialisierten Pflegepersonal gehörte. »Es geht ihnen schlechter, ihnen beiden.«

Eine knappe Geste von Fukuroku ließ die Uniformierten beiseitetreten, und Florence schob den Rollstuhl hinter Thorpe und dem Asiaten ins Zimmer, das Teil einer kleinen Suite war. Zwei weitere Konzernpolizisten standen neben den Topfpflanzen am breiten Fenster, als wollten sie verhindern, dass Unbefugte von dort ins Zimmer eindrangen, im fünfundzwanzigsten Stock. Tische und Stühle waren beiseitegerückt worden, um Platz zu schaffen für zusätzliche Geräte und eine Interface-Liege, über das lokale Terminal mit Lily verbunden. Es wirkte alles recht überhastet und improvisiert, fand Florence, als sie sich im Zimmer umsah, die Hände noch immer an den Griffen des Rollstuhls. Im Patientenbett auf der anderen Seite lag ein junger, schmächtiger Mann mit asiatischen Gesichtszügen. Mehrere Pflaster klebten in seinem zerkratzten blassen Gesicht, und die Augen unter den Lidern bewegten sich nicht. Völlig reglos lag er da, und wenn nicht die Datenkolonnen und Zackenlinien gewesen wären, die über nahe Bildschirme wanderten, hätte Florence ihn für tot gehalten.

»Ich nehme an, das ist der Patient«, sagte sie.

»Ja«, bestätigte Thorpe.

Der Cursor wanderte über Zacharias’ Monitor. Wo ist Teneker?

»Wo ist Teneker?«, fragte Florence.

»Im Nebenzimmer.«

Ich möchte ihn sehen, schrieb Zacharias.

Florence schob den Rollstuhl durch die Tür in den nächsten Raum, der den Eindruck erweckte, in aller Eile in eine Notfallstation verwandelt worden sein. Medizinische Geräte summten zu beiden Seiten des Bettes, in dem Teneker lag, ebenso blass und reglos wie der Patient, das dunkle Haar zerzaust. Dr. Anderson, einer der Ärzte der Foundation – gut vierzig, kahlköpfig und mit einem Bauch, der sich unter dem weißen Kittel wölbte –, überprüfte die Anzeigen und drehte sich um, als Florence und Zacharias hereinkamen, gefolgt von Thorpe und Fukuroku.

»Wie geht es ihm?«, fragte Florence.

»Schlecht«, antwortete Anderson ernst. »Wir haben die Verbindungen gekappt, und er bekommt kein Tetranol mehr, aber er bleibt im Geist des Patienten gefangen. Vor einer halben Stunde ist es uns gelungen, ihn für einige Sekunden zu wecken, aber inzwischen reagiert er kaum noch auf äußere Reize. Seine Bewusstlosigkeit weitet sich schnell zum Koma aus.«

Penelope, dachte Florence, und der Name erschien auch auf Zacharias’ Monitor: Penelope. Der Cursor verharrte kurz, bewegte sich dann wieder und schrieb weitere Worte. Er muss wieder verbunden werden. Und er braucht eine neue Dosis Tetranol. Machen wir uns bereit, Flo.

»Was hält ihn fest?«, fragte Florence. »Was hat es mit dem Patienten auf sich?«

»Mr. Fukuroku hat uns gebeten, diese Angelegenheit sehr … diskret zu behandeln«, sagte Thorpe.

»Inzwischen sind Sie lange genug bei uns, um zu wissen, dass wir Informationen brauchen, bevor wir in einen Einsatz gehen. Je besser wir über den Patienten Bescheid wissen, desto größer sind die Erfolgsaussichten.« Florence unterbrach sich kurz. »Worum geht es überhaupt? Abgesehen davon, Teneker zurückzuholen.«

»Der Mann, den wir zur Foundation gebracht haben, Miss Florence …«, sagte Fukuroku. »Er ist sehr wichtig für uns, für Samsung-Nippon. Vielleicht hat Direktor Rasmussen Sie bereits darauf hingewiesen, dass er in unserer Entwicklungsabteilung tätig ist und dort an einem Projekt arbeitet, von dem wir uns viel versprechen. Er fiel einem Verbrechen zum Opfer.«

»Einem Verbrechen?«

»Jemand hat ihn entführt, Miss Florence«, fuhr Fukuroku fort. Er sprach sehr ruhig. »Vielleicht jemand, der von ihm erfahren wollte, woran er arbeitet. Als wir ihn fanden, war er geistig verwirrt, und später verletzte er sich selbst mit einem Messer, vielleicht in dem Versuch, sich umzubringen.«

»Hundertsieben Schnitte«, warf Anderson ein. »Am ganzen Körper.«

»Mr. Fukuroku hat uns um die Identifizierung der Person gebeten, die hinter der Entführung steckt«, sagte Thorpe.

»Und um die Beseitigung des Traumas. Er bat um den Einsatz des besten Travellers, aber ihr wart unterwegs, und Teneker erklärte sich bereit, den Auftrag zu übernehmen.«

»Dies ist der beste Mann, den Sie haben?« Fukuroku trat vor und musterte Zacharias. »Kann er mich verstehen?«

Ich verstehe Sie sehr gut, schrieb der Cursor.

»Wir benötigen weitere Informationen«, beharrte Florence und wandte sich an den neben der Tür stehenden Rasmussen. »Zach ist müde, Jonas. Das erhöht das Risiko. Wir müssen wissen, welche Welt uns erwartet. Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, was Teneker festhält?«

Rasmussen öffnete den Mund zu einer Antwort, aber Fukuroku kam ihm zuvor. »Er leidet an einer seltenen Nervenkrankheit, nicht wahr?«

»ALS«, sagte Florence. Es klang fast trotzig.

»Amyotrophe Lateralsklerose. Eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems.« Fukuroku bemerkte Florences erstaunten Blick und fügte hinzu: »Direktor Rasmussen war so freundlich, mich zu informieren. Soweit ich weiß, führt ALS nach wenigen Jahren zum Tod.«

»Nicht immer«, sagte Florence. »Die Behandlung mit Tetranol hat die Krankheit weitgehend stabilisiert.« Das stimmte nicht ganz; es war nur die halbe Wahrheit.

»Und seine besonderen Fähigkeiten stimuliert.« Fukuroku kam noch einen Schritt näher und sah auf Zacharias hinab. »Körperlich sind Sie ein Krüppel, wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten, Mr. Zacharias. Aber geistig sind Sie ein Riese, nicht wahr? Und damit befinden Sie sich in guter Gesellschaft.«

Zacharias’ Augen bewegten sich für die Mikrokamera am Schwenkarm. Ich bin kein genialer Physiker wie Stephen Hawking, schrieb der Cursor auf den Monitor. Ich bin nur ein Traveller.

»Und doch ruhen meine Hoffnungen jetzt auf Ihnen, Mr. Zacharias. Finden Sie heraus, wer versucht hat, unseren Mitarbeiter zu entführen. Samsung-Nippon wird Ihnen dankbar sein, Ihnen und der Foundation.«

»Hol Teneker zurück, Zacharias«, sagte Rasmussen.

Eins der medizinischen Geräte piepte, und Florence bemerkte, wie das warnende Gelb mehrerer Indikatoren in ein alarmierendes Rot überging. Dr. Anderson beugte sich über Teneker, hob ein Lid des Reglosen und leuchtete ihm mit einer kleinen Stiftlampe ins Auge, während Agnes die Anzeigen der Geräte überprüfte.

»Wir verlieren ihn«, sagte der Arzt ernst. »Was auch immer wir versuchen, um sein Bewusstsein zu stabilisieren, es funktioniert nicht. Irgendetwas zieht ihn fort.«

Der blinkende Cursor wanderte über Zacharias’ Monitor und hinterließ Worte. Lasst uns keine Zeit mehr verlieren. Retten wir Teneker, Flo.

»Ja«, sagte sie und schob den Rollstuhl zurück ins andere Zimmer. Dort sah sie sich vergeblich nach einem Tisch mit Getränken um. »Agnes, bitte bringen Sie mir etwas zu trinken; ich habe noch immer Durst. Und ich brauche auch etwas zu essen.«

»Wir hängen Sie an einen Tropf«, sagte Dr. Anderson und bedeutete ihr, es sich auf der Interface-Liege bequem zu machen. Dann rollte er einen Ständer heran, befestigte oben einen mit klarer Flüssigkeit gefüllten Behälter und verband den davon ausgehenden dünnen Schlauch mit dem kleinen Adapter, den sie noch vom letzten Einsatz in der Armbeuge trug.

Zacharias hatte mit einem Augen-Befehl den Elektromotor eingeschaltet und lenkte seinen Rollstuhl neben das Bett. »Wenn du noch etwas brauchst, Zach …«, sagte Florence. »Jetzt ist der richtige Moment, danach zu fragen.«

Der Monitor drehte sich, sodass allein sie die Worte sehen konnte, die darauf erschienen. Ich brauche nur dich, Flo.

Sie lächelte und drückte eine der schmalen Hände, die schlaff in Zacharias’ Schoß ruhten.

Als sie den Kopf aufs Kissen sinken ließ, begegnete sie Rasmussens Blick, und auch seine Augen sprachen. Sie sagten: Es tut mir leid; mir bleibt keine Wahl.

Hinter ihm schloss ein Mann in blauer Uniform die Tür des Behandlungszimmers und bezog davor Aufstellung. Ein anderer Uniformierter drehte die Justierstange der Jalousie am Fenster, und die Lücken zwischen den Lamellen wurden kleiner. Florence beobachtete, wie das Blau das Himmels schrumpfte, des blauen Himmels über dem blauen Meer, und die blauen Uniformen der Konzernpolizisten schienen zu einem Teil von Himmel und Meer zu werden. Tetranol, dachte sie. Der Tropf enthält nicht nur eine Nährlösung, sondern auch Tetranol. Und es begann bereits zu wirken, was auf eine hohe Dosis hindeutete. Warum gab ihr Anderson so viel, obwohl sie gerade aus einem Einsatz kam?

Eine Welle warmen, fiebrigen Wohlbehagens schwemmte die Frage fort. Flinke Finger – Agnes – befestigten Sensoren an Stirn und Schläfen, und Florence hörte bereits das Datenflüstern der Interface-Systeme, die sie mit Lily verbanden. Gleich, dachte sie und suchte Zacharias’ wartende Augen. Gleich sehe ich dich wieder, wie du wirklich bist. Es war ein seltsamer Gedanke, losgelöst von den anderen, vielleicht schon Teil der Reise.

Ein Gesicht erschien vor ihr. »Florence?«, fragte Thorpe.

»Sie kann mich doch nicht hören, Jonas, oder?«

»Ich … höre Sie«, sagte Florence, halb fortgetragen vom Tetranol-Wohlbehagen.

»Bevor Sie aufbrechen, Florence … Da wäre noch etwas.« Eine besondere Eindringlichkeit lag in Thorpes Stimme.

»Der Patient hat Vorrang, Florence. Verstehen Sie?«

»Der … Patient?« Da war Zacharias, ganz nahe. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken, die Hand des Geistes, um ihn zu begleiten. Er wartete auf sie, zuversichtlich und stark, trotz des langen Einsatzes, den sie hinter sich hatten. Sie brauchte nur die Worte zu sprechen.

»Er hat Vorrang, Florence«, sagte Thorpe und beugte sich tiefer. Sie spürte seinen Atem. Zimt, dachte sie. Er riecht nach Zimt. Wie seltsam. »Finden Sie heraus, wer ihn entführt hat und was mit ihm geschehen ist. Das hat Vorrang, Florence. Es tut mir leid, aber es ist sehr wichtig. Anschließend können Sie sich um Teneker kümmern.«

»Anschließend?«

»Alle Verbindungen sind hergestellt«, erklang eine andere Stimme. Florence glaubte, dass sie Dr. Anderson gehörte.

Sie schloss kurz die Augen. Als sie die Lider wieder hob, schien es im Zimmer dunkler geworden zu sein, und neben dem wie immer freundlichen Thorpe stand ein Mann in dunklem Anzug. Fukurokus Lippen bewegten sich, aber seine Worte galten nicht ihr, sondern Zacharias, der klein und zerbrechlich im Rollstuhl saß, den Kopf schief an der Lehne, die Augen groß und wach.

»Identifizieren Sie den Entführer und stellen Sie fest, wie viel er herausgefunden hat, Mr. Zacharias.«

Schluss mit dem Unfug, dachte Florence. Zuerst holen wir Teneker zurück, und dann sehen wir weiter.

Sie sprach die magische Formel. »Programm starten.« Über die Interface-Verbindungen empfing Lily die Anweisungen und startete das Traveller-Programm. Der Behandlungsraum verschwand, und eine neue Welt öffnete sich vor ihr.

Penelope

Wenn ich es richtig verstehe, Jonas … Ich darf Sie doch Jonas nennen?«, fragte Thorpe mit einem freundlichen Lächeln.

»Natürlich«, sagte Rasmussen.

»Nun, wenn ich es richtig verstehe, ist das Ich dieser Person an einem anderen Ort gefangen.«

Sie standen am Bett der jungen Frau, die Penelope hieß und die man Santa Maria nannte. Thorpe befand sich erst seit wenigen Tagen bei der Foundation, aber er hatte sich gut informiert und begann zu verstehen, was die einzelnen Personen bewegte. Das gehörte zu seinen Aufgaben: sich einen Überblick zu verschaffen, nicht nur über die Projekte, sondern vor allem über die daran beteiligten Personen.

Lebenserhaltungsmaschinen in der Nähe sangen ein leises, monotones Lied.

»Penelope lebt nur noch, weil sie an diese Maschinen angeschlossen ist. Weil wir sie nicht sterben lassen«, sagte Rasmussen. Es klang traurig, stellte Thorpe fest. »Wo ihr Geist ist …« Er zuckte die Schultern.

»Sie hat einen Schock erlitten, nicht wahr?«, fragte Thorpe und sah auf die junge Frau hinab. Penelope Ayyad, geboren in Tel Aviv vor fünfundzwanzig Jahren, kurz vor der Überflutung der Stadt, dachte Thorpe. Tochter eines Palästinensers und einer Israelitin, noch dazu einer ehemaligen Offizierin in der israelischen Armee; das war erstaunlich genug. Ihr dunkles Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. Sie schien zu schlafen. Wie Dornröschen, ertappte sich Thorpe bei einem der absurden Gedanken, die ihm manchmal kamen. Aber wer und wo ist der Prinz, der sie wachküsst? Und an welcher Spindel hat sie sich gestochen?

»Um ganz ehrlich zu sein … Wir wissen nicht genau, was mit ihr passiert ist«, sagte der Mann mit dem grauen Vollbart, der sich in seiner Vaterrolle für die Gemeinschaft der SGPs wohlfühlte. »Bei ihrem damaligen Einsatz hätte es eigentlich nicht zu Problemen kommen dürfen, aber plötzlich starb der Patient an einem Hirninfarkt.«

»An einem Hirninfarkt? So was gibt es?«, fragte Thorpe. Er wusste natürlich Bescheid – er kannte die Krankengeschichte und verstand die medizinischen Details –, aber manchmal schadete es nicht, sich ein bisschen dumm zu stellen.

»Der Patient erlitt einen Ischämischen Schlaganfall«, sagte Rasmussen. »Es ging alles sehr schnell. Wir haben versucht, Penelope zurückzuholen, aber das gelang nicht. Seitdem ist ihre Seele verschollen.«

Eine verschollene Seele, dachte Thorpe. Mein Gott, wie das klingt!

»Und die … Stigmatisation?«, fragte er mit einem freundlichen Lächeln. Immer freundlich lächeln, das gehörte dazu. Vorsichtig ergriff er Penelopes kleine Hand und achtete darauf, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Aus irgendeinem Grund hatte er damit gerechnet, dass sie kalt war, aber sie erwies sich als erstaunlich warm. Innen, fast genau in der Mitte, gab es einen Fleck. Thorpe deutete erst darauf und dann auf die wie schlecht verheilte Kratzer aussehenden Male an der Stirn. »Nägel in den Händen, eine Dornenkrone an der Stirn …«

»Die Verfärbungen sind zweifellos psychogener Natur«, sagte Rasmussen. »Penelope stammt aus einem sehr religiös geprägten familiären Umfeld.«

Thorpe dachte über diese Worte nach. »Ich nehme an, Sie sind nicht besonders religiös, Jonas, oder?« Auch diesmal vergaß er das freundliche Lächeln nicht.

Rasmussens Miene umwölkte sich kurz. »Der Mensch hat Gott erfunden, und wen wundert es da, dass Gott den Menschen im Stich gelassen hat. Die Welt steuert auf eine Katastrophe zu, Mr. Thorpe, und wenn es einen Gott gibt, sieht er tatenlos zu.«

»Kommt darauf an.« Thorpe deutete auf die junge Frau im Bett, auf das schlafende Dornröschen. »Vielleicht ist dies Seine Antwort.«

»Penelope?«

»Sie und die anderen. Vor ein paar Tagen, kurz nach meinem Eintreffen, haben Sie von Evolution gesprochen, Jonas, und davon, dass die sogenannten Traveller eine Antwort der Evolution auf das Ende der uns vertrauten Welt darstellen könnten. Wer weiß? Vielleicht steckt Seine Hand dahinter.« Er fügte diesen Worten ein weiteres Lächeln hinzu, damit Rasmussen ihn nicht für einen Fundamentalisten hielt. »Übrigens …«, sagte er dann. »Wenn Sie recht haben, und daran zweifle ich nicht, gibt es noch Hoffnung für Penelope. Wenn diese Male tatsächlich psychogener Natur sind, so muss noch ein Geist da sein, der sie geschaffen hat, nicht wahr?«

Eine Zeit lang schwiegen sie beide und sahen auf Penelope hinab.

»Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Thorpe?«

»Aber natürlich, Jonas. Fragen Sie, fragen Sie nur.«

»Warum sind Sie hier, Mr. Thorpe? Warum hat Sie das Philanthropische Institut zu uns geschickt?«