Seelengold - Maria Hermann - E-Book

Seelengold E-Book

Maria Hermann

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Beschreibung

Sie träumte vom Sterben. Er glaubte nicht an die Liebe. Doch das Schicksal hatte längst entschieden. Als gebürtige Londonerin hält es Selene Johnson mit der Melancholie wie mit dem Extrakäse auf der Pizza: Ohne ergibt das Leben keinen Sinn. Doch nach dem Tod ihrer Mutter leidet Selene unter Albträumen und Realitätsverlust. Da begegnet sie einem Mann, der dem Boden der Tatsachen kaum ferner sein könnte. Akkadier Roven McRae berührt etwas in ihr, das sie vor langer Zeit verlernt hatte: die Freude am Leben. Und an der Liebe. Von liebevollen Bestien, Schwertkämpfen in Londons Innenstadt und ersten Dates in Jogginghose.

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Widmung

Ich widme dieses Buch dir. Ja, genau dir, der oder die es jetzt gerade in den Händen hält – egal ob in Papier oder eBook Form.

Welchen Grund auch immer du hattest, es zu kaufen, zu leihen oder zu downloaden – ich freue mich, dass du mir die Chance gibst, dich ein paar Stunden oder Tage in deinem Leben zu begleiten.

Denn das Schönste am Schreiben ist die Verbindung, die beim Lesen zu dir entsteht.

Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechszehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Danksagung

Eins

London

Ich will hier weg.

Selene beobachtete, wie Grace von Sekunde zu Sekunde mehr in sich zusammenfiel. Sie schluchzte und zitterte, schnaubte ins Taschentuch und tupfte sich die Wangen trocken. Doch ihre Tränen nahmen kein Ende.

Ich will hier weg.

»Geliebte Mutter und Freundin …«, sagte der Pfarrer. Selene blendete die Worte aus, versuchte, ihre Mauern so schalldicht wie möglich zu halten. Wollte nichts davon hören. »… nach viel zu langer Krankheit …« Selene schluckte. Einmal. Zweimal. Bauchspeicheldrüsenkrebs – wozu dieses Organ nützlich war, hatte Selene nie begriffen. Ihre Wangen wurden heiß. Sie biss die Zähne zusammen und zählte die Knöpfe an Grace’ blassgrünem Mantel. In der Herbstsonne wirkte er unpassend freundlich für eine Beerdigung. Alles an diesem Tag wirkte unpassend freundlich: die goldenen Blätter, der grüne Rasen, das Wetter. Beerdigungen sollten bei Regen stattfinden.

Grace musste von ihrem Mann gestützt werden. Als beste Freundin der Verstorbenen war sie erschüttert. Der Rest der Anwesenden tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Tod für Charlotte Johnson eine Erlösung gewesen war. Selene sah das blasse Gesicht ihrer Mutter. Die tiefen Augenhöhlen, die schmalen Lippen. Als der Pfarrer auf den Krebs zu sprechen kam, dachte sie an Schalentiere und konnte das Trommeln in ihrer Brust nur langsam beruhigen. Der Wind frischte auf und fuhr ihr durchs Haar, wedelte ihr dunkle Strähnen vors Gesicht. Selene schloss die Augen und wartete auf das Ende der Rede. Sie lauschte dem Wind, dem Blätterrascheln in den Wipfeln. Es schien Ewigkeiten zu dauern.

Ich will hier weg!

Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, war die Stille in ihrem Kopf ohrenbetäubend. Etwas in ihr wollte raus, den Deckel aufreißen und ihre Mutter wachrütteln. Sie anschreien. Umarmen. Küssen. Die Wärme spüren. Den Duft ihrer Tagescreme riechen.

Jemand tätschelte ihre Schulter. Starr wandte Selene sich ab, ignorierte den Kloß im Hals und verließ den Friedhof. Fuhr mit dem Taxi nach Hause und fühlte sich wie der letzte Mensch auf der Welt. Sie ging die Stufen des Reihenhauses in der Pattison Road hoch, schloss die Tür auf und drückte sie von innen zu. Lehnte sich dagegen. Versuchte zu atmen. Da war nur Leere in ihr. Kein Gefühl. Keine Wut oder Trauer. Sie spürte nur diesen Druck, der ihren Körper als einziges zusammenzuhalten schien. Der ihre Beine davon abhielt, einzuknicken. Ihre Tränen davor, auszubrechen. Der ihr Herz umschloss und es vor jeglichem Schmerz bewahrte.

Selene ließ die Handtasche fallen, streifte ihre Schuhe ab und durchquerte den Flur. Das Holz knarrte unter ihren Schritten. Sie blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete ihre Augen, die dunkler als sonst erschienen. Beinahe schwarz. Schatten fanden sich in Augenringen und Wangen. Selene hatte seit dem Tod ihrer Mutter wenig gegessen. Schau dich an. Das machst du aus dir. Die Frau im Spiegel sah nicht mehr aus wie siebenundzwanzig und würde es nie wieder. Es gab ihr ein Gefühl von Kontrolle, zu beobachten, was aus ihr wurde, wenn sie sich vernachlässigte. Nicht, dass sie vorhatte, etwas daran zu ändern. Wer wollte ihr vorwerfen, dass sie sich gehenließ, um mit dem Tod ihrer Mutter klarzukommen? Sollte es nur einer wagen.

Selene ging in die Küche und stellte den Wasserkocher an, öffnete die Schranktür und blickte auf ihre Lieblingstasse. Happy stand in bunten Buchstaben auf einem noch bunteren Hintergrund. Sie starrte die Tasse an, versuchte sich zu erinnern, wann Mum ihr die geschenkt hatte, und musste an die Momente denken, in denen sie zusammen hier am Küchentisch gesessen und erzählt hatten. Lange, bevor der Krebs gekommen war.

Selene griff nach dem schwarzen Kaffeebecher neben der Happy-Tasse und schloss die Schranktür. Sie goss irgendeinen Tee auf, ließ ihn in der Küche stehen und ging ins Wohnzimmer. Legte sich auf die Couch und starrte den stummen Fernseher an. Schaltete ihn ein und deckte sich zu. Ihre Augen wurden schwer und tränten. Die Geräusche des Fernsehers verschwanden langsam im Hintergrund. Selene hörte ihren Atem, und aus der Dunkelheit wurde Licht.

Träume waren Verräter. Egal, wie schlecht es ihr ging, in ihren Träumen spürte sie nichts davon. Vielleicht sollte sie in Zukunft nur noch schlafen.

Sie rannte durch einen Wald, spürte die Wärme der Erde unter ihren Füßen. Das Laub raschelte und war genauso weiß wie die Blätter in den Baumkronen. Nebel schluckte die Ferne, kühler Wind strich ihr über die Haut. Sie fühlte keinen Schmerz, keinen Druck auf ihren Schultern, der sie zusammenhalten musste. Nur Freiheit. Fühlte sich angekommen. Sie brauchte nichts außer sich selbst und das alles überstrahlende Glück im Herzen. Es hätte sie überfordern sollen, die Euphorie zerriss sie beinahe und war doch kein bisschen zu viel.

Selene wurde langsamer, als sie einen Duft wahrnahm. Sie hielt schwer atmend an und bemerkte ihr wallendes Kleid aus dunkelblauer Seide. Ihr Haar kitzelte am Rücken, und auf ihrer Haut bildete sich ein leichter Film. Da war er wieder, dieser Duft. Maskulin, schwer. Nach Kaffee, Ingwer und … Zimt? Selene drehte sich um und suchte. Ihre Füße bewegten sich wie von allein, folgten der Spur durch die Bäume. Da gab der Nebel ein Gebäude frei, waberte auseinander und enthüllte breite Stufen, die zu einem Tor führten. Selene ging die Treppe hoch. Ihre Hand berührte die kalte Klinke und drückte sie nach unten. Das Tor glitt nach innen auf. Eine Duftwolke wallte über Selene hinweg, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Im Eingangsbereich war es dunkel, nachtblaue Vorhänge verkleideten Wände und Bilder, als wäre das Gebäude seit Jahrzehnten unbewohnt. Eisiger Wind strich um ihre Füße und ließ sie frösteln. Selene ging langsam weiter, schaute sich um, konnte im Dunkel aber nichts erkennen. Das Licht von draußen rahmte ihren Schatten ein und beleuchtete die ersten Stufen einer Freitreppe, die oben im Nichts verschwand. Direkt davor war ein Mosaik in den Steinboden eingearbeitet. Glänzend blaue Steine bildeten den Hintergrund für das Bild eines muskulösen Tieres. Es hätte ein Löwe sein können, wären da nicht die zwei Hörner an seinem Kopf. Selene berührte die Steine und fuhr das aufgerissene Maul des Tieres nach. Plötzlich musste sie sich räuspern und schluckte. Fasste mit der Hand an ihren Hals. Etwas war in ihrer Kehle. Sie bekam Panik. Ihre Brust zog sich zusammen. Sie hustete und spuckte Blut, bekam kaum noch Luft, als hätten ihre Lungen nicht genügend Platz. Als würden sie mit irgendetwas gefüllt. Selene stützte sich auf und hustete immer stärker. Keuchte und würgte, als ihre Hände plötzlich von roter Flüssigkeit umspült wurden. Sie schaute hoch. Ein Sturzbach aus Blut kam die Treppe herunter. Selene kroch rückwärts und hatte kaum noch Kraft, zog sich auf dem Bauch Richtung Ausgang, als das Tor krachend ins Schloss fiel. Sie erbrach Blut, drohte zu ersticken. Entkräftet drehte sie sich auf den Rücken und blickte auf einen Kronleuchter an der Decke. Ihr Körper zuckte und kämpfte. Warmes Blut tränkte ihr Haar, umspülte ihr Gesicht und schloss sich über ihr zusammen.

Selene riss die Augen auf und starrte an die Zimmerdecke. Ihr Herzschlag raste, das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie bewegte sich nicht, zu tief saß der Schreck. Nur ein Traum, es war nicht real gewesen, hatte sich aber viel zu echt angefühlt. Sie schluckte, ihr Rachen war frei. Selene war nicht abergläubisch. Ihr Unterbewusstsein versuchte nur, Erlebtes zu verarbeiten. Es spielte also keine Rolle, was sie träumte. Richtig?

Draußen prasselte Regen gegen die Fensterscheiben. Selene lauschte ein paar Minuten und stand schließlich auf, ging im Dunkeln in die Küche und kippte den kalten Tee in den Ausguss. Spülte die Tasse ab und stellte sie zurück in den Schrank. Sie müsste etwas essen, hatte aber keinen Hunger. Der Kühlschrank war sowieso leer. Vom Wohnzimmer drang der Krach des Fernsehers bis hierher. Irgendein abendliches Quiz lief. Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren. Konnte den Druck in ihrer Kehle aber nicht verdrängen. Etwas wollte raus. Schreien. Weinen. Zerspringen. Selene biss die Zähne zusammen und schüttelte unbewusst den Kopf. Holte einmal tief Luft und nahm die Treppe in den ersten Stock, zog sich im Schlafzimmer ihr Sportzeug an und … blieb an Ort und Stelle stehen. Sie war seit Wochen nicht gelaufen. Selene setzte sich auf die Bettkante und blickte auf den MP3-Player in ihren Händen, fuhr die Umrisse mit dem Daumen nach und wischte die Fingerabdrücke an ihrer Jacke ab. Sie verstaute ihn wieder im Nachtschrank, legte sich angezogen ins Bett und versuchte zu schlafen.

Am nächsten Morgen schaltete Selene den Fernseher im Wohnzimmer aus. Die einkehrende Stille war fürchterlich. Wenn man allein lebte, war es oft still. Bislang hatte sich Selene nie daran gestört. Nicht einmal die Heizung machte Geräusche. Als es an der Tür klingelte, zuckte sie zusammen und überlegte, ob sie aufmachen sollte. Mit schweren Schritten ging Selene durch den Flur.

»Julia.«

Erst antwortete ihre Freundin nicht. Julia gehörte zu den Menschen, die immer strahlten. Selbst wenn sie, wie gerade, voller Mitgefühl und stummer Trauer war. »Es tut mir so leid, dass ich nicht kommen konnte.«

»Kein Problem.« Selene trat zu Seite und ließ sie rein. Es war wirklich kein Problem. Julia an ihrer Seite hätte es eher schlimmer als besser gemacht. »Setz dich. Ich wollte mir gerade Kaffee machen …« Selene blieb im Türrahmen zur Küche stehen und konnte ihrer Freundin nicht in die Augen schauen.

»Wolltest du nicht«, antwortete Julia liebevoll. Sie blieb an der Arbeitsplatte stehen. »Genauso wenig wie joggen.«

Selene hatte ihre Sportsachen noch an und fühlte sich ertappt. Sie zuckte mit der Schulter.

»Wir hatten eine Störung im Labor«, erklärte Julia ihr Fehlen bei der Beerdigung. Sie arbeitete an der medizinischen Fakultät des Imperial College. »Deswegen …«

»Schon okay.«

»Wie … war es?« Die blonden Augenbrauen ihrer Freundin zogen sich zusammen. Sie presste die Lippen aufeinander.

»Ich denke, es war in Ordnung. Zeitlich hat alles gepasst. Die Organisation war okay. Also …« Selene starrte ins Leere.

»Und wie geht es dir?«

Selene schüttelte langsam den Kopf. »Keine Ahnung. Ich … kriege es irgendwie hin.« Sie holte Luft. »Ich dachte nur, … es würde leichter werden. Jetzt. Nach der …«

»Das wird es«, antwortete Julia nach einer Pause.

»Glaubst du?« Selene sah hoch.

»Das wird es.« Julia sah sie lange an. »Jeden Tag ein bisschen.« Sie lächelte schwach und wusste anscheinend nicht, was sie noch sagen sollte. Selene auch nicht. Schließlich wandte Julia sich der Küche zu. »Ich mach uns einen Kaffee.«

Selene ging zum Fenster und schaute nach draußen. Sie hatte keine Familie mehr. Außer Julia keine Freunde. Allein zu sein, war ihr nie schwer gefallen. Sie füllte ihre Freizeit mit Hobbys. Lesen. Joggen. Aus dem Fenster schauen und die Stille genießen. Doch in diesen Tagen belastete sie die Einsamkeit. Als wäre Selene allein nicht mehr genug. Als fehlte etwas, um vollständig zu sein. Vielleicht brauchte es wirklich nur Zeit.

Selene erinnerte sich an den Tag, als sie Julia kennengelernt hatte. Das war mittlerweile zwei Jahre her. Sie war ihr an einem verregneten Freitagnachmittag im Coffee Market House über die Füße gestolpert. Julia hatte darauf bestanden, dass sie sich zu ihr setzte – das Café war überfüllt gewesen – und hatte sie in ein Gespräch verwickelt.

Selene drehte sich um und beobachtete ihre Freundin beim Kaffeekochen. Julias lange kupferfarbene Locken tanzten bei jeder Bewegung über ihren Rücken. Sie hatte tolle weibliche Kurven. Bevor Selene sie kennengelernt hatte, war sie fest davon überzeugt gewesen, in ihrem Leben niemanden außer sich selbst zu brauchen. Und ihre Mum. Heute war sie dankbar, dass es Julia gab. Zum Beispiel wenn sie zu Silvester mit drei Flaschen Sekt vor der Tür stand und ihre Party sausen ließ, damit Selene nicht allein war. Oder sie mitten in der Nacht besuchte und ihr Gesellschaft leistete, als ob sie gewusst hätte, dass Selene nicht schlafen konnte. Oder auch an einem Sonntagmorgen, an dem Selenes Welt wie ein einziger Abgrund erschien, zum Frühstück vorbeikam und bei ihr blieb, als hätte sie Angst, Selene könnte sonst eine Dummheit anstellen.

Ihre Sicht verschwamm, als sie Julia beim Hantieren zusah. Und wenn ihre Freundin plötzlich nicht mehr da wäre, würde sie ein weiteres Loch in Selenes Herz hinterlassen, gleich neben dem, das ihrer Mutter galt.

»Du hast nichts Gescheites im Kühlschrank. Ich hätte gleich was mitbringen sollen!« Julia warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Dann gibt es eben … Rührei … mit … Toast.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Du hast Hunger. Oder soll ich erst deine Rippen zählen?«

Selene verzog das Gesicht und ließ sich breitschlagen, bekam einen dampfenden Kaffee und frisches Rührei vor die Nase gestellt und aß artig auf.

Julia blieb bis zum Mittag und bestand darauf, Pizza zu bestellen. Selene bekam ein Stück herunter. Mehr ging nicht.

»Du isst den Rest heute Abend!«

»Bestimmt.«

»Selene!«, mahnte sie. »Versuch es, bitte.«

»Okay …«

»Gehst du heute noch laufen?«

»Weiß nicht.«

»Tut dir bestimmt gut …«

»Hm.« Selene wusste nicht, ob sie etwas machen wollte, das ihr gut tat. Aber das konnte Julia sich vermutlich selbst denken. Sie drückten sich nicht zum Abschied. Julia berührte nur kurz ihre Schulter, was allein reichte, damit ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Bis morgen …«

»Willst du jetzt jeden Tag vorbeikommen?«

»Ja. Will ich. Und es bringt auch nichts, wenn du die Tür nicht aufmachst. Ich habe deinen Ersatzschlüssel.«

»Ach, wie praktisch.«

Julia zwinkerte und ging. Selene bereitete sich den Rest des Tages gedanklich darauf vor, abends zu joggen. Nachdem die Sonne untergegangen war, holte sie ihren MP3-Player und verließ die Wohnung Richtung Park. Die ersten Schritte fielen ihr schwer, fühlten sich falsch an. Doch nach und nach ging es besser. Es war nichts Romantisches daran zu laufen. Der Wind biss in ihre Finger und trieb ihr Tränen in die Augen, pfiff an ihren Ohren vorbei und übertönte jedes andere Geräusch. Selene verließ die Pattison Road und erreichte den Hampstead Heath Park, bog in den Waldweg ein und rannte schneller. Ihr Atem rasselte, die kalte Luft reizte ihre Lungen. Ihre Muskeln protestierten, und ihr Herzschlag flatterte. Sie rannte zu schnell, aber es half.

Zwei

Schottland

»Slainte!«, murmelte Roven zu sich selbst, kippte den Whiskey vom Vortag runter und stellte das Glas auf seinen Nachttisch. Ein guter Abend begann mit Tullermore Dew. Bei ihm jeder Abend. Die wenigsten wurden gut, aber den Versuch war es wert.

Er fuhr sich übers Gesicht und rieb seine Augenlider, hatte wirres Zeug geträumt, an das er sich kaum erinnerte. Nur eins war hängengeblieben – eine Nachricht von seiner Ahne Jolina. Jeder Akkadier stammte von einem der drei göttlichen Ahnen ab, den Kindern der Kriegsgöttin Ishtar. Jolina hatte ihn im Traum gebeten, in London nach seinem Freund Lennart zu suchen. Angeblich hatte er sich mit zu vielen Taryk angelegt und war seither verschwunden. Roven glaubte nicht, dass ihm etwas zugestoßen war. Dazu bedurfte es mehr als einer Handvoll Seelenreißer. So wurden die Taryk auch genannt, weil sie sich von der menschlichen Essenz ernährten, ihre Opfer aussaugten und nichts von dem übrigließen, was sie einst zu Menschen gemacht hatte. Der Taryk behielt die Seele in seinem Inneren, wo sie erst Frieden fand, wenn er getötet wurde. In den meisten Fällen starben die Opfer noch während des schmerzhaften Vorgangs an Herzversagen.

Der Akkadier stand auf, duschte und zog sich an – schwarzes T-Shirt und schwarze Lederhose. Er verließ sein Zimmer, ging an den leer stehenden Räumen des ersten Stockwerks seiner Burg vorbei und gelangte über die breite Freitreppe ins Erdgeschoss. Roven zwinkerte Ishtars Mosaik im Steinboden zu und lief zum Fenster. Die Rollläden fuhren für die Nacht hoch und gaben Ausblick auf die Landschaft. Nebelschwaden sammelten sich in den Tälern und fingen das Mondlicht ein. Das Gute an Schottland waren die Menschen, denn es gab nicht viele. Im Gegensatz zu London. Roven mochte Sterbliche nicht besonders. Bis auf die zwei, die in seinem Haushalt lebten.

»Guten Abend, Sire!«

Er drehte sich um. »Adam …«

Der Butler verbeugte sich leicht. »Habt ihr wohl geruht?«

»Wie immer.« Roven verzog das Gesicht.

Adam nickte verständig. Er arbeitete bereits seit fünfzig Jahren für den Akkadier und kannte Rovens Eigenarten. Normalerweise schaffte es ein menschlicher Verstand nicht, einen Unsterblichen im Langzeitgedächtnis abzuspeichern. Ein Mensch vergaß ihn wenige Sekunden später wieder. Doch ein kleiner Gendefekt, der oftmals vererbt wurde, ermöglichte es wenigen – unter anderem Adam und seinem Enkel Jason.

»Möchtet ihr Dinner zu euch nehmen? Ich habe noch –«

»Heute nicht«, fiel Roven ihm ins Wort. »Danke, aber ich muss nach London. Ist Jason im Keller?«

»Wie immer«, rief Adam ihm nach.

Da war Roven bereits in der Tür unter der Treppe verschwunden, folgte den Stufen abwärts, durchquerte das modrige Kellergewölbe und betrat sein Büro durch die Stahltür. Jason saß am Schreibtisch, hatte Kopfhörer auf und nickte zum Takt der Musik, die für Rovens Ohren selbst aus dieser Entfernung zu laut war. Er tippte den Jungen an der Schulter an, wodurch er kurz zusammenzuckte, sich aber gleich wieder fing. Jason nahm die Kopfhörer ab und drehte sich samt Stuhl. Seine braunen Haare standen in alle Richtungen ab.

»Nabend!«, rief er etwas zu laut.

»Ich bin im Gegensatz zu dir nicht schwerhörig.«

»Ach ja? Ich finde, du kannst ziemlich gut schlecht hören.« Er grinste und Roven gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Aua! Du verletzt meine Gefühle …«

»Bestimmt.«

Jason wandte sich wieder seinen drei Monitoren zu und stoppte die Musik für den Moment. »Was kann ich dir Gutes tun, Großer?«

»Ich muss nach London.«

»Und … du willst, dass ich dir die nächste Busreise raussuche? Warte mal, da war neulich was im Briefkasten. Irgendwas mit Rentnertreff und kostenlosen Heizdecken.« Jason zog vorsorglich den Kopf ein, doch Roven überging den Spruch.

»Lennart wird vermisst.«

»Ach, Quatsch!« Jason gab etwas in den Computer ein. Roven hatte von diesem Technikkrempel keine Ahnung, musste er auch nicht. »Hm«, machte der Junge. »Er war vor zwei Tagen zum letzten Mal online.«

»Das heißt?«

»Dass … er vor zwei Tagen zum letzten Mal online war. Kann alles und nichts bedeuten.«

»Wozu haben wir diese Geräte überhaupt?!«

»Entschuldige, holde Maid. Du kannst deine Kollegen ja zukünftig darauf hinweisen, sich bitte immer bei mir an- und abzumelden. Dann kann ich dir mehr dazu sagen. Aber ihr einsamen Wölfe jagt nun mal nicht gerne im Rudel. Somit sind meine Überwachungsmöglichkeiten begrenzt.«

»Kannst du dich nicht in seinen Computer hacken oder so?«

»Sicherlich. Aber was bringt uns das? Denkst du, er hat ein Jagd-Tagebuch geführt?« Roven knurrte. »Ich auch nicht«, murmelte Jason.

»Dann also auf die altmodische Art.«

»Ist dir doch eh am liebsten, alter Mann. Nimmst du den Piepser mit? Falls du Hilfe brauchst?«

Roven starrte den kleinen Knopf in Jasons Fingern an, sah dem Jungen in die Augen und ging ohne ein Wort zur Tür.

»Das heißt wohl, nein. Dann vergiss dein Küchenmesser aber bitte nicht.« Damit meinte er Rovens Breitschwert. Jason hatte mal versucht, es anzuheben. Ohne Erfolg. »Hörst du? Ich möchte mir meine keine Sorgen machen müssen, Schatz!«

»Halt die Klappe!«

»Ich dich au-uch«, sang er und lachte.

Kurz darauf erklang die Musik wieder. Roven teleportierte sich nach oben in sein Zimmer und legte die Kampfmontur an: ein Brusthalfter mit vier Messern und sein Breitschwert, das er in der Scheide am Rücken verstaute. Er zog seinen abgewetzten Ledermantel und die schweren Boots an, überlegte, ob er noch etwas brauchte und holte einmal tief Luft. Heute lastete die Zeit schwer auf seinen Schultern, und die Suche nach Lennart war eine eher unwillkommene Abwechslung. Zwar gab es in London für einen Akkadier mehr zu tun als in den Weiten der schottischen Highlands, doch die Menschenmassen gingen ihm jetzt schon auf den Sack.

Der Akkadier teleportierte sich die in die Londoner Innenstadt. Auf altmodische Art nach einem Bruder zu suchen, bedeutete, im Dreck zu wühlen – im menschlichen Verstand. Lennart war für die Hauptstadt allein verantwortlich. Es gab also niemanden, der etwas bemerkt haben könnte und sich noch daran erinnerte. Roven nahm nicht vollständig Gestalt an, sondern bewegte sich als schwarzer Schatten durch die Nacht. Er berührte jeden, der ihm in die Quere kam, rempelte auch den einen oder anderen Idioten an. Aber theoretisch reichte eine flüchtige Berührung, um ihre Köpfe aufs Wesentliche zu durchleuchten – Erinnerungen an Schockmomente, Unverarbeitetes, Verdrängtes. Das war im Üblichen das, was nach einer Begegnung mit einem Akkadier im Unterbewusstsein hängenblieb und erst nach und nach verschwand. Im Nirwana versickerte. War besser so. Die meisten Menschen wären mit Dingen wie Teleportation, Unsterblichkeit, Blut trinken und der alltäglichen Gewalt im Leben eines Akkadiers überfordert, von den Göttern ganz zu schweigen.

Roven fand allerhand Abfall – Hass, Neid, Lügen, bis hin zu Todesfällen und Gewalttaten. Ging ihn alles nichts an. Er bewegte sich durch die Innenstadt und erreichte bald die angrenzenden Wohngebiete. Privatsphäre kannte er genauso wenig wie abgeschlossene Haustüren, und wenn er mal eine teure Vase runterwarf, ließ er auch keinen Zettel mit seiner Rechnungsanschrift da. Er arbeitete sich durch das Feierabend-Programm und fand wenig Hilfreiches, durchkämmte die Parks und streifte einzelne Jogger, die sich ihre Köpfe über Sinnlosigkeiten zerbrachen. Roven erreichte eine junge Frau und berührte sie im Flug. Sie dachte – nichts. Er stockte und berührte sie erneut. Doch ihr Geist war leer. Zumindest gab sie ihm nichts Preis, was unmöglich war. Er blieb an ihr dran, folgte ihrem Lauf und suchte im Dunkel ihres Verstandes. Da blitzte ein Bild auf. Es zuckte durch seinen Kopf, als wäre es nicht ihre, sondern seine Erinnerung. Roven sah eine dunkelhaarige Frau in einem nachtblauen Kleid. Sie kniete vor einem Mosaik und er erkannte seinen eigenen Traum wieder. Der Akkadier stand am oberen Ende der Treppe seiner Burg und schaute auf sie hinunter, beobachtete, wie sie Ishtars Bild berührte. Genau davon hatte er geträumt.

Entgeistert nahm Roven vor der jungen Frau Gestalt an. Sie rannte blindlings in ihn hinein, prallte zurück und fiel hin. Roven starrte sie an. Und als sie ihm schockiert den Blick zuwandte, wusste er, sie hatten dasselbe geträumt.

Die junge Frau japste nach Luft und kroch rückwärts.

»Keine Angst«, sagte er und hielt ihr die Hand hin.

Im Mondlicht wirkte ihr Haar schwarz und die Augen ungewöhnlich dunkel. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, volle Lippen und eine sportliche Figur. Ihr Mund zitterte. Er versuchte sie mittels Gedankenkontrolle zu beruhigen, doch ihr Geist kämpfte gegen ihn an. Normalerweise waren Menschen nicht dazu in der Lage.

»Komm, ich helf dir hoch …« Seine Stimme klang heiser.

Ihr Widerstand ebbte ab. Sie legte ihre Hand in seine und ließ sich aufhelfen. Stand plötzlich so nah vor ihm, dass er die Wärme ihres Körpers spüren konnte. Sie duftete wie bitterer Honig.

»Wie ist dein Name?«

Sie schüttelte verwirrt den Kopf, als versuchte sie seine Kontrolle abzuschütteln.

»Sag mir deinen Namen.«

»Selene.«

Roven betrachtete ihr Gesicht und tauchte in die Tiefe ihrer Augen ein. Sie waren braun mit roten Sprenkeln, als würde die Iris bluten. Selenes Hand lag noch immer in seiner, war kalt vom Wind. Er bewegte seinen Daumen über ihren Handrücken.

»Warum träumst du von mir?«

»Was?«

Sein Blick fand ihre Lippen. Er biss sich auf die Zähne, spürte die Bestie in seinem Inneren. Naham war hellwach und drängte ihm einen Wunsch auf. Ehe er wusste, wie ihm geschah, zog er die junge Frau an sich und küsste sie. Ihr Mund war kühl. Seine Bestie knurrte, saugte Selenes Geschmack in sich auf und wurde gierig. Roven kämpfte dagegen an. Er wollte sich lösen, aber sein Verlangen war zu stark. Unsanft stieß er die junge Frau von sich, zog sich aus ihren Gedanken zurück und blickte sie an. Im Schein seiner Augen erstrahlte ihr Gesicht wie Schnee im Sonnenlicht. Naham hatte ihn so weit getrieben, dass seine Augen sich gewandelt hatten.

Plötzlich wieder klar im Kopf, gab Selene einen kurzen Schrei von sich.

»Lauf!«, knurrte er. Und sie tat es, stolperte rückwärts und hetzte durch den Wald. Rovens ganzer Körper verkrampfte, als er sich davon abhielt, ihr nachzujagen. Sein Blick verfolgte jeden ihrer Schritte.

Hinterher!, rief Naham in seinem Kopf. Scheiße. Er sollte mehr trinken. So schnell durfte er nicht an seine Grenzen kommen.

Plötzlich durchzuckte ein Schmerz sein Bein. In seinem Oberschenkel steckte die Klinge eines Wurfmessers. Roven sah nach hinten und fand sich im Angesicht von vier Taryk wieder. Er brüllte und zog das Messer raus. »Falscher Tag, ihr Wichser!«

Der Akkadier warf dem erstbesten die Klinge um die Ohren und zog sein Breitschwert aus der Scheide, ging in Angriffshaltung und fixierte seine Feinde. Taryk besaßen die Fähigkeit, ihr Äußeres vor Sterblichen zu verbergen. Nicht aber vor ihm: dunkelgraue Haut bedeckte ihre hageren Gesichter; das meist schulterlange Haar bewegte sich selbstständig, als tanzten Schlangen auf ihren Köpfen und in tief liegenden Augenhöhlen glänzten schwarze Augäpfel. Taryk waren durchweg männlichen Geschlechts. Sie wurden von Königinnen geboren und angeführt und waren selten clever. Die vier Trottel grinsten ihn an, als freuten sie sich auf ihr Ende. Roven wunderte sich immer wieder, dass Taryk ernsthaft glaubten, sie hätten eine Chance gegen ihn, der in so vielen Schlachten gekämpft hatte, dass er sie nicht mehr zählte. Aber, hey, sie würden ihre Lektion bekommen. Zwar bestanden Taryk nur aus dunkler Aura, sodass sie ein abgetrennter Arm nicht am Weiterkämpfen hinderte, aber ohne Kopf hatte sich das Thema auch erledigt.

Die kleine Horde verpuffte zu schwarzem Rauch und tauchte einer nach dem anderen bei Roven auf. Er parierte den ersten Schwerthieb und duckte sich unter dem nächsten, wirbelte herum und rammte dem dritten Angreifer seinen Fuß in den Magen. Roven wich zur Seite aus und hielt eine herannahende Klinge mit dem Unterarm auf, packte den Arm des Taryk und zerrte ihn heran. Er nahm seinen Gegner in den Schwitzkasten, sodass der Taryk nicht mehr verschwinden konnte, und kämpfte mit ihm im Schlepptau die anderen drei zurück, parierte die Angriffe aus abwechselnden Richtungen. Roven führte sein Schwert gegen die Klingen seiner Gegner, von rechts nach links, von oben nach unten. Der Taryk geradeaus verlor beim Aufprall von Rovens Klinge die Kontrolle über sein schmales Schwert und ließ es fallen. Schaute ungläubig hinterher, anstatt sich in Sicherheit zu bringen, sodass der Akkadier ausholte, sein Eisen im Bogen schwang und den Hals des Seelenreißers durchtrennte. Der Körper des jungen Taryk löste sich in Rauch auf und gab zwei kleine Funken frei, die Richtung Himmel tanzten. Nur zwei Seelen. Besser als zweihundert.

Ein Taryk nutzte die Gelegenheit und erwischte Rovens Oberarm. Die Klinge durchtrennte Muskeln und ließ seine Hand verkrampfen. Er schnellte zurück und entledigte sich des grunzenden Mistkerls unter seinem Arm, indem er ihn von seinem Kopf befreite. Blieben zwei übrig. Roven teleportierte sich mit gezogenem Messer hinter den einen und rammte ihm die kurze Klinge in den Rücken, stieß ihn mit dem Fuß von sich und widmete sich dem anderen. Er holte aus, doch der Scheißkerl verschwand. Roven spürte einen Luftzug und duckte sich, brachte den Taryk mit einem Tritt gegens Knie zu Fall. Im Liegen holte der noch mit seinem Schwert aus, doch Roven stampfte die Klinge zu Boden. Während der Taryk panisch versuchte, sie unter Rovens Stiefel rauszuziehen, sauste sein Breitschwert nach unten und trennte Kopf von Rumpf. Da spürte er sein eigenes Messer in der linken Niere, drehte sich knurrend um und starrte den verbleibenden Taryk an.

»Und das, wo du wissen solltest, dass du allein nie eine Chance gegen mich hast?!«

Der Seelenreißer zögerte, kniff die schwarzen Augen kurz zusammen und verschwand. Roven zog das Messer aus seinem Rücken und wartete auf einen Überraschungsangriff. Aber es blieb still. Er ging seine Wunden durch – nichts dabei, was nicht innerhalb der nächsten Stunden heilen würde.

Der Akkadier verstaute Schwert und Messer und entdeckte ein kleines weißes Gerät auf dem Waldboden. Er hob es auf und erkannte dieses Ding, mit dem Jason manchmal Musik hörte. Vermutlich gehörte es der jungen Frau. Es spielte noch. Roven hielt sich einen Stöpsel ans Ohr und lauschte. Er kannte das Lied nicht, irgendwas Elektronisches. Er mochte handgemachte Musik lieber. Roven wischte den Dreck vom Display und sah das Spiegelbild seiner leuchtenden Augen. Er war ein Monster und wusste das. Und sie nun auch, zumindest für den Moment. Es störte ihn nicht, wenn Menschen ihn fürchteten. Am Ende vergaßen sie ihn eh. Selbst wenn Roven sich einem Sterblichen zeigte, hatte das keine Folgen. Die Erinnerungen verschwanden nach wenigen Minuten, sodass er niemandem erklären musste, von welcher babylonischen Göttin er abstammte und was passierte, wenn er ein Sonnenbad nahm. Die junge Frau … Selene war wirklich nicht die erste Sterbliche, die er küsste. Aber dermaßen an seiner Kontenance gesägt hatte bislang keine. Blöd, wenn ihn ein junges Ding davon abhielt, einen Tarykangriff zu bemerken. Zugegeben, er hatte auch seit Tagen nur Whiskey und nichts Nahrhaftes getrunken. Da konnte er es seiner Bestie nicht verübeln, wenn sie schnell an die Decke ging. Naham brauchte Körperwärme, nur hatte er momentan keinen Bock, einer Frau näher als nötig zu kommen.

Der Akkadier wickelte das Kabel um den Player, ließ es in der Manteltasche verschwinden und schaute sich um. Wenn sie joggen war, wohnte sie vermutlich in der Nähe. Aber es gab Wichtigeres zu tun. Allem voran Lennart finden. Verflucht.

Ihre Beine überschlugen sich. Selene bog in die Pattison Road ein und stolperte, fing sich ab und rannte weiter. Ihre Schritte hallten auf dem Asphalt wider, doch plötzlich ließ das Adrenalin nach, sodass sie ins Leere taumelte. Sie blieb stehen und schnappte nach Luft. Ihr Herz trommelte. Sie hatte übertrieben. Selene schaute sich um, die Straße war leer. Ihr Kopf dröhnte, sie rieb sich über die Stirn und bemerkte, dass ihre Hände schmutzig waren. Bilder schossen durch ihren Kopf, ergaben keinen Sinn und verschwanden wieder. Sie schauderte. Hatte Angst, ohne zu wissen, wovor. Irgendetwas fehlte. Selene schaute suchend an sich hinab und tastete ihren Kopf ab. Sie blutete nicht, hatte keine Verletzungen, nur zitternde Hände, und die Muskeln in ihren Beinen wurden hart.

Völlig neben sich betrat Selene die Wohnung, legte den Schlüssel in die Schale, zog die Laufschuhe aus und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Ihr lief der Schweiß an Gesicht und Rücken hinunter. Obwohl ihr heiß war, fing sie an zu frieren. Mit der Wasserflasche in der Hand trat sie ans Fenster und schaute nach draußen. Normalerweise beruhigte sie die Dunkelheit, die Einsamkeit einer leeren Straße. Als stünde die Welt still und würde sich nicht wie tagsüber weiterdrehen, ungeachtet dessen, was Selene widerfahren war. Nachts durfte sie innehalten und trauern, musste nicht funktionieren. Aber in diesem Moment war sie dermaßen aufgewühlt, dass sie hätte schreien können. Vielleicht war alles zu viel. Vielleicht streikte ihr Körper, weil er mit der seelischen Belastung nicht klarkam. Wenn die eigene Mutter starb, durfte man schon mal neben der Spur laufen. Im Prinzip hatte sie das Ende gekannt. Jeder hatte gewusst, worauf der Krebs hinauslief. Und jeder kam damit zurecht, akzeptierte das Ergebnis, nur Selene nicht. Sie drehte durch, verlor die Kontrolle. Verlor sich selbst und ihren Verstand. Das war … unangebracht. Doch ihr Kopf machte keine Pause. Erst recht nicht, wenn sie so unbeschäftigt war wie jetzt.

Selene schloss die Flasche, stellte sie auf den Küchentisch und ging im Dunkeln nach oben. Suchte sich etwas Sauberes aus dem Schrank und betrat das Bad. Ohne Licht anzumachen, zog sie sich aus. Das Mondlicht von draußen genügte. Selene stellte sich in die kalte Kabine und drehte das Wasser auf. Nach einem kurzen Schock wurde es wärmer. Doch es dauerte, bis sie aufhörte zu zittern. Sie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht unter den heißen Strahl, bis das Wasser über ihre Ohren rauschte und sie vom Rest der Welt abschirmte. Dann hörte sie nur noch ihr Herz schlagen und das stete Rauschen, versuchte an nichts zu denken. Selene setzte sich hin und blieb eine gefühlte Ewigkeit zusammengekauert unter dem Wasser. Irgendwann erreichte die Wärme ihr Innerstes und vertrieb die Kälte der letzten Stunden. Ihr Bauch kribbelte, und in ihrer Brust wurde es heiß. Ein Gefühl von Geborgenheit erfasste sie, ohne dass Selene wusste, woher es kam. Es war wie eine Erinnerung, die ein bestimmter Geruch oder ein Lied auslöste. Ähnlich einer Konditionierung – man fühlte oder dachte etwas automatisch, ohne den Auslöser zu kennen. Selene berührte ihre Lippen, lächelte traurig und ließ den Kopf hängen.

Die junge Frau lag zusammengekrümmt in der Mitte des Bettes. Selene Johnson, wie er dank des Briefkastens wusste. Roven lauschte ihrer Atmung, die langsam flacher wurde. Sie schlief ein. Er hatte sie anhand ihres Duftes gefunden, stand auf dem kleinen Balkon vor ihrem Schlafzimmer und hatte abgewartet, bis sie mit Duschen fertig war. Es schien ihr gut zu gehen. Sie hatte die Begegnung vergessen und lebte ihren Alltag weiter. Fehlte nur der MP3-Player. Er könnte ihn ihr zurückgeben, einen Schluck Blut nehmen und den Abend voller Elan, dynamisch und erfolgreich fortsetzen. Aber er wollte nicht. Weder das Gerät abgeben noch die Gefahr eingehen, Selene zu nahe zu kommen. Etwas an ihr machte ihn nervös. Und je näher er ihr kam, desto mehr befürchtete er, die Kontrolle zu verlieren. Das konnte bei Menschen katastrophale Folgen haben.

Er überlegte, wann er das letzte Mal mit einer Frau geschlafen hatte, und ihm fiel auf, dass es schon einhundertdreißig Jahre her war. Krieg in Peru. Zusammen mit Lennart, Illian, Ju und vielen weiteren Akkadiern hatte Roven in Machu Picchu nach einer Tarykkönigin gesucht und ein riesiges Tarykversteck gefunden. In der Nacht vor dem Angriff hatten die Krieger mit den Einwohnern des nahegelegenen Dorfes zusammengesessen, sich von der Reise erholt und auf den Kampf vorbereitet. Eine junge Peruanerin hatte sich Roven als Gesprächspartner auserkoren und mit ihm geflirtet. Da er sich am darauffolgenden Tag verwandeln musste, hatte er Blut gebraucht. Nur im Kampf gegen eine Königin durften sich Akkadier verwandeln, Naham aus ihrem Gefängnis befreien und ins Gemetzel schicken. Genau dafür war sie erschaffen worden.

Traditionelle Völker, die abgeschieden von der Zivilisation lebten, hatten für übernatürliche Wesen noch ein Gespür. Nachdem er der Peruanerin in ihre Hütte gefolgt war, hatte sie ihm ihre Kehle dargeboten, als wüsste sie über ihn Bescheid. Und Roven hatte getrunken. Menschliches Blut schmeckte nicht besonders, war aber nahrhaft genug, um ihn zu stärken. Als Akkadier gab es nicht viele Möglichkeiten, sich einem Sterblichen erkenntlich zu zeigen. Bis auf eine Sache, die nichts mit Gewalt und Tod zu tun hatte, die sie aber, dank Annelha, ebenso beherrschten – die körperliche Liebe. Roven hatte mit der Peruanerin geschlafen und es durchaus genossen, obwohl er bei Menschen vorsichtig sein musste. Ganz anders war das bei weiblichen Akkadiern, mit denen man sich besser nicht anlegte. Sie waren brutaler und vor allem stärker als männliche Unsterbliche und fielen charakterlich eher in die Kategorie Gottesanbeterin. Ein netter Anmachspruch konnte schnell mit zerquetschten Eiern enden. Roven selbst kannte nur zwei – Diriri und Danica. Beide hatte er am Tag der Schlacht bei Machu Picchu zum letzten Mal gesehen.

Er löste sich aus seinen Erinnerungen und betrachtete das schlafende Wesen auf der anderen Seite der Glastür. Selene war keine Akkadia, die ihm bei erster Gelegenheit Kratzer auf der Wange verpasste, die Genitalien zermalmte oder mit einem Punch k.o. schlagen konnte. Und trotzdem interessierte sie ihn, zum ersten Mal in seinem langen Leben. Zähneknirschend entfernte er sich und verschwand in die Nacht hinein.

Drei

Isländisches Hochland

Sein Blick verschwamm, als stünde er unter Drogen. Das Bild vor seinen Augen wankte, zitterte, geriet in Schieflage und war kaum noch zu erkennen. Er konzentrierte sich, versuchte sie zu fixieren und anzusehen. Sie saß auf ihrem Thron, die Beine überschlagen und starrte ihn an. Dabei vermied er es, ihr direkt in die Augen zu sehen. Er spürte ihre Autorität in allen Nerven. Sie riss an ihm. Sein Körper wollte weg, alles in ihm wollte weg, diesen Raum und ihre unerträgliche Nähe verlassen. Nur ein Funken Loyalität hielt ihn davon ab zu kapitulieren. Es ging nicht. Der Druck in seinem Kopf war zu stark.

Der Taryk fiel auf die Knie und fing sich mit den Händen ab, musste standhalten. Wenn er erst am Boden lag, stünden die Chancen schlecht, den Tag zu überleben. Sie redete mit ihm, und obwohl ihre Worte als gellender Schrei ankamen, verstand er nichts. Ihre Nähe war für jeden, egal ob Taryk, Akkadier oder Mensch, schwer zu ertragen. Es gab schlimme und katastrophale Tage. Heute lief es eher schlecht. Seine Stirn sank auf den kalten Steinboden. Nur sein schwarzes Haar schlängelte sich euphorisch wie immer um den Kopf.

Sie ergötzte sich an seinem Leid. Und je schwächer er war, desto länger würde es dauern, desto weiter würde sie gehen. Der Geruch ihrer schwarzen Aura reizte seine Nase und brachte seine Augen zum Tränen. Schwarzer Dunst schlich um ihn herum und kroch in seine Poren. Er zerrte an Sehnen, Muskeln und Knochen und spannte sie aufs Äußerste. Der Druck in seinen Augen wurde unerträglich, als wären sie kurz davor, aus den Höhlen zu platzen. Sein Körper erbebte unter ihrer Macht, unter der Last. Er wollte schreien, doch das wäre sein Ende und noch hatte er nicht kapituliert.

Der Taryk versuchte sich zu konzentrieren, und einen klaren Gedanken zu formulieren. Ist alles zu eurer Zufriedenheit? Er wusste nicht, ob es ankam. Aussprechen musste er die Worte nicht. Jeder Taryk war mit seiner Königin vernetzt. Jeder Gedanke, jedes Bild, jedes Gefühl wurde ihr übermittelt. Bei mehreren hundert Taryk also kein Wunder, dass sie so mies drauf war. Ein Schlag durchzuckte seinen Kopf. Er fiel stöhnend zur Seite. Und jeder unangemessene Gedanke wurde sofort bestraft. Sein Schädel stand kurz vor dem Zerbersten. Die Zeit verweste. Assora formte Sekunden zu Stunden. Ist … alles zu eurer Zufriedenheit? Durchhalten. Konzentrieren. Den Schmerz ignorieren.

»Vorerst.«

Er knurrte gepresst, wollte sich die Ohren zuhalten und fand keine Kraft dazu. Also harrte er aus, ertrug den Schmerz und blieb standhaft. Ewigkeiten später zog sich ihr Geist aus seinem Körper zurück. Er schaffte es, sich auf alle viere aufzurichten.

»Verschwinde«, hauchte sie.

Am ganzen Leib zuckend versuchte er, die Augen zu öffnen. Ein pechschwarzer Rand rahmte sein Blickfeld ein. Der Taryk erkannte seine grauen hageren Hände auf dem Boden und schob sich langsam rückwärts, wagte es nicht aufzustehen. Das würde er vermutlich auch nicht schaffen. Der Druck in seinem Kopf verschwand allmählich. Als er genug Abstand hatte, löste er sich auf und nahm vor seiner Hütte außerhalb des Palastes kniend Gestalt an. Er hustete schwarzen Nebel aus und spuckte Teer. Zwei Taryk gingen vorbei und verspotteten ihn. Niemand beneidete ihn um den Posten als Assoras Bote. Für die anderen war er Abfall, dem man aus dem Weg ging. Den man mied, weil er eh nicht lange durchhielt. Was er ertragen musste, war kein Vergleich zu den Aufgaben eines einfachen Söldners. Jagen und Töten, wie angenehm. Er aber musste ihr Tag für Tag unter die Augen treten – dem Geschöpf, das alle Bewohner des Königreiches fürchteten, ihre eigene Mutter – die Königin. Und als einer von Hunderten hatte er den ersten Preis gewonnen, als es um die Zuteilung der Sklavenarbeit ging. Er hielt ihre alles verzehrende Nähe aus, obwohl sie theoretisch keinen Boten brauchte. Dank des einheitlichen Gehirns, das die gesamte Brut mit ihrer Königin verband, war sein Posten überflüssig. Laufbursche hätte es eher getroffen, er erfüllte maximal die Drecksarbeit. Sie aber konnte sehen, fühlen, riechen, hören und ertasten, was ihre Taryk erlebten, bevor er es überhaupt erfuhr. Wenn sie wollte, konnte sie sogar töten, ohne den Finger krumm zu machen. Totale Kontrolle.

So hatte sie auch von dem Gefallenen erfahren. Von dem Akkadier, der nun im Keller festgehalten wurde. Söldner hatten ihn in London überwältigt, und Assora war persönlich dort erschienen, um ihn mitzunehmen. Einen Unsterblichen zu bezwingen lag weit außerhalb des Üblichen. Er musste schon vorher in schlechter Verfassung gewesen sein. Auch sein aktueller Zustand ließ zu wünschen übrig. Er wehrte sich nicht, heilte nicht. Reagierte kaum, hing nur in seinen Ketten und wartete. Vermutlich wäre er selbst ohne Ketten nicht in der Lage zu fliehen.

Den halben Tag lang hatte Selene vor sich hinvegetiert. Wenig gegessen, wenig getrunken, auf den Fernseher und doch mehr ins Leere gestarrt. Heute war kein guter Tag, vielleicht wurde es morgen besser. Aber für heute hatte sie aufgegeben. Sie hing in ihrer Lethargie fest und kam weder vor noch zurück. Wurde von Erinnerungen gebannt, von Bildern festgehalten. Sie schaffte es kaum, sich selbst zu bewegen. Wie sollte sie da von ihren Gedanken loskommen?

Auf die Tapete waren Blümchen gemalt. Kornblumen, Mohnblumen, Gänseblümchen. Es war eine von diesen Tapeten, die von hinten gepolstert waren und sich nach Schaumstoff anfühlten, wenn man draufdrückte. Selene mochte sie. In ihrem Kinderzimmer hatte sie die gleiche gehabt. Gelb und fröhlich.

Die Vorhänge in Mamas Schlafzimmer waren zugezogen. Der bedeckte Himmel und der Regen blieben draußen. Licht fiel von der kleinen Tischlampe mit dem Stoffschirm auf Wände und Boden. Und auf Mama. Sie schlief. Wie fast immer. Sah friedlich aus. Die Schmerzmittel wirkten und schenkten ihr Ruhe, doch ihr Gesicht wirkte gräulich und eingefallen. Dunkle Augenringe, Falten, graue Haare. Charlie hatte sich nie die Haare gefärbt. Schon als Selene klein war, hatte sie einzelne graue Strähnen gehabt und diese immer mit Stolz getragen. Irgendwann waren sie komplett weiß geworden. Wellen aus weißem, fließendem Haar. Selene liebte es. Vielleicht sah sie älter aus, als Frauen die sich die Haare färbten, aber darauf hatte ihre Mutter nie etwas gegeben. ›Ist doch egal, wie alt ich aussehe. Wichtig ist, wie ich mich im Herzen fühle!‹

Selene lächelte, nahm einen Schluck Tee und zog den Vorhang einen Spalt beiseite, schaute nach draußen. Leichter Nieselregen, alles grau. Es war Sonntag. Als ihre Mutter krank geworden war, hatte Selene angefangen, Sonntage nicht mehr zu mögen. Wahrscheinlich, weil sie sich an diesen Tagen am Schlechtesten ablenken konnte und das Offensichtliche fürchterlich wehtat.

Als sie wieder zu ihrer Mum schaute, lächelte diese sie an. »Du bist wach«, rief Selene überrascht und stand auf, ging zum Bett und setzte sich auf die Kante.

Schwerfällig hob Charlie die Hand und legte sie auf Selenes. »Du …«, sie räusperte sich und schluckte einmal, »… bist so … wunderschön, Kind.« Ihre Stimme war leise. Zu sprechen kostete sie mittlerweile große Kraft.

»Ach, Mum.«

Sie nickte wacklig. »Damit du es nie vergisst.«

»Okay …« Selene drückte die warme Hand. »Wie fühlst du dich?«

»Müde …«, antwortete sie lächelnd und schloss kurz die Augen, als fiel es ihr schwer, sie offenzuhalten. »Und du dich?«

Selene wusste nie, was sie darauf antworten sollte. Sie war kaputt. Die letzten Monate hatten aus Behördengängen, Besuchen im Krankenhaus, Gesprächen mit Ärzten und dem niederschmetternden Urteil bestanden, dass Charlie unheilbar krank war. Daraufhin hatte sie jede Behandlung abgebrochen und nach Hause gewollt. Nichts, was Selene zu ihrer Mutter gesagt hatte, änderte etwas an ihrer Entscheidung. Sie wählte ihr Zuhause und das, was unweigerlich kommen würde. Eine Tatsache, die Selene weit von sich schob. Es war unerträglich. Manchmal versuchte sie sich darauf vorzubereiten, was sinnlos war. Also verdrängte sie. »Ganz gut …«, antwortete Selene.

Charlie lächelte und drückte ihre Hand. »Danke, … dass du hier bist.«

»Wo sollte ich sonst sein?«

Ihre Mum nickte langsam. »Entschuldige, dass du das … mitansehen musst.« Sie holte beim Reden immer zwischendurch Luft.

»Bitte, sag so etwas nicht.«

»Ich hatte … immer gehofft, dass es … schnell geht. Wenn es mal soweit ist. Vom Bus überfahren oder so …« Sie lachte und musste husten.

Selene stiegen Tränen in die Augen. Sie biss die Zähne zusammen und schluckte.

»Weißt du, welche … Situationen mich in … meinem Leben dazu gebracht … haben«, sie holte Luft, »das Leben mit anderen Augen … zu sehen?«

Selene schüttelte den Kopf.

»Die traurigsten. Die schlimmsten. Die, an denen ich beinahe zerbrochen wäre.«

Selene antwortete nicht.

»Als dein … Vater gegangen ist. Viel zu … jung. Ich habe ihn so geliebt. Ich … liebe ihn immer noch. Selbst … nach über zwanzig Jahren.« Sie hielt Selenes Hand und schaute zur Seite ins Leere, versank in Erinnerungen. »Er war so schön. Innerlich wie äußerlich. Und ich war am … Boden. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte … nur noch, dass dieser unerträgliche Schmerz aufhört. Aber Gott sei Dank … gab es dich.« Ihre Mum schaute sie mit Tränen in den Augen an. Selene erinnerte sich an Abende, in denen sie ihre Mutter hatte weinen hören. So laut und jammernd, dass sie aufgestanden und zu ihr gegangen war. Dann hatten sie einander umarmt und zusammen geweint, bis es besser wurde. »Du warst meine Rettung«, erzählte sie weiter. »Du … und die Zeit. Der Schmerz … geht nie ganz weg. Aber mit jedem Mal, dass ich geweint … habe, ist er etwas leichter geworden. Du darfst deinen Schmerz … nicht unterdrücken oder verleugnen. Das … verträgt er nicht. Dann holt er dich ein und überrollt dich. Nimm ihn an. Gib ihm … ein Ventil. Zeig ihm, dass es … okay ist, dass er da ist.« Sie schaute ihr tief in die Augen. »Ich liebe meinen Schmerz. Er zeigt mir, zu welch übermenschlichen Gefühlen … mein Herz fähig ist. Er zeigt mir, wie sehr ich deinen Vater liebe. Er … zeigt mir, wie sehr er mir fehlt. Noch immer jeden Tag. Daran ist nichts falsch.« Sie holte Luft und hustete. »Es geht im Leben nicht darum, … irgendwie durch den Tag zu kommen und möglichst … allen Einschlägen auszuweichen. Die Einschläge kommen. Immer! Mach einfach das Beste daraus. Und genieße jeden Tag!« Charlie drückte ihre Hand. »Jeden Tag, meine Kleine. Weine um mich, wenn du musst. Aber höre niemals auf zu lächeln, Selene. Versprich mir das!«

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und nickte, umarmte ihre Mutter und weinte.

»Ich bin so dankbar dafür, dass ich mich von dir verabschieden kann. Bei einem Busunfall wäre das schwierig geworden.«

Ein paar Tage später war sie gestorben. Selene blickte über den Rand ihrer Tasse hinweg ins Leere. Sie spürte den Schmerz. Er war allgegenwärtig, schwelte in ihr, verborgen unter dem Druck, den sie selbst erzeugte. Mit dem sie ihn niederhielt. Sie war noch nicht bereit, ihn rauszulassen. Fürchtete, was er aus ihr machte. Fürchtete, dass er sie zerriss und nichts übrig ließ außer Trauer, Wut und Verzweiflung.

Es klingelte. Selene sah vom Wohnzimmerboden auf und schaute in den Flur. Sie versuchte zu atmen. Es klingelte erneut. Selene blinzelte. Schluckte. Schaffte es irgendwie aufzustehen, stellte die Tasse ab und schlurfte in den Flur, blieb vor der Tür stehen und starrte sie an. Es klingelte wieder. Julia klopfte und rief nach ihr. Selene gab sich einen Ruck und öffnete, sah ihre Freundin im Regen stehen und machte ihr Platz, um reinzukommen. Julia war tropfnass, trotzdem saß die Frisur. Wenn Selenes Haare nass wurden, kräuselten sie sich und standen in alle Richtungen ab.

Julia zog ihre tiefrote Regenjacke aus und hing sie an die Garderobe, drehte sich zu Selene um und wollte sie begrüßen. Ließ es bleiben, als sie ihren Blick fand. Kein Tag für Umarmungen.

»Pizza?«, fragte ihre Freundin.

Selene zuckte mit der Schulter.

»Pizza!«, antwortete sie sich selbst und suchte den Flyer aus dem Schubfach in der Küche. Selene setzte sich wieder auf die Couch und wartete. Julia bestellte das Übliche – eine Champignonpizza und eine vegetarische, beide mit Extrakäse. Die teilten sie dann. Julia aß kein Fleisch. Wenn Selene allein bestellte, wurde es meistens Thunfischpizza oder Speziale. Mit Extrakäse.

Ihre Freundin setzte sich zu ihr auf die Couch. »Halbe Stunde.« Sie schaute Selene an, die kurz nickte. »Was guckst du?«

»Keine Ahnung. Was läuft grad?«

»Um die Uhrzeit meist nichts Sinnvolles.«

»Im Fernsehen läuft generell selten etwas Sinnvolles.«

»Stimmt.«

»Wie war die Arbeit?«, fragte Selene.

»Normal. Nichts Aufregendes passiert.«

»Schön …« Auch, dass sie da war. »Danke …«, sagte sie schlicht.

»Ich mach ja nichts.«

»Ist egal.«

Nach ein paar Minuten fragte Julia: »Warst du gestern laufen?«

»Ja. Hat gut getan. Denke ich. Also … währenddessen. Hinterher irgendwie nicht mehr so. Keine Ahnung.«

»Hm …« Wieder schwiegen sie und blickten auf den Fernseher. »Wie geht’s dir?«

Selene schüttelte den Kopf, wollte nicht fühlen, was sich sogleich meldete. Die Welle rollte über sie hinweg, ließ sie wanken. Sie kniff die Augen zu, wollte alles wegsperren. Doch es ging nicht. Überspielen klappte nur bei Menschen, die nicht wussten, was geschehen war. Bei Julia war sie verletzlich.

»Ich …«, begann sie und brach sofort wieder ab. Versuchte zu atmen. Spürte den Kloß im Hals, der nach oben drückte. Ihr Herz raste, schmerzte. »Es ist … Ich … Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr das wehtut.« Selene barg ihr Gesicht in den Händen. »Ich kann eigentlich alles in Worte fassen. Aber nicht diesen Schmerz.« Sie rieb sich die Arme. »Er ist allgegenwärtig und gleichzeitig völlig unbegreiflich für mich. Ein Gedanke, der mir körperliche Schmerzen zufügt. Ich spüre es in meinen Händen, Beinen.« Selene fasste sich ans Herz. »In meiner Brust. Es tut weh. Obwohl meinem Körper nichts fehlt. Aber ich fühle diesen Schmerz mit jeder Faser. Auf der Haut. In den Muskeln. Er drückt mich nieder, zwingt mich in die Knie. Ich könnte wimmern, weil mir mein Körper so wehtut dabei.« Sie schaute nach links in Julias Augen und fand Tränen darin. »Das ergibt doch keinen Sinn.«