Tala und der verschollene Weise 2 - Maria Hermann - E-Book

Tala und der verschollene Weise 2 E-Book

Maria Hermann

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Beschreibung

Eine finstere Macht, drei kosmische Gaben - und die Erinnerung eines Mädchens, in der das Schicksal aller Welten verborgen liegt. Wir schreiben den 1801. Beginn der bunten Zeit, zur 3. Sternengeneration in der Welt der vielen Himmel: Endlich gelangt Tala nach Moosstadt, wo sie die rätselhafte Seherin Linnéa trifft. Von ihr erfährt Tala, dass sie und ihre Freunde einen weiteren kosmischen Schatz finden müssen, um die Vielwelten zu retten: die gläserne Sternenkarte. Doch dann reißt der Himmel auf - und Tala ist gezwungen, sich der bisher größten Gefahr ihres Lebens zu stellen. Der zweite Teil des 2. Bandes der fantastischen Vielwelten-Trilogie!

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Bereits erschienene Bücher der Vielwelten- Trilogie:

Band I:

Tala und die vergessenen Tore

Band II:

Tala und der verschollene Weise – Teil 1

Band II:

Tala und der verschollene Weise – Teil 2

Wegen des großen Textumfangs erscheint Band II in zwei Teilbänden. Weitere Fortsetzungen werden auf www.vielwelten.de bekannt gegeben.

Inhaltsverzeichnis

Die letzte Ehre

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Die Verlorene Welt

Norctorc

Namens- und Personenregister

Wortregister

Die letzte Ehre

Feiner Eisstaub rieselte durch die Luft zu Boden, als der Hüter der Eisküste mit einem Seufzen ausatmete. Er zog sich die Felle enger um seine Schultern. Die weißen Botenvögel flatterten nervös auf und ab in ihrem dunklen Versteck. Ihre Flügel befahlen ihnen, sich hinauf in den Himmel zu schwingen und mit ihren zierlichen Körpern federleichte Kompositionen in die Luft zu zeichnen. Ihnen das zu verwehren war, als würde man einem Menschen das Lächeln verbieten. Zu fliegen war ihre Art, sich auszudrücken. Sich fast schwerelos in den Wind zu legen machte sie zu dem, was sie waren, und gab ihrem Leben einen Sinn.

Einen Sinn … Das Wort schien den jungen Wächter höhnisch anzugrinsen. Es drehte vor ihm in der Dunkelheit Purzelbäume und hockte sich auf seine Brust wie die Schattenwesen, denen man nachsagte, dass sie des Nachts mit dieser Art Spuk die Erdenweltbewohner verwirrten und erschreckten, wenn diese vergessen hatten, ihre Abendgebete aufzusagen.

Kalel hatte geglaubt, dass der Sinn seines Lebens darin bestand, als Hüter der Eisküste über die Menschen von Nydamia zu wachen. Er hatte von seinem Onkel gelernt, wie man die Sprache des Eises deutete, wie man den Wind und den Himmel las und wie man die Frejas zu guten Boten ausbildete. Er konnte mit den Vögeln sprechen, bevor er die Menschen verstand, und das Wogen des Nebelmeeres faszinierte ihn mehr als alle anderen Naturerscheinungen in dieser Welt. Schon als Kind genoss er den scharfen Wind auf seinem Gesicht, wenn ihn der Vater zu seinem Bruder an die Küste mitnahm.

Niemals hatte Kalel sich vor dem Alleinsein gefürchtet, und Stolz hatte ihn erfüllt, als er in seine neue Lebensaufgabe eingeweiht worden war.

In seinen Träumen war er als unerschrockener Held hinabgestiegen in den grauen Tod, hatte mit den Seelenlosen gekämpft und sie selbstverständlich besiegt. Er hatte immer gesiegt − in seinen Träumen.

Sieg … Nun verbeugte sich auch dieses Wort mit verzerrtem Antlitz vor seinem inneren Auge und forderte die Frage nach dem Sinn zum Tanz auf. Sieg und Sinn tollten in seinem Kopf umher, bis Kalel glaubte, schreien zu müssen, um das grauenvolle Paar auseinanderzureißen. Er schüttelte seine zottigen Haare und rieb sich das müde Gesicht, das er seit zwei Wochen nicht gewaschen hatte. Zwei Eiswochen, in denen er an der sturmumtosten Küste ausharrte und sich um die Menschen sorgte, die zu beschützen er geschworen hatte.

Bis zuletzt hatte er auf der Anhöhe neben seiner Wohnstatt die großen Trommeln geschlagen, die das Herannahen des Feindes ankündigten. Als die letzten Maschinenvögel über ihn hinweggeflogen waren, hatte er die Fenster mit Schnee zugeschaufelt, alle Lebenszeichen in der Umgebung verwischt und sich mit seinen Vögeln in der Hütte verschanzt.

Durch eine winzige Öffnung an der hinteren Seite leuchtete ein einzelner Sonnenstrahl, wie ein goldener Gruß aus vergangenen Tagen. Überall auf dem staubigen Boden stapelten sich Essensreste und dreckiges Geschirr. Der Getreidesack mit den Körnern für die Frejas war umgekippt und sein Inhalt verteilte sich über die groben Bohlen. Hin und wieder pickten die Vögel danach, aber allmählich war auch ihnen der Appetit vergangen. Bald waren die Vorräte aufgebraucht, und in Selas Tûrn gab es wahrscheinlich niemanden mehr, der ihnen Nachschub bringen konnte.

Kalel schob eine Hand in die Hosentasche, zog eine hölzerne Flöte heraus und setzte sie an die Lippen. Einsame Töne drangen aus dem Instrument und beruhigten ihn und seine Frejas ein wenig. Doch lange konnte er mit seinen steifgefrorenen Fingern nicht spielen, so steckte er das Instrument schließlich in die Tasche zurück und horchte auf den Wind, der an seiner Behausung rüttelte.

Immerhin hatten Sinn und Sieg aufgehört zu tanzen und ihre ineinander verschlungenen Buchstaben hatten sich in der eiskalten Luft verflüchtigt. Bald würde die Nacht anbrechen, dann erst würde Kalel wieder ein Feuer entzünden. Denn obwohl er schon lange kein feindliches Geräusch mehr vernommen hatte, konnte es noch immer sein, dass die Eindringlinge ihm irgendwo auflauerten. Und der Rauch eines Feuers an den steil abfallenden Eisklippen am Rande des Nebelmeeres würde ihn schneller verraten als jeder Botenvogel.

Und so fror er lieber.

Schließlich stand er auf und trat dicht an die winzige Fensteröffnung heran, durch die sich der Lichtschein ins Dunkel stahl. Scharf biss die Sonne in seine blauen Augen, aber ihr klares Leuchten belebte ihn auch. Er blinzelte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Schließlich drehte er sich zu seinen Vögeln um.

„Was glaubt ihr, wie lange ist es her, dass wir das letzte Mal das Getöse der Flugmaschinen vernommen haben?“ Seine Stimme klang rau, da er sich zumeist still mit seinen Vögeln unterhielt. Die flatterten rasch auf, froh, dass sich endlich etwas regte.

Maienell, die Jüngste, setzte sich auf seinen Unterarm und äußerte mithilfe der Gedankenkraft und mit dem Selbstbewusstsein der Jugend, dass ihrer Ansicht nach seit dem letzten Motorenlärm sechs Tage vergangen seien. Fredis, der nach Kalels Überzeugung insgeheim ein Auge auf Maienell geworfen hatte, plusterte sich daraufhin sofort auf. Er sei sicher, dass es erst fünf Tage her war, dass die Flugapparate des Feindes über ihr Versteck hinweg Richtung Nebelmeer verschwunden waren, ließ er seinen Bewahrer gedanklich wissen. Und die tapfere Selila, die sich bei ihrem letzten Botenflug den linken Flügel verletzt hatte, gab an, in der Nacht vor vier Tagen ein schwaches Surren vernommen zu haben. Die übrigen der acht Frejas, die er selbst gemeinsam mit seinem Onkel ausgebildet hatte, waren sich unsicher und blieben deshalb lieber stumm.

Trotzdem sahen ihn nun alle erwartungsvoll mit ihren schwarzen Augen an. Kalel seufzte und kratzte sich seinen hellen Bart.

„Unsere Vorräte gehen zur Neige, das bedeutet, wir haben keine andere Wahl“, meinte er zögernd. „Es wird Zeit, sich ein Bild zu machen von dem, was jenseits des Yelana-Sees passiert ist. Ich bitte deshalb zwei von euch, nach Selas Tûrn zu fliegen, und drei weitere sollten in weitem Bogen die Gegend um das Tal herum erkunden. Bitte seht nach, ob es Überlebende gibt. Vor allem aber seid vorsichtig! Sobald ihr einen der Wanderfalken oder der Rabenvögel des Feindes sichtet, versteckt euch! Falls die Armee des Feindes einen Beobachter zurückgelassen hat, müssen wir das Tal weit umgehen und irgendwo anders nach Nahrung suchen. Das ist die einzige Möglichkeit.“ Er reckte mühsam seine Glieder. Die Kälte ergriff sein Herz bei dem Gedanken, was er in Selas Tûrn vorfinden könnte, und eine bodenlose Angst übermannte ihn.

Mit einem kräftigen Ruck stieß er die Türe seiner Hütte auf und stapfte durch den knietiefen Schnee. Vor ihm erstreckten sich die Wogen des Nebelmeeres bis zum Horizont. Heute wusste er, dass er niemals die Seelenlosen besiegen würde, wenn er in seine grauen Tiefen hinabstieg. Und doch schimmerte das Meer plötzlich auf eigenartige Weise noch verlockender als in den Träumen seiner Kindheit.

Der Himmel war bedeckt. Es war, als hätten sich die Wolken zum Schutz vor die Sonne gezogen, damit sie das Elend nicht sehen musste, das unter ihr lag. Die bunten Häuser mit ihren bemalten Fassaden voller Geschichten und Bilder: Alles war zerstört − bis auf das letzte Haus.

Kalel stand auf dem Hügel vor dem zertrümmerten Avaricum, gleich neben dem Brunnen, dem es nicht besser ergangen war als dem Rest der Stadt. Der Arm des Gründers der Sannleikkur war abgebrochen und dem Riesenadler, auf welchem er ritt, fehlte der linke Flügel. Es lag eine Stille über Nydamia, die ihn an die Leere erinnerte, die das Land nach der Nacht der zwei Monde heimsuchte.

In jedem einzelnen Haus hatte er mit seinen Vögeln nach Überlebenden gesucht. Doch sowohl die Fischerhütten am Rand des Yelana-Sees als auch die Taîgun-Siedlung im Wald lagen verlassen.

Er war zum Adlerhorst hinaufgeklettert und auf dem Weg dorthin war ihm ein grauer Riesenwolf begegnet. Stumm hatte das Tier ihn angesehen, aber als er es in Gedanken ansprechen wollte, hatte es sich wortlos abgewandt und war im Gestrüpp des Mooswaldes verschwunden.

Kalel wunderte das nicht. Lycaon, der Anführer der Waheela, war der einzige seiner Art gewesen, der sich dazu herabgelassen hatte, mit den Menschen zu sprechen. Kurz überlegte Kalel, ob er den Wolfskönig im Warmerdtal aufsuchen und um Hilfe bitten sollte, aber dann verwarf er den Gedanken: Die Wölfe würden auf Dauer keinen Menschen bei sich dulden. Auch die Adler waren nicht in ihrem Horst gewesen, und keines der Waldtiere war ihm begegnet. Alles wirkte wie ausgestorben.

Der Hüter erinnerte sich an die Worte einer jungen Frau namens Meena, die mit ihrem weißen Greifvogel vor seiner Hütte gelandet war, kurz bevor der Feind in die Eiswelt einfiel. Sie hatte ihm angeboten, mit ihr nach Selas Tûrn zu fliegen.

„Das Tor zur Eiswelt ist vielleicht nicht länger geheim“, hatte sie ihm mitgeteilt. „Wir haben Grund zu der Annahme, dass der Feind uns hier aufspüren wird. Alle Sannleikkur werden sich versammeln und beratschlagen, ob wir Selas Tûrn aufgeben und fliehen werden.“ Doch er hatte nur stumm den Kopf geschüttelt. Wer sonst konnte die Sannleikkur warnen, wenn die Schergen des Auges über das Nebelmeer vordringen sollten? Sicher hatte Meena auch die Fischer und Einwohner der Taîgun-Siedlung gewarnt. Aber wohin waren die Sannleikkur verschwunden? Waren sie alle gefangen genommen worden?

Mit jedem weiteren leeren, zerstörten Haus, das er betrat, wurde eines immer mehr zur Gewissheit: Kalel war der letzte Mensch auf Nydamia, der Insel inmitten des Nebelmeeres.

Er blickte sich um. In den Ruinen der Stadt wollte er nicht bleiben, denn selbst hier würde er höchstens bis zur nächsten Doppelvollmondnacht überleben. Gerüchten zufolge widerstanden die Tiere in der Ebene der Schwefelseen dem Schrecken dieser Nacht in den Kratern der Feuerberge nordöstlich von Selas Tûrn. Vielleicht scheuten die Seelenlosen die heiße Glut am Grunde dieser Krater, aber das würde sich zeigen, wenn die Zeit gekommen war.

Plötzlich, inmitten seiner rastlosen Gedanken, pickte ihn Selila an die Brust. Er trug die verletzte Freja in einem Tragebeutel, den er sich umgebunden hatte. Kalel drehte sich um und vernahm einen Ruf aus dem zerstörten Avaricum. Er erkannte die Stimme sofort: Es war die von Maiennell, seiner Jüngsten, und sie klang erschrocken.

Schnell rannte der Hüter der Eisküste über den Platz und in das Gebäude hinein. Die Decke war zu einem großen Teil eingestürzt und der Marmor war mit Ruß überzogen. Er stolperte über herabgestürzte Steine und trat gerade um einen geborstenen Brocken herum, als er zusammenzuckte. Dort, auf dem gespaltenen Boden, lag ein riesiges Tier und Maiennell saß daneben und blickte Kalel verstört an.

Ein Laut des Unglaubens entfuhr Kalels Lippen, als er Lycaon, den König der Waheela erkannte. Das Maul des Wolfes war weit aufgerissen, getrocknetes Blut klebte in seinem Fell und bedeckte dunkel den Boden rund um den toten Körper.

Kalel zog die Schultern hoch und sah sich um, als suche er nach jemandem, der ihm das alles erklären konnte. In ganz Selas Tûrn war kein einziger Mensch zu finden, aber der Anführer der Riesenwölfe lag tot im Empfangssaal des Avaricums! Was war hier geschehen?

Langsam nahm er seine Mütze ab und beugte das Knie, um Lycaon die letzte Ehre zu erweisen.

In diesem Moment brach die Sonne durch die Wolken hindurch und ein mächtiger Lichtstrahl flutete durch das zerbrochene Dach herein, der das Fell des toten Königs zum Glänzen brachte. Nun flatterte Maiennell hinauf in den Himmel und stieß einen lauten Ruf aus. Kalel hörte, wie sie in weiten Kreisen um das Avaricum flog und wie sich die Melodie ihres Liedes über die zerstörte Stadt und den Taîgun-Wald ausbreitete. Es dauerte nicht lange, und er hörte andere Vögel mit einstimmen, und auf einmal drang das Schlagen und Flattern vieler Flügel an seine Ohren.

Es waren die gefiederten Bewohner Nydamias, die nacheinander durch die offene Decke hereingeflogen kamen und sich auf den geborstenen Steinen und Säulen rund um den Riesenwolf niederließen. Plötzlich ertönte ein Knirschen und Kalel zuckte zusammen. Er drehte sich um und sah eine Hirschkuh durch die Eingangshalle auf sich zukommen, gefolgt von einem Kitz. Bald darauf huschten Dachse, Füchse, Wildschweine und Eichhörnchen herein, zuerst vorsichtig und achtsam, dann zielstrebig, bis der ganze Saal voller Tiere war.

Aufmerksam blickten sie den Hüter an und eine fast vergessene Wärme breitete sich in Kalels gesamtem Körper aus. Wie von selbst glitten seine Finger in die Hosentasche und er zog seine geschnitzte Holzflöte heraus und setzte sie an die Lippen.

Frei und leicht hallten die Töne von den zerborstenen Marmorsteinen wider, sprangen von Herz zu Herz und verfingen sich in dem glänzenden Fell des gefallenen Königs. Die Melodie war einfach und schlicht, wie die Natur und das Leben der Tiere im Wald. Es erzählte vom Geben und Nehmen, vom Aufsteigen und Absteigen der Sonne, vom Wandern der Jahreszeiten und der Bewegung der Sterne. Sie nahm den Hauch des Windes in sich auf und das Gaukeln der Blätter, das Rauschen des Regens in den Nadeln der Bäume, und sie sang vom tiefen Schlaf, welchen der Schnee über die Länder Nydamias brachte.

Kalel war es, als kämen die Töne nicht aus ihm, sondern aus den Herzen der Tiere um ihn herum, und er fühlte die geteilte Trauer und die geteilte Freude, fühlte das liebende Annehmen des Kommens und Gehens, des Lebens und des Sterbens.

Aber vor allem spürte er, vor dem großen König sitzend, dass er und seine Frejas nicht mehr allein waren. Dass sie ein Teil von etwas Lebendigem waren, das sich immer seinen Weg suchte und immer das letzte Wort hatte, jenseits von Krieg und Verzweiflung.

1

Apeiron glaubte, durch ein Nichts zu fallen. Es war ein seltsames Gefühl. Als ob für einen Moment alles aufgehört hätte zu existieren. Als würde er nicht mehr atmen, fühlen und denken. Für den Bruchteil einer Ewigkeit schien es ihm, als sei er nicht mehr vorhanden − doch im nächsten Augenblick versanken seine Pfoten in weichem Sand. Während der ersten Atemzüge, die ihn aus dem Nichts trugen, musste Apeiron sich erst wieder darauf besinnen, dass es überhaupt irgendetwas gab. Dass er ein Bewusstsein und einen Wolfskörper hatte und dass er sich in einer der Vielwelten befand. Oder vielleicht war er sogar schon in einer der Unterwelten?

Er erinnerte sich daran, dass Moa in seiner Zwischenwelt einige Worte in das anbrechende Gewitter hinein geflüstert hatte. Dann hatte das Nichts Apeiron verschlungen, um ihn nun an einem, wie es schien, recht unwirtlichen Ort wieder auszuspucken.

Winzige Sandkörner trieben ihm Tränen ins Gesicht und er hatte Mühe, etwas zu erkennen. Doch langsam klärte sich sein Blick und er sah, wo er gelandet war: Er stand auf einer großen Sanddüne, und um sich herum sah er weitere wogende Dünen in allen Größen und Formen, die sich bis zu einem dunstig flirrenden Horizont ausbreiteten. Die Luft war heiß und trocken, und ein glühender Wind wirbelte den Sand auf und peitschte ihn über die sich stetig verändernden Hügel. Apeiron schüttelte sein schwarzes Fell und hob seine lichtgelben Wolfsaugen zu dem dunstigen Himmel, der diese Ödnis wolkenlos überspannte. Eine Sonne war nicht zu sehen, und so schien es fast, als wäre das braungelbe Firmament bloß ein verschwommenes Spiegelbild der trostlosen Wüstenei um ihn herum.

„Und ich dachte, ich könnte dieser Art Wanderung entgehen“, knurrte Apeiron. Schon immer hatte er sich vor der Prüfung gescheut, der sich jeder junge Wolf der Waheela stellen musste: Wochenlang durch die Wüste Tharsis auf Nydamia zu wandern, um zu lernen, in einer kargen und lebensfeindlichen Umgebung zu überleben. Erst danach galt man als ein vollwertiges Mitglied des Rudels. Doch das hier war eine andere Art der Prüfung. Was ihm hier begegnen würde, konnte er nicht einmal erahnen.

Er lauschte. War da nicht ein Flüstern? Ein leises Wispern, das direkt aus den Hügeln um ihn herum auf ihn einzudringen schien? Ein Zittern durchlief sein Fell, und plötzlich kam es Apeiron so vor, als würde jedes einzelne Sandkorn in den Dünen ihn anstarren und ihn mit gleißenden Blicken von Innen ausweiden, wie ein Jäger seine Beute. Es fühlte sich an, als ob dieses Meer aus Sand genau wusste, weshalb er hier war, und als ob es nur darauf lauerte, zuzustoßen wie ein lebendiges Ungeheuer.

„Die Wüste des Sehenden Sandes“, murmelte er, ohne zu wissen, was er da sagte. Apeiron lief los, auch wenn seine Pfoten nur widerwillig den zischelnden Untergrund berührten. Er erklomm den nächsten Hügel, und dann noch einen und noch einen. Hier sollte Lycaon sein? Apeiron verdrängte den Gedanken, dass Moa ihn womöglich in die falsche Welt geschickt hatte, und lief weiter. Doch irgendetwas stimmte nicht. Waren denn keine Seelen in der Unterwelt, die hier ihr tristes Dasein fristeten? Oder verbargen sich die Verstorbenen in den Sandkörnern und beobachteten jeden seiner Schritte? Aber warum nur war sein Vater, der König der Waheela, an diesen schrecklichen Ort gelangt? Sollte er nicht zu seinen Ahnen ins Sternenlicht fliegen? Der Gedanke, dass Lycaon dazu verdammt sein könnte, bis in alle Ewigkeit durch eine feindliche Ödnis zu streifen, legte sich schwer auf Apeirons Herz und ließ die triste Wirklichkeit um ihn herum noch trostloser erscheinen.

Plötzlich horchte er auf. Ein wenig melodiöses Pfeifen durchdrang das sandfahle Raunen! Apeiron reckte seine Schnauze in die Luft und witterte einen für eine Totenwelt allzu lebendigen, widerwärtigen Geruch: Ranziges Leder und verschwitzte Menschenhaut! Vorsichtig schlich er in Richtung des Gestanks. Das Pfeifen wurde lauter und Apeiron legte die Ohren an. Das waren bei weitem die schlimmsten Misstöne, die er jemals gehört hatte! Noch immer geduckt umrundete er eine Sandwehe – und blickte in ein schmales Tal, und in dessen Mitte auf einen Brunnen, neben dem ein Mann stand. Dessen Lederkleidung war alt und abgenutzt, genau wie der Eimer und das Zugseil, die er in gleichmäßigen Bewegungen in den Brunnen hinabgleiten ließ. Nach einiger Zeit zog der Mann den Eimer wieder herauf, dann schaute er lange in den Behälter hinein, nur um ihn im nächsten Moment wieder in dem Schacht versinken zu lassen. Das Ganze schien ein Spiel zu sein, das sich scheinbar endlos wiederholte. Doch im selben Moment, als der junge Wolf schon überlegte, ob es vielleicht nicht besser wäre, eine Begegnung mit dem seltsamen Fremden zu vermeiden, brach die schiefe Melodie abrupt ab.

Der Mann hielt in seiner Arbeit inne und drehte sich langsam um. Die Haut in seinem Gesicht war rotbraun verbrannt und seine Augen schauten Apeiron aus tiefen Höhlen an.

„Was tut ein schlagendes Herz an diesem Ort?“, fragte er mit einer Stimme, die sich genauso rau und falsch anhörte wie sein Pfeifen. „Du solltest nicht hier sein. Dies ist kein Ort für jene aus Fleisch und Blut.“ Der Mensch sah den Wolfsprinzen starr an. Doch plötzlich schoss sein Zeigefinger vor: „Verdammt sollst du sein!“, kreischte er unvermittelt − und Apeiron wich zurück. Der ausgestreckte Finger war seltsam kurz, und erst jetzt sah der Wolf, dass dem Mann an allen Fingern die letzten Glieder fehlten. „Verdammt sei dein schlagendes Herz! Wie kommt es, dass es hier unten wandelt?! Du bist hier nicht erwünscht! Geh‘ zurück!“ Die letzten Worte kamen leise, aber befehlend. Apeiron reckte sich. Abscheu und Furcht warnten ihn, sich auf ein Gespräch mit dem Fremden einzulassen, doch er hatte keine andere Wahl.

„Ich kann nicht zurück. Ich bin aus freiem Willen hier. Ich suche meinen Vater und ich werde nicht eher zurückgehen, als bis ich ihn gefunden habe.“

„Soso. Vater, Vater. Ach, so einer! Ja, so einer. Denkt, er kann seine Lieben zurückholen. Ha! Kein Zurück gibt es! Wer durch das Wasser des Brunnens gegangen ist, kehrt nie wieder. Hier gibt es keine Wege, nur Richtungen, und sie führen alle fort, aber niemals zurück.“

Der Mann hatte wieder begonnen, den Eimer in den Brunnen hinabgleiten zu lassen. Apeiron näherte sich langsam, und nun sah er, dass auch die Füße des seltsamen Menschen verkrüppelt waren.

„Durch das Wasser des Brunnens? Wie meinst du das?“

Er fing sich einen verächtlichen Blick ein.

„Die Seelen. Sie tauchen durch das Wasser des Spiegels. Sie suchen etwas in ihm. Sie lieben den Spiegel und verzehren sich nach ihm. Doch sie können nicht zurück! Sie sind gefangen. Und je mehr sie in den Spiegel sehen, desto mehr wollen sie zurück. Doch da unten gibt es keine Wege, nur Richtungen. Und diese Richtungen führen fort von dem Spiegel! Doch das erkennen die wenigsten. Sie sehen sie nicht. Sie sehen nur den Spiegel. Und durch die Verzweiflung, etwas nicht erreichen zu können, was direkt vor ihnen liegt, werden sie verrückt und vergessen, wer sie sind.“ Der Mann seufzte, doch es klang eher wie ein hustendes Lachen. Auf seinem fast kahlen Schädel glänzte Schweiß und ein stechender Geruch ging von ihm aus. Apeiron fühlte, wie Übelkeit in ihm aufstieg, doch er unterdrückte sie; und obwohl er nicht schlau wurde aus den Worten des Fremden, fragte er weiter: „Du riechst wie ein lebendiger Mensch. Wie kommt es, dass du hier in der Unterwelt weilst?“ Kehliges Gelächter erscholl und ein zahnloser Kiefer stellte ein abscheuliches Grinsen zur Schau: „Lebendig! Ja, lebendig wie du! Wenn auch älter, viel älter. Aber glaubst du wirklich, dass du bereits in der Unterwelt bist?“ Wieder das grausige Husten. „Glaubst du, schlagende Herzen können so einfach in die Unterwelten spazieren und gemütlich nach ihren Lieben suchen? Pah! Das glaubst du wirklich! Ja, das glaubst du! Aber Achtung!“ Der Mann machte eine gebieterische Geste. „Niemand kommt in die Unterwelt, bevor er bei mir bezahlt hat! Ich bin der Spiegelwächter. Ich befördere die Seelen in die Unterwelten. Aber Achtung! Nicht jeder, der bei mir bezahlt, schafft den Sprung hinüber. Manche verlieren sich bereits im Wasser des Spiegels.“ Der Wächter kam dicht an ihn heran und sah Apeiron tief in die Augen. Sein Blick war wie ein Schattenbild des Lebens, das jemand verlassen musste, der an ihm vorbei wollte. In ihm lagen Liebe, Freude und Glück, doch waren diese Dinge nicht wirklich. Sie waren nur der Hauch einer Erinnerung, kurz bevor sie verblasst. Der irre Glanz in den Augen des Mannes spiegelte in erschreckender Weise den Moment wider, in dem ein fühlendes Wesen erkennt, dass das, was ihm am wichtigsten war, für immer verloren ist.

Ein Schauder erfasste Apeiron. Er fröstelte, und eine Stimme in seinem Innern drängte ihn zur Umkehr. Doch er verharrte und hielt dem stechenden Blick des Wächters stand. „Was muss ich tun, um in die Unterwelten zu gelangen?“

Ein listiges Lächeln zeichnete sich auf den Lippen des Fremden ab. Er streckte eine seiner verkrüppelten Hände aus: „Gib mir deine wertvollste Erinnerung.“ Apeirons Ohren zuckten. „Nein!“

Der Spiegelwächter lachte laut und schallend. „Ha! Wusste ich´s doch! Na, dann geh‘ schön dorthin zurück, wo du hergekommen bist, wenn du das überhaupt noch kannst. Die meisten irren lange in der Wüste des Sehenden Sandes umher, bis die Verzweiflung sie wieder zu mir treibt und sie mir bereitwillig geben, was ich verlange!“ Mit diesen Worten wandte sich der Mann ab und beugte sich über den Eimer, den er gerade wieder emporgezogen hatte.

Apeiron ging ein paar Schritte rückwärts. Seine Beine fanden plötzlich keinen Halt mehr in dem Sand, dessen Flüstern nun zu einem tosenden Brüllen anschwoll. Moas Worte klangen in seinem Kopf: „Du wirst vielleicht dem Tod in die Augen sehen. Vielleicht wird er dich einfangen und nicht zurücklassen. Vielleicht wirst du aber auch nur teilweise sterben, was grausamer ist als alles andere. Die Unterwelten sind erbarmungslos, Apeiron. Nur das mutigste Herz kann von dort in die Welten der Lebenden zurückkehren.“

Ein Zittern durchlief den sehnigen Körper des Wolfsprinzen. Einen Moment glaubte er, überwältigt zu werden von einer aufsteigenden Trauer. Seine Kehle war so trocken, dass er kaum schlucken konnte.

„Keine Angst. Es tut nur weh in dem Moment, in dem du dich entscheidest, die Erinnerung abzuschneiden“, raunte der Wächter, ohne ihn anzusehen. „Wenn du durch den Spiegel gegangen bist, bleibt nichts als Leere. Kein Gefühl, keine Trauer, keine Tränen. Nur ein Teil deines Herzens, den ich hier in den Wassern des Spiegels verwahre. Abgetrennt von der Ganzheit all deiner Erinnerungen.“ Er zuckte die Schultern. „Was bleibt ist Leere, dort wo sie einst waren. Nur Leere, weiter nichts.“ Dann trat der seltsame Mann einen Schritt zurück, sodass Apeiron an den Rand des Brunnens treten konnte. Als der Jungwolf in das von Schlieren durchzogene Wasser am Grund blickte war ihm, als ob eine Vielzahl an Stimmen von den gemauerten Wänden widerhallte. Doch er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Dafür echoten erneut laut und deutlich die Worte seines Lehrers aus seiner Erinnerung empor: „Du wirst Tala am besten beschützen, indem du deinen Vater suchst. Er weilt in einer der Unterwelten und es ist deine Aufgabe, ihm zu helfen, von dort zu entfliehen und alles von ihm zu erfahren, was uns nützlich sein kann.“ Apeiron atmete tief ein. Er war bis hierher gekommen. Nun konnte er nicht umkehren. Außerdem wollte er weder seinen Vater noch Tala im Stich lassen. Sie brauchten ihn!

Er musste und würde also in diesen Brunnen springen! Und genau in diesem Moment und noch ehe er seinen Entschluss in die Tat umsetzen konnte, gab der Boden unter ihm nach und er wurde nach unten gezogen. Die Wüste, der Wächter des Spiegels und die Mauern des Brunnens verschwanden, und er spürte, wie er fiel. Und während er fiel, schien sich etwas aus seinem Herzen herauszuziehen. Etwas, das sich nach Liebe anfühlte.

Ein stechender Schmerz durchzog seine Brust. So allumfassend, dass er glaubte, sie würde in tausend Stücke zerspringen. Doch schon umschloss eine gallertartige Masse seinen Körper, als wäre er in dickes Schlickwasser gefallen. Und im nächsten Augenblick konnte Apeiron sich nicht mehr erinnern, was er dem Spiegelwächter überlassen hatte. Nur das Gefühl blieb, etwas unsagbar Wichtiges verloren zu haben. Ein seltsam blinder Fleck im Herzen. Eine Leere, durch nichts auf der Welt zu füllen.

~

Tala holte tief Luft und tauchte hinab zu den runden, vom Fluss glatt geschliffenen Steinen. Das Netz für die Fische hatte sie an einem Gürtel um die Hüfte gebunden. Sie sandte ihren Geist aus, um zu erspüren, unter welchem der Steine die Fische sich versteckt hielten, denn ihre Augen waren in dem verschwommenen Blaugrün des Wassers unzuverlässige Zeugen. Sie fuhr mit den Fingerkuppen an der Oberfläche eines großen Steines entlang, unter dem sie die Lebensströmung eines Flossenfreundes wahrnahm, der im Schatten seines Unterschlupfs verharrte. Es missfiel ihr, den Fisch zu töten, doch das Nahrungsangebot in den Alten Wäldern von Nurudeen war zu spärlich, und die letzte Zeit war zu entbehrungsreich gewesen, als dass sie auf eine stärkende Mahlzeit wie diese hätte verzichten können.

Langsam griff Tala mit einer Hand nach der hinteren Kante des Flusssteines und konzentrierte sich. Eine falsche Bewegung, und der Fisch würde entwischen. Schneckengleich ließ sie ihre andere Hand unter den Stein und, wie sie es von Arun gelernt hatte, unter den berührungsunempfindlichen Bauch des Fisches gleiten. Allmählich spürte Tala, wie ihr Körper nach Sauerstoff verlangte, aber sie widerstand der Versuchung, die Bewegung ihrer Hand zu beschleunigen. Geduldig strich sie an der Unterseite des Fisches ganz langsam nach vorne, bis zu seinem Kopf. Dann packte sie ihn blitzschnell hinter den Kiemen, zog ihn unter dem Stein hervor und steckte ihn in das Netz. Erleichtert ließ sie sich nach oben zur Flussoberfläche treiben.

Japsend durchbrach sie die Grenze zwischen Wasser und Luft. Ihr Atem ging stoßweise und sie ließ sich an den Rand des Flusses tragen, um sich einen Moment auszuruhen. Der Fisch zappelte in ihrem Netz und sie entschuldigte sich bei ihm und beruhigte ihn mit einem Gedanken. Doch der Hunger, der schmerzhaft an ihrem Magen zerrte, mahnte sie, ihre Jagd zügig fortzusetzen.

Diesmal brauchte sie länger, um weitere Fische aufzuspüren, aber schließlich schwamm sie mit drei großen Flossentieren im Netz in Richtung des Floßes, welches am Ufer an einem kleinen Steinstrand zwischen den mächtigen Baumwurzeln vertäut lag.

Dort angekommen legte sie den ersten zappelnden Fisch auf einen Stein und sprach nach Art der Sermiramis beruhigend auf ihn ein: „Danke Bruder, dass du mich nährst. Danke, dass du dein Leben für mich gibst. Ich ehre und respektiere dich, ich ehre und respektiere deine Familie und deine Artgenossen. Ich achte sie und schütze sie, wann immer ich kann.“ Dann nahm sie einen Stein auf und hob ihn weit über ihren Kopf. „Möge deine Seele zu den Sternen fliegen und dein Leib in den ewigen Kreislauf eingehen, wie einst der meine.“

Der Stein knallte kräftig auf den Kopf des Fisches und Tala fühlte den Körper in ihrer Hand erschlaffen. Sie griff nach dem nächsten Fisch: „Verzeih‘ mir, Schwester, dass ich dir das Leben nehme. Mein Körper ist schwach und verlangt nach Kraft. Ich danke dir, dass du mir Leben schenkst. Ich ehre und respektiere dich, ich ehre und respektiere deine Familie und deine Artgenossen. Möge deine Seele zu den Sternen fliegen und dein Leib in den ewigen Kreislauf eingehen, wie einst der meine.“

Nun lagen alle drei Fische leblos in einer Reihe vor ihr und Tala blieb einen Moment still sitzen. Schließlich strich sie sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht, holte ihr Messer vom Floß und machte sich daran, die Vielkiemer von ihren schillernden Schuppen zu befreien und auszunehmen. Als sie damit fertig war, nahm sie die zuvor gesammelten Waldkräuter − Nistel und Sumpfkraut, Welkblüten und Sauerwills −, stopfte sie in die leeren Fischbäuche und stellte sich vor, wie sich ihr eigener Bauch bald warm und wohlig anfühlen und wie diese Mahlzeit ihren geschwächten Muskeln neue Kraft schenken würde. Sie band weitere Kräuter um die Flossentiere herum, bis drei grüne Bündel vor ihr auf den Steinen lagen. Dann schaute sie nach oben.

Das goldene Licht der Priyei Aurum ließ den braunen Fleck in ihrem rechten Auge hell aufleuchten. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis Arun und Alopex vom Holzsammeln zurückkehrten, denn sie konnte ihre beiden Gefährten weder hören noch wahrnehmen. Die Flucht aus Sermireidal und die vielen Entbehrungen in der Wildnis der Alten Wälder hatten das unsichtbare Band zwischen ihnen so stark werden lassen, dass sie jetzt mit Sicherheit sagen konnte, dass der junge Sermiramis und der Schneefuchs nicht in der Nähe waren.

Tala hatte längst aufgehört, die Regenzeiten während ihrer Reise auf dem Fluss zu zählen, aber es mussten bald zwei Dutzend sein. Und noch hatten sie keine Verfolger aus der schillernden Stadt ausmachen können, aber sie mussten dennoch auf der Hut sein.

Mit einem Seufzen stand sie auf, wusch sich die Hände im Fluss und holte aus dem Unterschlupf auf ihrem Floß ein Blattheft und einige Stängel Rotfin heraus. Dann kletterte sie auf eine der Baumwurzeln und setzte sich auf deren gewölbte braune Rinde. Sie legte die zusammengehefteten Blätter auf ihre Schenkel und ließ den Blick über den Fluss, den Steinstrand und die sich kräuselnde Strömung bis hinein in den Wald wandern. Die Sternenstrahlen stachen wie lange Speere vom Blätterdach in das grüne Dickicht hinab und ein würziger Geruch lag in der Luft.

Tala schlug das Heft auf und blätterte in den dicht beschriebenen Seiten bis zu dem dunkelgrünen Blatt in der Mitte, welches noch leer war. Sie nahm einen Rotfin-Stiel und brach ihn an seinem unteren Ende ab. Ein roter Saft trat aus und mit dieser natürlichen Füllfeder schrieb sie in schrägen Buchstaben:

„Der Wald war schon immer ein Lichtermeer.

Ein urig-würziger Ins-Dunkel-Seher.

Ob weit weg im Südwald oder in den Alten …“

Sie brach ein weiteres Stück des Stängels ab und schrieb weiter:

„… Wäldern,

stets umgibt er sich mit schattenhaft lichten Gewändern.

Ob eisig und starr und glitzernd im Schneegestöber.

Ob still und bewegungslos wie am Rande der purpurnen Gräser.

Ob Fäden webend bleich …“

Tala musste ein weiteres Stück des Stiels abbrechen, damit neuer Saft herausquoll.

„… und gruselnd, wie der Silberwald.

Wälder sind überall, Heimat und Weisheit und alt.“

Tala runzelte die Stirn. Der letzte Satz klang vielleicht etwas plump. Aber ihr fiel keine bessere Formulierung ein und so legte sie den halb verbrauchten Stängel neben sich auf die Baumwurzel und blies mit gespitzten Lippen über das Geschriebene. Sie las murmelnd und kam zu dem Schluss, dass es ein sehr schönes Gedicht war.

Arun war vor einiger Zeit mit ihr in den Wald gegangen, um nach Rotfin-Stängeln und Muat-Blättern zu suchen, nachdem sie ihm erzählt hatte, dass sie das Malen vermisste. Und er hatte ihr gezeigt, wie man die Blätter aneinanderheftete und wie man die Stängel als Schreibfedern nutzen konnte.

Bald darauf hatte Tala begonnen, die kleinen Anekdoten und Geschichten, die sie sich gegenseitig erzählten, aufzuschreiben und zu zeichnen. Zuerst war es ihr schwergefallen, die richtigen Worte zu finden, doch dann bemerkte sie, dass es ihr sogar leichter fiel, Dinge aufzuschreiben, als über sie zu sprechen. Und mit der Zeit war ihr das Blätterheft zu einem steten Begleiter geworden.

Sie überflog die dicht beschriebenen Seiten. Nie hätte sie gedacht, dass ihr geschriebene Buchstaben, Worte und Sätze einmal etwas bedeuten würden. In Kesgrave war es ihr verhasst gewesen, in Lehrbüchern zu lesen oder langweilige Aufsätze zu schreiben. Sie war viel lieber im Wald herumgestrolcht − oder hatte sonst etwas angestellt.

Aber jetzt war es genau andersherum. Sie war ständig im Wald, konnte sich ständig bewegen, schwimmen, klettern und tauchen − und auf einmal war ein beschriebenes Blatt eine große Kostbarkeit. Schon in der Eiswelt, in der Schule der Hohen Künste von Selas Tûrn, hatte sie bemerkt, dass Lernen Spaß machen konnte. Aber auch dort wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, dass es einmal eine Zeit geben könnte, in der sie so etwas wie Bücher vermissen würde.

Sorgsam klappte sie das Blätterheft zu und legte sich nach hinten auf die Baumwurzel, um ein wenig zu dösen. Da berührte plötzlich etwas ihren Geist:

„Tala, aufgemuckt! Holz ist da. Wir haben Hunger im Bauch!“

Talas schmale Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Alopex sprach nach wie vor äußerst selten mittels Gedanken mit ihr, aber wenn er es tat, fühlte sie in sich immer noch einen großen Stolz. Auch wenn die Wortwahl des Schneefuchses manchmal etwas absonderlich anmutete.

Sie setzte sich auf und sah Arun, der unter Alopex‘ wachsamem Blick eben ein großes Bündel totes Holz und Reisig neben den eingewickelten Fischen auf dem Steinstrand ablegte. Tala nahm das Heft und die Schreibstängel, stand auf und rutschte über die Wurzel nach unten.

Aruns Wangen waren etwas eingefallen und sein kraftvoller Körper war dünner und sehniger geworden. Dennoch lächelte er sie aufmunternd an. „Gut, dass deine Jagd erfolgreich war, Wolfstochter. Lasst uns endlich wieder etwas zwischen die Zähne bekommen!“

Gemeinsam bauten sie einen steinernen Schutzwall für das Feuer und schichteten zuerst das Reisig und dann das Holz auf. Arun nahm leicht entzündliches Faunekraut und rieb mit seinen Feuerhölzern Funken hinein. Es dauerte nicht lange und vor ihnen hoben sich züngelnde Flammen aus dem Steinkreis. Sie warteten, bis die Flammen sich senkten, dann legten sie ein paar Äste der unverwundbaren Eschbäume quer über den Steinkreis und platzierten die Fische darauf.

Nach einiger Zeit stieg ein köstlicher Duft auf, der sich mit der lauen Luft des Waldes vermischte. Tala lief das Wasser im Munde zusammen.

Endlich etwas zu essen! In der letzten Zeit hatten sie keine Fische fangen können, denn der Fluss hatte sie drei Wach- und drei Regenphasen lang zwischen steilen Felsen hindurchgeführt. Dort war die Strömung so stark gewesen, dass sie ständig achtgeben mussten, dass ihr Floß nicht kenterte, und nirgends hatte es eine Stelle gegeben, um anzulegen und sich auszuruhen, zu jagen oder Essen zu sammeln.

Genussvoll verzehrten die drei Gefährten deshalb nun die langersehnte Mahlzeit bis auf den allerletzten Happen.

Dann starrten sie mit einem wohligen Gefühl in ihren Bäuchen in die Flammen der in sich zusammenfallenden Glut. Trotz der mitunter entbehrungsreichen Zeit auf dem Wasser war der Fluss ihnen eine Art Heimat geworden. Unter den bunten Blättern und den schützenden Stämmen der ehrwürdigen Riesen vorbeizugleiten und dem Farbenspiel des Windes auf der Wasseroberfläche zuzuschauen, verlieh dem Leben eine behütete Aufmerksamkeit. Hinter jeder Flussbiegung hatten sie eine weitere, geheimnisvolle Seite der Alten Wälder entdeckt, doch die wichtigsten Elemente ihrer neuen Heimat blieben unveränderlich: Ihr Floß, das Wasser und die Bäume über ihren Köpfen. All das schenkte Tala und ihren Weggefährten eine abenteuerliche Geborgenheit, die das Herz erfrischte und den Körper forderte.

Oft schwiegen die Freunde lange Zeit und beobachteten einfach die Wellen und den Wald. Ließen sich treiben und genossen das betrachtende Vorübergleiten. Dann wieder scherzten und lachten das Menschenmädchen und der junge Sermiramis über die einfachsten Dinge, was der Schneefuchs meist etwas irritiert zur Kenntnis nahm. Mindestens krauste er in solchen Momenten immer auf drollige Weise seine Schnauze, als wolle er still zum Ausdruck bringen, wie seltsam er die Zweibeiner oft fand.

Wenn sie viel zu Essen fanden, schwammen und tauchten Tala und Arun während einer Rast gerne um die Wette oder kletterten die Wurzeln und Stämme hinauf. Manchmal fanden sie auch einen herabhängenden Ast, auf dem man wunderbar schaukeln oder von dem aus man kopfüber in den Fluss springen konnte.

Und noch etwas machte die Alten Wälder von Nurudeen zu einem angenehmen Ort: Es gab keine gefährlichen Echsen − und keine Unterirdischen, die sich unter den Wurzeln der Bäume bis an die Erdoberfläche gruben. Warum das so war, konnte auch Arun nicht sagen. Seiner Ansicht nach beschützten jedoch möglicherweise die Seelen der altehrwürdigen Solodeen die Bewohner dieser Wälder vor bösartigen Wesen. Diese Erklärung entlockte Tala immer ein leises Schmunzeln, denn sie hatte den Verdacht, dass das Volk der Sermiramis allzu häufig seine Vorfahren heranzog, wenn eine aufgeworfene Frage sich nicht eindeutig beantworten ließ.

Und dennoch: Von den Baumriesen in diesen Wäldern ging eine geduldige Sanftheit aus. Und wenn Tala beim Betrachten der Wellen in einen dösenden Zustand verfiel, hatte sie oft das unbestimmte Gefühl, dass die Bäume sie beobachteten.

Arun schien die Reise auf dem Seern ebenfalls gutzutun, auch wenn er hin und wieder still wurde und sich ein nachdenklich trauriger Ausdruck auf das perlmutt-schimmernde Gesicht des jungen Sermiramis legte. Tala hatte keine Ahnung, was dann in dem Waldkrieger vor sich ging. Aber sie mutmaßte, dass er an seine verstorbene Mutter dachte, und vielleicht noch an manch andere Dinge aus seiner Vergangenheit, über die er vermied zu sprechen. So wie sie selbst bisher die dunklen Geheimnisse ihres Lebens vor Arun verbarg.

Nachdenklich kraulte sie Alopex‘ graues Sommerfell. Der Schneefuchs hatte sich nach dem Essen zufrieden zusammengerollt und döste nun vor sich hin. Ihm war der Fluss nicht ganz geheuer, und jedes Mal, wenn sie am Ufer anlegten, sprang er vor lauter Freude, wieder festen Boden unter den Pfoten zu haben, wie toll auf und ab.

„Lass‘ uns ein wenig hierbleiben, unsere Vorräte auffüllen und das Floß und den Unterstand ausbessern“, unterbrach Arun Talas Gedanken. „Wir müssten zwar bald die Grenzen der Hohen Wälder erreichen, aber ich weiß nicht, wie weit wir dem Seern danach noch folgen müssen, bis wir nach Moosstadt gelangen. Soweit ich weiß, verliert sich der Fluss am Rande von Nurudeen in den Mangrovenwäldern. Wir müssen also gut aufpassen, dass wir uns nicht verirren; und wir sollten versuchen, uns an den Sternen zu orientieren.“

Tala seufzte. Es war wohl ihre Bestimmung, ständig auf Reisen zu sein und immer wieder Abschied nehmen zu müssen, obwohl ihr Herz sich manchmal danach sehnte, endlich irgendwo zur Ruhe zu kommen.

Aber dennoch hatte sie das Gefühl, dass es äußerst wichtig war, das Ziel ihrer Reise auf dem Seern so bald als möglich zu erreichen. Und dieses Gefühl hing nicht nur mit Moas Auftrag, das Amulett um ihren Hals so schnell als möglich zu der Seherin Linnéa zu bringen, zusammen. Es war vielmehr, als zöge sie etwas nach Moosstadt − als riefe dieser Ort nach ihr.

„Vertraue deiner inneren Stimme − vor allem in Momenten der Stille.“ Diese Worte hatte ihr Lehrer und Meister Moa ihr während ihrer Ausbildung wieder und wieder ins Herz gepflanzt. Und jetzt spürte sie die Bedeutung dieser Unterweisung mit einer neuen Dringlichkeit. Sie richtete sich auf: „Ja, lass‘ uns unsere Vorräte auffüllen und das Floß auf Vordermann bringen. Aber lass‘ uns nicht zu lange hier verweilen. Ich spüre, dass es gut wäre, unsere Reise rasch fortzusetzen.“

Ruckartig richtete Arun sich auf und seine grünen Augen mit den goldenen Sprenkeln darin tauchten tief in die ihren hinein. „Wieso?“, fragte er eindringlich. „Hast du etwas wahrgenommen? Etwas gesehen, das ich wissen sollte?“

Tala schüttelte den Kopf und ihre noch feuchten, dunklen Haare flogen ihr um die ausgemergelten Schultern. „Nein, nicht direkt. Aber ich glaube, es ist einfach besser, wenn wir unser Ziel bald erreichen.“

Arun neigte den Kopf und schien plötzlich verlegen. Er räusperte sich unbeholfen, dann setzte er sich wieder an das fast erloschene Feuer.

„Tala, ich muss dir was sagen“, sagte er, ohne sie anzusehen.

„Ja?“ Eine ungute Ahnung schlich sich in Talas Herz. Wollte Arun sie wieder verlassen? Hatte er anderes zu tun? Grübelte er während seiner verschlossenen Phasen darüber nach, wie er ihr sagen sollte, dass ihre Wege sich erneut trennen würden?

„Es geht um die Vision meiner Mutter. Die, in der der Himmel aufgerissen ist.“ Tala umschlang ihre Knie mit beiden Armen und lehnte sich nach vorne.

„Ja, du hast mir davon erzählt.“

„Ich …“, Arun atmete tief, „ich habe dir nicht alles darüber erzählt.“ Alopex wackelte mit den Ohren und Stille legte sich über die kleine Gemeinschaft.

Der selbstbewusste Waldkrieger sackte ein wenig in sich zusammen und sah mit einem Mal um einiges jünger aus als sonst. Tala kannte diese seltenen Momente, wenn all die harten Erfahrungen und Erlebnisse, die ihn zu früh hatten erwachsen werden lassen, von Arun abfielen und das zum Vorschein kam, was darunter lag.

„Nach dem Teil der Vision, die auch Merlon gesehen hatte, sah ich noch etwas anderes.“ Er schauderte. „Da waren vermummte Gestalten, die mich einkreisten und immer näherkamen“, sagte Arun leise. „Ein schreckliches Grinsen, das ich mehr fühlen als sehen konnte, schwebte über mir.“ Er schluckte schwer. „Da waren ein Rabenschnabel und rote, leuchtende Augen und …“

Talas Kehle wurde trocken. Sie wusste, wovon Arun sprach. Sie wusste es und wusste es doch nicht. Sie wollte wissen, was er gesehen hatte, und wollte es doch nicht. Das Bild, das er beschrieb, war wie ein Schatten, der sie verfolgte. Ein Schatten, den sie zu verbergen suchte, und dem sie doch ebenso hinterherjagte wie er ihr.

Arun sah Tala offen an. „Ich habe dich gesehen.“ Seine Augen glänzten. „Dein Körper war mit Wunden übersät, und ich glaube − nein, ich weiß …, dass du tot warst.“ Ein bitterer Zug verhärtete sein Gesicht, seine Stirn legte sich in Falten und er starrte zuerst auf seine Hände, dann in den Wald hinein. „Es hat sich so wirklich angefühlt, und irgendwie glaube ich − also ich hatte das Gefühl, dass es meine Schuld war. Dass ich irgendwas falsch gemacht habe. Ich habe irgendwas übersehen, ich konnte dich nicht beschützen. Ich habe es nicht geschafft!“

Jetzt quollen Tränen aus Aruns Augen. „Was, wenn ich die Gabe meiner Mutter geerbt habe, Tala? Was, wenn das, was ich gesehen habe, Wirklichkeit wird? Was, wenn ich versage und dich enttäusche?“

Tala rang nach Worten. Sie hatte keine Ahnung, was Aruns Vision zu bedeuten hatte, doch viel mehr als die Bilder, von denen er sprach, berührte sie seine Angst um sie. Unsicher rutschte sie ein wenig an ihn heran und legte eine Hand auf die warme, schillernde Haut seines Armes. Im selben Moment schien es Arun unangenehm, dass er sich so hatte gehen lassen, und er fuhr sich unwirsch mit dem Handrücken über die Augen.

„Verzeih‘ mir. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Aber ich denke … – ich musste dir davon erzählen. Das macht mir Angst, weißt du. Und das, was ich gesehen habe, damals auf den Wurzeln des Slenérial, als du mich in dein Inneres hast blicken lassen, das hat mir auch Angst gemacht. Wenn es etwas gibt, was ich wissen sollte, Tala, um dich besser unterstützen zu können, dann sag‘ es mir bitte.“

Bei diesen Worten zog Tala ihre Hand weg und umklammerte wieder ihre Knie. Sie wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch sie fand keine Worte, und so saßen sie lange schweigend nebeneinander. Schließlich brach der Schneefuchs die Unbeweglichkeit des Moments, indem er aufstand und sich hinter sie setzte. Dabei lehnte er sich gegen beide, sodass sie sein weiches Fell am Rücken und auf ihrer Haut spürten. Tala und Arun schauten kurz nach hinten und lächelten. Alopex tat gewohnt desinteressiert und blickte zwinkernd in den Wald jenseits der flachen Bucht, wo sie rasteten. Dann lehnte er sich noch etwas stärker gegen seine beiden Gefährten.

„Also“, brach Tala endlich das Schweigen. „Es ist nicht so leicht zu erklären. Du musst wissen, ich hatte schon immer Alpträume, sowohl im Schlaf als auch, wenn ich wach war. Und dieses Grinsen, das du gesehen oder gefühlt hast oder beides: Das kenne ich. Aus diesen Träumen. Mein Lehrer Moa sagte, das sind Erinnerungen.“

„Erinnerungen?“

„Ja, aus vergangenen Leben.“

Arun runzelte die Stirn.

„Ich weiß, es ist nicht leicht zu verstehen.“ Tala sprach schnell. „Es gibt Tage, da denke ich selbst, dass das alles nicht sein kann, dass ich mir all das verrückte Zeug nur einbilde. Aber diese Erinnerungen und das, was ich bisher über meine Vergangenheit weiß, das passt auf unheimliche und unerklärliche Weise zusammen.“ Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und durch die verklebten Haare. „Ich denke …, ich muss mich langsam daran gewöhnen, dass ich ein dunkles Erbe in mir trage, dem ich mich stellen muss.“ Die letzten Worte murmelte sie beinahe nur noch in sich hinein, während sie scheinbar angestrengt die grauen, grünen und orangenen Kiesel unter ihren Füßen betrachtete.

„Ich muss zugeben, dass ich nicht ganz verstehe, wovon du sprichst“, erwiderte Arun nach einer kurzen Bedenkzeit. „Was meinst du genau mit ‚dunklem Erbe‘ und ‚Erinnerungen aus der Vergangenheit‘? Und was haben diese Erinnerungen mit den Bildern zu tun, die ich gesehen habe?“

Tala riss sich vom Anblick der Steine los und sah ihn an. „Ich habe anscheinend viele Leben in dieser Geheimgesellschaft verbracht, von der ich dir bereits erzählt habe, und − mehr noch − ich war eine einflussreiche Seele, Handlanger des Allerhöchsten, der, wie ich glaube, hinter diesem boshaften Grinsen steckt.“ Tala wunderte sich, wie fest ihre Stimme trotz ihrer Unsicherheit klang. „Aber, Arun, hör‘ zu! Wenn dir das alles zu viel ist und wenn du deshalb gehen willst, dann kannst du das gerne tun! Das Letzte, was ich will, ist, dich da mit hineinzuziehen! Moa sagte mir, dass meine Erinnerungen an diese Leben in der geheimen Bruderschaft der Schlüssel zum Sieg über diese unbarmherzige Macht sein könnten! Aber ich will nicht, dass du dadurch in Gefahr kommst. Ich muss mich dem allein stellen. Am besten ist es, du bringst mich nach Moosstadt und kehrst dann zurück in die Hohen Wälder. Das ist am sichersten.“ An dieser Stelle begann Arun leise zu lachen und unterbrach damit Talas Wortflut.

Verwundert sah sie ihn an. „Was ist?“, fragte sie, lauter als beabsichtigt. „Was, bitte, ist daran so lustig?“

Lachend schüttelte Arun den Kopf. „Ich finde das äußerst lustig.“

„Aha, interessant, und würdest du mir bitte erklären, warum du das lustig findest, wenn ich dir meine schlimmsten Abgründe offenbare und dir sage, dass du dich aus dem Staub machen sollst?“ Talas Wut verdrängte ihre Verletzlichkeit. „Du bist nach Moa und Apeiron der erste, dem ich von diesen vergangenen Leben erzähle, und, nebenbei bemerkt: Ich kann es nicht ausstehen, darüber zu sprechen! Und ich hasse es, dass ich so bin und habe überhaupt keine Lust darauf, etwas über all diese schlimmen Dinge zu erfahren und über das, was ich anscheinend alles so getrieben habe, bevor ich als Tala geboren wurde!“ Nun war Tala nicht mehr zu bremsen. „Und außerdem“, brach es weiter aus ihr heraus, „habe ich keine Ahnung, wie das kommt, dass es anscheinend ein Davor und Danach gibt. Ich meine die Sache mit den vielen Leben und das alles! Und falls das stimmt: Warum, bei Himmel und Schatten, musste sich dann ausgerechnet meine Seele immer das allerschlimmste Schicksal aussuchen? Warum konnte sie sich nicht einfach in irgendeiner Familie in Selas Tûrn bei den Rebellen oder von mir aus auch in einer anständigen Familie der Sermiramis in den Hohen Wäldern einnisten? Warum ist sie immer wieder bei diesen schrecklichen Menschen des Auges gelandet? Ich verstehe das nicht. Ich verstehe nicht, wie das alles funktioniert, und ich verstehe erst recht nicht, was du daran − bei Himmel und Schatten! − lustig findest!“

Nach dieser langen Rede verbiss sich Arun das Lachen und schüttelte begütigend den Kopf, sodass sein langer Kriegerzopf leise über seinen nackten Rücken schwang und dabei auch das Fell des Schneefuchses berührte, der sich immer noch an sie lehnte.

„Nein, Tala. Die Geschichte mit den ganzen bösen Erinnerungen und den verschiedenen Leben finde ich natürlich überhaupt nicht lustig. Der Gedanke, wiedergeboren zu werden, ist für mich tatsächlich schwer zu begreifen. Wir Sermiramis glauben, dass die Seelen von den Sternen kommen und auch dorthin zurückkehren. Aber was davor oder danach passiert, damit beschäftigen sich nur wenige Gelehrte unseres Volkes.“ Arun dachte einen Moment nach, dann fuhr er fort: „Ja, auch ich habe schon einmal von der Idee gehört, dass eine Seele sich einen neuen Körper suchen kann. Meine Vorfahren, die Solodeen, haben ihre Körper aus Fleisch und Blut verlassen und leben jetzt in den Bäumen weiter. Jedenfalls erzählen wir uns das.“ Arun holte tief Luft, während der Halbschatten des Waldes sich um sie legte wie ein Mantel. „Was ich an deinen Ausführungen erheiternd fand und finde, ist, dass du mich offenbar um jeden Preis beschützen möchtest – so wie ich dich!“ Er verstummte und ihre Blicke trafen sich. Langsam, ohne sie aus den Augen zu lassen, sprach Arun weiter: „Ich werde dich nicht verlassen, Tala. Ich bleibe bei dir und werde dich mit meinem Leben beschützen. Auch wenn ich weiß, dass du sehr gut auf dich allein achtgeben kannst.“ Er verzog sanft die Lippen.

„Aber es wird gefährlich werden, und ich habe keine Ahnung, wohin mich mein Weg noch führen wird“, bemerkte sie besorgt.

Jetzt lachte Arun schon wieder, und zwar fast so ausgelassen wie bei ihrem ersten gemeinsamen Traumwandeln. „Lass‘ mich mal überlegen: Ein gefährliches Leben, mit einer kriegerischen Schönheit an meiner Seite …“, Arun reckte sein Kinn in die Luft, wie es sonst Tala oft tat, und sie musste kichern, „… nie wissend, was um die nächste Ecke lauert! Die vergessenen Tore von Nurendai suchen und durch unentdeckte Welten wandern … − oh, ich vergaß: Die wilde Schönheit an meiner Seite hat auch noch dunkle Geheimnisse, die es zu ergründen gilt!“ Er breitete die Arme aus und Talas Kichern ging in ein glucksendes Lachen über. „Was wünscht man sich mehr?“ Arun grinste und formte seine Hände zu Krallen. „Ein dunkler Feind, der überall lauert!“ Tala hielt sich den Bauch vor Lachen. „Ein einfältiges Grinsen!“ Arun verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und Tala japste nach Luft, weil sie inzwischen vor lauter Kichern kaum noch atmen konnte. „Dunkle Gestalten, die wir mit unserem Lichtschwert Nibur in die Knie zwingen werden!“ Mit heroischer Miene mähte Arun mit einer imaginären Klinge unsichtbare Feinde nieder, während Tala nun prustend vornüberkippte und sich auf dem Kies wälzte.

„He, was ist los?“ Arun stupste sie grinsend an. „Hab´ ich was verpasst? Du hast mich doch eben noch vertreiben wollen und jetzt kugelst du dich vor mir auf dem Boden herum? Hast du in deinen Taschen heimlich was von Nox‘ Essen in Rhynthal mitgenommen, dass du so lachen musst?“ Arun griff spielerisch nach Talas Hosentaschen.

„Hör auf!“, presste Tala hervor, während sie auf seine Hände einschlug.

„Was hast du gesagt?“

„Hör auf!“, keuchte Tala, jetzt lauter und energisch um Luft ringend.

„Womit? Was meinst du?“ Arun tat unschuldig und kitzelte sie noch heftiger.

„Der Fisch kommt gleich wieder hoch!“, krächzte Tala in letzter Not.

Da ließ Arun von ihr ab, fasste ihre Hände und half ihr, sich wieder aufzusetzen. Das war gar nicht so einfach, denn seine menschliche Freundin wurde immer wieder von glucksenden Lachkrämpfen geschüttelt.

„Wie sagte unser alter Freund so schön …“, sinnierte Arun und riss die Augen auf, sodass er plötzlich aussah wie ihr Gastgeber Nox in Rhynthal, wenn er eine seiner Vergrößerungsbrillen vor sein Gesicht zog: „Lachen ist gut! Ist sehr gut! Vertreibt die Dunkelheit!“ Arun hob einen Zeigefinger und imitierte gekonnt die krächzende Stimme des wunderlichen Sermiramis.

Tala wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und von den Wangen und nickte: „Weiser Mann, dein alter Freund!“

„Oh ja!“, lächelte Arun. „Nur eines musst du mir versprechen.“ Er wurde wieder ernst und sah ihr fest in die Augen.

„Ja?“

„Stirb bitte nicht.“

Tala atmete tief ein und erwiderte seinen Blick. „Das werde ich nicht. Wenn du es auch nicht tust.“

Arun kniff die Augen zusammen. Dann breitete er erneut die Arme aus. „Gut. Meinetwegen. Ich werde mich bemühen.“ Sie saßen dicht beieinander. Ihre Schultern und Hüften berührten sich, schweigend betrachteten sie den Fluss und seine sich kräuselnden Wellen und sahen gedankenverloren den herabgefallenen Blättern nach, die er auf seiner Oberfläche davontrug.

Nach einer Weile erhob sich Alopex und tapste zum Flussufer. Er ließ seine Zunge ins Wasser schnellen und schnupperte in die Luft. Dann wandte er sich um, zwinkerte den beiden kurz zu und trollte sich schließlich, um sich weiter oben an der Uferböschung in ein Nest von trockenen Blättern zu legen und eines seiner häufigen Schläfchen zu halten.

„Dann werden wir uns also bemühen, Moosstadt so bald wie möglich zu erreichen“, meinte Arun.

„Ja, das wäre gut“, pflichtete Tala, die sich mit einem Mal auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte als auf die Wärme von Aruns Haut auf der ihren, ihm zerstreut bei.

„Und wir haben keine Geheimnisse mehr voreinander, jedenfalls keine, deren Enthüllung wichtig wäre für unsere gemeinsame Aufgabe.“ Arun nahm Talas Hand vorsichtig in die seine.

„Nein …, ich meine: Ja, du hast recht. Wir sollten uns gegenseitig unterstützen, jetzt wo klar ist, dass wir …, dass du …“ Tala seufzte und starrte auf ihre beiden verschiedenfarbigen Hände, die sich ganz sanft umschlangen, so als trauten sie sich noch nicht, einander festzuhalten. „Ich will einfach sagen, dass …, ach!“ Sie holte tief Luft. „Einfach: Danke.“

Aruns Blick wanderte von ihren Händen zur glitzernden Oberfläche des Flusses.

„Also eines ist klar“, brach er nach einer Weile das Schweigen. „Sollten wir vor Linnéa oder einem anderen großen Herrscher stehen und Reden schwingen müssen, übernehme ich das.“ Seine Lippen verzogen sich erneut zu einem Schmunzeln und er blickte Tala von der Seite her an.

Diese verdrehte die Augen und erwiderte: „Das ist mir recht. Ich begnüge mich damit, hinterher alles aufzuschreiben. Das kann ich besser.“

Der junge Sermiramis nickte und fuhr leise fort: „Dann sollten wir jetzt das Floß startklar machen und unseren Weg bald fortsetzen.“

Ihre Hände lösten sich voneinander und schweigend bereiteten sie die Weiterreise vor.

2

Linnéa schlug die Augen auf und musterte ihre Gäste, die inmitten der größten Grotte von Moosstadt standen, welche ihr als Empfangsaal diente. Wasserfälle rauschten die Wände hinab und suchten sich gurgelnd ihren Weg in tiefe Becken, die den Boden der Höhle durchbrachen. Die Seherin saß auf ihrem steinernen Thron, der mit samtenem Grün überwuchert war.

Der Mann, der sich Janus nannte, sah sie unverhohlen misstrauisch an, während das Gesicht des Neuankömmlings, der auf den Namen Calvin hörte, eine gewisse Neugierde ausdrückte − aber auch eine versteckte Verletzlichkeit, die ein ungeübter Beobachter gar zu leicht übersah.

Seit drei Regenzeiten beherbergte sie die beiden Menschen in der Lagunenstadt, doch bisher hatte sie sie noch nicht zu sich gerufen. Heimlich ließ Linnéa die beiden jedoch überwachen, und so wusste sie, dass ihre wenig willkommenen Gäste die meiste Zeit damit verbrachten, die Gegend zu erkunden oder sich im Schwertkampf zu üben. Auch jetzt standen sie verschwitzt und mit den Waffen in den Händen vor ihr, denn sie hatte ihnen mitten in einer Kampfübung befohlen, zu ihr zu kommen, da es dringende Neuigkeiten gab.

„Jemand ist auf dem Weg hierher.“ Ihre eigene Stimme klang ihr fremd in der Brust, als Linnéa langsam aus dem Dämmerzustand der Hellsicht erwachte. „Es ist eine Frau, die eurer Gemeinschaft angehört. Sie trägt eine Macht bei sich, die ich lange nicht mehr gespürt habe. Ein Tier ist bei ihr. Es ist dasselbe Tier, das ich auf meiner letzten Reise durch die Hohen Wälder gesehen habe. Es ist klein und grau, und ich glaube, ihr nennt es in eurer Welt ‚Fuchs‘.“

„Alopex!“, rief Janus und trat ein paar Schritte vor. Doch Linnéas Hand gebot ihm energisch Einhalt.

„Ruhe!“, herrschte sie ihn an. „Die Bilder strömen noch immer in meinen Geist, und ich kann es nicht ausstehen, wenn man mich unterbricht!“ Ihre Augen blitzten und sie spürte, wie ihr unsichtbares Gefieder finster wurde. Janus schloss unwillkürlich den Mund und schob sich schnell wieder zurück an Calvins Seite. Dieser hatte bei Linnéas Ausbruch den Kopf schief gelegt und starrte sie nachdenklich an.

„Und hört auf, so laut zu denken! Ich habe euch nicht hergebeten, damit ihr mir mit euren Vorurteilen in meine Arbeit pfuscht!“, funkelte Linnéa nun insbesondere den Dunkelhaarigen an, der daraufhin die Stirn runzelte, kurz zu seinem Freund und dann auf den Boden blickte.

„Dankeschön!“ Der sarkastische Unterton der Seherin war kaum zu überhören. „Bleibt mit eurem Geist bei euch selbst, dann tut ihr mir einen großen Gefallen!“ Sie atmete aus und stierte vor sich in die Luft, als würde sich dort etwas vor ihren Augen materialisieren. „Sie kommen mit dem Fluss Seern aus den Alten Wäldern und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie hier eintreffen. Es ist auch einer vom Waldvolk bei der Reisenden ...“ Linnéas Stirn zog sich kaum merklich zusammen. „Das ist … − eigenartig.“

Nichts bewegte sich außer dem Wasser, das die Anwesenden sanft in seine Gischt hüllte. „Diese drei Reisenden sind äußerst geübt darin, ihr Inneres zu verbergen.“ Die Seherin blickte auf. „Könnt ihr euch denken, wer das sein kann?“ Wie Pfeile richteten sich Linnéas Augen nun auf ihre Gäste.

„Ich kann es mir nicht anders erklären“, antwortete Janus stockend, „als dass es meine menschliche Gefährtin Meena und mein tierischer Gefährte Alopex sind. Calvin und ich haben uns nach unserer Ankunft in dieser Welt in den Wäldern verirrt und alle unsere Gefährten verloren. Anscheinend haben sich aber zumindest diese beiden wiedergefunden; was mich sehr erleichtert, wie ich zugeben muss.“ Mit einem Lächeln blickte Janus kurz zu Calvin hinüber, der die Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt und mit ernster Miene auf den Füßen vor- und zurückwippte.

„Vielleicht habt ihr euch verirrt, vielleicht aber auch nicht“, erwiderte Linnéa streng. „Die Solodeen in den ehrwürdigen Bäumen der Hohen Wälder lassen Wanderer nur dorthin gehen, wo sie hingehen sollen. Hast du eine Idee, warum einer der Waldbewohner deine Gefährtin begleiten würde?“

Janus schüttelte den Kopf. „Vielleicht war er einfach nur hilfsbereit?“, mutmaßte er.

Ein bellendes Gelächter sprang durch die Grotte, welches den beiden Männern durch Mark und Bein fuhr. Kalte Belustigung spiegelte sich in Linnéas Gesicht, als sie anmerkte: „Ein Sermiramis, der sich einem Fremden gegenüber hilfsbereit zeigt? Ihr habt wenig Gespür für das, was in diesen Wäldern vor sich geht.“ Linnéa winkte ab und betrachtete sie mit einer Mischung aus Langeweile und Überdruss. „Wie zermürbend, Gespräche mit Unwissenden zu führen!“

„Wenn ich auch etwas beisteuern dürfte?“ Calvin ergriff das Wort mit einer hochgezogenen Augenbraue.

„Nur zu.“ Die Seherin wedelte mit einer Hand durch die Luft. „Überrasche mich!“

„Nun“, hob Calvin an, „ich gestehe, dass ich mich liebend gerne auf den Wald konzentriert hätte, aus dem wir gekommen sind.“ Er wandte sich um und zeigte in eine unbestimmte Richtung. „Aber das fiel mir, ehrlich gesagt, schwer, denn ich habe ständig seltsame Hilferufe erhalten. Rufe von einer Frau, die Euch“, Calvin deutete auf Linnéa, „verblüffend ähnlich sah.“

Plötzlich schien etwas im Raum zu erstarren. Etwas, das sich zuvor lebendig auf und ab, durch den Stein und durch das Wasser und durch alle Anwesenden hindurch bewegt hatte. Es war etwas, das von der Seherin ausging, und das jetzt bei Calvins Worten den Atem anhielt.