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Pläne und Träume sind eine schöne Sache, nur macht das Leben seine eigenen Regeln. Auch Jonathan muss das erkennen. Weil die Liebe seines Lebens zerbricht, trifft er eine Entscheidung. Er flüchtet an einen Ort, zu dem ihm Niemand folgen kann. Zu spät erkennt er, dass seine selbstgewählte Einsamkeit mög-licherweise der größte Fehler seines Lebens war. Denn nicht nur verändert der Ort ihn und treibt ihn an seine körperlichen und mentalen Grenzen, sondern er bringt auch Unschuldige in Gefahr. Besonders jene, die ihn nicht vergessen wollen, die ihn mit all seinen Macken lieben und die Suche nach ihm nicht aufgeben.
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Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Seelenleere
von Swenja Salewski
Über die Autorin
1967 in Duisburg Rheinhausen geboren, bin ich ein typisches Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Pott. In der Schule weder besonders schlecht noch besonders begabt. Einen großen Teil meines Arbeitslebens habe ich an einem Schreibtisch in Düsseldorf verbracht. Für Fantasie und Kreativität war da meist wenig Zeit. Jedenfalls bis zu diesem einen speziellen Tag. Danach war alles anders. Da war wieder Raum für Träume. Und das Bedürfnis einen dieser Träume aufzuschreiben. Aus diesem Traum wurde mein Debüt Roman Seelensuche.
Seelenleere
Die Irrungen eines fast Unsterblichen
Von Swenja Salewski
Impressum
Texte: © 2025 Copyright by Swenja Salewski
Umschlag: © 2025 Copyright by S. Böttcher
Lektrorat: Susanne Mang, Lektrorat Buchbiene
Verantwortlich für den Inhalt:
Swenja Salewski
Bahnhofstr. 35
41352 Korschenbroich
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Rote und grüne Lichter zuckten durch die Dunkelheit seines Hotelzimmers. Jonathan lag, mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, auf dem Bett und starrte gegen die fleckige Zimmerdecke. Die Stille im Raum wurde durch das monotone Röcheln einer altersschwachen Klimaanlage und den entfernten Geräuschen des nahegelegenen Flughafens unterbrochen. Wieder einmal hatte das Leben seine Wünsche und Träume verhöhnt. Seine Seele war durch die Ereignisse der letzten Stunden zu einer trockenen Einöde geworden.
Er hatte hier unter falschem Namen eingecheckt. Hatte sich absichtlich dieses Drecksloch von einem Hotel gesucht. Er war auf der Flucht vor sich selbst, und allen, die er kannte und liebte. Den gutsituierten, freundlichen Dr. Jonathan Thomas gab es nicht mehr.
Seine Gedanken reisten zurück zu dem Nachmittag vor zwei Tagen, der ihn dazu gebracht hatte, Dr. Jonathan Thomas hinter sich zu lassen.
***
Er hatte in dem gemütlichen Ledersessel vor dem Kamin gesessen, als Halla nach Hause gekommen war. Wie immer war er ihr entgegengegangen, um ihr aus dem Mantel zu helfen und sie mit einer Umarmung und einem Kuss zu begrüßen. Sie lächelte, als er seine Hand unter ihr Kinn legte. Er betrachtete ihr Gesicht. Versank in ihren gletscherwassergrauen Augen. Was hatte sie getan?
Sie wich gereizt einen Schritt zurück.
„Okay, Jonathan. Was? Was möchtest du mir sagen?“, polterte sie unvermittelt los und schob ihn leicht von sich weg, als würde er ihr die Luft zum Atmen nehmen. Er fühlte sich hilflos. Er hatte das Entsetzen in seinem Blick wohl nicht vor ihr verbergen können.
Mist.
Ihr Gesicht war so anders. So glatt. Die vielen Lachfältchen, die er so liebte. Sie waren ... weg. Verschwunden.
Warum tat sie so etwas?
Er strich ihr sanft über die Wange, gedanklich verzweifelt auf der Suche nach den richtigen Worten.
„Warum hast du das gemacht?“ Er merkte, dass die Frage falsch war. Er hätte sie niemals stellen dürfen.
„Ich bin deine Nörgelei so satt“, spie sie ihm entgegen.
Große Ratlosigkeit breitete sich in ihm aus. Hier lief etwas schief. Und zwar sehr. Er umfasste ihre Schultern, so dass sie ihn ansehen musste.
„Halla. Liebes. Ich nörgle nicht. Ich verstehe nur nicht, warum du das machst. Dein Gesicht. Es ist wie eine Maske. Ich erkenne dich nicht mehr“, brachte er mühsam hervor. Gleichzeitig legte sich ein Schatten über seine Seele.
Sie schnaubte. „Weißt du eigentlich, wie sich das anfühlt, wenn man mit einem Mann zusammen ist, der trotz seines Alters, nicht einmal graue Haare bekommt? Weißt du, wie mies ich mich dabei fühle? Es ist schwer, mit dir mitzuhalten, Jonathan.“
Er wusste es. Natürlich, er hatte es immer gewusst.
„Halla ... ich liebe dich, so wie du bist. Ich habe geschworen, dich immer zu lieben. Du bist die schönste und begehrenswerteste Frau der Welt für mich. All deine Lachfältchen bedeuten mir so unendlich viel. Weil wir gemeinsam gelacht haben. Sie sind ein Zeugnis für die schöne Zeit, die wir miteinander verbringen.“
Sie funkelte ihn böse an. „Richtig! Ein Zeugnis! Das Problem ist nur, dass sich dieses Zeugnis ausschließlich auf meinem Gesicht ablesen lässt. Nicht auf deinem. Nicht mehr lang und ich sehe aus wie ... wie ...“ Nach passenden Worten suchend fuchtelte sie mit ihren Händen herum, bis sie schließlich wütend mit dem Finger auf ihn zeigte. Ihr Blick, ein einziger schwerer Vorwurf.
„Du wirst immer aussehen ... wie ... wie jetzt. Du hast kein Recht darauf, mich dafür zu kritisieren, dass ich meine Falten nicht will.“ Wutschnaubend marschierte Halla in die Küche, ließ ihn im Flur stehen.
Sein Gedankenkarussell nahm Fahrt auf. Irgendwer bat darum, sich anzuschnallen.
Das Altern. Genau das war das Problem. Jonathan hatte es seit längerem gespürt. Denn Halla zog sich schon seit einiger Zeit kontinuierlich weiter vor ihm zurück. Sie schliefen seit Monaten in getrennten Schlafzimmern, obwohl er das nie gewollt hatte. War das, das Ende?
Mit hängenden Schultern folgte er ihr in die Küche. Nahm sich einen Kaffee und setzte sich an den Tisch. Er musste es klären. Auch wenn er wusste, dass der Aufprall weh tun würde.
„Halla, bitte setz dich einen Moment zu mir.“ Sie warf ihm einen genervten Blick zu. Machte sich einen Tee, setzte sich schließlich ihm gegenüber an den Tisch. Er ergriff ihre Hand. Sah ihr in die Augen.
„Wir wussten, dass es irgendwann so kommen würde, nicht wahr?“
Sie sah an ihm vorbei durch das Fenster in den Garten hinaus.
„Ja, Jonathan. Das wussten wir. Ich hätte es wissen müssen, als ich dir mein Ja-Wort gegeben habe. Aber ...“
„Aber, du hast es dir anders vorgestellt,“ vervollständigte er ihren Satz.
Sie zuckte hilflos mit den Schultern und starrte niedergeschlagen in ihre Tasse. „Ich nehme es an.“
Seine nächste Frage wollte er nicht stellen. Aber er musste es tun. Für Halla.
„Wäre es einfacher für dich, wenn ich gehe?“ Er kannte ihre Antwort. Er kannte sie, womöglich länger als Halla selbst. Er hatte sie oft in ihren Augen gelesen. Hatte den Gedanken jedoch immer wieder verdrängt. Er hatte sich der Wahrheit nicht stellen wollen.
Als Halla nach einer gefühlten Ewigkeit mit einem geflüsterten Ja antwortete, wurde Jonathan nicht mit voller Wucht aus dem Sitz des Karussells geschleudert. Es war eher wie ein kontrollierter Flug hinaus in eine unbekannte und dunkle Unendlichkeit.
Er nickte stumm. „Ich werde ein paar Dinge regeln. Dann werde ich gehen.“
Mit einem letzten Kuss hatte er sich von ihr verabschiedet.
***
Das Mobiltelefon zeigte eine Nachricht. Jonathan erhob sich vom Bett, zog sich die Jacke an und griff nach der Reisetasche. Er blickte ein letztes Mal durch das muffige Zimmer. Dessen verlebter Zustand war in gewisser Weise ein Spiegel seiner selbst. Abgefuckt und im Grunde nicht mehr zu gebrauchen.
Auf der kurzen Fahrt zum Abflugterminal verfasste er eine Nachricht an seinen besten Freund, Ron.
Lieber Ron,
Halla und ich haben uns getrennt. Man wird dir einen Umschlag mit Anweisungen zustellen. Bitte befolge sie. Es tut mir leid. Ich muss gehen.
Du warst mir der beste Freund, den ich in meinem Leben je hatte.
In Liebe Jonathan
Danach schaltete er das Telefon aus. Er würde es nicht mehr brauchen.
Das Flugzeug erhob sich in den Himmel. Mit jedem Fuß Flughöhe nahm die Leere und Dunkelheit in seiner Seele zu. Das Tattoo der Schlange, das seinen Körper vom rechten Unterarm bis zur linken Wade umschlang, schmerzte unangenehm, als wollten die gezeichneten Linien von ihm Besitz ergreifen.
„Lebt wohl“, murmelte er, dachte dabei an Ron und Halla.
Auf einmal wanderten seine Gedanken zu einem weit zurückliegenden Abend in einer Kneipe in Boston. Damals hatte er seine Kollegin und Freundin Melanie dort getroffen. Sie hatte ihm Mut gemacht. Ihm den Glauben an sich selbst zurückgegeben. Einfach durch ihre unumstößlich positive Art.
Der Kontakt zu ihr war schon lange abgebrochen. Eigentlich kurz nach der Hochzeit mit Halla. Er war in London geblieben. Melanie lebte mit ihrer Partnerin in Boston. Für eine Weile hatten sie noch schriftlich Kontakt gehalten, aber auch der war mit der Zeit eingeschlafen.
Mit geschlossenen Augen gönnte er sich die Erinnerung an Melanies quirliges Temperament, ihr Lachen und ihre dunklen Augen. Augen, die mühelos bis in seine Seele blicken konnten. Warum dachte er ausgerechnet jetzt an sie?
***
Feuchtwarme Luft und der Duft von üppiger Blütenpracht empfingen die Fluggäste bei der Ankunft. Jonathan registrierte es nicht. Er durchschritt zügig die Ankunftshalle. Orientierte sich kurz, bestieg dann ein Taxi. Der Taxifahrer zuckte zusammen, als er ihm sein Ziel nannte. Nach circa zwei Stunden Fahrt hielt der Wagen, abseits der Hauptstraße, in einer Gasse mit ein paar wenigen bunten Häusern.
„Sir. Hier müssen Sie aussteigen. Weiter fahre ich nicht.“
„Warum fahren Sie mich nicht bis zum Tor?“
Das Gesicht des Fahrers wurde bleich.
„Heilige Scheiße! Nein, Mann! Egal wie viel Geld Sie mir bieten, bis vor das Tor bringe ich Sie nicht. Auf keinen Fall. Sie steigen hier aus. Sie müssen dann nur noch ...“, er zeigte in Richtung zweier Häuser, „den Weg da drüben nehmen. Das Tor ist dann nicht mehr weit. Allerhöchstens zwanzig Minuten zu Fuß.“
Jonathan musste schmunzeln. Bezahlte das Taxi, schnappte seine Tasche und lief los. Hinter einem der Häuser war ein Müllcontainer. Kurz zögerte er.
War er einmal durch das Tor hindurchgetreten, gab es für ihn kein Zurück mehr.
Mit einem entschlossenen Schwung landeten seine Habseligkeiten im Müllcontainer. Das Leben des Dr. Jonathan Thomas war beendet.
Wieder und wieder starrte Ron kraftlos auf Jonathans Nachricht. Er dachte an die Nacht im Pub zurück, als Jonathan ihm gesagt hatte, dass Halla nicht mehr das Bett mit ihm teilen wollte. Er hatte das Thema, aus Rücksicht auf Jonathans Gefühle, von sich aus nicht wieder angeschnitten. Konnte die schleichende Veränderung in Jonathans Verhalten dennoch nicht leugnen. Er zog sich zurück. Wurde stiller und abwesender. Selbst Jonathans Augenfarbe hatte sich verändert. Seine Augen waren immer noch von diesem bestechenden Grün, doch das in ihnen ruhende intensive Strahlen fehlte. Immer öfter sah Ron winzige schwarze Punkte darin. Einmal hatte er Jonathan darauf angesprochen. Bei der Antwort hatte Jonathan traurig in sein Bier geblickt. „Die Schlange ... das, was mit ihr verbunden ist, ... die Dunkelheit, ... sie wird stärker, verschlingt mich, mit jedem Tag an dem Hallas Liebe zu mir schwächer wird, mehr.“ Ron hatte seine Worte zwar gehört, ihre Bedeutung wurde ihm erst jetzt wirklich bewusst.
Ein Klopfen an der Bürotür unterbrach seine Gedanken.
„Mr. Fraser. Hier ist ein Umschlag von Dr. Thomas für Sie abgegeben worden.“
„Danke. Sue.“ Er nahm den Umschlag entgegen, atmete tief durch und öffnete ihn. Er erkannte Jonathans geschwungene Handschrift sofort. Es war immer, als hielte man eine alte Urkunde in Händen. Jonathans Handschrift war, auf angenehme Weise, nie in der Moderne angekommen. ‚Testament und letzter Wille‘ stand auf einem Umschlag. ‚Scheidung‘ auf dem Nächsten. Auf dem dritten Umschlag stand ‚Für meinen Freund Ron‘. Ron öffnete diesen zuerst und verfluchte sich augenblicklich dafür. Ihm kullerten Jonathans Eheringe entgegen. Der aus Platin, den Halla Jonathan vor knapp siebzehn Jahren an den Finger gesteckt hatte und der viel, viel ältere Ring, der einst die Verbindung zu seiner ersten Liebe Freyja besiegelt hatte. Außerdem war da noch Jonathans Lederarmband, mit der mit einem Silberfaden eingeflochtenen vermeintlichen Glasperle, die in Wirklichkeit ein Rohdiamant war. Ron stöhnte auf. Das Armband war Jonathans Talisman gewesen, niemals zuvor hatte er sich freiwillig davon getrennt. Mit zitternden Händen nahm er das gefaltete Blatt Papier aus dem Umschlag.
Lieber Ron,
du ahnst vermutlich, dass dies hier ein Abschiedsbrief ist. Es tut mir leid. Ich muss aus vielerlei Gründen gehen. Die Macht in mir. Du erinnerst dich. Ich sagte dir, dass sie mich auffrisst. Jetzt, da die Liebe mich endgültig verlassen hat, mehr denn je.
All diese bösen Verse in meinem Kopf. Ich weiß nicht, ob ich sie beherrschen kann. Ich habe sehr große Angst davor, Menschen in meiner Nähe zu verletzen. Deshalb habe ich beschlossen, fortzugehen. Ich gehe an einen Ort, zu dem mir niemand folgen kann.
Wie ich dich kenne, wirst du nicht auf mich hören, wenn ich dir sage, bitte versuche mich zu vergessen und nicht, mich aufzuspüren. Ich kenne dich. Du bist du, wirst nicht lockerlassen, wirst mich suchen und vermutlich finden. (Was mich sogar ein klein wenig stolz macht.) Trotzdem wirst du mich dort nicht erreichen können. Niemand kann das.
Ich tue das nicht, um dich zu verletzen. Bitte glaube mir das. Unsere Freundschaft war die Bedeutendste in meinem ganzen Leben. Ich hoffe, dass die Schwärze in mir niemals die Macht haben wird, die Erinnerung daran auszulöschen.
In Liebe,
Jonathan
PS: Ich hätte dich gern noch einmal in meine Arme geschlossen. Aber das hätte es uns beiden nicht leichter gemacht. Bitte versuche, mich zu vergessen.
Ron rannen die Tränen übers Gesicht.
„Jonathan ... warum tust du mir das an? Dich vergessen, wie soll das gehen?“
Mit einem tiefen Seufzer öffnete er den nächsten Umschlag. Darin befanden sich Anweisungen an Ron, Jonathans Ehe mit Halla aufzulösen. Selbst eine Vollmacht lag bei, die Ron ermächtigte, über die Konditionen der Scheidung zu verhandeln. Demnach sollte Halla das Haus in London bekommen. Auf einem Klebezettelchen stand. „Ich weiß nicht, wie viel Geld als Entschädigung für siebzehn Jahre Ehe mit mir angemessen sind.“ Dahinter hatte Jonathan ein trauriges Gesicht gemalt.
„Was hast du getan, Halla? Niemals wieder wirst du einen Mann finden, der dich so auf Händen tragen wird, wie er es getan hat“, murmelte Ron in den Raum hinein. Er konnte nicht umhin, wütend zu sein. Halla war der Grund, warum er seinen Freund verlor. Der Gedanke war kindisch, aber er würde ihr die Scheidung nicht allzu einfach machen.
Widerstrebend griff Ron zum letzten Umschlag. Drehte ihn lange zwischen den Fingern, öffnete ihn dann doch. Nachdem er den Testamentstext überflogen hatte, schüttelte er den Kopf, goss sich ein großes Glas Whisky ein und leerte es in einem Zug. Dass es erst elf Uhr früh war, war Ron in seiner Trauer egal. Jonathan hatte ihm sein komplettes Vermögen vermacht. Das Testament sollte ein Jahr nach Datum der Erstellung vollstreckt werden. Ein Nachweis über den tatsächlichen Tod des Erblassers musste nicht erbracht werden. Auch hier klebte wieder ein Zettel. „Ich habe bei der Bank eine Kopie dieses Testaments hinterlegt und dort ebenfalls Anweisungen hinterlassen. Du solltest keine Schwierigkeiten haben, das Erbe anzutreten. Ansonsten hast du ohnehin Kontovollmacht.“ Dahinter hatte er ein lachendes Gesicht gemalt.
„Jonathan ... du bist ... unmöglich. Ich will dein Geld nicht. Ich will dich als Freund in meinem Leben. Mehr nicht. Warum tust du mir das auf meine alten Tage an?“
***
Sechs Monate nach Jonathans Verschwinden stand Ron an der Theke, in dem Pub, das immer ihr Lieblingspub gewesen war. Nigel, der Wirt, kam auf ihn zu.
„Hallo Ron, das Übliche für dich?“
„Hallo, Nigel. Ja. Ein Ale, bitte.“
„Du siehst mies aus. Was ist los, Ron? Und was hast du da in der Hand?“
„Ich habe heute Jonathans Ehe aufgelöst. Ein Scheißgefühl. Das hier ist Hallas Ehering.“
„Was? Warum durfte sie den nicht behalten?“
Ron lächelte. „Dieser Ring ist sehr alt. Quasi ein Erbstück. Ich verwahre Jonathans Gegenstück dazu. Ich konnte ihn nicht bei Halla lassen. Kein netter Zug von mir und irgendwie kindisch, ich weiß.“
Nigel zog eine Augenbraue hoch. Sein Gesichtsausdruck lag unergründlich zwischen Mitleid und Missbilligung. „Verstehe“, brummelte er. „Was macht Jonathan überhaupt? Okay, ich war selbst eine Weile weg, aber ich habe euch zwei ewig nicht mehr zusammen hier gesehen.“
„Er ist fort“, antwortete Ron.
„Lebt Jonathan nicht mehr in London?“
Ron schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Er ist auf St. Lucia.“ Seine Gedanken wanderten zu der grünen Karibikinsel. Wie Jonathan prophezeit hatte, hatte Ron herausgefunden, wo er sich aufhielt.
Auf einer verfluchten Zuckerrohrplantage. Wobei das Wort ‚verflucht‘ wörtlich zu nehmen war. Das sagte Ron jedoch nicht laut. Denn das würde ihm niemand glauben. Selbst Nigel, der alkoholgeschichtenerprobte Wirt ihrer Stammkneipe, nicht.
Bei der Erinnerung an seinen Besuch auf St. Lucia lief Ron ein kalter Schauer über den Rücken. Dabei hatte der Zufall, ein gutes Stück dazu beigetragen, dass er Jonathans Aufenthaltsort überhaupt hatte herausfinden können.
Nicht lange nach Jonathans Verschwinden, erreichte ihn ein offizielles Schreiben der Polizeibehörde dieser Karibikinsel. Darin wurde erklärt, dass eine Tasche gefunden worden war, mit eindeutigen Hinweisen, dass dessen Besitzer mit ihm in Verbindung stand. Im Grunde hatte man jedoch nur eine seiner Visitenkarten gefunden. So weit war das nichts, was ihn übermäßig verwunderte. Warum sollten seine Klienten nicht gern ihre Ferien auf St. Lucia verbringen wollen? Was die Behörden und schließlich auch ihn stutzig werden ließ, war, dass man in der Tasche einen gefälschten isländischen Reisepass auf den Namen Jona Eriksson gefunden hatte. Das war verdächtig. Ein Anwalt sollte keinen Kontakt zu Leuten mit gefälschten Pässen haben.
Da Jonathan ein nicht eben kleines Grundstück auf Island besaß, musste Ron nur noch eins und eins zusammenzählen und ein paar Erkundigungen bei Fluggesellschaften einholen. Der Isländer Jona Eriksson war zwei Tage nach Jonathans Abschiedsbrief auf St. Lucia eingetroffen. Die entscheidende Frage war, warum in Dreiteufelsnamen St. Lucia? Bisher hatte Jonathan nie eine besondere Vorliebe für die Karibik geäußert.
In seinem Abschiedsbrief hatte Jonathan davon gesprochen, dass er an einen Ort gehen würde, an dem Ron ihn nicht würde erreichen können. Warum? Was gab es auf St. Lucia für einen geheimnisvollen Ort, zu dem er nicht gelangen konnte? Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe.
Ron holte daraufhin einmal mehr den Stammbaum seiner Familie hervor und studierte ihn eingehend. Damals, als Jonathan ihm die Pergamentrolle gegeben hatte, hatte er fast nichts über die Familiengeschichte der Frasers gewusst. Die hatte ihn schlichtweg nicht interessiert. Damals war er in seinen Vierzigern gewesen und hatte das Leben in vollen Zügen genossen. Heute war er Anfang sechzig, konnte auf seine Erfolge als bekannter und erfolgreicher Anwalt zurückschauen und war stolz auf seine Familiengeschichte.
Seine Finger glitten suchend über das alte Pergament. Da! George Horatio Fraser. Neben diesem Namen waren ein Anker, Wellen und eine Kompassrose gezeichnet worden. Das konnte ein Hinweis sein. Ein paar Stunden im Nationalarchiv brachten Klarheit. Unter seinen Vorfahren hatte es im späten 17. Jahrhundert einen erfolgreichen Kaufmann gegeben, der regelmäßig mit einem Frachtschiff zwischen Britannien und den Kolonien unterwegs gewesen war. Sein Vorfahr hatte enge Handelsbeziehungen zu einer Plantage mit dem Namen „Rose Manor“, von der er Zucker und Rum bezog.
Eine weitere Woche später hielt Ron die Kopie einer Grundbesitzurkunde über ein Plantagengelände nebst Zuckermühle und Rumdestillerie, ausgestellt auf den Namen Jonathan Thomas Le Clerc in den Händen. Weitere Nachforschungen ergaben, dass das Gelände an der Westküste St. Lucias lag. Nicht weit von einem heute bei Rucksacktouristen beliebten Örtchen. Mit all diesen Informationen bewaffnet, war es für Ron keine Frage gewesen, dass er nach St. Lucia fliegen musste, um diese Plantage und so hoffentlich auch Jonathan zu finden.
***
Die Sonne brannte vom Himmel. Der überwachsene Weg führte auf das große schmiedeeiserne Tor zu. Die kunstvoll verzierten Flügel wurden durch eine schwere Kette und wuchernde Kletterpflanzen zusammengehalten. Eine seltsam kalte Stille ging von dem Ort aus.
Je länger Ron die Metallgitter anstarrte, desto kälter wurde ihm und seine Knie begannen zu zittern. Angst kroch seinen Rücken hinauf. Bedrohlich und lähmend. Er würde nicht durch dieses Tor gehen können. Niemals. Auch wenn er die Kette aufbrechen würde. Die Kette war lediglich ein Symbol für etwas weitaus Mächtigeres, das jeden davon abhielt, dass hinter dem Durchgang gelegene Gelände zu betreten.
Verzweiflung und Sorge um seinen Freund trieben ihn dazu, mehrere Tage in Folge zu dem Feldweg zurückzukehren. Bei jedem seiner Besuche wagte er sich ein Stück näher an den Durchgang heran. Je weiter er ging, desto dunkler und kälter wurde es, obwohl das Tor, genau wie der Weg davor, im hellen Sonnenlicht lag.
„Warum bist du hier? Warum lässt du mich nicht zu dir, Jonathan?“, flüsterte er. Tränen rannen über sein Gesicht. Er bekam keine Antwort. Jonathan zeigte sich nicht. Das Tor blieb unüberwindlich.
Er rief immer wieder verzweifelt Jonathans Namen, folgte der Mauer zu beiden Seiten des Tores ein Stück weit durch das Pflanzendickicht. Es half nichts, es gab für ihn keinen Durchgang. Die Bösartigkeit, die von dem Gelände ausging, machte jeden Schritt zur körperlichen und seelischen Qual. Nach fünf Tagen musste Ron sich eingestehen, dass er Jonathan verloren hatte. In einem letzten verzweifelten Akt schrieb er eine Nachricht, wickelte sie um einen Stein und warf sie mit aller Kraft über das Tor.
***
Gabriel saß an seinem Schreibtisch, starrte aus den doppelt raumhohen Fenstern seines luxuriös modern minimalistisch eingerichteten Büros im zwanzigsten Stock seines Firmenimperiums. Er liebte diesen Stil aus Glas und Beton. Kalt. Roh. Ein Spiegel seiner selbst.
Sein Blick war finster in die Ferne gerichtet, als könnte er dort in den rasch wachsenden Wolkenbergen etwas Verborgenes sehen.
Vor ihm auf dem Schreibtisch lag ein Buch mit rotem Ledereinband.
Dieses verfluchte Buch!
Das Buch, auf dem Jonathan bei ihrer letzten Begegnung, auf Island gekniet hatte und von dem Gabriel angenommen hatte, dass es Jonathan Macht verlieh. Wie lange war das her? Annähernd zwanzig Jahre mussten es sein. Und immer noch nagte die Erinnerung an seine Niederlage an ihm. Wie eine Narbe, die man nicht entfernen kann und die immer bei einem Wetterwechsel wieder zu jucken anfängt.
Mit einer plötzlichen, unwirschen Bewegung fegte er es vom Tisch. Mit Getöse knallte es gegen die fünf Meter entfernte Wand und fiel zu Boden. Eine Seite segelte heraus und verhöhnte ihn. Ausgerechnet die, die das Abbild des Schlangenträgers zeigte.
„Verflucht seist du“, zischte Gabriel mit knirschenden Zähnen.
Er hatte sich das Buch besorgt. Jemand war in Jonathans Haus auf Island eingedrungen und hatte es ihm beschafft. Er hatte das Buch gelesen. Wusste, dass Jonathan ihn damals betrogen hatte. Dieses Buch war lediglich eine Sammlung nutzloser, unsinniger, nichtssagender Verse, meisterlich ausgeschmückt, kunstvoll gearbeitet, dennoch eine Fälschung. Und er war Jonathan auf den Leim gegangen. War blind und gierig in seine Falle getappt.
„Lassen deine Sinne nach?“, hallte Jonathans von Hochmut durchtränkte Stimme in seinem Kopf wider.
„Nein, Jonathan, sie lassen nicht nach“, sagte er laut, mit vor Wut rauer Stimme. Der Stachel des Zorns, darüber, dass Jonathan ihn damals auf eine falsche Fährte gelockt hatte, saß sehr tief und er würde Jonathan dafür bluten lassen.
Gabriel setzte sich an den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Chefsessel zurück, starrte das abstrakte Gemälde an der gegenüberliegenden Wand an. Seine Gedanken wanderten weit zurück, bis an den Beginn der Zeit, als die Heere der Engel den apokalyptischen Drachen bekämpft hatten. In dieser einen epischen Schlacht. Als die göttliche Schöpfungsgeschichte begonnen hatte. Die Heere der Engel waren vergangen. Nicht mehr als ein vergessener Mythos. Den apokalyptischen Drachen hatte der Erzengel Michael besiegt. So sagte es die Legende.
Gabriel hatte sich dereinst als Botschafter und Verkünder auf die Erde hinabbegeben. Hatte das Verschwinden der alten Mythen miterlebt, den Wandel von der naturgebundenen Götterverehrung hin zu der Verehrung des einen Gottes, vorangetrieben.
Er hatte von Anfang an geahnt, dass sie den apokalyptischen Drachen nicht vollständig besiegt hatten. Er hatte es gefühlt, als er die Erde betreten hatte. Da war eine Kraft. Etwas, das Gabriel nicht greifen konnte. Etwas, das er nicht verstand. Dieses Etwas war mächtiger als die Macht Gottes. Bei seiner jahrhundertelangen Suche war er einem jungen Mönch begegnet, der sich selbst Jona genannt hatte. Ein geheimnisvoller stiller junger Mann. Dem Wesen nach kaum älter als zwanzig, jedoch gesegnet mit dem Wissen eines weisen, alten Mannes. Alle, egal welcher Religion sie angehört hatten, waren in seinen Bann gezogen worden, während er von Vergebung und Liebe gesprochen hatte. Er hatte die Menschen um sich herum eingelullt. Sie verführte. Wie einst die Schlange, Eva verführt hatte. Gabriel hatte Jona verfolgt, hatte das Schlangentattoo auf seiner Haut gesehen. Er hatte den Erben der Macht des Drachen, gefunden. Dessen war er sich sicher.
Gabriel schmunzelte bei dem Gedanken.
„Du warst damals ein schmächtiger Jüngling, mit viel zu großen Träumen, Jonathan.“ Ja, damals hätte er Jonathan vernichten können. Stattdessen hatte er beschlossen, dies den Vertretern der Kirche zu überlassen. Jona war, wegen seiner Schriften und ketzerischen Ansichten, auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Wie konnte er ahnen, dass Jonathan das Feuer überleben würde?
In den darauffolgenden Jahrhunderten hatte Gabriel immer wieder versucht, Jonathan zu vernichten. Zu seiner Schande musste er sich hier und jetzt eingestehen, dass er die direkte Konfrontation jeweils vermieden hatte. Was rückblickend ein großer Fehler gewesen war.
Mittlerweile war Gabriel der Überzeugung, dass die Macht des Drachen, diese Macht der Verführung, in Jonathan weiterwuchs, je mehr Prüfungen dieser im Leben zu bestehen hatte. Er verfluchte sich, da er oft selbst Jonathan diese Prüfungen in den Weg gelegt hatte. Allerdings wusste Jonathan nichts vom Erbe des Drachen in ihm. Er ahnte nicht, welche Kraft tatsächlich in ihm schlummerte.
Die Verse, die Jonathan bei ihrem letzten Zusammentreffen auf Island benutzt hatte, waren mächtig und hatten Gabriel einen gewissen Respekt abgerungen. Aber sie hatten nichts mit der Urgewalt des Drachen zu tun. Durch sie wurde diese Kraft in Jonathan lediglich zum Leben erweckt. Und Jonathan hatte nicht die Mittel, diese Kraft zu kanalisieren. Gabriel spürte es und er hatte es gesehen.
Er wusste, wo er Jonathan finden würde.
„Ich werde dich besuchen. Ich hoffe, du freust dich auf mich.“
Der schmale Pfad führte direkt zum Strand hinunter. Gabriel blinzelte in die untergehende Sonne. Das hier war ein schönes Fleckchen Erde. Er schmunzelte. Jonathan hatte eine Schwäche für die Schönheit der Natur. Langsam ging er weiter, bis er aus den Bäumen und Palmen heraustrat und den Strand vor sich sah. Da hockte Jonathan im Sand. Gabriel ahnte nicht, was ihn erwarten würde. Sicherlich hatte er sich Jonathans Zustand nicht derart erbärmlich vorgestellt.
Seine Kleidung war schäbig und zerrissen. Sein Körper ausgezehrt. Schlagartig wurde Gabriel bewusst, warum Jonathan hier war. Er war nicht hier, um zu leben, sondern, um mit den Kräften, die in ihm tobten, keinen Schaden anzurichten. Hier vielleicht sogar zu sterben.
Jonathan musste ihn längst bemerkt haben, rührte sich jedoch nicht. Sein Gesicht war auf das Meer vor ihm gerichtet. Erst als Gabriel sich neben ihn in den Sand setzte, drehte er langsam den Kopf. Für einen winzigen Moment erschrak Gabriel. Jonathans Augen waren rot unterlaufen und dichte Rauchwolken verdunkelten das sonst so strahlende Grün seiner Iriden.
„Was willst du hier, Gabriel?“ Jonathans Stimme klang rau und unendlich müde.
„Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass es mich interessiert, wie es dir geht?“
Als Antwort erntete er ein missbilligendes Schnauben. Jonathan wandte sein Gesicht wieder ab. Starrte ungerührt weiter aufs Meer.
„Du siehst schlimm aus.“
Er erhielt keine Antwort. Jonathan blinzelte nicht einmal.
„Bevor du stirbst, möchte ich, dass du mir das Geheimnis deiner Macht verrätst.“
Er erntete ein sarkastisches raues Lachen von Jonathan. Der drehte seinen Kopf und sah Gabriel direkt an.
„Sehe ich in deinen Augen aus, wie jemand der Macht besitzt?“
„Bei unserem letzten Zusammentreffen hast du mir einen Teil deiner Macht gezeigt.“
Wieder dieses sarkastische Lachen. „Das ist fast zwanzig Jahre her.“
Gabriel ließ sein Zusammentreffen mit Jonathan auf Island Revue passieren. Zwangsläufig erschauderte er. „Was hast du damals gemacht?“
Jonathan sah ihn mit einem gequälten Lächeln an. „Ich habe böse Verse aufgesagt. Verse aus einem Buch, welches ich niemals hätte lesen dürfen. Diese Verse beherrschen mich, haben meine Seele in einen dunklen trostlosen Ort verwandelt. Ich fühle nichts mehr. Nicht einmal die Gedanken an die, die ich einst geliebt habe, können die Dunkelheit in mir vertreiben. Ich kann mich nicht erinnern, wie mein Leben vor der Dunkelheit war.“
Jonathans Geständnis ließ Gabriel schlucken. „Du wünschst dir den Tod?“
„Ja. Das tue ich. Kannst du mich erlösen? ... Bitte.“
Gabriel fühlte Jonathans Flehen. Sein Blick jedoch blieb leer und trostlos.
Er schluckte, bevor er antwortete: „Ich könnte es, hier jedoch würde ich es nicht wagen.“ Hier gab es zu viele Dämonen, die mit Gabriels Glaubenswelt nicht kompatibel waren. Vor denen er sich fürchtete, aber das wollte er Jonathan keinesfalls wissen lassen.
„Dann fahr zur Hölle, Gabriel.“
„Das ist wohl eher der Ort, der dich erwartet.“
Wieder lachte Jonathan rau.
„Bist du sicher, dass ich in der Hölle gut aufgehoben wäre? Was, wenn Satan mich dort gar nicht haben möchte?“
„Du glaubst, du stehst über der göttlichen Ordnung?“
„Dein Gott hat kein Interesse an mir. Wenn er es hätte, dann würde er mich nicht weiter leiden lassen. Wenn er überhaupt ein Interesse an den Wesen hätte, die er erschaffen hat, dann hätte er dich längst in deine Schranken verwiesen. Hätte niemals zugelassen, was du einst Susan angetan hast, nur um mir zu schaden. Hat er aber nicht. Also warum sollte ich glauben, dass es so etwas wie Himmel und Hölle überhaupt gibt?“
„Du wirst sehen, wo du landest, wenn es so weit ist.“
„Warum zeigst du es mir nicht? Töte mich. Hier und jetzt. Ich möchte wissen, wer von uns beiden recht hat.“ Ein böses herausforderndes Blitzen lag in Jonathans Augen, jagte Gabriel einen eisigen Schauer über den Rücken. Jegliche Sanftmut war aus Jonathans Wesen verschwunden. Die Sanftmut und Liebe, mit der er die Menschen verführt hatte.
Er erhob sich. „Du wirst es bald selbst herausfinden, Jonathan.“
„Bald?“ Da lag eine verzweifelte Hoffnung in Jonathans Stimme.
Gabriel schluckte. „Ja. Bald.“
„Gut.“ Jonathan wandte sich ab. Drehte sich dann aber noch einmal zu Gabriel um.
„Woher wusstest du, wo du mich findest?“
„Ron“, gab Gabriel zurück. Obwohl das nur ein Teil der Wahrheit war. „Er trinkt in letzter Zeit oft ... und ist dann ziemlich gesprächig.“ Außerdem konnte Gabriel fühlen, wo Jonathan war. Aber auch das musste Jonathan nicht wissen.
Mit einer schnellen Bewegung, mit der Gabriel nicht gerechnet hatte, stand Jonathan plötzlich dicht vor ihm. In seinen Augen brodelte glühende Lava. „Sollte ich erfahren, dass du Ron auch nur ein Haar krümmst, dann sei dir gewiss, dass ich dich finden und töten werde. Merk dir das“, knurrte Jonathan mit tödlichem Ernst.
So abrupt wie Jonathan sich ihm genähert hatte, wandte er sich von ihm ab. Ein kalter Wind wehte über den Strand, ließ Gabriel abermals erschaudern. Dies war ein böser Ort. Zu viele Dämonen und Geister. Jonathan gelang es, hier zu überleben. Er schien ihre Anwesenheit nicht einmal zu spüren. Nur mit seinen inneren Dämonen konnte Jonathan nicht umgehen. Tief in seinem lieblosen Herzen musste Gabriel, Jonathan Respekt zollen, empfand sogar so etwas wie Mitleid mit ihm. Eilig verließ er den Strand.
***
Im Pub war schon einiges los, als Ron sich an die Theke setzte.
„Machst du mir ein Ale, Nigel?“
„Gern. Hier. Bitte. Sag, mal, warum hast du mir nicht erzählt, dass Jonathan tot ist?“
Vor Schreck ließ Ron fast sein Bierglas fallen. „Tot? Wie kommst du darauf?“
„Hast du heute noch keine Zeitung gelesen?“
„Nein.“
Wortlos reichte Nigel ihm die Seite mit den Todesanzeigen. Eine halbseitige Anzeige informierte die Leser darüber, dass Dr. Jonathan Thomas im Alter von dreiundsiebzig Jahren in seinem Haus in London sanft entschlummert war. Ron schloss die Augen und legte zitternd die Seite zurück. Wortlos stellte Nigel ihm einen Whisky vor die Nase, den Ron in einem Zug leerte.
„Ich dachte, du hättest die Anzeige aufgegeben. Dein Name steht in der Anzeige. So wie du reagierst, warst du es wohl eher nicht.“
„Nein, Nigel, das war ich garantiert nicht.“ Ron nahm die Anzeige noch einmal zur Hand und las sie genauer. Tatsächlich. Da stand sein Name. Aber auch der von seinem Ex, Michael. Und die Namen von Elisabeth, Melanie und ihrem Sohn, Joe. Das war seltsam. Soweit Ron das beurteilen konnte, gab es nur sehr sporadischen Kontakt zwischen ihm und Melanie. Und überhaupt, seit wann hatte Melanie einen Sohn? Außerdem hatte Jonathan kein Haus mehr in London. Wer zum Teufel hatte diese Anzeige aufgegeben? So in Gedanken vertieft, merkte er nicht, dass sich jemand neben ihn an die Theke gestellt hatte.
„Mein Beileid, Mr. Fraser.“
Diese gefühlskalte, hochnäsige, hasserfüllte Stimme hätte Ron unter hunderten erkannt.
Er drehte sich um, so dass er dem Sprecher ins Gesicht sehen konnte.
„Gabriel Sumner. Welch überaus unangenehme Überraschung.“
„Na, na. Ron. Warum so abweisend?“
„Was willst du? Hast du diese dumme Anzeige aufgegeben?“
Gabriels Gesicht deutete ein Lächeln an. „Gefällt sie dir nicht?“
„Jonathan ist nicht tot.“
„Nein? Bist du dir da sicher?“
„Ja, Gabriel. Das bin ich.“ Wieder breitete sich diese altbekannte Kälte hinter seiner Stirn aus, als Gabriels Blicke ihn trafen.
Der schmunzelte. „Es ist erstaunlich, dass nach all den Jahren Jonathans Schutz für dich immer noch wirkt.“
„Ich werde Jonathan das Kompliment weitergeben, wenn ich ihn sehe“, knurrte Ron.
„Das wird schwerlich möglich sein. Da ist nicht mehr viel von dem Jonathan übrig, den wir kennen.“
Ron wollte Gabriel kein Wort glauben, konnte seine nächste Frage jedoch nicht zurückhalten. „Du hast ihn gesehen?“
„Ja, das habe ich.“
Mit Gabriel zu sprechen war grundfalsch, trotzdem fragte er weiter.
„Wie geht es ihm?“
Gabriel schüttelte den Kopf. „Wie kommt es, dass ihn alle lieben, obwohl er sie verletzt, sie im Stich lässt, ihnen in großer Not nicht beisteht?“ Diesen Satz hatte Gabriel zu sich selbst gesagt. Dann sah er Ron wieder an. „Ich verstehe nicht, wieso du ihn immer noch so sehr vergötterst. Genau wie sie.“ Gabriel hatte seinen Finger auf eine andere Todesanzeige gelegt.
„Nein. Was?“ Ron verschlug es die Sprache. Da war noch eine Anzeige, die ihn aus der Fassung brachte. Dort trauerten Melanie und Joe Sanders um ihre geliebte Partnerin und Mutter Elisabeth.
„Ein Autounfall“, informierte ihn Gabriel.
„Hattest du da deine Finger im Spiel?“
Gabriel lachte. „Ron, ich bitte dich. Du vergisst, wer ich bin. Engel töten nicht.“
Bostoner Nieselregen begleitete Ron auf seinem Weg über den Friedhof. Langsam ging er an den vielen alten Gräbern, die den Hauptweg säumten, vorbei. Dabei glitt sein Blick immer wieder suchend über die Namen der Toten. Als müsse er hier einen Grabstein mit Jonathans Namen darauf finden. Er folgte dem Weg weiter über das weitläufige Gelände, bis er schließlich im moderneren Teil des Friedhofs ankam. In einiger Entfernung erblickte er die Trauergesellschaft. Es wunderte ihn nicht, dass hier viele Menschen versammelt waren. Elisabeth war zu Lebzeiten Richterin gewesen, Melanie erfolgreiche Ärztin. Ihr Kollegen- und Bekanntenkreis musste riesig sein. Bei seiner Beerdigung wäre es wohl ähnlich, durchzuckte es ihn.
Ron stellte sich in eine der hinteren Reihen. Von dort aus beobachtete er Melanie. Sie sah erschreckend blass aus. Wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Neben ihr stand ein junger Mann. Ron schätzte ihn auf kaum älter als zwanzig. Er hatte einen Arm schützend um ihre Schultern gelegt und strich ihr beruhigend über den Rücken. Als der Sarg in das Grab hinabgelassen wurde, zog der junge Mann Melanie besonders fest an seine Brust. Sie drückte sich an ihn. Er hielt sie. Legte sanft seine Finger unter ihr Kinn, um ihr in die Augen zu sehen. Er sagte etwas zu ihr. Die Art und Weise wie er das tat, wie er sich bewegte, seine Gesten, seine Statur, ließen Rons Herz plötzlich schneller schlagen. Das konnte nicht sein. Unmöglich. Trotzdem, was er da sah, war, als wäre Jonathan in einen jüngeren Körper geschlüpft.
Bewegung kam in die Menge der Trauernden. Hände wurden geschüttelt. Beileidsbekundungen ausgesprochen. Ron konnte seinen Blick nicht von dem jungen Mann abwenden. Jede seiner Gesten erinnerte schmerzlich an Jonathan.
Er richtete es so ein, dass er der Letzte im Zug der Trauergäste war.
„Melanie“, flüsterte er verunsichert, als er vor ihr stand. Verdammt. Es war so lange her. Viel zu lange. Fast zwanzig Jahre hatte er sie nicht gesehen. Ihr überraschter Blick aus traurigen dunklen Augen traf ihn. Dann strahlte sie durch ihre Tränen hindurch.
„Ron ... Ron, du bist es wirklich?“ Schon landete sie in seinen Armen und fing wieder hemmungslos an zu weinen. Ihm blieb nichts, als sie in seine Arme zu schließen, sie festzuhalten, ihr Trost zu spenden. Sein Blick fiel dabei auf den jungen Mann, der ihn finster musterte. Ron musste die Augen schließen. Die Ähnlichkeit zu Jonathan trieb ihm einen Eiszapfen durchs Herz.
„Mom?“, flüsterte der junge Mann und berührte leicht ihre Schulter. Melanie befreite sich aus Rons Armen. Wischte sich mit einer undamenhaften Geste die Tränen weg.
„Ehm ... Ron. Darf ich dir meinen Sohn vorstellen. Joe.“ Stolz lag in ihrem Blick. Ein dicker Kloß saß in Rons Hals.
„Hallo, Joe. Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich heiße Ron Fraser.“ Sie schüttelten sich die Hand. Der Ausdruck in Joes Augen blieb distanziert.
„Ron ist ein alter Bekannter“, setzte Melanie erklärend nach. „Leider haben wir uns seit deiner Geburt aus den Augen verloren.“
Sie wandte sich wieder Ron zu.
„Wie geht es Jonathan?“
Ron musste schlucken. Starrte dabei Joe an. Er merkte, wie sich Tränen in seine Augen schlichen. Er musste in den Himmel sehen, um sie wegzublinzeln.
„Es tut mir leid. Er ist ...“ Mit einem weiteren Seitenblick auf Joe sagte er, so fest er konnte: „Er ist tot. Seit drei Jahren.“ Hoffte, dass keiner die Unsicherheit in seiner Stimme bemerkte.
Melanies Blick bohrte sich in seinen. Sie glaubte ihm kein Wort. „Tot“, wiederholte sie tonlos. Ihr Blick drang erbarmungslos bis in sein Hirn.
Er hob abwehrend die Hände. „Bitte, Melanie. Ich weiß nicht, wie es ihm geht. Er hat Halla verlassen. Seitdem ist er weg. Tot ist er vermutlich nicht. Trotzdem können wir nicht zu ihm.“
„Du weißt, wo er ist?“
Ron nickte stumm.
***
Ein halbes Jahr war inzwischen seit der Beerdigung vergangen. Seine Mutter hatte beschlossen, umzuziehen. Das Haus barg zu viele Erinnerungen an Elisabeth, hatte sie ihm verkündet. Joe beobachtete seine Mutter aus den Augenwinkeln, während er Bücher in Kartons verstaute. Es ging ihr gut. Der anstehende Umzug in das neue Haus schien sie glücklich zu machen. Dieser geheimnisvolle alte Bekannte, Ron Fraser, hatte ihr die Schlüssel dafür gegeben. Er hatte seiner Mom zugeraunt, dass Jonathan es gutheißen würde, wenn sie dort wohnte. Ihm kam das hochgradig seltsam vor, aber da seine Mom glücklich war, hinterfragte er die Aktion nicht weiter. Er schüttelte den Gedanken ab und widmete sich wieder dem Bücherregal. Als er eines der oberen Regale ausräumte, fielen einige Bücher um. Dahinter kam ein Fotobuch zum Vorschein. Auf dem Cover posierte ein nackter Mann mit einem beeindruckenden Schlangentattoo, das sich über den ganzen Körper zog. Joe musste grinsen und drehte sich zu seiner Mutter um.
„Mom! Was ist das denn bitte?“, fragte er mit schelmischem Grinsen und hielt das Buch in die Höhe. Seine Mutter riss die Augen auf, sprang auf die Füße. Kam schnell auf ihn zu. Wollte ihm das Buch wegnehmen. Joe lachte und streckte seinen Arm noch etwas höher, damit sie es nicht greifen konnte.
„Joe! Du gibst mir dieses Buch.“
„Keine Chance, Mom. Erst will ich wissen, was das ist.“
„Das geht dich gar nichts an“, erwiderte sie mit hochrotem Kopf.
Joe amüsierte sich. „Mom! Da ist ein nackter Mann drauf. Und noch dazu sieht er verdammt scharf aus. Ich dachte immer, ich sei der einzige Mann hier im Haus. Das macht mich eifersüchtig“, neckte er sie.
Seine Mom baute sich vor ihm auf, stemmte ihre Hände in die Hüften und funkelte ihn böse an. „Ich bin deine Mutter und ich sage dir, gib mir sofort dieses Buch.“
„Nein.“
„Doch.“
„Hol‘s dir. Fang mich.“ Joe liebte es, mit seiner Mutter herumzualbern. Plötzlich fühlte er sich wieder wie zehn und flitzte um das Sofa herum. Seine Mutter kam lachend hinterher. Sprang sie auf ihn zu, wich er aus. Wollte er entwischen, schnitt sie ihm den Weg ab. Dabei lachten und kicherten sie. In einem kurzen Moment der Unachtsamkeit stolperte er über einen Bücherstapel und fiel hin. Seine Mutter lag sofort über ihm und kitzelte ihn. Mit lautem Glucksen wehrte er sich und ließ dabei das Buch fallen.
„Erwischt“, rief sie triumphierend. Feixend schnappte sie sich das Buch und drückte es sich an die Brust. Dann fing sie plötzlich unvermittelt an zu weinen.
Joe war sofort neben ihr, legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter und zog sie zu sich.
„Mom, was ist das für ein Buch? Warum weinst du?“
Melanie schüttelte ihren Kopf und sah Joe hilflos an.
„Mom. Bitte. Ich bin dein Sohn. Ich bin erwachsen. Nackte Männer verschrecken mich nicht. Sag es mir. Bitte.“
Seine Mutter sah ihn lange stumm an. Dann schien sie einen Entschluss gefasst zu haben.
„Das ist Jonathan“, murmelte sie und reichte Joe das Buch.
„Jonathan? Der Typ, den du und dieser Ron auf der Beerdigung erwähnt hattet?“
Sie nickte.
„Der gemeinsame Freund, in dessen Haus am See du einziehen wirst?“ Bei der Frage legte er den Kopf schief und musterte seine Mutter eingehend. Eine verlegene Röte überzog ihre Wangen.
„Ja, genau der. Ich hab ihn im Gefängnis kennengelernt. Damals, als ich dort meine praktische Ausbildung zur Ärztin angefangen habe. Er saß unschuldig wegen Vergewaltigung in Untersuchungshaft. Er musste Arbeitsdienst auf der Krankenstation schieben. Sein Pech war mein Glück. Er war Chirurg. Einer der Besten. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken.“ Seine Mutter senkte den Blick und ein verträumtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Mom! Was versuchst du vor mir zu verheimlichen?“
Seine Mutter lief tiefrot an und knetete ihre Finger. Ein klares Zeichen, dass sie nervös war und sich in einer mentalen Zwickmühle befand. Er kannte das. Plötzlich bekam er eine Gänsehaut, denn ein verwirrender Gedanke schlich sich in sein Hirn. Er schluckte, um den Kloß in seinem Hals zu vertreiben. Mit heiserer Stimme fragte er: „Dieser Jonathan ... ist er ... mein Vater?“
„Nein.“ Ihre Antwort kam viel zu schnell, um ihn zu überzeugen.
„Du lügst, Mom. Ich spüre das.“
Seine Mutter sackte in sich zusammen, als hätte jemand all ihre Knochen in Wackelpudding verwandelt. Sie tat ihm leid und er zog sie wieder fester in seine Arme.
Sie schluchzte und er verstand kaum, was sie sagte. „Ja. Jonathan ist dein Vater. Er ist ... war ... ein wunderbarer, außergewöhnlicher, liebevoller ... Mann.“
Er hielt seine weinende Mutter im Arm. Hunderte Gedanken fluteten sein Hirn. Neugierig schlug er das Buch auf. Es fielen einige lose Polaroids von einer Hochzeit heraus. Da war dieser Jonathan mit einer anderen Frau. Seiner Frau, vermutete Joe. Er sah toll aus, das musste man ihm lassen. Er himmelte diese Frau an. Dann war da ein anderes Bild. Es zeigte seine Mütter Elisabeth und Melanie und diesen Jonathan. Er stand in der Mitte, hatte die beiden Frauen im Arm. Alle drei lachten und strahlten fröhlich in die Kamera. Bei diesem Bild breitete sich Wut in Joes Brust aus. Warum das so war, konnte er nicht greifen. Sie war da und ließ seine Stimme frostig klingen.
„Wie konntest du mit diesem Mann ins Bett gehen und dabei zusehen, dass er eine andere heiratet? Ist sie der Grund dafür, dass du mir all die Jahre verschwiegen hast, wer mein Vater ist?“ Als sie nichts sagte, setzte er harsch nach: „Antworte mir.“ Seine Mutter zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.
„Joe. Bitte. Du verstehst das nicht. Elisabeth und ich haben uns ein Kind gewünscht. Du hast unser Glück komplett gemacht.“
Joe sah sie an und konnte vor Zorn kaum atmen. „Und da war dieser Typ gerade gut genug? Ihr habt miteinander gefickt und das Ergebnis war ihm dann egal?“
„Nein. Joe, ... hör mir zu ... so war es nicht.“
„Ich will es gar nicht wissen“, stieß er, lauter als er es gewollt hatte, hervor. „Ich war ihm vollkommen egal. Und euch beiden war es egal, wie ich mich all die Jahre gefühlt habe. Ich wollte immer wissen, wer mein Vater ist. Ihr wusstet das. Ich habe euch so oft gefragt und gedrängt. Habe nie eine Antwort bekommen. Eine anonyme Samenspende wäre mir egal gewesen. Aber du ... du hast gewusst, wer mein Vater ist, und hast mich die ganze Zeit angelogen.“ Vor Wut traten ihm Tränen in die Augen. Er musste hier weg. Er sprang auf die Füße, schnappte seine Jacke und knallte die Haustür lautstark hinter sich zu. Dass seine Mutter verzweifelt hinter ihm herrief und ihn bat zu bleiben, hörte er nicht mehr.
Das Wasser glitzerte in wunderschönen Blau- und Grüntönen. Die Luft war warm und erfüllt vom süßen Duft exotischer Pflanzen und dem Gesang fremd klingender Vogelstimmen. Ein Ort wie aus einem Reiseprospekt. Jonathan saß nackt im feinen warmen Sand. Mit den Armen umschlang er seine angewinkelten Beine. Sein Kinn ruhte auf den Knien. Die Schönheit dieses Fleckchens Erde spürte er nicht. In ihm herrschte Leere, Schwärze und Hoffnungslosigkeit. Seine Augen sahen dunkel in die Ferne. Wie lange war er schon hier?
„Lange. Viel zu lange“, beantwortete er die Frage an sich selbst.
Es waren annähernd drei Jahre, seit er in den Fleiger hierher gestiegen war. Anfangs hatter er nocht oft an Ron gedacht. vor allem, nachdem er seine um einen Stein gewickelte Nachricht gefunden hatte.
Jonathan,
Ich weiß, dass du hier irgendwo steckst. Ich will zu dir. Möchte dir helfen, aber ich kann es nicht. Hier ist so viel Grausames und Böses, es lässt mich nicht zu dir.
Ich vermisse dich. Gleichzeitig bin ich wütend. Du hattest mir einmal auf Island versprochen, dass du mit mir reden würdest ... immer. Warum jetzt nicht? Warum hast du diesen dunklen, schrecklichen Ort für deine Flucht gewählt?
Ich stehe hier vor diesem Tor und heule mir die Seele aus dem Leib, weil ich meinen Freund verloren habe. Verdammt! Wir sind doch Freunde! Oder sind wir das nicht mehr?
Ich liebe dich.
PS: Dein Geld werde ich nicht annehmen. Niemals.
Ron hatte ihm helfen wollen. Nur war er da schon selbst nicht mehr in der Lage gewesen, die getroffenen Entscheidung rückgängig zu machen. Etwas in ihm war so stark geworden, dass er sich davor fürchtete andere Menschen allein durch seine Blicke zu verletzten.
Mittlerweile war er an den meisten Tagen nicht einmal mehr in der Lage Farben zu sehen. Alles um ihn herum versank in einem Nebel aus Grau- und Schwarztönen. Heute war einer der besseren Tage. Er erkannte das Blau des Wassers und des Himmels. Fühlte sogar die Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Manchmal waren da Erinnerungen. Er sah dann Gesichter und Augen, die ihn freundlich musterten. Es waren die Augen seiner Freunde, das ahnte er. An deren Namen erinnerte er sich jedoch nicht mehr.
Er zitterte. Bat alle ihm bekannten Mächte und Götter um Erlösung. Ein Wunsch, der bisher nicht in Erfüllung ging.
***
Ron saß vor seinem Computer und grübelte. Morgen würde Joe in London landen. Melanie hatte ihm erzählt, dass Jonathan sein Vater war. Hatte ihn deshalb gebeten, angefleht, zum Schluss sogar in fordernden Großbuchstaben in einer Mail appelliert, Joe für ein paar Tage bei sich aufzunehmen. Ihm alles über Jonathan zu erzählen. Ihre Bitte war verständlich. Dennoch bereitete sie Ron großes Kopfzerbrechen.
Nach dem Gespräch mit Gabriel war ihm klar geworden, dass er Jonathan nicht würde helfen können. Deshalb versuchte er, worum Jonathan ihn selbst gebeten hatte. Er versuchte, ihn zu vergessen.
Manchmal gelang es ihm. Viel zu häufig gelang es ihm nicht und es endete damit, dass er in Erinnerungen und Selbstmitleid badend mit einer Flasche Whisky vorm Kamin saß und sich betrank. So einen Zusammenbruch durfte er während Joes Aufenthalt hier nicht haben. Auf keinen Fall. Ob er die Kraft hatte das durchzustehen? Er bezweifelte es. Am liebsten hätte er doch noch einen Rückzieher gemacht. Andererseits hatte der Junge ein Recht darauf zu erfahren, wer sein Erzeuger war. Verdammt. Ron ahnte, dass Joes Besuch in einer Katastrophe enden würde.
„Verflucht! Jonathan, weißt du, dass du einen Sohn hast? Ich wünschte, ich könnte es dir sagen. Was soll ich ihm über dich erzählen? Was würdest du ihm mit auf den Weg geben wollen?“, fragte er laut in den Raum hinein. Wie üblich enthielten sich die Bücherregale einer Meinung.
„Weißt du was? Ich sage ihm einfach alles. Er muss die Wahrheit kennen. Die ganze Wahrheit. Auch wenn es ihn entsetzten wird, so wie es mich einst entsetzt hat. Ich will ihm keine Lügen auftischen.“
***
Nervös tigerte Ron vor dem Ankunftsgate des Fluges aus Boston herum. Warum war er so aufgeregt? Der, der da kam, war Jonathans Sohn. Kein Date und erst recht nicht Jonathan selbst. Verdammt, er war nervös, weil er Joe so viel würde erklären müssen. Angefangen damit, dass er Jonathan geliebt hatte. Ron raufte sich die Haare, die zum Glück noch immer reichlich vorhanden waren, nur eben mittlerweile nicht mehr dunkelbraun, sondern grau. Es würde eine Katastrophe werden. Warum tat er sich das überhaupt an?
„Du tust das für Joe. Er hat ein Recht darauf, die Geschichte seines Vaters zu kennen“, knurrte er sich selbst zu. Was für ein Wahnsinn. Als er hochschaute, sah er Joe durch die Schiebetüren kommen und automatisch verzog er die Lippen zu einem Grinsen. Da kam tatsächlich eine jüngere Version von Jonathan auf ihn zu. Sogar die Art, wie er seine Tasche lässig über der Schulter trug, war der von Jonathan nicht unähnlich. Ron zwang sich, Joe nicht direkt in seine Arme zu reißen. Stattdessen reichte er ihm die Hand.
„Willkommen in London. Hattest du einen guten Flug?“ Ron musterte Joes Gesicht. Sein Blick blieb zu lange an Joes Augen hängen. Reiß dich zusammen. Ron atmete tief durch. „Es tut mir leid, Joe. Ich will dich nicht so anstarren. Ich kann aber nichts dagegen machen. Im Moment bin ich ziemlich froh, dass du nicht auch noch Jonathans grüne Augen geerbt hast. Sonst würde ich hier vor dir in Tränen ausbrechen. Gib mir dein Gepäck. Lass uns gehen. Ich brauche frische Luft.“ Ron ließ Joe keine Zeit für eine Antwort, nahm ihm die Tasche ab und ging mit schnellen Schritten voraus zum Parkhaus. Erst als er beim Auto angekommen war, hatte Ron sich wieder im Griff.
„Ich hoffe, deine Mutter hat dir gesagt, dass Jonathan und ich mehr als sehr gute Freunde waren.“
Joe nickte und grinste. „Ja, das hat sie. Sie hat mir auch gesagt, dass mein Besuch hier, dich eventuell aus der Fassung bringen würde. Damit lag sie offensichtlich richtig.“
„Dein Besuch sollte mich nicht aus der Fassung bringen“, brummte Ron. „Dennoch tut er es.“ Ron stellte sich vor Joe, war somit auf Augenhöhe mit ihm. „Ich bin schwul. Ich liebte deinen Vater. Immer schon. Jonathan weiß das. Es hat unsere Freundschaft nie belastet. Du siehst wie eine jüngere Version von ihm aus. Ich muss aufpassen, dass mir mit dir nicht das Gleiche passiert. Einen zweiten Jonathan in meinem Leben sollte ich meinem alten Herzen wirklich nicht zumuten.“
Joe sah ihn verlegen an. „Wenn ich wieder gehen soll, dann musst du mir das nur sagen.“
Ron lachte. „Nein. Sollst du nicht. Stoß mich nur zurück, sollte ich zu anhänglich werden.“
Jetzt musste Joe lachen. „Keine Sorge. Mache ich. Ich steh‘ definitiv nicht auf Männer.“
Ron sah Joe lange an. Seine Mimik und sein Lachen waren dem von Jonathan so unglaublich ähnlich.
„Was ist?“
„Nichts, nichts“, winkte Ron ab. „Lass uns fahren. Du bist sicher müde.“
Ron steuerte den Wagen durch den Berufsverkehr. Eine Stunde später hielten sie vor seinem Haus in einem der teureren Wohnviertel Londons. „So, da wären wir.“
„Wow! Schickes Haus. Du scheinst reich zu sein, Ron.“
„Reich. Ich. Nein. Nicht wirklich. Nicht, wenn man es mit dem Vermögen deines Vaters vergleicht.“
Joe sah ihn verständnislos an.
„Information Nummer eins. Jonathan ist sehr reich. Reicher als diejenigen, die auf diesen jährlich veröffentlichten Listen auftauchen. Wenn du verstehst, was ich meine.“
Joe fiel die Kinnlade herunter.