Seelenzwang - Kampf - Lara Nishio - E-Book

Seelenzwang - Kampf E-Book

Lara Nishio

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Beschreibung

»Du wirst mir gehorchen. In dieser Nacht und in allen Weiteren. Meine Macht wird dein Untergang sein.« Die Gefährten stehen vor neuen Herausforderungen. Während Taron den letzten Widersacher Valrons unterstützt und Antony mit Verlusten kämpft, ist Helena gezwungen, sich selbst neu zu finden. Der Krieg zieht engere Kreise und der Feind greift zu ungeahnten Mächten, deren Auswirkungen alle Vorstellungen übertreffen. Werden König Valron und der Schattenwolf Veyd Velnira beherrschen? Und welchen Plan verfolgt Ritter Seryon? In einer Zeit voller Ungewissheiten verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse und Helena erkennt, dass es mehr als Licht und Schatten gibt. Im finalen Teil der Seelenzwang-Trilogie finden sich die Leser inmitten des Kampfes zwischen Macht und Gerechtigkeit wieder.

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Seitenzahl: 467

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lara Nishio

Seelenzwang - Kampf

Teil 3

Lara Nishio

Seelenzwang

Kampf

Impressum

Seelenzwang – Kampf

Copyright Lara Buchheit-Tölke

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Larissa Müller (Lektorat Zeilenschmuck)

Coverdesign und Kapitelzierde: Renee Rott (Dream Design Cover and Art)

Lara Buchheit-Tölke

Lothringer Straße 15

66346 Püttlingen

Alle Texte dieses Buches sind geistiges Eigentum der Autorin. Sämtliche Verwendung ist urheberrechtswidrig und somit strafbar.

Instagram: _lara.nishio_

E-Mail: [email protected]

ISBN: siehe Buchrücken

Druck: epubli – Ein Service der neopubli GmbH Berlin

Für Hirschi und all diejenigen, die sehnsüchtig darauf gewartet haben, dass alle Teile veröffentlicht sind, um endlich mit dem Lesen beginnen zu können :)

Sie würde für ihn das Licht auslöschen, den König stürzen und die Schatten aus den Tiefen der Verbannung entlassen. Niemand würde ihn aufhalten. Doch dazu würde er sie umhegen und stärken müssen. Er würde ihr Vertrauen gewinnen, sodass sie sich bei ihm wohlfühlte. Gleichzeitig durfte er auf keinen Fall zulassen, dass sie zu viel Spielraum hatte. Sie würde Respekt vor ihm haben. Ebenso einen Funken Angst verspüren. Denn die Furcht war sein Werkzeug gegen Ungehorsam. Bei ihr so wie bei den übrigen Wölfen seines Rudels.

Während sie schlief, betrachtete er ihren zarten, nackten Körper. Er würde ihr Kleidung besorgen, sobald sie aufwachte, doch bis dahin genoss er den Anblick der Wunden, die der Gestaltwechsel mit sich gebracht hatte. Sie würde sich oft unter seiner Führung verwandeln und jedes Mal würde er da sein, wenn sie erwachte. Er war jetzt ihr Beschützer. Ihren Lichtköter hatte er endlich beseitigt. Eine Schande, dass er ihm nicht länger hatte beim Sterben zusehen können. Wie befriedigend wäre es gewesen, zu beobachten, wie das Lebenslicht aus seinen Augen verschwand und in den Rinnstein des Todes sickerte.

Solche Gedanken durften seinen Verstand nicht beeinflussen. Er würde seinen Fokus auf die Zukunft legen müssen. Seine Pläne erforderten volle Aufmerksamkeit.

~ Antony ~

Langsam tauchte er die Feder in das Tintenfass, führte sie über die Karte und hielt inne. Er hatte dieses Stück Pergament in den letzten Wochen so oft auseinander und wieder zusammengerollt, dass es an den Rändern eingerissen war. Müdigkeit brannte in seinen Augen und sie schmerzten, als er sie zusammenkniff. Die Dunkelheit im Raum und der staubige Geruch der Landkarte vor ihm erlahmten sein Denken.

Die schwarze Tinte schimmerte im flackernden Licht des Kerzenscheins, ehe sie von der Spitze der Schreibfeder tropfte und einen unsauberen Klecks in der Mitte des Papieres hinterließ. Antony seufzte auf, navigierte die Feder ein Stück höher und kreuzte eine Stelle auf dem Kontinent Luxerum aus. Er legte das Schreibinstrument zur Seite und lehnte sich zurück.

Erschöpft rieb er sich über die Augen, blinzelte mehrmals, um das Brennen in ihnen zu mindern, und betrachtete das Pergament auf dem Tisch. Unzählige Kreuze blitzten ihm höhnend entgegen. Eines reueloser als das andere. Hunderte Kilometer hatte er zurückgelegt, um sie zu finden. Doch keines davon hatte ihn auf eine Spur geführt. Keines davon hatte sich dazu herabgesellt, ihm einen Hinweis zu hinterlassen.

Geistesabwesend fuhren seine Finger über das weiche Fell des Welpen, der seinen Kopf auf seinen Schoß gebettet hatte. Er war zu einem gesunden, verspielten jungen Hund herangewachsen, der ihm mehr bedeutete, als er je zu glauben vermocht hatte. Enjo war das Einzige, was ihm von ihr geblieben war. An ihm erkannte er, wie lange sie bereits verschwunden war.

Wenn er bloß wüsste, wo er suchen sollte. Jedes Mal, wenn er sich erneut Hals über Kopf auf den Weg gemacht hatte, hatte die Hoffnung, sie zu finden, büßen müssen. Jedes Mal hatte er versagt. Ob er sie überhaupt jemals ausfindig machen würde? In seiner Vorstellung entfernte sie sich mit jedem Schritt, den er ging, weiter.

Enjo hob den Kopf. Seine Ohren zuckten und im nächsten Moment klopfte es leise an der Tür. Der Welpe sprang von Antonys Schoß und tapste schwanzwedelnd auf den Mann zu, der hereinkam.

»Hey, Enjo!« Taron bückte sich und streichelte dem Hund, der sich an seinem Bein hochstellte, kurz den Rücken. Er wandte sich an Antony. »Brütest du schon wieder über dieser Karte?«

Antony blieb stumm. Sein Freund lag ihm seit Tagen damit in den Ohren.

»Du solltest es sein lassen«, riet Taron ihm.

»Und du wiederholst dich.«

»Ich meine ja nur. Was nutzt es dir, deine Männer blindlings durch ganz Velnira zu hetzen?«

»Ich hetze sie nicht«, verteidigte sich Antony. »Sie haben mir ihre Unterstützung angeboten.«

»Und was hat es dir bisher gebracht?«, hakte Taron nach.

Antony wusste, dass die Frage ihre Berechtigung hatte, und doch fühlte er sich angegriffen. In seinem Brustkorb schwoll eine Wut an, wie er sie lange nicht mehr empfunden hatte. Er hatte seine Emotionen unterdrückt und sich vollends auf seine Mission konzentriert. Doch jetzt, da er erneut von Taron zurechtgewiesen wurde, da dieser ihn mit diesem schiefen Blick ansah, brodelte es in seinen Adern. Sie ähnelte ihrem Bruder so sehr …

»Immerhin unternehme ich etwas!«, keifte Antony ihn an. All sein Frust, seinem Versagen geschuldet, brach aus ihm heraus. »Im Gegensatz zu Egeas und …«

»Und wem?« Taron kam näher, die Augen zu dünnen Schlitzen verengt und die Nasenflügel gefährlich geweitet. »Wenn du denkst, ich sitze nur herum, während meine Schwester diesem Monster ausgeliefert ist … Du weißt genau, dass ich alles tun würde, um sie aus Veyds Fängen zu befreien!«

Antony sprang auf. »Dann tu etwas, verdammt noch mal!«, schrie er Taron entgegen. Er wusste, dass sein Verhalten nicht angemessen war, dass er Taron zu Unrecht beschuldigte. Und doch konnte er nichts dagegen tun. Der Zorn in ihm loderte wie ungezügeltes Feuer. Im Grunde war er nicht wütend auf seinen Freund. Auch nicht auf Egeas oder die Soldaten, die der König ihm unterstellt hatte.

Taron rieb sich über den Nasenrücken und seufzte schwermütig. »Hör zu, Antony«, fing er an, aber dieser unterbrach ihn.

»Ich weiß, was du sagen möchtest. Ich soll die Hoffnung nicht verlieren und es wird sich schon zum Rechten fügen. Deine unbekümmerte Art geht mir so langsam –«

»Nein«, gab Taron zurück und trat einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er hätte allen Grund, wütend auf Antony zu sein, ihn zu verurteilen, weil er respektlos mit ihm umging. Aber er war es nicht. Er legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Das will ich nicht sagen. Es ist für uns alle schwer. Helenas Verschwinden … Dass Veyd sie mitgenommen hat … Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke. Daran, was ich hätte tun können, um es zu verhindern.«

Veyd war ein Schattenwolf. Vor knapp drei Jahren war er in das kleine Dorf Tiros auf dem Kontinent Malumbrehn eingefallen. Dort hatte er Helena angegriffen und einen Teil seiner Schattenwolfseele in den Körper der damals Sechzehnjährigen übertragen. Damit war ihr die Bürde auferlegt worden, selbst ein Schattenwolf zu sein und sich bei Vollmond in einen solchen zu verwandeln. Veyd hatte ein unnatürliches Interesse an Helena entwickelt. Er hatte sie verfolgt, seit sie sich wieder begegnet waren, und hatte sowohl ihr als auch Antony unverhohlen klargemacht, dass er sie besitzen wollte.

Antony stammte aus einer Familie von Seelenbändigern. Er besaß die Fähigkeit, fremde Seelen in Menschen zu bändigen, und hatte stets versucht, Helena zu helfen. Doch Veyds Seelenfragment in ihr war so machtvoll, dass er nichts hatte ausrichten können. Antonys Gedanken glitten zurück zu der Nacht, in der Helena entführt worden war. Sie hatten gewusst, dass Veyd in der Nähe gewesen war und dass er es auf die junge Frau abgesehen hatte. Der Schattenwolf hatte es, trotz der vielen Wachen in der Stadt und um das Schloss herum, geschafft, ins Innere der Schlossmauern einzudringen. Es war ein Kampf losgebrochen und Antony, seiner Siegesgewissheit wegen, beinahe ums Leben gekommen.

»Wir hätten es nicht verhindern können«, gab Antony seinem Freund zu verstehen und beruhigte sich, indem er einen tiefen Atemzug nahm. Ja, er hatte Taron Unrecht getan. Ihm und all den anderen. »Ich habe ihn unterschätzt. Er hat mich … getötet.«

»Wir alle haben das«, meinte sein Freund. »Veyd ist mächtiger, als wir angenommen hatten. Und listiger. Du kannst nicht erwarten, ihn irgendwo mitten auf der Straße zu treffen.«

»Ich befürchte, ich muss dir recht geben«, fing Antony an und schüttelte den Kopf. »Wie konnte ich nur so töricht sein? Ich habe mich blindlings in die Suche nach Helena gestürzt. Diese Karte bringt mir nichts.« Er drehte sich um, legte die Hand mittig auf das Papier und zog es mit den Fingern zusammen. »Ich kann nicht ganz Velnira absuchen in der Hoffnung, sie zu finden. Wahrscheinlich«, er machte eine kurze Pause, um die aufsteigende Traurigkeit in seinem Herzen im Zaum zu halten, »wird alles seinen vorbestimmten Verlauf nehmen.«

»Antony …«

»Es ist in Ordnung, Taron. Ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren: den Krieg beenden und meinen Platz als rechtmäßiger König einnehmen.«

Antony war nicht sein richtiger Name. Taron hatte seine Geburtsnamen zusammengefügt, um ihm eine neue Identität zu verschaffen, nachdem Luxerum vom König der Schatten, König Valron, eingenommen worden war. In Wahrheit lautete sein Name Prinz Ando Tonyas von Luxerum. Taron hatte selbst die Rolle des verschollenen Königssohnes angenommen, um ihn zu schützen und dafür zu sorgen, dass er lange genug überlebte, um sein Land zurückzuerobern. Vor acht Monaten war seine wahre Identität ans Licht gekommen. Antonys Vater, König Domitius, saß im Hochsicherheitstrakt auf der Insel Nenissos fest. Er war ihm kurz begegnet, hatte ihn aber nicht befreien können. Ob er noch lebte oder Valron ihn mittlerweile hat hinrichten lassen, wusste er nicht.

»Hey, es war nicht meine Absicht, dass du Helena aufgibst«, warf Taron ein.

»Das tue ich nicht«, widersprach Antony ihm. »Ich werde bloß … nicht mehr all meine Energie für eine planlose Suche opfern.«

Er nahm die zweite Hand dazu und zerknüllte die Karte zu einem Bündel. Nein, er würde Helena niemals aufgeben, doch Tarons Einwände hatten ihre Berechtigung. Sobald der Krieg beendet war, ja, sobald er König war, würden ihm Mittel und Wege zur Verfügung stehen, sie zu finden.

»Vielleicht müssen wir die Sache bloß anders angehen«, meinte Taron, trat an den Schreibtisch und zog die zerknitterte Karte aus Antonys Hand. Er faltete sie auseinander und betrachtete sie, während er weitersprach. »Ich weiß, du willst nichts von den Besprechungen wissen, aber Aaren hat für morgen ein Treffen einberufen. Nein, hör mir zu«, setzte er nach, weil Antony ihn unterbrechen wollte, und ließ die Karte sinken. »Du hast recht: Du solltest dich nicht zu sehr versteifen und dich auf die Sache mit dem Königsding konzentrieren. Nicht nur Egeas – und mit ihm das Königreich Montcastell – zählt auf dich. Auch meine Eltern, Kay, Ally, Jenna und ganz besonders ich. Wir haben durch Valron unsere Heimat verloren. Komm zur Lagebesprechung morgen früh. Dann sehen wir weiter.«

Als Antony Taron kennengelernt hatte, waren sie Kinder an der Schwelle zur Jugend gewesen. Taron hatte ihn mit seiner überheblichen Art, und seinen spontanen Einfällen sich in Gefahren zu stürzen, oft zur Weißglut gebracht. Und dennoch hatte er ihm immer bedingungslos vertraut und auf seine Treue zählen können. Ironischerweise waren Tarons Vorschläge nie übel gewesen, auch wenn sie unbedacht und riskant gewesen waren.

Seit Helenas Verschwinden war Antony bei keinem der taktischen Treffen gewesen. Sollte er daran teilnehmen? Würde Prinz Aaren, der die Besprechungen leitete, ihn überhaupt sehen wollen?

»Du hast dich lange genug hier oben verschanzt«, fuhr Taron fort, weil Antony nicht antwortete, und sah sich in dem beengten Turmzimmer um. »Hier gibt es nicht mal einen Kamin. So sehr du deine Ruhe gebraucht hast, irgendwann ist auch damit mal Schluss.«

Ein silberner Streifen überzog den Horizont, als Antony aufwachte. Seine Glieder waren bleiern schwer und er spürte einen Druck an der Stirn, der seine Sehkraft beeinträchtigte. Der Schlafmangel der letzten Woche zehrte an seinen Kraftreserven. Enjo, der zu seinen Füßen lag, tapste über seine Beine zu ihm hoch und ließ sich mit den Vorderbeinen auf seine Brust plumpsen.

»Uff!«, entfuhr es Antony. »Du bist ganz schön schwer geworden, mein felliger Freund.« Er kraulte ihn eine Weile geistesabwesend hinter den Ohren, seufzte dann und schob seine Pfoten von sich herunter.

»Wir müssen los«, sagte er zu dem Hund, der sich spielerisch unter der Bettdecke versteckte. »Wir gehen eine kleine Runde und nach der Besprechung machen wir einen langen Spaziergang um den See, in Ordnung?«

Enjo schaute ihn aus seinen großen, dunklen Augen an, setzte sich auf und stupste mit seiner kalten Nase gegen Antonys Hand. Helena hatte den Welpen an sich genommen, nachdem Valron ihn bei lebendigem Leibe hatte verbrennen wollen. Die beiden waren ein Herz und eine Seele gewesen. Auf Antonys Lippen erschien ein Lächeln, wenn er daran zurückdachte, und im gleichen Moment durchschnitt ihn ein heftiger Schmerz. Er vermisste sie mit jeder Faser seines Körpers.

Dass Veyd sie als Wolf mit sich genommen hatte, war nicht das Hauptproblem. Er hätte es ihr zugetraut, ihm zu entkommen, sobald sie wieder in Gestalt eines Menschen war. Doch Helena hatte ihre Erinnerungen verloren. Der Verlust ihres Gedächtnisses war nicht ohne Grund aufgetreten. Ihre jüngere Schwester Eleah war von der Spitze eines Speeres verletzt worden und verblutet. Helena hatte sich nie von ihrem Tod erholt, ihn nie verarbeitet.

Dann war sie nahezu selbst gestorben. Prinzessin Irelia, Tochter von König Egeas, hatte ihren Vater und somit ihr Heimatland verraten, indem sie Valron mit Informationen versorgt hatte. Helena war ihr auf die Schliche gekommen und Irelia hatte keinen anderen Ausweg gesehen, als sie zu beseitigen. Den Angriff hatte Helena zwar überlebt, aber ihr Gedächtnis im Gegenzug enormen Schaden genommen. Das Einzige, woran sie sich hatte erinnern können, war der Schattenwolf in ihrem Inneren.

Wieder berührte Enjo seine Hand und Antony zuckte erschrocken zusammen. Er war so in Gedanken versunken, dass er vergessen hatte, was er im Begriff war zu tun.

»Tut mir leid.« Er streichelte dem Welpen über den Kopf. »Na dann, komm.«

Antony nahm sich frische Kleidung aus dem Schrank in der Ecke und verließ zusammen mit Enjo sein Zimmer. Der Hund wartete vor dem Badezimmer den Gang runter, bis er fertig war, und trottete neben ihm her durch den Korridor. In den letzten Monaten hatte sich hier nichts verändert, abgesehen davon, dass der Verrat der ältesten Königstochter jedem einen Dämpfer verpasst hatte. Nicht nur Taron, der eine Liebesbeziehung mit Irelia geführt hatte, war entsetzt gewesen. Auch die Geschwister der Prinzessin, Aaren und Cilia, sowie ihr Vater waren aus allen Wolken gefallen. Irelia hatte ihren Verrat gestanden und war von der Soldatin Mikana in Gewahrsam genommen worden.

Enjo und er schlugen wie üblich den Weg durch den Innenhof ein. Wie von selbst glitten Antonys Augen zu den Türmen, in denen sich die Räumlichkeiten der Königskinder befanden. König Egeas hatte angeordnet, seine ungetreue Tochter in ihren Gemächern einzuschließen und rund um die Uhr bewachen zu lassen. Für ihn, als ihr Vater, war es ein heftiger Schlag gewesen, dass sie Informationen an den Schattenkönig weitergegeben hatte.

Antony öffnete das Tor am Ende des Hofes. Seine Schritte hallten von den Wänden des Ganges wider, der sie zum Gatter führte, welches das Schloss von den weiten Ländereien trennte. Dort unten, den Hang runter, war eine Hütte, die an einen kleineren Turm angrenzte. Es war der Vogelturm, in dem die Botenfalken und Brieftauben von Inoxis lebten. An dieser Hütte hatte Veyd auf ihn gewartet.

Voll Zorn hatte Antony sich auf den Schattenwolf gestürzt und festgestellt, dass er ihm nicht gewachsen war. Er rieb sich über die Seite, wo Veyd seine Wolfszähne in sein Fleisch gerammt hatte. Die Erinnerungen an das Gift, das wie glühende Lava durch seinen Körper geschwappt war, verfolgten ihn bis heute. Die Verletzung war, dank der Lichtwolfseele und seiner Heilmagie, verheilt. Nur eine wulstige, lilafarbene Narbe sowie ein Gefühl des Versagens waren zurückgeblieben. Er hätte es mit mehr Weitblick angehen müssen.

Antony rief sich selbst zur Ordnung. Er sollte jetzt nicht darüber nachdenken. Zu ändern war es ohnehin nicht mehr. Enjo hüpfte vor ihm her durch das saftig grüne Gras. Nach Helenas Verschwinden war das Land von einem Schneesturm heimgesucht worden. Er war tagelang durch den Sturm geirrt, um Veyd zu verfolgen. Im Schloss hatte man sogar eine Suche nach ihm losgetreten. Dem Tode nahe hatten sie ihn in einem Waldstück an der westlichen Küste aufgelesen und Antony hatte sich fortan nicht mehr allein auf den Weg gemacht.

Prinz Aaren hatte ihm einen Trupp seiner Soldaten unterstellt, um die Suche nach Helena taktisch zu gestalten. Sie waren bis nach Luxerum vorgedrungen, hatten die Küsten abgesucht und die Gefahr in Kauf genommen, enttarnt zu werden. Nirgends hatten sie eine Spur zu Helena entdeckt.

Die Natur hatte lange gebraucht, um sich zu erholen. Die Ländereien um das Schloss waren einige Wochen unter einer Eisschicht begraben gewesen und es war, als hatte sich diese ebenso über den Frohmut der Schlossbewohner gelegt. Dennoch war der Schnee irgendwann geschmolzen und mit ihm die Trostlosigkeit. Die Natur war wieder zum Leben erwacht. Zarte Triebe hatten sich durch die weiße Decke gekämpft und an den Bäumen hatten sich erste Knospen gebildet. Nach und nach war auch die Lebensfreude der Menschen in Inoxis zurückgekehrt und alle waren ihrem gewohnten Alltag nachgegangen. Alle, bis auf Helenas Familie und Freunde. Alle, bis auf ihn.

Er hatte seine Tage nicht nur damit verbracht, weiter nach Helena zu suchen. Er hatte sich zudem um Enjo gekümmert. Abgesehen davon, dass er in dem Hund Trost gefunden hatte, konnte er sich mit dessen Erziehung ablenken. Der Welpe war lernwillig gewesen, sodass er mit seinem guten Benehmen die Herzen aller Schlossbewohner im Sturm erobert hatte.

In den Nächten hatte Antony über seinen Karten gebrütet, Schiffsrouten studiert und seine Truppen eingeteilt. Manchmal hatte er sie losgeschickt und selbst woanders gesucht. Beides ohne Erfolg. Taron hatte recht: Er sollte die Suche nach Helena anders angehen. Was er brauchte, waren mehr Möglichkeiten. Was er brauchte, war eine alternative Taktik.

Nach dem Spaziergang hatte Antony Enjo in die Hände von Gerda gegeben. Gerda war nicht nur die leitende Dienstmagd von Inoxis. Sie war außerdem die gute Seele des Schlosses, die sowohl durch ihre Sorgfalt in ihrem Beruf als auch mit ihrer mütterlichen Art glänzte. Sie hatte sich um Enjo gekümmert, während Antony auf seinen Erkundungen gewesen war. Vermutlich hätte sie auch ihn umsorgt, hätte er es zugelassen.

Er stieg die breite Marmortreppe zur Eingangshalle herunter und die Erinnerungen an die Nacht, in der Helena von Veyd mitgenommen worden war, kamen erneut in ihm auf. Aaren hatte seine Männer hier versammelt und sie zur Suche nach dem Schattenwolf ausgesendet. Rasch schüttelte Antony den Kopf, um auch dieses Ereignis zur Seite zu schieben, und durchquerte die Halle nach rechts in Richtung des Besprechungsraumes. Dort begegnete er Seryin.

Seryin war, ebenso wie er, der Lichtmagie mächtig und ein geflohener Adelsmann. Er war der Sohn des Ritters Seryon, der rechten Hand König Valrons und somit ein wertvoller Verbündeter für König Egeas.

»Hey hey, wen treffe ich denn hier?«, scherzte er und klopfte Antony auf die Schulter. »Du bist doch wohl nicht auf dem Weg zur Lagebesprechung, oder?«

Antony knirschte mit den Zähnen. Nach Seryins Witzeleien war ihm nicht zumute. Er wusste selbst, dass er die Besprechungen vernachlässigt hatte.

»Ach komm schon, Ando! Ich bin sicher, die anderen werden froh sein, dich außerhalb deines Gemaches oder dieses stickigen Studierzimmers zu sehen. Wir können dein planerisches Geschick gebrauchen.«

»Ach ja?«

»Ja!« Seryin überholte ihn und stellte sich ihm in den Weg. Antony war überrascht über den ernsten Ausdruck in seinem Gesicht. »Du hast einiges verpasst. Zum Beispiel, dass Isan, Kay und Ally von Egeas in den Offiziersdienst erhoben worden sind.«

Skeptisch zog Antony die Augenbrauen zusammen. »Wirklich? Was hat den König veranlasst, einfachen Dörflern solch hohe Ränge zuzuteilen?«

»Zunächst einmal hatten sie sich beim Training ziemlich gut geschlagen. Vor allem Ally, die sich Mikanas Einheit angeschlossen hat. Isan hat sein Können als Ausbilder unter Beweis gestellt und Kay ist ebenfalls sehr geschickt. Außerdem meint Aaren, ihre Kenntnisse über die ländlichen Gegenden in Malumbrehn können von Vorteil sein. Und da war noch ein Auslöser.« Seryin kratzte sich an der Schläfe, bevor er weitersprach. »Mein Vater wollte den Hafen von Sowell einnehmen und als ihm das nicht gelang, hat er es über die Berge im Norden versucht. Nun, du kennst das Gebirge hier, weshalb ich dir sicher nicht sagen muss, dass er kläglich gescheitert ist. Egeas dachte, ein paar zusätzliche Leute mit taktischen Fähigkeiten und Kampferfahrungen würden nicht schaden.«

»Jetzt mal langsam«, forderte Antony ihn auf. »Seryon wollte in Montcastell einfallen?«

»Jep. Hast du etwa gedacht, Valron hat in den letzten Monaten keine Versuche unternommen, Egeas anzugreifen?«

»Wieso hat mir das niemand gesagt?«, fragte Antony ihn lauter als beabsichtigt.

»Nun ja. Du warst nicht gerade … geistig anwesend seit Helena … du weißt schon.«

»Das … ist … Ich kann es nicht fassen! Ich bin der Prinz von Luxerum! Ihr könnt mir solche Dinge nicht verheimlichen!«

»Komm mal runter«, forderte Seryin ihn mit erhobenen Händen auf. »Dein Ich-bin-der-Prinz-Gehabe zieht bei mir nicht. Dann hättest du dich nicht verkriechen sollen.«

Antony zog zischend die Luft ein und wollte gerade dazu anzusetzen, dem Ritterssohn seine Meinung zu sagen, als jemand vom oberen Treppenabsatz seinen Namen rief.

»Prinz Ando!«

Die helle Stimme Prinzessin Cilias schallte durch die Eingangshalle. Antony unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Was er noch weniger gebrauchen konnte als Seryins Vorwürfe, war Cilias rührseliges, mädchenhaftes Verhalten ihm gegenüber. Sie hatte in der Vergangenheit öfter seine Gunst erwerben wollen, da sie die lächerliche Vorstellung ihrer Väter aus Kindestagen, die beiden würden eines Tages heiraten, nicht loslassen konnte.

Er hatte der jüngsten Prinzessin nach Helenas Verschwinden deutlich zu verstehen gegeben, dass er keinerlei romantisches Interesse an ihr hatte. Helena war die Einzige, die jemals für ihn infrage kam.

»Ich habe Euch eine Ewigkeit nicht gesehen«, plapperte Cilia, als sie bei Seryin und ihm angekommen war. Genau genommen, fuhr es Antony durch den Kopf, hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen, seit er sie hatte abblitzen lassen. »Ihr seht erschöpft aus. Wie geht es Euch?«

»Gut«, antwortete Antony knapp und wies auf Seryin. »Wir waren soeben im Begriff, der taktischen Besprechung beizusitzen. Wenn Ihr uns entschuldigen –«

»Gewiss«, unterbrach Cilia ihn. »Ich wollte Euch bloß fragen, ob Ihr bereits mit meiner Schwester gesprochen habt?«

Antony tauschte einen Blick mit Seryin, der genauso ratlos schien wie er selbst.

»Bisher nicht«, gab Antony preis.

»Meister Taron verweigert eine zweite Unterredung mit ihr und ich dachte, ich trete an Euch heran«, redete Cilia weiter. »Ihr könntet Eurem Freund gut zureden. Irelia würde ihn gerne sehen.«

»Wie kommt Ihr darauf, dass Taron dies will?«, ergriff Seryin das Wort. »Hat ihr das Gespräch kurz nach dem Angriff auf seine Schwester nicht gezeigt, was er von ihr hält?«

»Es scheint ihr wichtig zu sein«, sprach sie an Antony gewandt und ignorierte Seryin.

In seinem Inneren tobte ein Kampf. Seit dem Mordversuch an Helena war Irelia zu Arrest gezwungen und er hatte einen ausgeprägten Hass gegenüber der Prinzessin entwickelt. Ebenso Taron. Nur ihretwegen hatte Helena das Gedächtnis verloren, weshalb es für Veyd überhaupt möglich gewesen war, sie mit sich zu nehmen.

»Wir denken darüber nach, es ihm auszurichten«, sagte Seryin rasch, weil Antony nicht weitersprach. »Jetzt müssen wir los.«

Er packte Antony am Handgelenk und zog ihn zur Tür zum Besprechungsraum. Cilia ging, ohne ein weiteres Gespräch mit ihnen zu suchen.

»Was sollte das denn?«, fragte Seryin missbilligend und griff nach der Türklinke.

»Warte«, hielt Antony ihn auf und schob seinen Freund ein Stück von der Tür weg.

»Was ist?«

»Kommt dir das nicht seltsam vor? Ich meine … was könnte Irelia von Taron wollen?«

»Keinen Plan, Ando. Vielleicht will sie ihn bekehren oder einfach aus ihrer Zelle raus, falls man das so nennen kann. Komm jetzt. Ich war sowieso schon spät an. Die anderen warten sicher.«

Antony schluckte einen Schwall Argumente gegen Seryins Ausweichen herunter und legte seine Finger um die Türklinke. Mit einem Mal überkamen ihn Zweifel. Sollte er tatsächlich zur Besprechung gehen? Er hatte seit Monaten nicht mehr daran teilgenommen. Er war derart intensiv mit der Suche nach Helena beschäftigt gewesen, dass er nichts von den politischen Gegebenheiten mitbekommen hatte. Nicht einmal Taron hatte ihm von Valrons versuchten Angriffen durch Seryon berichtet. Warum hatte er es ihm verschwiegen? Was, wenn er weitere Sachverhalte dieser Art hörte? Es brachte nichts, darüber nachzudenken, das sah er ein. Antony atmete tief ein, drückte die Klinke nach unten und schob mit klopfendem Herzen die Tür auf.

Antony war erstaunt, wie viele Leute hier waren. Bei der letzten Besprechung, der er beigewohnt hatte, waren neben Prinz Aaren, Taron und ihm bloß die ersten Offiziere dabei gewesen. Dieses Mal waren auch Helenas Vater Isan, Kay, Ally, Mikana und seine Schwester Maya zugegen. Sie alle saßen an der langen Tafel und hefteten die Augen auf ihn, als er den Raum betrat und die Tür hinter sich schloss.

Er ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Taron grinste und reckte den Daumen in die Höhe. Isan und Kay hoben die Hände, um ihn zu begrüßen. Kay war das ehemalige Oberhaupt von Tarons und Helenas Heimatdorf Tiros, bevor dieses zerstört worden war. Seine Schwester lächelte auf ihre typisch mütterliche Art und Mikana zwinkerte zur Begrüßung mit einem Auge.

Aaren, der an der Stirnseite des Tisches am Ende des Raumes saß, erhob sich.

»Ando! Welch eine angenehme Überraschung«, sagte er. »Ich bin hoch erfreut, dass du hier bist. Bitte, setzt euch.« Er wartete, bis Antony und Seryin Platz genommen hatten.

Seryin grinste ihm schelmisch entgegen, bevor er zu Aaren sprach: »Ja, ich dachte, ich bringe ihn mit. Dann kann es ja losgehen.« Er klatschte in die Hände, was Antony gerne mit einem Augenrollen quittiert hätte. Doch hier, im Schloss Inoxis, war er nicht in der Position, sich einer solchen Attitüde anzumaßen und würde sich seinem Adelsstand entsprechend verhalten. Er hatte sich auf dem Platz neben Taron niedergelassen und Aaren begann mit der Eröffnung.

»Ein jeder von euch ist über die aktuelle politische Situation Velniras im Bilde. Valron entsendet immer mehr Truppen von Malumbrehn nach Luxerum, um die Küsten zu sichern. Offenbar rechnet er mit einem Angriff seitens Montcastell.«

Antony sah kurz zu Taron, der sich mit den Ellenbogen auf den Tisch stützte und die Finger vor dem Mund verschränkt hatte. War er wirklich derart geistig abwesend gewesen, dass keiner gewagt hatte, ihm einen aktuellen Stand über den Krieg mitzuteilen?

»Mein Vater ist der Meinung, wir halten uns eine Weile zurück und formieren unsere Truppen«, sprach Aaren weiter. »Isan? Wie sieht es bei euch aus?«

Der Angesprochene beugte sich ein Stück vor. »Kay und ich haben fähige Männer aufgenommen, mein Prinz. Einige von ihnen sind noch jung und brauchen etwas Training, aber sie scheinen Potenzial zu haben. Wir haben uns mit Mikana besprochen und sind der Meinung, wir sollten unsere Einheiten zum Schutz der Küstendörfer einsetzen.«

»Ausgezeichnet. Seryin und Maya«, er wandte sich mit einem besorgniserregenden Gesichtsausdruck an die beiden Magier, »mir ist klar, dass wir nicht viele Lichtmagier in Montcastell beherbergen. Glaubt ihr, sie sind in der Lage, unsere Truppen zu unterstützen?«

Maya nickte entschlossen. »Sie sind grundsätzlich davon überzeugt. Allerdings befürchte ich, dass unsere magische Gesamtkraft im Kampf gegen die Schattensoldaten nicht ausreichen wird.«

»Wir sind aber schon an einer alternativen Taktik dran«, meinte Seryin. »Wenn wir jeder Einheit zwei Magier zuteilen, können sie zum Schutz eingesetzt werden.«

»So ist es«, pflichtete Maya ihm bei. »Wir dachten dabei an magische Schutzmanöver wie Lichtschilde und Ähnlichem.«

»Arbeitet weiter daran und trainiert mit ihnen«, sagte Aaren zufrieden. »Taron wird euch zwar weiterhin zur Seite stehen, doch er hat eine andere, dringende Aufgabe zu erledigen, worüber wir später sprechen werden. Jetzt möchte ich mich zuvor einer ganz bestimmten Sache widmen.« Aarens Blick schweifte von Maya zu Antony. »Ando … Wir alle wissen, was du im letzten halben Jahr durchlitten hast und es fällt mir nicht leicht, darüber zu entscheiden, wie es dahingehend weitergehen soll.«

Was deutete Aaren an? Es hatte unzweifelhaft mit Helena zu tun. Es klang, als würde er überlegen, ihn von der Suche abzuziehen. Wollte Taron deshalb, dass er zur heutigen Besprechung erschien? Weil sie über Helenas Schicksal entschieden?

Aaren erhob sich. Sein Blick glitt einmal zu jedem Einzelnen der Anwesenden. Taron zog seine Unterlippe zwischen die Zähne und Isan fuhr sich nervös über den Bart. Antonys Herz unterdessen raste und eine brennende Hitze züngelte in ihm auf. Bevor er wusste, was er tat, schob er seinen Stuhl zurück, stand auf und legte beide Hände auf den Tisch.

»Ich verstehe, dass ich meiner Bestimmung folgen muss, Aaren.« Er konnte den Schmerz und die Wut in seinem Inneren kaum verbergen. Ja, er wusste, dass er Zeit verschwendet hatte. Dass er nichts von alledem mitbekommen hatte, was soeben besprochen worden war. Dass er es hätte mitkriegen müssen. Ihm war quälend bewusst, dass er sie alle im Stich gelassen hatte. Und doch war ihm nichts wichtiger als Helena aus Veyds Fängen zu befreien, sie in Sicherheit zu wissen und sie wieder bei sich zu haben.

Seine Stimme zitterte, während er sprach: »Wenn du mir sagen willst, ich müsse Helena aufgeben, um endlich«, er brach ab und schloss für einen Moment die Augen, um zu verhindern, dass sie sich mit Tränen füllten, »meinen Platz als rechtmäßiger König von Luxerum«, sein Blick traf den seiner Schwester, »einzunehmen, dann … Ich werde es tun. Ich werde mir mein Land zurückholen. Aber ich … ich …«

Er ballte die Hände auf dem Tisch zu Fäusten. Niemand sagte etwas. Die Stille im Raum legte sich wie ein Tuch über sie. Ein Tuch, welches sie alle unter seiner Trauer begrub. Taron hatte Kenntnis darüber besessen, dass Aaren ihn von seiner Mission abziehen wollte. Deshalb hatte er gestern Abend gesagt, er müsse aufhören, über der Karte zu brüten. Weil er ihn auf dieses Gespräch hatte vorbereiten wollen.

»Du missverstehst mich, Ando«, unterbrach Aaren seine Gedanken. »Die Suche nach Helena war nie wichtiger, als sie es heute ist.«

Antony starrte ihn ungläubig an. »Was?«

»Wir haben Kunde darüber, dass die Schattenwölfe sich an einem unbekannten Ort verschanzen«, erklärte der Prinz. »Veyd und das Rudel scheinen sich Valron bisher nicht angeschlossen zu haben.«

»Woher weißt du das?«, hakte Antony ungeduldig nach und erneut ärgerte er sich, dass ihm niemand irgendetwas mitgeteilt hatte.

»Nicht nur Valron hatte eine Informantin.«

Ein Murmeln erhob sich und Antony las in den Gesichtern der anderen, dass sie ebenso unwissend über einen Spitzel in Valrons Reihen waren.

»Jemand spioniert für uns?«, fragte Seryin und kniff die Augenbrauen zusammen. »Wer soll das sein?«

»Das spielt keine bedeutende Rolle«, hakte Aaren das Thema ab und kam zum Eigentlichen zurück. »Ich bin überzeugt davon, dass Valrons versuchte Angriffe auf uns nichts weiter waren als ein Ablenkungsmanöver. Er will uns unter Druck setzen.«

»Bist du sicher, Aaren?«, zweifelte Taron. »Auf mich wirkt es eher, als sei er sich bewusst, dass Montcastell zu schwach ist, um sich zu verteidigen. Er hat einen Vormarsch gewagt, um zu sehen, wie wir im Falle eines ernsten Angriffes vorgehen.«

»Dies ist durchaus möglich. Allerdings weiß ich, dass Valron ungeduldig wird, weil Veyd keine Anstalten macht, sich seinen Reihen anzuschließen, obwohl dieser ihm sein Wort gegeben hatte.«

»Tja.« Seryin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat Veyd aber bisher nicht das erhalten, was er von Valron verlangt hat.« Er wandte sich an Antony. »Sagte Helena nicht, Veyd hat seinem Rudel irgendetwas versprochen, Ando?«

»Ja. Er erbittet Freiheit für die Schattenwölfe. Angeblich wollte er Valron dazu zwingen, den Wölfen Asyl zu gewähren. Auf Helena hatte es gewirkt, als befolgte er zwar den Auftrag des Königs, doch sie sagte, er hätte es dem Rudel anders dargelegt. Sie meinte, er handelt unabhängig. Meister Marsilius bestätigte ihr, dass Veyd nichts tut, ohne eine Gegenleistung zu erhalten. Aber was hat das zu tun mit –«

»Pst, Andonini«, zischte Maya ihm zu, die schräg gegenübersaß. »Setz dich wieder hin.«

Antony, dem nicht aufgefallen war, dass er noch immer stand, zog sich seinen Stuhl bei und ließ sich darauf nieder, ehe er weitersprach:

»– mit der Suche nach Helena? Was deutest du an, Aaren?«

»Wir müssen die Schattenwölfe finden, ehe sie sich Valron anschließen.«

Antony lachte spöttisch. »Und dann? Willst du sie davon überzeugen, auf unsere Seite zu wechseln? Wir haben ihnen nichts zu bieten.«

»Abgesehen von fähigen Seelenbändigern«, fing Taron an, »die ihnen das Schattenwolfdasein erträglich machen.«

»Ich übe regelmäßig mit meinem Sohn«, gab Maya preis. »Er ist gut.«

Maya hatte ihren Sohn in Aspectia, der Welt des Lichtes, geboren und ihn nach ihm, seinem Onkel benannt. Ando war ebenfalls ein Seelenbändiger.

»Freiheit ist ein hohes Gut«, sagte Aaren. »Es gibt Menschen, die dafür töten.«

Meinten sie das ernst? Hatten sie das Gespräch im Vorfeld geübt? Antony konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln.

»Taron, du hast gesehen, was Veyd mit mir gemacht hat. Freiheit ist schön und gut und dennoch bin ich der Meinung, man sollte nicht damit handeln. Es wird unmöglich sein, Veyds Leute von uns zu überzeugen. Er ist ein Meister der Manipulation. Ich möchte nicht wissen, inwieweit er Helena mittlerweile beeinflusst hat.«

»Du hast die ganze Zeit wie ein Irrer nach ihr gesucht«, sagte Taron. »Und jetzt willst du das plötzlich nicht mehr?«

»Natürlich will ich das noch!«, keifte Antony. »Aber ich will Helena finden und nach Hause bringen! Ich will mich nicht mitten in ein Rudel Schattenwölfe stürzen und mich unbeliebt machen!«

»Wenn wir es nicht versuchen –«

»Das ist Irrsinn, Taron!« Die Ideen seines Freundes waren schon immer waghalsig gewesen, aber dieses Mal übertrieb er. »Niemand weiß, zu was Veyd fähig ist! Was er seinen Wölfen beigebracht hat! Maya«, er wandte sich an seine Schwester, »du weißt, was geschehen ist, als sie euch in Aspectia angegriffen hatten, nicht wahr? Sie haben es geschafft, Marsilius in ihre Gewalt zu bringen. Den mächtigsten Seelenbändiger Velniras!«

Mayas Augen sprangen zwischen ihm, Taron und Prinz Aaren hin und her.

»Ja«, sagte sie verunsichert. »Du hast recht, Ando. Es ist riskant. Vielleicht sogar unmöglich. Aber ich denke, dir ist ebenso klar wie uns, dass wir keine Chance haben, diesen Krieg zu gewinnen, sobald Valron eine Armee von Schattenwölfen befehligt.«

Antony lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schnalzte mit der Zunge. Er war überstimmt. Sie würden sich nicht überreden lassen, egal wie sinnig seine Argumente waren. Die erwartungsvollen Blicke, die auf ihm ruhten, erinnerten ihn daran, wie versessen Helena einst versucht hatte, ihn von einer Sache zu überzeugen. Sollte er wenigstens darüber nachdenken? Er presste die Lippen aufeinander und auf Tarons Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.

»Wir haben dich überzeugt, stimmt’s?«

Antony lehnte sich vor und hob seinen Zeigefinger. »Hiermit stelle ich eines klar: Ihr habt mich nicht überzeugt«, machte er deutlich. »Dieser Plan hinkt wie ein einbeiniger Schattensoldat und ich werde nur unter einer Bedingung zustimmen.«

»Und die wäre?«, wollte Seryin Antonys Predigt beschleunigen.

»Ich übernehme das Kommando«, forderte Antony. »Und –«

»Lass mich raten« Seryin lachte auf. »Wir werden nichts übereilen und gehen stets auf Nummer sicher?«

Aaren hatte ihm volle Befehlsbefugnis über alle Truppen erteilt, die in Helenas Suche involviert waren. Einer der Offiziere war keine geringere als ihre Freundin Allyndra. Sie hatte ihn gleich nach der Besprechung abgefangen und mit zum Trainingsgelände geschleppt. Ihre Soldaten waren rüstige und motivierte Männer und Frauen, die ihm ihre Treue bekundet hatten.

Gemeinsam mit Allyndra und zwei weiteren Truppführern hatte er sich beratschlagt, wie sie zukünftig verfahren würden. Insgeheim hatte Antony sich gewünscht, mehr Zeit zum Ausarbeiten eines Planes zu haben, doch die junge Frau hatte ihn gedrängt, die Suche schnellstmöglich fortzusetzen. Er hatte zugestimmt, zwei Trupps zur politisch unbefangenen Insel Monsat zu schicken, die dort um Unterstützung bitten sollten. Antony wusste nicht recht, ob die Leute von Monsat ihnen helfen würden, schließlich profitierten sie sowohl vom Handel mit Egeas als auch mit Valron. Er hatte Bedenken, dass ein Ersuchen bei den Neutralen Valron provozieren könnte. Allyndra hatte konträr dazu die Vermutung, sie würden zumindest bei einer Vermisstensuche helfen, wenn sie ihnen nicht sagten, dass es etwas mit dem Krieg zu tun hatte.

Die zwei restlichen Einheiten, darunter Antonys, würden eine Erkundungsmission an den Küsten von Malumbrehn durchführen. Malumbrehn war inzwischen weniger beschirmt als Antonys Heimatland Luxerum, weshalb sie durchaus Erfolg haben konnten.

Antony selbst würde in Inoxis bleiben. Aaren hatte ihn darum gebeten. Er hatte ihn nicht nur auf den neusten Stand bringen wollen, vielmehr hatte er, zusammen mit König Egeas und Taron, über Antonys Position als zukünftiger König von Luxerum gesprochen. Antony kam es vor, als waberten all die Gespräche bloß durch einen dichten Nebel. Sie drangen kaum an ihn heran, egal wie sehr er sich darauf konzentrierte. Der Eifer, der sich unter den Vasallen breitgemacht hatte, sprang nicht auf ihn über.

Es fuchste ihn, dass er sich nicht aktiv an den Missionen beteiligte. Keiner, bis auf Enjo, schien zu bemerken, dass es ihm dadurch schlechter ging. In den Nächten lag er stundenlang wach und wälzte sich von einer Seite zur anderen, bis der Himmel sich hell färbte.

Es war die fünfte Nacht in Folge, in der er von Albträumen geplagt wurde, kaum dass er eingeschlafen war. Der Hund lag zusammengerollt in seiner Armbeuge. Sein Körper hob und senkte sich gleichmäßig. Antony streichelte ihm das Fell und fuhr sich mit der anderen Hand über die Augen. Die Kraft verließ ihn zunehmend. Er musste etwas tun und wieder auf eigene Faust losziehen, nur um sein Gewissen zu beruhigen.

Als sei er erhört worden, klopfte es an der Tür. Alarmiert setzte Antony sich auf. Enjo fuhr zusammen und bellte auf. Tarons Stimme drang zu ihm ins Zimmer.

»Antony! Komm schnell! Die Späher sind zurück!«

Augenblicklich warf er die Decke von seinen Beinen, sprang zur Tür und riss sie, seinen Schwindel ignorierend, auf.

»Was sagen sie?«

»Sie haben eine Spur!« Taron sah genauso müde aus, wie er sich fühlte. Seine Augen waren von Schatten umkränzt und die Lippen blasser als sonst. Er stürmte an ihm vorbei ins Zimmer, griff nach Antonys herumliegenden Klamotten und drückte sie ihm in die Hand. »Beeilen wir uns!«

Während sie den Flur entlangeilten, warf sich Antony in ein Leinenhemd und band sich die schulterlangen Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammen.

»Ich war beim Training mit Mika, als zwei von Allys Spähern auftauchten«, erklärte Taron. Er rannte voran die Treppe herunter und durch die Eingangshalle. »Ein Schattenwolf ist bei Vollmond in der Nähe eines Küstendorfes im Südwesten von Malumbrehn gesehen worden. Das ist der erste Hinweis seit Monaten. Sie sind im Besprechungsraum!«

~ Taron ~

Antony hatte, gleich nach dem Bericht der Späher, mit seinen Männern ein Boot bestiegen und war an den östlichen Inseln vorbei Richtung Malumbrehn gesegelt. Sehnsüchtig wartete Taron auf seine Rückkehr. Hoffentlich hatten die Dorfbewohner dem Seelenbändiger weiterhelfen können und er fand einen Hinweis. Es dauerte länger, als er vermutet hatte. Wenn er bedachte, was seine kleine Schwester in den letzten Jahren durchgemacht hatte, wurde ihm übel.

Taron steckte sein Schwert weg, setzte sich auf eine Bank und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Ein kühler Wind blies von den Bergen her über die Ländereien des Schlosses, verwirbelte sich zwischen den Übungspuppen auf dem Trainingsplatz und trieb Taron eine Gänsehaut auf die Arme.

Er nutzte die Morgenstunden häufig zum Training. Heute war er so früh an, dass nicht einmal Mika ihn hatte begleiten wollen. Die Soldatin hatte bereits zum Schlag ausgeholt, als er sie geweckt hatte. Zum Glück für Taron hatte ihn die schlaftrunkene Armbewegung verfehlt und er hatte sich rasch aus dem Staub gemacht. Er war nicht so dumm, sich mit Mika anzulegen, wenn sie müde war. Nein, heute würde er sie schlafen lassen.

Er legte das Tuch beiseite, nahm seine Waffe wieder zur Hand und trat vor eine der Puppen. Er brauchte das Training. Kein weiteres Mal würde er zulassen, dass Veyd einem seiner Freunde etwas antat. Sein Kumpel Irai war mit einem Biss in den Kehlkopf von ihm getötet worden und beinahe hatte er um Antony trauern müssen. Der Anblick des Bändigers im blutroten Schnee, die Lippen blau und das Funkeln in seinen Augen erloschen … Sein Flehen, Helena zu beschützen … Die Bilder peinigten ihn Nacht für Nacht.

Sie hatten so viel gemeinsam erlebt, so viel Leid ertragen. Immer, wenn Antony fortgegangen war, wenn er sich Hals über Kopf auf die Suche nach Helena begeben hatte, hatte die Sorge ihn aufgefressen. Jetzt war es genauso.

Taron schob einen Fuß zurück und vollzog einen Schlenker mit dem Schwert. Die stählerne Klinge leuchtete golden auf und kleine, ebenso goldene Magiekugeln umkreisten sie. Er würde üben, bis er sicher war, seine Familie und Freunde beschützen zu können. Taron umfasste den Griff mit beiden Händen und konzentrierte sich. Das Schwert surrte von oben herab auf die Übungspuppe zu. Im Augenblick des Treffers stoben die Kugeln von der Klinge ab, stiegen in die Luft und schlugen auf dem Boden neben der Puppe ein. Die Explosionen zerfetzten die Figur. Taron stellte sich aufrecht hin und betrachtete sein Werk. Verkohlte Strohfetzen schwebten zu einem Häufchen herab.

»Musst du die eigentlich bezahlen?«

Taron wirbelte herum. Ein Mädchen mit rotbraungelockten Haaren stand hinter ihm und blinzelte ihm aus blau-grauen Augen heraus entgegen. In ihrem Arm trug sie einen Kuschelhasen.

»Lena!« Taron ging in die Hocke und wuschelte seiner kleinen Schwester durch das Haar. »Was machst du hier? Es ist viel zu früh zum Aufstehen.«

»Aber du bist auch schon wach«, sagte sie und legte den Kopf schief. »Also, musst du sie bezahlen, wenn du sie kaputt machst?« Sie zeigte auf die Überreste der Übungspuppe.

Taron schüttelte den Kopf. »Ich darf sie sogar kaputt machen.«

»Wieso? Mama sagt immer, man soll nix kaputt machen.«

»Das sind Trainingsfiguren. An ihnen kann man üben. Hier.« Er ging zum Waffenstand, schloss eine klobige Holztruhe daneben auf und kramte einen Übungsdolch heraus. »Er ist nicht scharf. Wenn du willst, zeige ich dir ein paar Techniken. Ich nehme deinen Hasen so lange.«

Lena blickte ihn ein wenig ängstlich an.

»Na los. Es ist nicht schlimm.«

Sie atmete einmal tief durch, hielt ihm ihr Kuscheltier hin und nahm den Dolch entgegen.

»Halte ihn hier am Griff fest. Genauso. Und jetzt streckst du den Arm aus zu dieser Puppe hier. Zieh den Arm wieder zurück und stoß den Dolch vor.«

Die Kleine stellte sich gar nicht so schlecht an, fand Taron. Mit hochkonzentriertem Gesicht vollzog sie einen weiteren Dolchstoß.

»Du bist gut«, lobte er sie.

»Ich durfte Mika mal zusehen«, meinte sie. »Sie hat noch nie eine kaputt gemacht.«

Taron hob die Augenbrauen. »Du hast ihr zugeschaut? Wann?«

Mika kam zu ihnen auf den Kampfplatz. »Vor ein paar Tagen. Deine Mutter war mit ihr an der frischen Luft, weil sie nicht mehr schlafen konnte. Lass sie das hier bloß nicht sehen.« Sie zwinkerte Taron zu und wandte sich dann an Lena. »Willst du mal was anderes versuchen?«

Lena nickte. Die Soldatin zeigte ihr eine kurze Schrittfolge, mit der man einem Gegner ausweichen konnte. Ihre Locken hüpften und wirbelten vor ihrem Gesicht hin und her, als sie dem unsichtbaren Gegner aus dem Weg sprang.

»Sie ist ganz gut, nicht?« Mika lächelte ihm frech zu.

»Erstaunlicherweise, ja. Lena, soll ich dir zeigen, wie man einen Gegner entwaffnet?«

Er schob sein Schwert in die Scheide, legte es beiseite und nahm sich ebenfalls einen der Übungsdolche. Grinsend stellte er sich Lena gegenüber und erklärte ihr die Taktik. Aufmerksam hörte sie zu und versuchte es im Anschluss.

»Lena hat Potenzial«, meinte Mika. »Wenn sie regelmäßig übt, wird aus ihr eine so rüstige Soldatin wie ich. Entschuldige meinen Angriff heute Morgen. Ich war einfach noch zu müde zum Aufstehen.«

»Schon gut. Ich verzeihe dir, wenn du Lena zurück zu Mutter begleitest und mir was zu essen mitbringst. Argh!«

Mika schlug ihm mit der Faust gegen den Arm. Dann strich sie mit den Fingerspitzen sanft über die schmerzende Stelle.

»Ich tue das nur, weil Lena auch etwas frühstücken sollte«, neckte sie ihn und wandte sich an das Mädchen. »Komm, kleine Kämpferin, wir sehen mal, was wir für dich und deinen Bruder finden.«

Kopfschüttelnd sah Taron ihnen nach. Mika war einmalig. Ganz anders als Irelia. Wie hatte er deren Verrat nicht erkennen können? Sie hatte ihre Rolle zu gut gespielt. Er verräumte die Dolche, kehrte die Asche der Puppe auf und befestigte seine Schwerttasche am Gürtel.

Nachdem Irelia Helena beinahe ermordet hatte, hatte Taron zusammen mit Irai und Mika mit der Prinzessin gesprochen. Sie hatte sogleich eingesehen, dass es nichts brachte, ihm etwas zu verheimlichen, und ihren Verrat gestanden. Weithin hatte sie ihr Versprechen, sie würde sich am darauffolgenden Morgen bei ihrem Vater stellen, eingehalten. Seither hatte er sie nicht mehr aufgesucht. Seine Wut auf Irelia war zu gewaltig.

Vor der Tür ihres Gemaches standen rund um die Uhr zwei Wachen und ihr Leibwächter Orhen war von seinem Dienst abgezogen worden. Einmal pro Tag durfte Irelia den Turm, in dem die Zimmer der Königskinder waren, verlassen, um einen Spaziergang zu machen und ihre Familie zu sehen. Aaren lehnte es ab, seiner Schwester entgegenzutreten. Der Verrat lastete zu schwer auf ihm. Cilia hingegen ließ kein Treffen mit Irelia aus.

Die jüngste Königstochter hatte Antony und Seryin vor Kurzem mitgeteilt, Irelia wolle erneut mit ihm sprechen. Bisher hatte Taron eine weitere Begegnung gescheut. Sollte er sich womöglich darauf einlassen? Mika kam zurück auf den Übungsplatz gerannt. Keuchend hielt sie an.

»Prinz Ando ist zurück! Sein Schiff lief soeben im Hafen von Sowell ein!«

Am frühen Nachmittag wartete Taron zusammen mit Mikana und Seryin vor der Eingangspforte des Schlosses. Es war ein vergleichsweise kühler Tag im Gegensatz zu der beginnenden Sommerhitze, die kürzlich über Montcastell hereingebrochen war. Das Rattern von Holzrädern auf dem Pflaster verriet ihnen die Ankunft eines Wagens. Kurz darauf bog er um eine Häuserecke und hielt am unteren Ende der Treppe an. Taron war sich sicher, dass es Antonys Kutsche war, denn es war keines der Gespanne aus Inoxis selbst. Die Ornamente am Äußeren waren eindeutig das Werk eines Kutschenbauers aus Sowell.

Taron atmete tief durch. Er hatte sich Sorgen um seinen besten Freund gemacht und war froh, dass er endlich zurück war. Nun hoffte er, dass er etwas hatte herausfinden können. Der Fahrer stieg ab, öffnete die Kutschentür und verneigte sich höflich.

»Denkt ihr, er hat Neuigkeiten?«, fragte Mika und in Taron keimte Nervosität auf. Ihre Frage erübrigte sich, als Antony ausstieg. Taron erkannte augenblicklich, dass die Mission gescheitert war. Sein Freund sah zu ihnen nach oben, presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.

»Verdammt.« Auch Seryin hatte sich positive Nachrichten erhofft, denn der Ritterssohn hatte Helena ebenfalls ins Herz geschlossen. Er war nicht nur ein Verbündeter für sie gewesen. Er war ein Freund geworden, der sich ebenso um sie sorgte wie Taron und Antony. Antony bedankte sich bei dem Kutscher und stieg die Treppen zum Schloss hinauf.

»Ich bin zurück«, sagte er, als er bei ihnen angekommen war.

»Was ist passiert?«, hakte Seryin nach.

»Die Spur verlief im Sande«, antwortete Antony. »Zwar bestätigten uns die Bewohner von Makowa die Sichtung des Schattenwolfes, aber als wir ankamen, war er längst verschwunden. Wir haben einige Tage damit verbracht, nach ihm zu suchen.«

»Antony«, begann Taron und ging einen Schritt auf ihn zu. »Du hast dein Bestes getan.«

»Ich weiß«, wisperte der Seelenbändiger. »Verzeih mir. Du hattest sicher große Erwartungen in mich.«

Taron sprach leise. »Es ist nur ein kleiner Rückschlag. Wir wissen jetzt immerhin, dass sich die Schattenwölfe in Malumbrehn aufhalten.«

Antony schüttelte den Kopf. »Das ist nicht bewiesen.«

Seryin und Mikana spürten die niedergeschlagene Stimmung und Seryin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir werden nicht aufgeben, in Ordnung?«

»Ja«, bekräftigte Mika ihn. »Ihr habt getan, was Ihr konntet, Prinz Ando.«

»Wie oft sagte ich dir, dass du mich nicht so nennen sollst?« Ein Lächeln huschte über Antonys Lippen, ehe er sich mit bekümmerter Miene Taron zuwandte. »Ich brauche etwas Zeit.«

Er schob ihn aus dem Weg und ging an den dreien vorbei. Taron sah ihm nach, bis die Wachen die große Flügeltür hinter ihm schlossen. Er nahm einen tiefen Atemzug und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Sockel, auf dem ein steinerner Kranich wachte. Er musste zugeben, sich mehr erhofft zu haben, was den Aufenthaltsort seiner Schwester anging, doch er machte Antony keinen Vorwurf. Der Seelenbändiger hatte sich voll Eifer in die Mission gestürzt und nichts unversucht gelassen, um Helena zu finden.

Sie war mehr als nur seine Freundin. Sie war der Grund, warum er nicht aufgab, warum er endlich seiner Bestimmung als Kronprinz folgen wollte. Sie war der Antrieb, den er gebraucht hatte. Nun, da Antony erneut einen Misserfolg erlitten hatte, würde Taron selbst einen Schritt weitergehen müssen.

»Du solltest wirklich aufhören, ihn als Prinz zu betiteln«, meinte er zu Mikana und stieß sich mit dem Fuß von dem Sockel ab.

Die Soldatin stemmte die Fäuste in die Seiten. »Schön. Wenn es dem Prinzen beliebt, dass ich ihm einen Arschtritt für seine Stimmung verpasse –«

»Das ist bloß vorübergehend«, sagte Taron und lachte. »Er kriegt sich wieder ein. Spätestens morgen ist er ganz der Alte. Aber …« Er hielt kurz inne und erwiderte Mikanas eisernen Blick. »Ich denke, es ist an der Zeit, mit Irelia zu sprechen.«

Taron und Mikana waren vor der hölzernen Tür zu Irelias Gemach angekommen. Die beiden Männer, die davor Wache gehalten hatten, waren gehorsam zur Seite getreten. Taron betrachtete das orangefarbene Lichtmuster des halbrunden Fensters, welches die untergehende Sonne auf die Tür und die feinen Staubkörner in der Luft warf. Er nahm einen kräftigen Atemzug. Ein weiteres Gespräch hatte er so lange hinausgezögert, weil er ihr nicht wieder hatte begegnen wollen.

»Du bist nicht bereit, oder? Ich kann allein mit ihr reden, wenn du möchtest.«

»Nein. Ich muss es tun. Es geht um Helena.«

Kurz nach dem Angriff auf Helena hatte Taron Irelia zwar konfrontiert, doch er hatte unter Schock gestanden. Als sie in ihrem Turmzimmer waren, hatte überwiegend Mikana das Reden übernommen. In der Zwischenzeit hatte er Zeit zum Nachdenken gehabt.

»Ich weiß, es ist nicht leicht für dich.« Mika berührte seinen Arm, ein stilles Versprechen, dass er nicht allein war.

Taron seufzte. »Es ist nicht so, dass ich nicht bereit wäre. Ich bin nur nicht sicher … ob ich mich beherrschen kann. Sie wollte meine Schwester töten. Wenn sie irgendjemand wäre … Aber wir waren …«

»Ich verstehe dich. Du kannst dir jedoch sicher sein, dass ich sie dies habe spüren lassen.«

Taron runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Nun ja.« Mika grinste. »Sie hat einige Male versucht mich einzulullen. Ich war ziemlich abweisend zu ihr gewesen.« Sie verstellte die Stimme. »Soldatin Mikana, Ihr wisst, dass meine Absichten niemals finster waren. Bitte, hört mich an.« Sie prustete Luft zwischen ihren Lippen aus. »Sie kann froh sein, dass ich ihr nicht mit meinem Schwertknauf die Nase zertrümmert habe. Tut mir leid, du hast sie gerngehabt, aber –«

»Schon in Ordnung. Danke, Mika. Das habe ich jetzt gebraucht. Bringen wir es hinter uns.«

Er umfasste die Klinke, drückte sie nach unten und schob die Tür auf. Rotes Dämmerlicht schien ihm entgegen. Es war, als hätten sie eine andere Welt betreten. Die samtenen, karmesinroten Gardinen vor den Fenstern waren zugezogen und es war warm in dem Turmzimmer. Der runde Flauschteppich in der Mitte des Raumes war ebenso rot, genau wie die Stoffbahnen, die das Himmelbett umsäumten. Irelia hatte das Türkis im Schloss nie gemocht. Deshalb hatte sie sich die Vorhänge und den Teppich in der Stadt anfertigen lassen.

Die Prinzessin saß auf ihrem Bett und hob den Kopf. Sie riss die Augen auf, als sie erkannte, wer hereingekommen war, und sprang sogleich auf. Taron ballte die Hände zu Fäusten.

»Taron!« Irelia näherte sich ihm, faltete die Finger vor der Brust und blinzelte ihn an. Tarons Magen verkrampfte sich unangenehm. Einst hatten sie eine abenteuerliche Zeit miteinander verbracht. Er hatte sie oft heimlich in ihrem Turmzimmer besucht. Doch aus irgendeinem Grund …. Taron legte den Kopf ein wenig schief und musterte sie. Ihr braunes, langes Haar war, obwohl sie rund um die Uhr hier eingesperrt war, zu einem perfekten Pferdeschwanz geflochten. In ihrem gepuderten Gesicht schimmerte wie üblich ein rosafarbener Schatten.

Ja, aus irgendeinem Grund kam Irelia ihm vor wie eine Fremde. Sie war nicht die Frau, mit der er eine Liebschaft ausgelebt hatte, und das Krampfen seines Magens rührte nicht von verletzten Gefühlen, weil er sie etwa liebte. Nein. Es war, weil er sie verabscheute. Konnte wahre Liebe derart rapide in Hass umschlagen?

»Ich freue mich überaus, dich zu sehen«, sagte Irelia zu ihm. »Ich habe viel eher mit einem weiteren Besuch gerechnet.«

Mika schnalzte mit der Zunge. »Ach ja? Ihr hattet also erwartet, Taron würde Euch früher besuchen? Nach allem, was Ihr getan habt, könnt Ihr froh sein, dass er sich überhaupt dazu herablässt. Ihr seid –«

»Mikana«, unterbrach Taron sie und warf ihr einen strengen Blick zu.

»Entschuldige.« Die Soldatin verneigte sich knapp und trat einen Schritt zurück. Auch wenn das Verhältnis zwischen ihnen mittlerweile auf eine freundschaftliche Ebene gestiegen war, so war er im Rang höher. Daher wusste sie seine Grenzen zu respektieren. Er wollte Mika keinesfalls zurechtweisen. Eher sollte sie ihren Atem nicht verschwenden.

»Ich bin nicht hier, um mich zu rechtfertigen, Irelia«, begann Taron und legte so viel Härte in seine Stimme, wie er aufbringen konnte. Sie bemerkte seinen Tonfall und wich vor ihm zurück. »Ich will Antworten. Sag mir … was hat Valron vor?«

»K-König Valron?«, stammelte Irelia verdutzt. »Ich verstehe nicht.«

»Du verstehst mich sehr genau.« Er machte zwei Schritte nach vorn und drängte Irelia zurück, bis sie mit den Waden an ihr Bett stieß. Ihre Augen flogen unsicher durch den Raum.

»Ich … ich habe keine Kenntnis darüber, was … was der Schattenkönig beabsichtigt.« Ihr Blick blieb an Mika hängen, die noch immer an der Tür stand. »Ich hatte es Euch bereits gesagt, Soldatin Mikana.«

»Tja. Dumm nur, dass ich Euch kein Wort glaube, Prinzessin.«

Flehentlich sah Irelia zu Taron auf. »Ich habe wahrlich keine Ahnung. So schenke meinen Worten doch Vertrauen! Der König hat mir nie seine Pläne offengelegt. Er forderte Informationen von mir. Im Gegenzug ließ er unser Königreich in Frieden.«

Taron schwieg. Ihre Ausflüchte ärgerten ihn grenzenlos und er musste seine aufkochende Wut im Zaum halten.

»Du glaubst mir, nicht wahr?«, versuchte Irelia es weiter und als Taron stumm blieb, sagte sie: »Bitte, sprich mit mir.«

»Ist dir bewusst, was du angerichtet hast?« Taron sprach leise.

»Ich … Er sagte, er –«

»Wie naiv bist du, Irelia? Valron hat mich jahrelang verfolgen lassen, weil er dachte, ich sei der verschollene Prinz von Luxerum.«

»Ich habe es klargestellt«, warf Irelia ein, offenbar der Meinung, ihn beschwichtigen zu können.

»Klargestellt?« Taron beherrschte sich nicht länger. Sein Herz raste vor Empörung und in seinen Ohren rauschte der Zorn. Seine Lungen blähten sich auf. »Du hast Prinz Ando verraten!«, schrie er der Prinzessin entgegen, die abermals vor ihm zusammenzuckte. »Und du hast mich verraten! Ich habe mich in Lebensgefahr begeben, um den Thronerben Luxerums am Leben zu erhalten! Ich habe so getan, als sei ich der Prinz, damit Ritter Seryon mich verfolgt anstellte von ihm!«

Taron erinnerte sich an den Abend, als die Burgstadt Haren angegriffen worden war. König Domitius, Antonys Vater, hatte ihnen zur Flucht verholfen. Er hatte ihnen einen versteckten Gang im Thronsaal geöffnet, der sie direkt zum Wald hinter dem Schloss geführt hatte. Bevor sie in den Tunnel eingetreten waren, hatte er Taron am Arm gegriffen.

»Beschütze ihn! Ich flehe dich an, Taron!«, hatte König Domitius ihm in voller Verzweiflung zugeflüstert. »Nur er kann das Königreich zurückerobern!«

Taron und Antony hatten die Kleidung getauscht und Taron war zu Prinz Ando geworden. Sie hatten ihn verfolgt und Antony bloß für einen unbedeutenden Flüchtling mit lichtmagischen Fähigkeiten gehalten.

»Du hast es gewagt«, fuhr Taron an Irelia gewandt fort, »Valron zu erzählen, dass wir die Rollen getauscht haben.«

»Nein! Ich habe ihm nichts dergleichen gesagt. König Valron hatte mich gebeten, ihm Informationen über Prinz Andos Aufenthaltsort mitzuteilen.«

»Und woher wusste er, dass Ando der wahre Prinz war? Wie kam es, dass er Kenntnis darüber hatte, wie sein Hund gestorben war? Erklär es mir!«

Irelia schwieg und sah ihn eine Weile aus geweiteten Augen an. Dann seufzte sie resignierend und ließ sich auf ihrem Bett nieder.

»Ich hatte König Valron kontaktiert, kurz nachdem ihr Montcastell verlassen hattet. Als du mir erzählt hast, du warst an des Prinzen Stelle gefangen genommen worden …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht zulassen, dass er dich weiterhin für Prinz Ando hält!«

Taron brachte Abstand zwischen sich und Irelia, bis er wieder neben Mika stand.